Christine kämpft sich durch - Christl Schimpl - E-Book

Christine kämpft sich durch E-Book

Christl Schimpl

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Beschreibung

Ein autobiografischer Schicksalsroman. Christine wächst zehn Jahre als ein Mitläuferkind bei Ihrer Großmutter in Wien auf. Editha, ihre Mutter, ist von zu Hause seelisch und körperlich misshandelt, dann verstoßen worden. Editha möchte Rache an ihrer Mutter nehmen, benötigt dazu ihr Kind. Das Fürsorgeamt spricht Editha das Kind nur zu, wenn sie geordnete Verhältnisse und einen festen Wohnsitz hat. Editha heiratet Raimund Bleisteiner und kann Haus mit Garten vorweisen. Nach einer missglückten Vergeltung, schlägt Editha ihr Kind brutal zu Boden. Großvater, der das Anwesen aufgebaut hat und im selben Haus wohnt, ist zu schwach, um Christine vor den Misshandlungen ihrer Mutter zu schützen und bittet seinen Neffen Raimund Bleisteiner, Christine beizustehen. Editha wird eifersüchtig. Nach einem Vorfall bringt sie ihre Tochter an einen unbekannten Ort. Doch dann geschieht etwas, mit dem niemand gerechnet hat.

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Alle in diesem Buch geschilderten Namen von Personen und Orte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Christine kämpft sich durch

Ein autobiografischer Schicksalsroman

Christine wächst zehn Jahre als ein Mitläuferkind bei Ihrer Großmutter in Wien auf. Editha, ihre Mutter, ist von zu Hause seelisch und körperlich misshandelt, dann verstoßen worden. Editha möchte Rache an ihrer Mutter nehmen, benötig dazu ihr Kind. Das Fürsorgeamt spricht Editha das Kind nur zu, wenn sie geordnete Verhältnisse und einen festen Wohnsitz hat. Editha heiratet Raimund Bleisteiner und kann Haus mit Garten vorweisen.

Nach einer missglückten Vergeltung, schlägt Editha ihr Kind brutal zu Boden.

Großvater, der das Anwesen aufgebaut hat und im selben Haus wohnt, ist zu schwach, um Christine vor den Misshandlungen ihrer Mutter zu schützen und bittet seinen Neffen Raimund Bleisteiner, Christine beizustehen.

Editha wird eifersüchtig. Nach einem Vorfall bringt sie ihre Tochter an einen unbekannten Ort.

Doch dann geschieht etwas, mit dem niemand gerechnet hat.

Christine mit 15 Jahren

Inhaltsverzeichnis

Der Sonntag, der kein Sonntag war

Das neue Zuhause

Die neue Schule

Der „arme Mann“ am Schulweg

Der Staatsvertrag – Sonntag, 15. Mai 1955

Die Prüfungsarbeiten

Schulschluss ist.

Der Blinddarm muss raus

Die Aufklärung

Das Gericht

Weihnachten steht vor der Tür.

Hurra, Schifahren!

Neunter Jänner

Letztes Schuljahr

Der allerletzte Schultag

Der Anwalt

Die Untersuchung

Die Polizei ist da

Das erste staatliche Heim

Wiedersehen mit Prinz

Die Wandlung

Die Firmung

Die Lehrzeit

Ein Schäferhund-Welpe für Christine

Engerl und Bengerl

Silvester und der Regierungsrat

Was nur einmal im Jahr vorkommt

Das Wochenende ist da.

Endlich sind Sommer-Ferien

Der Tag des Abschieds

Osterbesuch

Mit dem Orient-Expreß nach Sofia

Ein himmlischer, wolkenloser, strahlend blauer Tag ist erwacht Er verspricht einen heißen Sommertag. Aus der Ferne hört Christl ganz leise das Geläut der Kirchenglocken. Vorsichtig und unauffällig krabbelt sie aus dem Doppelbett, in dem Mutti, Vati und Helene noch schlafen.

Das Glockengebimmel klingt auffordernd, mahnend und appellierend. Von der Familie Prochazka geht keiner in die Kirche. Nur damit der Teufel sie nicht holen kann, wurden alle bereits schon als Wickelkinder römisch katholisch getauft. Doch das Gotteshaus wird gemieden.

Vielleicht, weil die Familie kein Auto hat? Das können sich auch nur Großverdiener, Fabrikbesitzer und Unternehmer leisten. Auch solche, denen Geld sehr leicht zukommt. Onkel Johann hat ein Motorrad und Roswitha ein Fahrrad.

Mit Roswithas Fahrrad haben Helene und Christl seinerzeit das Radfahren gelernt. Das war ganz lustig. Aber nur solange Helene den Sattel am Fahrrad fest hielt und mitgelaufen ist. Als sich Christl einmal umdrehte und sah, dass Helene weit entfernt von ihr war, fühlte sie sich unsicher und sprang ab. Prallte mit vollem Körpergewicht, sie wog etwas über 20 kg, mit dem Schambein an die Fahrradstange. Das waren arg fürchterliche Schmerzen! Sie warf seinerzeit erbost das Fahrrad hin und lief heulend zu Mutti. Von Helene war sie bitter enttäuscht. Später probierte Christl das Fahrradfahren allein. Nach etlichen Blessuren, hat`s sie`s geschafft.

Aber warum geht wirklich keiner in die Kirche? Sicher aus Bequemlichkeit. Mag sein, wegen dem langen Fußmarsch vom letzten Haus der Parzelle bis nach Jedlesee zum Lorettoplatz?

Wann war Christl mal in einer Kirche? In so einem Gotteshaus stand sie zur ihrer Erst-Kommunion. Ja genau! Sie erlebte eine einmalige, unvergessliche und feierliche Veranstaltung. Riesengroße Statuen von Heiligen sah sie in dem hohen Kirchenraum, die mit Namen beschriftet waren. Rechts die Statue des heiligen Florian, links eine des heiligen Sebastian. Unwahrscheinlich große Seitenaltarbilder von Heiligen hingen an der Kirchwand. Am oberen Teil vom Altarfenster war die Statue der Gottes Mutter mit ein paar goldenen Engerln zu sehen. Dahinter drängten Strahlen eines riesigen goldenen Sterns hervor.

An diesem Kommunions-Tag war nicht nur der Kirchenraum besonders dekorativ aufgeputzt worden. Ein roter Teppich führte zum Kircheneingang, an dem links und rechts Birkenbäumchen in Blumentöpfen gepflanzt waren. Weiße Blüten mit Schleierkraut und grünem Blattwerk, sowie weiße Satinbänder schmückten Altar und die Eingänge der Bänke.

Der Geistliche erschien in einem langen, schwarzen, glänzenden Gewand, der Soutane. Dreiunddreißig Knöpfe zierten das gute Stück, weil Jesus so viele Jahre auf Erden lebte. Ein weißer steifer Stehkragen lag ringförmigen um seinen Hals. Dem Römerkragen. Die Kinder wurden monatelang im Religionsunterricht für dieses besondere Ereignis vorbereitet. Man lehrte sie, wie sie sich zu verhalten und was sie zu sagen haben. Auch wie sie sich kleiden sollen. Mädchen in weißen Kleidern und den dazu gehörenden verschiedenen Accessoires. Die Buben in dunklen Anzügen, weißen Hemden, womöglich mit Krawatten und am Revers eine Anstecknadel aus Buchs mit zarten weißen Blüten.

Es ist eine alte Tradition, dass die Feier der Erstkommunion am ersten Sonntag nach Ostern, gefeiert wird. Dabei leitet sich der Name »Weißer Sonntag« von den weißen Gewändern ab.

Die Kommunion-Kinder empfangen zum ersten Mal das Sakrament der Eucharistie. Das Wichtigste ist, dass sie getauft sind und dass sie zuvor die erste Beichte ablegten. Dadurch würden sie von Sünden befreit und könnten den Leib Christi empfangen. Zur ihrer Gewissenserforschung dienen die Gebote aus dem Beichtspiegel. Auf einen Zettel sollen sich die Kinder ihre Sünden notieren und im Beichtstuhl vorlesen. Als Buße und Reue müssen sie je nach Schwere der Sünden ein oder zwei „Gegrüßet seist du Maria“ oder „das Vaterunser“, in der Kirchenbank kniend schweigend beten.

Die Sünden werden nie verraten. Sie unterstehen dem Beichtgeheimnis. Sagen die Geistlichen aus dem Gotteshaus.

Die zehn Gebote Gottes konnte Christl fließend aufsagen. Aber die Sünden? Die machten ihr echte Gewissensbisse.

„Mutti?“ fragte Christl nach der Schule, „was ist Unkeuschheit?“

„Wie kommst du denn jetzt da drauf?“ Fragte Mutti forsch, denn wie immer hatte sie wenig Zeit.

„Wir sollen unsere Sünden beichten. Ob wir gelogen und gestohlen haben. Und das fragt der Katechet auch: Hast du Unkeusches gedacht, gesehen oder gemacht. Was soll ich darauf sagen?“

„Frag ihn doch! Er muss es ja wissen.“

Das tat Christl auch. Der Religionslehrer stellte im Unterricht wieder mal eine heikle Frage:

„Kinder, wenn ihr Filmplakate mit spärlich bekleideten Menschen seht, gefallen euch diese, und denkt ihr dabei unkeusch?“

Er sah, dass Christl die Hand mit den beiden Zeigefingern hoch gehoben hat. Sie wartete brennend auf seine Antwort. Er deutet mit dem Stab auf sie hin und rief:

„Ja, du! Hast du Unkeusches gedacht oder gemacht?“

Die ganze Klasse war plötzlich muxmäuschenstill. Mit Spannung lauschten die Kinder was nun Christl zu sagen hatte.

„Bitte, Herr Katechet, was ist Unkeusch?“

Lautes Gelächter. Der Katechet drehte sich abrupt um und schrieb mit Kreide einige Sünden an die Tafel.

Ein paar Mitschülerinnen lachten damals ungeniert ganz laut. Sie hatten Christine ausgelacht. Hielten die Hand der Nachbarin vors Ohr, tuschelten und kicherten.

Ihre Sitznachbarin lachte nicht und meinte tröstend:

„Ich weiß es auch nicht. Sage einfach NEIN.“

„Wird mich der liebe Gott dann auch nicht bestrafen?“

„Das kann er doch nicht. Wenn du was vergessen hast oder nicht weißt, bist du unschuldig.“

„Ruhe, jetzt!“ Ertönte mahnend die Stimme des Katecheten.

„Unterhalten könnt ihr euch in der Pause.

Nehmt eure Hefte und notiert, was an der Tafel geschrieben steht.“

Bin ich gegen andere lieblos oder gehässig gewesen?

Habe ich andere beschimpft oder ihnen Böses gewünscht?

Habe ich mit anderen gestritten? Sie geschlagen.

Gerauft?

Habe ich andere zur Sünde verführt? Zum Stehlen, Lügen, zu Unkeuschem?

Habe ich Tiere gequält?

„Wenn ihr damit fertig seid und euren Sündenzettel ausgefüllt habt, dürft ihr nach Hause gehen.“

Einundzwanzig Mädchen, die meisten aus der 4. Klasse Volksschule in Jedlesee und fünf Buben nahmen seinerzeit an dieser Feierlichkeit teil.

Mutti hatte für diesen großen Tag sich selbst, Helene und Christl beim Frisör für Dauerwellen angemeldet. Oh Gott, was war das für eine langwierige und unangenehme Prozedur. Christl sträubte sich gegen Locken und besonders gegen kurze Haare. Mit einem gekrausten Lockenkopf müsste sie dann rumlaufen. Die dicken Zöpfe, die sie schon selbst flechten konnte, wurden erbarmungslos abgeschnitten. Dafür könnte der Frisör eine neue Perücke knüpfen. Ihr Rumgemaule half nichts.

Sie musste sich mit dem schwarz gekräuselten Lockenkopf abfinden. Sicher hatte Mutti für all den Trubel schon längere Zeit gespart. Auch für die schön verzierte lange Kommunion-Kerze. Die Garderobe für Christl verlieh die Caritas.

Es war so weit. Angehörige und Gläubige saßen und standen bereits in der Kirche. Dann traten begleitet von Orgelmusik die festlich gekleideten Kinder zwischen acht und zehn Jahren in Zweierreihe hinter dem Priester auf dem roten Teppich bis vor zum Altar. Dort entnahm der Geistliche aus einem goldglänzenden schön verzierten Schrank im Altarraum, dem Tabernakel die geweihten Hostien. Bei der Erstkommunion bestätigten katholisch getaufte Kinder, dass sie an Gott und an die Katholische Kirche glauben.

Die Predigt dauerte fast schon eine Stunde, bevor den Kindern durch den ordinierten Geistlichen erstmalig die heilige Kommunion ausgeteilt wurde. Nach dem Empfang gingen die Kinder mit gesenktem Kopf, händefaltend in ihre Bänke zurück und betenden kniend. Als Christl an der Reihe war, öffnete sie wie die anderen den Mund und streckte ein klein wenig ihre Zunge raus. Sie wollte zuerst die Augen schließen. Doch sie war neugierig und musste genau sehen, wie der Leib Christi aussieht. Dann sah sie die Hostie deutlich vor sich.

„Der Leib Christi“, sagte der Pfarrer und legte die Hostie auf ihre Zunge.

Christl staunte nicht wenig. Das ist eine Oblate! Genauso eine dünne, weiße Scheibe aus Mehl und Wasser, die Mutti für ihre Lieblingsbäckerei als Unterlage für Kokosbusserln verwendete. Hm. Aber es gibt einen Unterschied. Diese Oblaten werden geweiht und dann heißen sie eben Hostie. Somit hatte Christl eine plausible Erklärung gefunden.

Gut situierte Leute feierten nach dem Gottesdienst mit ihren Familien, Verwandten und Freunden zu Hause oder sogar in einem Restaurant das Fest weiter. Dort erhielten dann die Kommunikanten Geschenke von allen Gästen.

Doch dieses Ritual blieb für Christl und auch für so manch anderes Kommunionkind aus.

Der Herr Katechet hat allen Kindern nahegelegt, und sie sollten es als Pflicht betrachten, in Kommunionkleidung zur Maiandacht zu kommen. An diesem Nachmittag ging Christl ganz allein zur Mai-Andacht in die Jedleseer Pfarrkirche. Da ereignete sich was Außergewöhnliches, das dem Mädchen bis heute in Erinnerung blieb.

Sie trug zum zweiten Mal das festliche Kommunion-Kleid aus zarter weißer Baumwolle. Den weißen mit Perlen besetzten Blütenkranz steckte sie selbst in ihr blauschwarz gelocktes Haar. Um ihr Handgelenk legte sie den Rosenkranz; eine Kette mit einem Kreuz und vielen weißen Perlen, sowie ein weißes kleines Spitzentuch, in das bei der Kommunion die lange weiße Kerze eingeschlagen war.

Bis zur Maiandacht durfte Christl das weiße Kleidchen behalten. Dann wurde es an die Caritas zurückgegeben.

Gerade als sie seinerzeit durch die Gärten zur Hauptstraße schlenderte, um bis zur Pfarrkirche Jedlesee zu gelangen, fing es an zu regnen. Sie müsste dann noch die Hauptstraße überqueren, über einen Feldweg bis zur Anton Bosch Straße laufen und in den Lorettoplatz einbiegen.

Unterwegs widerfuhr ihr das Besondere. Aus dem teils mit Glas eingesetzten Beton-Unterstand der 132er Straßenbahn - Haltestelle, winkte sie ein junges Pärchen zu sich.

„Komm schnell her. Stell dich unter. Du wirst ja ganz nass“, meinte der junge Mann.

Christl zögerte. Sie soll sich doch vor fremden Leuten in Acht nehmen. Sie verlangsamte ihre Schritte und wollte dann kurz vor dem Unterstell-Häuschen schnell weiter laufen. Der Mann kam an sie ran, schob sie leicht an ihrer Schulter ins Wartehäuschen. Dabei hielt er schützend einen Regenschirm über sie.

„Warte hier den Regen ab. Dieser Wolkenbruch wird bald vorbei sein“, bot er Christl an und wandte sich zu seiner Begleiterin:

„Das ist wohl der süßeste Engel, den ich je gesehen habe und auch noch lebendig.“

„Wenn das kein gutes Omen ist“, meinte seine Begleiterin.

„Sicher. Ich halte es für möglich. Sie ist ein Zeichen vom Himmel, der kleine schwarzgelockte Engel“, meinte er.

„Wohin willst du denn?“ Fragte die junge Frau und kramte in ihrer Tasche.

„Zur Maiandacht in die Maria Loretto-Kirche“, antwortete Christl.

„Fahr mit uns mit der Bim. An der Anton Bosch Straße kannst du dann aussteigen. Du wirst ja sonst ganz nass und erkältest dich.“

„Aber nein. Ich laufe über die Felder und bin schneller als die Bim.“

Die junge Frau überreichte Christl ein in buntem Glanzpapier verpacktes Zuckerl (Bonbon) und fragte ihren Begleiter: „Hast du etwas Geld für die Kleine?“

Der Mann fasste in seine Hosentasche und überreichte Christl einen Schilling.

„Dankeschön“, strahlte sie und fühlte sich in einer überglücklichen Gemütsverfassung. Die Tramway nahm das junge Pärchen mit. Sie winkten Christl freundlich zu.

„Ba-Ba, Engerl“.

Der heftige Regen hatte nachgelassen. Es tröpfelte.

Komischerweise hat kein einziges Regentröpfchen Christls Haare oder das Kleidchen erfasst. Christl blieb trocken bis hin den weiten Weg zur Kirche. Erstaunt fragte sie sich: „bin ich wirklich ein Engerl?“

In der Kirche angekommen, reihte sich Christl zu den anderen Kindern ein. Orgelmusik drang an ihr Ohr. Dies erfüllte sie mit Inbrunst und sie faltete andächtig die Hände. Gerade als der Gottesdiener am Altar predigte:

„Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut ihr alles in dem Namen des HERRN Jesu“, lief der Mesner mit dem Klingelbeutel auffordern von Bank zu Bank und in die Gänge der Kirche.

Der Küster schepperte den Opfer-Beutel, der an langen Stäben befestigt war, auch vor Christl auf und ab. Sie guckte ihn mit großen Augen an, zögerte kurz und ließ den einen Schilling wohlgesinnt in den Beutel fallen: „Das gehört dem lieben Gott“.

Das war vor zwei Jahren.

Warum gehen wir nicht in die Kirche, Mutti?“ hat Christl mal gefragt.

„Wozu? Ich brauche die nicht. Die Paffen predigen Wasser und trinken selbst Wein“, erklärte seinerzeit die Mutti.

„Ihre Märchen kann glauben wer mag. Glauben heißt nämlich nichts wissen. Ich weiß, dass ein Kilo Rindfleisch eine gute Suppe gibt. Die ganze Sippschaft der sogenannten selbst ernannten Heiligen sind Heuchler.

Sogar gegen ihr Zölibat verstoßen diese vermeintlichen Gottesdiener. In den Klöster-Kindergärten findet man etliche Waisenkinder, deren Herkunft keiner kennt.

Pharisäer sind`s.

Und die gläubigen Weiber? Protzen in der Kirche mit ihrem Sonntagsstaat. Glotzen von einer zur anderen, klatschen und tratschen. Reden über die Angelegenheiten anderer und das, meist schlecht.

Scheinheilig schlucken sie mit niedergeschlagen Blick und gefalteten Händen die Hostie. Das soll Jesus sein, der Leib Christi. Somit glauben sie, jetzt sind`s gesegnete heilige Bürger und sündigen seelenruhig weiter.

Sündigen – beichten – beten, dann ist alles wieder vergeben. Wenn du ned grad eine Todsünde begangen hast. Und was machen einige von denen ihre Männer?

Pah! Saufen! Die sitzen in der Zwischenzeit im Wirtshaus beim Frühschoppen, an ihrem Stammtisch!

Und von wegen „Beichtgeheimnis“. Mich hat mal der Herr hochwürdige Herr Pfarrer verpfiffen!

„Bumm! Ein Ausdruck, den Christl benutzt, wenn sie über etwas staunt oder überrascht ist.

„Mutti, erzähl weiter“.

„Es war eigentlich nur eine Mutprobe zwischen meinen Brüdern und mir. Meine Brüder dachten, ich würde mich nicht trauen, beim Oberlehrer die Äpfel zu klauen“, erzählte Agnes Prochazka.

„Und? Hast du die Äpfel geklaut, Mutti?“ Christl wollte alles wissen.

„Na, klar. Warum auch nicht? Gottes Früchte sind für alle gewachsen. Der Zaun war niedrig. Außerdem verhalfen mir die Geschwister rüber und n`über. Ah, was hangen da auf dem Baum für herrlich große Äpfel. Oh, Mann, waren die saftig! Jeder Biss krachte und spritzte.

Doch dann plagte mich das schlechte Gewissen. War das Diebstahl? Naja, wegen dem siebenten Gebot: „Du sollst nicht stehlen“. Dann ging ich auch brav zur Beichte.

„Was ist dann passiert, Mutti?“

„Ach du lieber mein Gott! Wenn ich daran denke! Gleich am nächsten Schultag, zog mich der Herr Oberlehrer vor den anderen Kindern an den Ohren in den Konferenzraum und schrie mich an: „Hände ausstrecken!“

Und stell dir vor, mit seinem Holzstab schlug er mir einige Male mal von oben und mal auf die Innenfläche meiner Hände. Die sind natürlich gleich rot und dick angeschwollen. Ich schrie Gotts erbärmlich. Er ließ mich dann in der Ecke eine halbe Stunde lang knien.

„Au weh. Durfte er denn das mit dir machen?“ fragte Christl entrüstet.

„Ja mei, mein Kind! Körperliche Züchtigung von Kindern in den Schulen und auch daheim mit Schlägen war zu unserer Zeit ganz normal. Da habt es ihr in der jetzigen Zeit schon besser. Da wird der Lehrer von den Eltern gleich angezeigt.“

„Und was war dann, Mutti?“

„Nix war dann. Ich heulte kniend weiter wie ein Schoßhund. Aber das hat den Herrn Oberlehrer in keiner Weise beeindruckt.

Na, na, na! Mich bringen keine zehn Pferde in so ein Bethaus.“

„Und deswegen gehst nimmer in die Kirche. Kann ich verstehen“, bejahte damals Christl Muttis Meinung.

„Das sollst du noch wissen. Meine Mutter stammte aus einer adeligen Familie. Ihre einzige Sünde war, dass sie einen bürgerlichen geheiratet hat. Meinen Vater. Er war Viehhirte und arm. Meine Mutter wurde enterbt. Ich hatte noch drei Brüder. Ich war das vierte Kind. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Sie war eine zarte Frau, erzählte mir mein Vater, der uns alle vier großgezogen hat. Ich wurde aber von meinem Vater und meinen Brüdern sehr verwöhnt.

„Ach Mutti, dann warst du ja eine Halbweise.“

„Ja, aber ich hatte einen guten Vater. Damals galt auch noch der „Ablass“. Die Sünden wurden einem Sterbenden erlassen, wenn sein Hab und Gut der römisch-katholischen Kirche überschrieben wurde. Ja, ja, das war so. Und jeder hat`s geglaubt und gedacht, er kommt in den Himmel. Wie der ausgeschaut hat, der Himmel, das hat sich halt auch jeder selbst ausgemalt.

Vielleicht hat auch mein Großvater Hab und Gut an die Kirche vermacht.“

„Oh, Mutti! Das ist eine entsetzliche Geschichte.

Deswegen hat man früher Bücher verboten, um die Leute dumm zu halten“, leuchtete es Christl ein.

„Jetzt kannst du auch verstehen, weshalb ich so überhaupt nichts mehr von der Kirche und deren ganzen Hokuspokus halte.“ Äußerte sich Agnes Prochazka.

Tja, das war schon eine sehr schlimme Zeit. Aber auch, dass die Kind-Erziehung mit beabsichtigten körperlichen Schmerzen erfolgte. Leider geben es die meisten von damals „Geprügelten und Gezüchtigten“ es heute immer noch an Schwächere weiter.

Der Sonntag, der kein Sonntag war

Irgendwie fühlt sich Christl an diesem Sonntag recht unwohl. Jetzt ist die ganze Familie schon auf den Beinen.

Vati trinkt aus einem Blechhäferl seinen schwarzen Kaffee und dreht geräuschvoll die Sender am Radio. Es gibt eh nur drei. Aber diese klirrenden, pfeifenden Schwingtöne gehen durch Mark und Bein. Mutti klappert mit Geschirr im Esszimmer. Doch weder Streit noch Türenschlagen wie üblich, ist heute zu hören. Das ist arg unheimlich. Helene kuschelt noch im Bett mit dem Kopfkissen. Jetzt gehört es ihr ganz allein. Sie reckt sich breit und ausgestreckt in dem großen Doppelbett. So viel Platz auf einmal zu haben, muss sie auskosten.

Irgendwas stimmt heute nicht. Die dicke Luft ist zum Greifen.

Streichelnd fragt Christl ihren unterm Küchentisch liegenden Hund, der eigentlich Roswitha gehört:

„Sag mal Prinzilen, ist was passiert? Hast Du was angestellt? Oder ich vielleicht?“

Prinz klopft nur mit dem Schwanz auf dem Boden und Christl hat Hunger. Sie verteilt Haferflocken auf Teller für den Hund und für sich. Prinz steht unterm Küchentisch auf und blickt mit wedelndem Schwanz Christl erwartungsvoll an. Sie selbst mischt sich zu den Haferflocken eine große Portion Zucker hinzu. Was Besseres zum Essen gibt’s im Moment nicht.

Prinz leckt schmatzend den Teller leer, begibt sich zurück in seine gewohnte Liegestellung und beobachtet Christl, ob sie bald mit ihm „Gassi„ geht. Diese hüpft auf die gepolsterte Eckbank und schiebt die Scheibenvorhänge vom Küchenfester zurück. Sie blinzelt hinaus zu der kleinen Rasenfläche vorm Haus. Ihre Blicke streifen den seit einer Ewigkeit stehenden Mörteltrog, den Haufen mit den teils total kaputten und teils mit Zement behafteten Ziegelsteinen, sowie zum breiten, unebenen Schotterweg, der zur Bahndammwiese führt.

Menschenleer ist`s da draußen. Das Herumziehen, Streunen über Wiesen und Felder, fällt heute für die beiden Vagabunden flach. Auch das ausgelassene, fröhliche Drehen mit ausgestreckten Armen unter den warmen Sonnenstrahlen. Und Blumen für Mutti? Nein.

Die Blumen interessieren sie heute auch nicht. Fast täglich pflückte sie für ihre Mutti auf den Bahndamm der Franz-Josef-Bahn eine Hand voll blühender Gräser, Blumen und Blätter. Beim Überreichen des bunten Sträußchens strahlte sie ihre Mutti an und sagte immer die gleichen Worte:

"Für dich Mutti. Hast mich lieb?"

Mit einem gedehnten ´Jaaaa´ wurde Christl jedes Mal zur Seite geschoben. „Jetzt gib halt wieder mal a Ruah. Wie oft fragst denn noch?“

Hm, wie lange Christl noch bohren wird? Naja, bis sie mal was vom Liebhaben bemerken und spüren würde.

Sie sehnt sich danach, mal in den Arm genommen und gestreichelt zu werden. Genauso wie sie es mit ihrem Hund Prinz macht. Den zeigt sie jeden Moment, dass sie ihn lieb hat. Allen ist sie im Weg, keiner beachtet sie.

Sie hat sich entschlossen, doch noch mit Prinz nach draußen zu gehen. Auf der Wiese pflückt sie für Mutti Blümchen und steht erwartungsvoll vor ihr in der Küche.

Vati sitzt mit dem Häferl frisch dampfenden schwarzen Kaffee beim Küchentisch und hält eine Zeitung vors Gesicht. Zwischen seinen Fingern qualmt eine Dreier-Zigarette. Keiner hat sein Augenmerk auf Christl gerichtet. Mit hängendem Kopf steckt sie das Wiesensträußchen in einen Becher mit Wasser und stellt es in die Mitte vom großen Esstisch im Wohnzimmer.

„Komm Prinz, wir laufen über die Wiesen.“

Plötzlich stehen Editha, Christls Mama und ein fremder Mann im Hausflur. Mutti geht auf die beiden zu. Sie debattieren derart laut, als würden sie streiten. Oh-ja, sie streiten wirklich! Gerade möchte sich Christl unter den Streitenden mit ihrem Hund Prinz verdrücken, da packt sie kurz vorm Ausgang ihre Mama am Arm.

"Halt mein Fräulein, hiergeblieben. Wir haben dir einiges mitzuteilen“.

„Mutti, ich will raus!“ Christl erhofft sich von Mutti die nötige Hilfe.

„Was heißt hier Mutti“?! Sagt entrüstet Christls Mama.

Erstens, grüßt man Leute, wenn sie kommen.

Zweitens, ist diese Frau nicht deine Mutti! Sie ist deine Großmutter. Du nennst sie ab sofort auch so! Großmutter! Verstanden?!

Drittens, du hast jetzt einen Papa“. Editha deutet auf ihre Begleitung.

„Und viertens, meine Tochter, du heißt nicht so primitiv Christl, sondern Christine!

Deine Großmutter hat mich damals taktlos übergangen.

Herrschsüchtig wie sie ist, hat sie den Namen Christl in die Geburtsurkunde eintragen lassen.“

Christl starrt Editha reglos und entgeistert an. Agnes Prochazka will was erwidern, aber Editha schneidet ihr das Wort ab.

„Wir bringen dich in ein wunderschönes Haus mit Garten.

Du hast ein eigenes Zimmer. Ein eigenes Bett. Du wirst es gut haben bei uns. Ein Wasserbecken zum Plantschen wartet auch schon auf dich in einem großen Garten.“

Der fremde Mann fügt hinzu: „Zwei Gärten mit Obstbäumen hast du. Zwei!“

Er wendet sich an Agnes Prochazka:

"Hat denn das Kind keine Schuhe? Ziehen sie dem Kind was Ordentliches an, Frau Prochazka!“

„Die Christl bleibt da!“ pfaucht Agnes Prochazka.

„Heute müssen sie uns das Kind aushändigen. Das Dokument ist ordnungsgemäß. Diesmal steht der Name richtig darin, den sie damals so blödsinnig und primitiv auf „Christl“ ausstellen ließen. Sonst kommen wir nochmals mit der Polizei."

"Von ihnen lasse ich mir schon gar nichts befehlen. Ihre Papiere können sie sich sonst wohin stecken. Von mir aus auch an ihren doofen Hut. Herr … Herr . Wie heißen sie?“

„Raimund Bleisteiner ist mein Name und ich bin der gesetzlich angetraute Ehemann von ihrer Tochter Editha.“

„Die Christl will doch gar nicht zu euch. Hier ist ihr zu Hause. Das war es von Anfang an und so soll es auch bleiben! Ihr habt euch volle neun Jahre bis jetzt einen Dreck um sie gekümmert. Woher denn euer plötzlicher Sinneswandel? Schleicht euch, aber sofort! Verschwindet auf der Stelle!“

Agnes Prochazka kramt das zerknäulte Dokument aus ihrer Schürzentasche. Liest es nochmals durch und betrachtet den amtlichen Stempel vom Jugendamt.

Murmelnd neigt sie sich zu Christl:

“So einem dahergelaufenen Gesindel kann man kein Kind anvertrauen. Wer weiß, was die dem Jugendamt vorgelogen haben. Christl, willst du mit den Zweien mit?

Weg von mir, deiner Mutti? Für immer? Zu dieser aufgedonnerten Frau, die jetzt auf einmal deine Mama sein möchte. Und zu diesem aufgeblasene Gockel? Dein Papa! Pahhh!"

"Zu Mama"? hört sich Christl selbst weinerlich sprechen.

Mehr brachte sie aus ihrer Kehle nicht raus. In ihrem Kopf verheddern sich die Gedanken wie ein aufgelöster wirrer Wollknäuel.

"Reden sie dem Kind nicht solch einen Blödsinn ein. Sie haben keine Erziehungsberechtigung mehr. Sie werden sich noch wundern, was ihnen das Jugendamt noch vorwerfen wird. Sie haben das Kind total verwahrlost aufwachsen lassen. Und wie man sieht, haben sie durch Ihre Vernachlässigung eine chronische Unterversorgung des Kindes bewirkt. Es schädigt seine Lebensbedürfnisse. Hemmt die körperliche, geistige und seelische Entwicklung.

So, und jetzt machen sie das Kind endlich reisefertig."

Editha mischt sich ein: "Christine soll sich erst mal waschen. Mit so einem verdreckten Kind fallen wir unangenehm auf. Man erntet nur missbilligende Blicke."

"Ja, wie redet denn der auf einmal gar so geschwollen daher! Sie aufgeblasener Wichtigtuer. Hier habe immer noch ICH das Wort! Und ICH sage WAS und WANN was gemacht wird. Ihr habt doch mit der Christl was Bestimmtes vor?! Das kann mir keiner weismachen, dass ihr aus Rücksicht und Liebe das Kind zu euch holt. Da steckt doch sicher eine bösartige Schlechtigkeit dahinter.

Ich kenn euch schon, ihr dahergelaufenes Gesindel.

Christl, geh dich waschen!" Muttis unweigerlicher, auszuführender Befehl.

„Halten sie doch ihren schmutzigen Mund, Frau Prochazka. Achten sie lieber auf ihre Sauberkeit. Man kann nicht in Worte fassen, wie schmuddelig sie aussehen. Ich erkennen bei Ihnen, wie auch bei Christine, dass Körperpflege ein Fremdwort für sie ist“, schimpft Raimund Bleisteiner und verlässt das Haus.

„Schleich dich, du aufschneiderischer Hanswurst.“ Agnes Prochazka wirft dem Mann von Editha noch einige böse Schimpfworte hinterher und geht aufgebracht in die Küche zu ihrem Mann, Maximilian Prochazka.

„Vater, so sag halt auch einmal was! Sprich mal ein Machtwort. Die wollen die Christl wegnehmen“, fleht Agnes Prochazka ihren Mann an.

„Ein Kind gehört zur Mutter. Mehr sag ich nicht“.

Maximilian Prochazka liest selenruhig in seiner Zeitung weiter.

„Einmal, wenn man von dir Hilfe braucht. Du bist seit sie dich von Stalingrad heimgelassen haben, zu nichts zu gebrauchen. Ein Gefrett ist`s mit dir“, jammert Agnes Prochazka.

Christl schaut verschreckt von einem zum anderen. Dann beugt sie sich über ihren Hund Prinz. Kauert sich hilflos schutzsuchend zu ihm unterm Küchentisch.

Unaufhaltsamer Tränenfluss rollt über ihr Gesicht. Sie streichelt ihren Hund Prinz und er leckt ihre Tränen ab.

Ein Hund spürt alles; er fühlt Deinen Kummer, deinen Schmerz.

Ein Hund zeigt Freude, Liebe und auch Trauer mit seinem kleinen Herz.

Ein Hund besitzt DAS, was man bei Menschen häufig vermisst -

Traurig, wenn man sein Tier verlassen muss oder gar vergisst.

Der Mann, den sie Papa nennen soll, kommt zurück und zerrt das Mädchen ruckartig an einem Arm hoch:

"Das ist unhygienisch Christine! Wasch dich jetzt, wir müssen fahren, es wird sonst zu spät. Du musst morgen früh zeitig aus dem Bett.“

Folgsam steht sie auf. Sieht traurig immer wieder nach ihrem Prinz, während sie ihr Gesicht und Hals mit Kernseife in einer Waschschüssel mit kaltem Wasser reinigt. Sie blickt sich suchend mit nass tropfenden Gesichtchen und Händen nach einem Abtrocktuch um.

Mutti fährt ihr mit ihrer ungewaschenen Arbeits-Schürze ins Gesicht und schubst sie zu den Wartenden.

Eine feste Hand zieht Christine aus dem Haus, in dem sie fast zehn Jahre glücklich gelebt hat.

Editha hat mit Raimunds Unterstützung und mit Hilfe der Fürsorge erreicht was sie wollte. Nicht aus Sehnsucht, und schon gar nicht aus Liebe zu ihrem Kind, hat sie ihre Tochter von Agnes Prochazka weggeholt. Sie kann nun ihren Racheplan in die Tat umsetzen. Christine ist bei ihr.

Wann wird Christine Ihren Hund Prinz wiedersehen? Wer füttert nun die Hühner, Ziegen und Hasen, wenn sie nicht mehr da ist?

Das neue Zuhause

Mit quälenden Gedanken und hängendem Kopf bewegt sich Christine zwischen Editha und dem Mann zur Tramway-Station Floridsdorf.

Es ist nur ein dreißig Minuten langer Fußmarsch. Für Christl, ach so, jetzt heißt sie Christine, ist es diesmal ein mühselig, beschwerlicher Weg.

Ein Papa soll das sein? Das ist nicht ihr Papa! Ihren richtigen Papa hat sie schon oft in ihren Träumen gesehen.

Er ist groß und stark. Hat breite Schultern und viele dunkle Haare wie sie. Er hat ein strenges aber auch ein gütiges Gesicht. Seine großen Hände sind zum Beschützen da. Er trägt sie so oft im Traum am Arm und streichelte sie. Kauft ihr viele bunte Zuckerln, Cremschnitten, Schokolade und im Sommer täglich zwei Kugeln Eis. Er hat auch ein Auto. Ein großes, schwarzes Auto. Einen Mercedes. Christines schönster Traum.

Dieser Mann kann gar nicht ihr Papa sein. Er hat eine viel zu große Nase und seine Haare sind hell und kleben fast auf seinem Kopf. Freundlich ist er auch nicht. Er mag den Hund Prinz nicht. Unhygienisch sei es, wenn der Hund Tränen ableckt, hat er gesagt. Wenn er keine Hunde leiden kann, mag er auch keine Kinder.

Und die Mama? Sie mag doch ihre Tochter gar nicht.

Kein einziges Mal hat sie das Mädchen gestreichelt oder was Nettes zu ihr gesagt. Warum und wozu holen sie wohl Christine von ihrer Mutti weg, von ihrem Prinz aus einer kindlichen Idylle?

Still und bekümmert sitzt Christine zwischen ihren jetzigen Erziehern in der Tramway. Sie versteht nicht, was sich Mama und der neue Papa laufend flüsternd zu sagen haben. Warum tuscheln sie? Darf sie das nicht hören? Ihr Inneres und ihr Kopf lehnen sich bereits gegen diese beiden Menschen auf.

Eineinhalb Stunden sind sie schon unterwegs. Von der 132iger BIM, der Tramway müssen sie in die 46. Bahn umsteigen und bis nach Ottakring fahren. Nach einem zwanzig Minuten langen Fußmarsch erreichen sie das Siedlungshaus, das Christines neues Heim werden soll.

Es ist schon spät am Abend und Christine wird ins Bett im ersten Stock des Hauses geschickt.

Ihr Zimmer erreicht sie durch eine steile schmale Holztreppe. Sie sieht sich in dem Kabinett um, das nun ihr ganz allein gehören soll.

Es ist schön, bemerkt sie leise. Eine weiße Kommode mit einem großen schwenkbaren runden Spiegel, davor ein breiter weißer Holz-Stuhl mit Armlehnen stehen in einer Ecke neben einem dreiteiligen Fenster. Schade, es ist leider schon finster. Christine kann nur die Lichter einiger Straßenlaternen in der Weite erkennen.

Neben einer weiß lackierten Holztür steht ein weiß lackierter Kleiderschrank. Sie öffnet ihn. Ein komischer unangenehmer Geruch von Mottenkugeln strömt ihr in die Nase. Sie sieht ein dunkelblaues Baumwollkleid mit weißem verwaschenem Kragen, einen grauen abgetragenen Wollmantel, eine hellblaue Strickweste mit Lederverstärkung an den Ellenbogen und unten findet sie ein Paar hellbraune Halbschuhe mit ganz, ganz dicken beigen Kunststoff-Sohlen; eine braun gemusterte Wolldecke liegt gefaltet daneben.

Sind diese Sachen für Christine? Oder war da schon ein anderes Kind?

Ihr Magen knurrt und zwickt. Morgen wird sie sich umsehen, ob und was es zu essen gibt. Die werden doch sicher Haferflocken haben.

Christine hört ihre Mutter von unten rufen.

"Mach sofort das Licht aus und schlaf. Du musst früh auf.

Schlaf jetzt!"

Sie nimmt ihr Bett in Augenschein. Es ist auch weiß. Ein hohes, weißes Holzbett mit einer dicken blau gemusterten Gras-Matratze drauf.

So ein schönes Bett! Auch noch zwei Kopfpolster! Und die dicke, große weiß überzogene Federdecke. Das alles ist für sie allein! Sie schnuppert am Bettlaken und Kopfkissen. Es riecht nicht unangenehm, nur ungewohnt.

Es erinnert Christl an eine Wiese im Herbst.

Neben der Tür ist der Kippschalter fürs Licht. Bevor sie ihn betätigt, guckt sie zur Deckenlampe. Um den zart geblümten Lampenschirm aus Glas schwirren Falter und andere Insekten.

„Wenn`s finster ist, werden die Viecher schon auch schlafen gehen“, denkt sie und legt sich gemächlich auf die Matratze. Wirft ein Kopfkissen ans Fußende, knipst die Stehlampe am Nachtkästchen an und streift mit staunenden Blicken ihr Kabinett ab. Durchs offene Fenster flattern jetzt weitere verschiedene Insekten.

Unter anderem singenden Stechmücken. Autsch! Schnell knipst Christl das Licht am Nachtkästchen aus und stellt sich ans offene Fenster. Sie kann jetzt noch nicht schlafen. Die Eindrücke sind für das kleine Mädchen neu und außergewöhnlich. Außerdem rebelliert ihr Magen. Er zwickt und knurrt. Er meldet Kohldampf. Das ignoriert sie, so gut sie kann und schaut noch geraume Zeit träumerisch durch die lauwarme Nacht zu den funkelnden Sternen. Sie verteilt Namen an die glitzernden Himmelskörper. Der hellste Stern bekommt den Namen ihres Hundes, „Prinz“. Handi-Bussi für dich, geliebter Prinz. Schlaf gut. Bestimmt darf sie bald den Hund zu sich holen. Die haben so viel Platz. Viele, viele Bussis drückt Christine innig auf ihre Hand und pustet diese weit in den Nachthimmel. Sie faltet die Hände zum Gebet und sagt ganz laut:

“Lieber Gott, ich bin jetzt ganz wo anders. Hoffentlich findest du mich wieder.“

Ihre Gedanken wandern zu ihrem Hund Prinz. „Jetzt musst du auch allein schlafen. Aber nicht mehr lange.

Bald hole ich dich zu mir. Bald! Ganz sicher. Du fehlst mir sehr!“

Die Decke wärmt zu gut. Sie schiebt sie nach unten und rollt sich wie ihr Hund Prinz ein. Sie kann nicht einschlafen, obwohl sie todmüde ist.

So vieles schwirrt in ihrem Köpfchen rum. Auch halten sie die stechenden Plagegeister wach. Nach dem Pieken spricht ihre Hand „klatsch, klatsch“ auf ihrem Körper. So hat sie einige dieser bösen Gössen (Gelsen, Moskitos) erschlagen können. Sie wälzt sich von einer Seite auf die andere und kann nicht einschlafen.

Der Schlaf muss sie dann doch übermannt haben, denn Mama steht plötzlich vor ihr.

"Aufwachen! Willst du nicht aufstehen? Das Frühstück wartet!"

Oh ja! Hunger hatte sie doch, und was für einen großen.

Schnell schlüpft sie in ihr Kleid und springt barfuß die vielen knarrenden Holztreppen runter.

Unten empfängt sie Mama:

"Rechts ist die Toilette und hier in der Küche wäscht du dich erst mal. Mundhygiene gehört zur Körperpflege.

Täglich früh und abends und Händewaschen vor jedem Essen. Merk dir das. Wenn du fertig bist, kannst ins Wohnzimmer zum Frühstücken kommen."

In einem kleinen Raum, das die Küche ist, steht in der Mitte ein weiß lackierter Holz-Hocker, darauf eine weiße große Email Schüssel mit etwas lauwarmem Wasser.

Daneben liegen Seife, Waschlappen, Blendax-Zahnpasta mit Zahnbürste, ein Handtuch und ein Kamm.

Alles ist für die neue Mitbewohnerin schon hergerichtet.

Vielleicht mögen sie das Mädchen doch?

Gewaschen, die langen, schwarzen Haare gekämmt und zu zwei lockigen Schwänzen gebunden, tänzelt Christine links und rechts an ihrem Kleidchen ziehend erfreut ins Wohnzimmer. Plötzlich stößt sie im Türrahmen mit einer älteren Frau zusammen.

Erschrocken halten beide inne und starren sich an. Die fremde Frau stellt ihren Koffer und die Handtasche ab, stützt ihre Arme in die Hüften und mustert Christine von oben bis unten.

"Du bist also die dieses Kind, wegen dem ich aus dem Haus muss! Mit eigenen Händen habe ICH das Haus mit aufgebaut. Es ist eine Schande! Man wirft mich einfach herzlos raus. Das Zimmer das jetzt Dir gehört war immer meines. Ich habe gekocht, gewaschen, geputzt, die ganze Gartenarbeit gemacht - alles - ja alles hier in Ordnung gehalten. Dann kommt so eine Herrscherin wie deine Mutter. Sie wirft mich hier so mir nix dir nix raus!“

Mit Tränen in den Augen neigt sie sich zu Christine:

"Werde du Kleines nicht so hart wie deine Mutter und wie mein Neffe Raimund."

Sie drückt mit dem Daumen ein Kreuzeichen auf Christines Stirn.

"Gott segne dich mein Kind; du hast warmherzige Augen.

Du kannst ja nichts dafür."

"Lass das Kind in Ruhe und gehe nun endlich", schimpft ihr Neffe Raimund. Steht vom Stuhl auf, schiebt seine alte Tante ins Freie, wirft ihr Koffer und Tasche hinterher und verschließt die Tür.

Die Fröhlichkeit ist entflohen. Ein bedrückendes Gefühl kriecht in Christine hoch. Sie hat Schuld, dass die Frau aus dem Haus muss.

„Setze dich auf die Eckbank zu den Kissen“, sagt ihre Mutter und geht zurück in die Küche.

Im Wohnzimmer erwartet Christine ein nahezu festlich gedeckter Tisch mit weißer Spitzendecke. Brennenden Kerzen geben dem Raum etwas Romantisches.

In der Mitte vom Tisch steht ein Körbchen mit viel verschiedenem Gebäck. Ein paar Milch Kipferl, Kaisersemmeln, geflochtene Mohnbrötchen und butterweiche Rosinenbrötchen. Butter, Wurst, Käse, Eier, Marmelade – fast alles was das Herz begehrt. Dem zehnjährigen Mädchen läuft bei diesem Anblick schon das Wasser in Mund zusammen.

Zwei Porzellan Kaffeehäferln mit Untertassen im zarten Streublumendekor mit hellblauem Band am Rand und feinen Goldzahnkanten stehen je auf den Stirnseiten vom Tisch.

„Den allmorgendlichen Kaffee aus diesen exquisiten Kaffeetassen im Biedermeier Stil zu trinken, ist unser Ritual. Das Geschirr stammt aus der Wiener Porzellanmanufaktur Augarten. Unter dem Häferln siehst du die Schutzmarke, das Logo der Porzellanmanufaktur“.

Sagt Raimund Bleisteiner und setzt sich bequem an eine Stirnseite vom Tisch auf einem antiken Stuhl.

Scherzend fügt er hinzu: „Um das Logo zu sehen, kippe bloß dein Häferl nicht, wenn es gefüllt ist.

Damit hat man schon manche foppen können. Erst als der Inhalt ausgeschüttet war, haben sie bemerkt, dass sie zum Narren gehalten wurden“, lacht und schenkt sich Kaffee ein.

Der braune Energiespender rinnt aus einer Porzellankanne, die das ähnliche Dekor wie die Häferln, die beiden Schalen für Butter und Marmelade hat.

Und was hat Christine für eine besondere Tasse? Ihren Kakao trinkt sie aus einem weißen mit Goldrand verzierten Porzellan-Häferl. Sie betrachtet das Stück von Österreichs populärsten Süßwaren Waren-Hersteller Manner. Innerhalb eines schwarz verschnörkelten Kranzes mit Schleife ist der Stephansdom abgebildet und überm Stephansdom liest sie „Schoclade Manner Wien“.

Dieses wunderschöne Häferl wird sie in Ehren halten.

Gegenüber von Christine sitzt in einem breiten gepolsterten Armlehne-Sessel ein alter Mann mit langem weißem Bart. Sein Schnauzbart ist nach beiden Außenseiten geschwungen und sehr gepflegt. Der betagte Mann mustert über den Tisch Christine; spricht jedoch kein Wort.

Aber er hat ein auffallend wunderschönes vergoldetes Häferl mit Porträts von zwei Kaisern, Franz Josef I. und Wilhelm II. mit dem österreichischen Adler. Der sympathische weißhaarige Mann bröckelt grad eine Semmel in seinen Milchkaffee. Laut schlürfend löffelt er diesen aus.

Am liebsten hätte jetzt Christine gesagt, „Was für ein Logo ist auf deinem Häferl“. Aber aus Rücksicht auf sein Alter, unterlässt sie solche Späße. Diesmal. Er könnte eventuell wirklich darunter gucken, dann wäre die Brühe auf seinem Schoß.

Christine grinst und macht es den alten Mann gleich. Er zwinkerte ihr von unten nach oben kurz überm Tisch zu.

"Schlürf nicht so. Du hast gar keine Manieren, meine Tochter! Der Alte schon gar nicht“.

Mama setzt sich soeben auf die andere Stirnseite vom Tisch, auf das kürzere Stück der Eckbank. Genau gegenüber von Raimund Bleisteiner.

“Das ist der Großvater. Er wohnt nebenan in der Kammer. Dort hast du nichts zu suchen. Verstanden?“ hört sie ihre Mama sagen

„Beeile dich mit dem Frühstück. Geht´s nicht ein bisserl schneller? Wir müssen dich in der Schule anmelden und dir die Haare schneiden lassen. - Lange Haare kurzer Verstand -, lass dir das gesagt sein! Außerdem wollen wir dich vor Putz- und Gefallsüchtigkeit schützen.“

Christine erschrickt. Ihre Haare will sie ihr schneiden lassen? Um wieviel sollen die kürzer werden? Erst mal abwarten und sich nicht jetzt schon über ungelegte Eier Sorgen machen.

Eier, Marmelade, Butter, Brot und Semmeln befinden sich verführerisch greifnahe auf dem Tisch. Hm, lecker.

Schlaraffenland hat geöffnet. Aber sie kann nicht richtig genießen und alles essen, was sie möchte, weil sie sich beeilen muss.

Es verbleibt Christine auch nicht viel Zeit den Garten zu begutachten. Aber was sie sieht, das gefällt ihr. Früchte tragende Bäume und Sträucher, ein riesengroßer Nussbaum zum Raufklettern und viele bunte Blumen. Sie stopft sich den Mund mit einem Rosinenbrötchen voll und folgt ihrer Mama zur Tramway.

Dem Großvater schickt sie ganz schnell hinter dem Rücken ihrer Mutter ein Handi-Bussi, schluckt rasch den einen Bissen vom Rosinenbrötchen runter und ruft:

"Ba-Ba, bin gleich wieder da Großvater!“

Und mampft genussvoll das leckere Brötchen aus Hefeteig, Quark und mit Rosinen, weiter.

Großvater, Franz-Josef Navratil mit vollem Namen, ist 79 Jahre. Er winkt dem kleinen Mädchen zurück und drehte verlegen an seinem Zwirbelbart.

Die vielen neuen Eindrücke bewegen sich aufgewühlt und aufregend in Christines Kopf.

Dass man ihre langen blauschwarzen Haare ratzeputz abgeschnitten hat, darüber ist zu traurig. Sie betrachtet sich im Schwenkspiegel:

„Ist ja schrecklich! Ich sehe jetzt wie ein Junge aus! So läuft doch kein Mädchen rum. Meine schönen dicken Zöpfe sind abgeschnitten.“

Hm. Lange Haare kurzer Verstand, hat Mama gesagt.

Jetzt müsste ja der Verstand wachsen, wenn das stimmt.

Sichtlich bedrückt und lustlos möchte sich Christine wieder hinauf in ihr Zimmer begeben und sich in ihr Bett verkriechen. Aber Edithas Stimme mit einem gewissen drohenden Unterton hält sie zurück.

„Sag mal, wer weiß denn schon von deinen Freunden, dass du hier wohnst?“ fragt sie ihre Mutter so aus heiterem Himmel.

„Freunde? Welche Freunde? Ich habe doch nur meinen Hund Prinz und die kleine Sieglinde vom Bahnwärterhaus und Heidrun aus der Parzelle wo Mutti wohnt. Die wissen doch nicht, dass ich nicht mehr in Floridsdorf wohne“.

Christine ist verunsichert.

„Warum?“

„Ja, nur so. Da haben ein paar Burschen in den Garten geschaut. Die sind etwas länger stehen geblieben. So, als würden sie auf dich warten. Wer waren die?“ Forscht ihre Mutter.

„Das weiß ich nicht, Ich habe niemanden gesehen.“

Entgegnet Christine und schickt sich an auf ihr Zimmer zu gehen.

„Hierbleiben! Ich bin noch nicht fertig“. Editha befragt ihre Tochter weiter gefährlich beißend und scharf:

„Hast du ein Zuckerl (Bonbon) in deiner Goschen, so kurz vorm Essen? Du weißt doch, dass man vor dem Essen nicht nascht!“

Oh, ja, das weiß Christine. Aber was soll sie darauf sagen? Wieso benimmt Mama sich so komisch. Ja, sie hat den extragroßen Himbeerbonbon noch im Mund. Das sind ihre Lieblings-Zuckerln. Das Sackerl mit den großen Himbeer-Bonbons liegt grad so auffordernd offen am Tisch, als würden sie sagen: „nimm mich, nimm mich“.

Spontan schluckt sie das Zuckerl runter. Beinahe wäre der große Bonbon im Hals stecken geblieben. Doch jetzt hat sie ihn nicht mehr in Mund. Der Bonbon ist weg. Um die skurrile Situation abzuschwächen sagt sie lächelnd „nein“.

„Hauch mich an!“ Brüllt die Mutter.

Christine gehorcht und denkt, es sei Spaß. Doch das sieht ihre Mutter anders. Sie riecht an Christines Mund und gerät in Rage.

„Du Lügnerin, du verdammte! Du Bangert von einem Ausländer. Ich bring dich um.“

Sie haut auf ihre Tochter unbeherrscht und hemmungslos mit Händen, den Fäusten so lange ein, bis ihr Kind zusammen gekauert am Boden liegt. Dann tritt sie das zehnjährige Mädchen mit den Füßen, sodass Christine Wasser und Kot verliert. Christine schreit nicht. Sie weint auch nicht. Lediglich ein unangenehmes ständiges Aufstoßen wie Schluckauf durchzuckt ihren Körper.

Durch das Geschrei von Editha, die während des Tretens immer noch kreischt:

„ich bring dich um, ich bring dich um“ stürmen Großvater und Raimund Bleisteiner ins Wohnzimmer. Raimund Bleisteiner zieht Editha von ihrer Tochter weg und beschwichtigt seine Frau. Großvater weint. Er droht der Frau mit dem Stock und beugt sich über das kleine Bündel am Boden.

„Mein armes Kind. Deine Mutter gehört eingesperrt.“

Editha hat gehört, was der alte Mann gesagt hat und will auf ihn losstürzen. Raimund hält sie fest am Arm zurück.

„Was war denn los Editha. Wir reden gleich miteinander.

Ich bringe dein Kind erst mal rauf in ihr Zimmer“.

Er zündet Editha eine Zigarette an.

„Rauch mal in Ruhe und dann reden wir. Ich bin gleich wieder da.

Franz geh du in deine Kammer, hast gehört?“ befiehlt Raimund dem Großvater. Der nickt bejahend und schlurft in seine Kammer zurück.

Der Stiefvater trägt Christine, so wie sie gekauert hat, rauf in ihr Bett und deckt sie zu. Dann geht er wieder runter. Das ständige ruckartige Aufstoßen in Christines Körper hört nicht auf: „ick, ick, ick, ick“. Sie kann`s nicht stoppen.

Sie weiß nicht wie lange sie schon im Bett liegt. Plötzlich spürt sie eine streichelnde Hand am Kopf und Gesicht.

Christine macht die Augen auf und sieht ihre Mutter.

Erschreckt zuckt sie zurück unter die Decke. Kein Wort sagt die Mutter zu ihr und streichelt ihre Tochter weiter über der Decke. Überraschend ist das Aufstoßen weg.

Christine weint lautlos.

Ihre Mutter bleibt noch lange still an Christines Bett sitzen. Zieht die Bettdecke vorsichtig etwas zurück, merkt, dass ihre Tochter eingeschlafen sein muss und geht zurück ins Wohnzimmer. Christine ist nicht eingeschlafen. Sie verspürt auch keine Schmerzen. Sie ist nur unsagbar todunglücklich. Man versteht sie nicht.

Langsam bewegt sie sich aus ihrer gekrümmte Haltung.

Sie lebt noch. Streckt behutsam ihre Beine aus, betrachtet ihre Arme und denkt „ist alles noch dran“, und schläft ein.

Christine hat die Nacht durchgeschlafen. Die Sonne strahlt ins Zimmer. Sanft bläst der Wind immer wieder Weinblätter vom Spalier an der Mauer, die zum Kammer-Fenster hochgewachsen sind. Ein kleiner Vogel fliegt aufs Fensterbrett. Er hat ein hellblaues Köpfchen und ein weißes Gesicht. Ein schmaler, schwarzer Augenstreifen geht rundum bis zu seinem kleinen, dunkel, hornbraunen Schnabel. Sein Gefieder ist blau-gelb. Es ist eine Blaumeise. So einen lieben, kleinen Vogel hat sie noch nie gesehen. Ob das Vöglein der liebe Gott geschickt hat?

Das Mädchen schaut lange zum Fenster. Dort ist die Freiheit. Im Himmel.

Das Vögelchen hüpft so vergnügt hin und her und bleibt ziemlich lang am Fenster. Es hopst das ganze Fensterbrett ab. Verhält sich für einen Moment ganz ruhig und sieht Christine an. Jetzt fliegt es weg. Hat sich mein Schutzengerl gemeldet? Nimm mich mit Schutzengerl.

Beim Aufstehen hat das Mädchen am ganzen Körper Schmerzen. Seufzt und stöhnt.

Wenn nicht zusätzlich der Magen knurren und zwicken würde, hätte sie die Zimmertür abgesperrt und wäre im Bett liegen geblieben. Was war das gestern bloß für ein schlimmer Tag. Sie wird so gehasst, dass ihre Mutter Gründe sucht, sie zu bestrafen. Sie hat doch nicht gelogen. Das Zuckerl war doch schon im Schlund. Das hat ihre Mutter nicht witzig aufgefasst.

Es wäre sehr schön hier. Eine Oase in einer Großstadt.

Doch was nützt es, wenn sich Menschen nicht mögen und nicht vertragen.

Die neue Schule

Die alte Volkschule in Jedlesee besucht Christine nie mehr. Sie kommt jetzt in die 1. Klasse der „Kooperativen Mittelschule„ im Wiener vierzehnten Bezirk in der Lortzinggasse. Neue Kameradinnen lernt sie kennen und findet sofort Anschluss. Sie geht sehr gerne zur Schule.

Die Frau Lehrerin Schamschurer ist besonders nett. Sie lobt Christine für Ihr aufmerksames Mitwirken im Unterricht, die richtigen Hausaufgaben und ihr auffallend gutes Sozialverhalten.

Bildung und strenge Erziehung für Christine haben Editha und ihr Mann fest im Auge. Es ist wichtig für ihr Fortkommen. Damit Christine nicht auf dumme Gedanken kommt und auf die schiefe Bahn gerät, stellen Editha und Raimund Bleisteiner einen Tagesplan auf.

Für Hausaufgaben und Freizeit bekommt Christine am Tag je eine Stunde.

Die übrige Zeit nach der Schule und am Wochenende ist ebenfalls fest verplant. Hausarbeit verrichten.

Geschirr abwaschen, Wohnzimmer aufräumen, Boden kehren und wischen. Die Kunststoff-Läufer mit Spezialfett einlassen und polieren. Blumen gießen, Schuhe putzen.

Bei Bedarf, auch einkaufen gehen und dem Großvater täglich mit dem Tee-Ei Tee machen. Wäsche in Ordnung bringen; das bedeutet, Socken flicken, die von Großvater, Papa und die eigenen Strümpfe.

Sie kann aber keine Socken flicken. Das wird ihr trotz Protest und Tränen in Kürze beigebracht. Auf dem Stopfholz steht eingebrannt:

„Wenn dich die bösen Buben locken, bleib zu Haus und stopfe Socken“.

Mama trägt Seidenstrümpfe und Christine Strickstrümpfe mit Hüfthalter. Weil die Klipse vom Straps nicht halten und ständig kaputt gehen, dann auch noch die Strümpfe runter rutschen, trägt das Mädchen zusätzlich Gummibänder. Am geeignetsten dafür findet sie die dicken, roten Einweckgummis von Mamas Einkochgläsern. Sie schämt sich, noch mit Strickstrümpfen zur Schule zu gehen, während ihre Mitschülerinnen Strümpfe aus Perlon tragen. Sogar Seidenstrümpfe mit Naht. Christine bemerkt die mitleidsvollen Blicke ihrer Kameradinnen, zuckt die Achsel und senkt betreten den Kopf. Was soll sie tun. Na gut, sie zieht ihre Strickstrümpfe - egal bei welchem Wetter - nach ein paar Metern von zu Hause wieder aus.

Ihre Beine haben beinahe die gleiche Farbe wie die hauchdünnen Seiden- und Perlonstrümpfe Ihrer Schulkameradinnen.

Bei Mama Einspruch zu erheben, Protest einzulegen ist vergebens. Christine hat´s paarmal probiert gemeckert und gemotzt.

„Was? Du widersprichst? Du schreibst jetzt zehn Mal - ich soll nicht widersprechen. Widersprichst du nochmals werden es zwanzig Mal sein und so weiter. Also überleg es dir ja gut! Du büßt das alles von deiner Freizeit ein“.

Rebellisch widerspricht Christine immer wieder. Trotzig und zornig stampft sie wütend mit dem Fuß auf.

„Solltest du nochmals aufstampfen, bekommst du eine Woche Hausarrest Und auch eine saftige Watschen!“

„Pah – ich komme doch eh schon nicht mehr aus dem Haus wegen eurer Arbeit, die ICH machen muss.“ Lehnt sich das jetzt erboste, zornige Mädchen auf.

„So! Das hast du dir jetzt selbst zu zuschreiben. Eine Woche Hausarrest und außerdem schreibst hundert Mal ich soll nicht frech zurück reden.

Jetzt verschwind schleunigst nach oben in dein Zimmer, aber flott bevor mir die Hand ausrutscht.“

Vor Wut heulend trampelt Christine heftig polternd die Holztreppen hoch und sperrt sich in ihrer Kammer ein.

Sie beginnt zu schreiben. Ein Din A4 Papier fängt mit dem Satz an: „ich soll nicht widersprechen“. Darunter setzt sie zwanzig Mal die Apostroph Zeichen als Wiederholung.

Das zweite Blatt Papier enthält den Satz „ich soll nicht frech zurückreden“. Christine zeichnet einhundert Apostroph Zeichen als Wiederholung und kommt sich sehr witzig und schlau vor.

Da sowieso keiner mehr im Haus außer dem Großvater ist, fühlt sie sich erleichtert und leistet Großvater Gesellschaft.

Sie macht es dem hochbetagten Herrn im Wohnzimmer auf seinem breiten gepolsterten Arm-Lehnsessel mit einem Kissen gemütlich. Reicht ihm seine Lieblingszigarre, die Virginia und möchte diese mit einem Streichholz anzünden. Die Streichholzschachtel ist ein wenig feucht. Drei Hölzer hat sie schon verbraucht. Sie sind entweder abgebrochen oder die Zündköpfe abgeschliffen. Sie gibt nicht auf, und wenn es das letzte Streichholz wäre - sie schafft es.

Genüsslich zieht Großvater an der langen, dünnen Zigarre mit Mundstück und lächelt sie dankbar an.

„Du bist mein Sonnenschein. Seit dem du hier bist, gefällt mir das Leben wieder“.

Das zehnjährige Mädchen will ein klein wenig Romantik ins Wohnzimmer zaubern. Brennende Kerzen schaffen ein besonderes Fluidum.

„Die doofen Zündholzer. Dauernd gehen`s aus“.

Großvater formt seinen Mund zu einem O, dann pustet er ruckartig kleine Ringe aus. Das gefällt Christine. Ganz schnell entleert sie den stinkenden Aschenbecher, der von Mama und Papa voll mit Zigarettenkippen ist, damit Großvater seine Virginia sauber ablegen kann. Dann hüpft sie auf seinen Schoß, zwirbelt an seinen Schnauzbart, aber so, wie es Großvater immer tut – nach außen.

Der Zwirbelbart

Hatte ich was angestellt und Sorgen, habe ich nichts vor ihm verborgen.

Kletterte ich auf seinen Schoß, fühlte ich mich riesengroß.

Er hatte immer für mich Zeit – seine Geschichten versetzten mich in die Unendlichkeit.

Sein Bart war so weich und weiß - Ich durfte ich streicheln auf sein Geheiß.

Damit der Bart seine Form nicht verlor, befestigte er nachts eine Bartbinde hinters Ohr.

Ich kämmte nach außen, nach links und nach rechts sein Haar - Nur an seiner Oberlippe, weil auf seinem Haupt keines mehr war.

Die seitlich langen Barthaare an den Enden – durfte ich zwirbeln, drehen und nach oben wenden.

So war sein Zwirbelbart stets gehegt und gepflegt.

Seinen Gehstock und Zylinder reichte ich ihm beherzt für seinen Weg.

Ein großer Spiegel mit goldverziertem Rahmen hing an der Wand.

Großvater prüfte darin streng Zylinder, Zwirbelbart und Gewand.

Er kam zu mir, streichelte mein Haupt mit seiner schwächlichen Hand.

Ich spürte wie mein Herz aufging - seine Hand war zwar zittrig doch sanft.

Er lächelte und sagte: „Mein Kind, das hast du sehr gut gemacht“.

„Tja, was soll ich dir denn erzählen. Möchtest du Märchen hören? Oh, mein Mäderl, die habe ich leider alle schon vergessen.“

„Erzähl mir halt irgendwas! Von früher. Egal was.

Durchstöbere dein Hirnkastl. Irgendwas wirst schon drin finden.“

Nach paar Zügen an seiner Virginia plaudert Großvater was Unverständliches: „Auf die Fiß Holzschlappen, Vrnack in`d Höh – Jerosinim Němeci- haben`s an Idee“

„Was heißt das Großvater“

„Vrnak“ ist böhmisch und heißt „Nase“. Das haben wir über die hochnäsigen Leuten gesagt, die recht arrogant und überheblich waren, weißt du?“ Sagt Großvater und rückt sich bequemer in seinem Stuhl zurecht.

„Ich weiß auch ein tschechisches Wort - Pupík. Mutti hat gesagt, dass mein Pupik zu arg aus meinem Bauch klotzt.“

„Dein Bauchnabel steht zu arg raus? Entweder du hast einen Nabelbruch oder du solltest mehr essen. Du könntest ein bisschen Speck vertragen. Du bist etwas zu dünn, mein Kind.“

„Hm, macht nichts. Erzähl weiter Großvater“, bittet Christine lächelnd und schmiegt ihren Kopf an seine Brust.

„Großvater, bitte erzähl` mir was - hattest du früher viel mehr Spaß?

Was würdest du geben, Vergangenes nochmals zu erleben?!

Ist es denn wahr, wird man weise mit grauem Haar?

Opa, ich habe dich lieb, bin glücklich, dass es dich gibt!“

„Na gut. Da fällt mir was ein. Ist schon eine Ewigkeit her.

Also ich hatte während meiner Studierzeit immer einen steifen schwarzen Zylinderhut. Auf den war ich sehr stolz.

Ein paar meiner Kameraden hänselten mich deswegen und klopften abwechselnd auf meinen Kopfschmuck. Das hatte ich schon satt, und ich überlegt mir was“.

Während Großvater in seinem Kopf nach Erinnerungen kramt, gibt er sich gleichzeitig dem Genuss seiner Virginia hin, an der in kurzen Zügen immer in längeren Abständen zieht.

Christine drängt ihn: „Weiter Großvater, bitte rede weiter“

„Prompt hatte ich eine pompöse, also eine großartige Idee. Kannst dir denken, dass ich den Tag kaum erwarten konnte, bis wieder mal so ein frecher Studiosus mich hänseln wollte. Still aber ungeduldig wartete ich.“

Plötzlich lacht Großvater schallend aus vollem Halse, hält sich dabei seinen Bauch und hustet kräftig. Christine muss auch lachen, wartet jedoch mit Spannung, was Großvater weiter erzählen wird.

Noch immer herzhaft lachend schildert Großvater die Gegebenheit:

„Ich saß auf der Bank im Park vor der Universität und wartete lauernd auf einen Draufgänger. Als sich zwei Lümmel mir näherten, ich erkannte sie schon, und sich über meinen Zylinder lustig machten, drehte ich mich ruckartig um und sagte zu dem größeren von beiden herausfordernd: ´He, du windiges Bürschlein, das schaffst du heute nicht, meinen Zylinder einzudepschen.

Haha!

`Wie willst du das verhindern? Fragte der Kleinere und tippte schon frech grinsend auf meinen Zylinderhut.

`Du bist doch ein Schwächling`, habe ich ihm entgegnet.

Und legte noch eins drauf, indem ich den anderen, den langen, schlanken Jüngling mit „Lulatsch“ ansprach. Und du Bohnenstange, du langhalsiger Schreiberling schaffst es nicht mal den Bleistift zu halten. Kannst bald aus der Dachrinne saufen, du Lulatsch`. Ich forderte die beiden Flegel streitlustig heraus, und ich spekulierte darauf, dass sie in Rage gerieten“.

„Ui- Großvater, es waren aber zwei Männer und du warst allein. Ganz schön mutig! Was haben dann die Bursche gemacht?“

„Das wussten doch die nicht, ob nicht meine Freunde in der Nähe waren. Wir waren damals immer zu fünft. Na, was denkst du, mein Sonnenschein, was der eine Lausejunge gemacht hat?“

„Keine Ahnung, Großvater, erzähl!“

„Der kochte bereits vor Wut. Und dann passierte es, auf das ich die ganze Zeit gewartet hatte.

Haha, ich konnte mich vor Schadenfreude nicht mehr halten und lachte und lachte. Das war sicherlich hinterhältig von mir. Aber die beiden Rabauken haben`s nicht anders verdient. Sie waren mir gegenüber doch auch übel gesinnt.“

„Was ist passiert Großvater! Was denn?“ drängt Christine.

„Ha, der lange unverschämte Bursche haute mit voller Wucht auf meinen Zylinder. Sogleich schrie er wie am Spieß. Im wahrsten Sinne der Worte. Er hielt vor Schmerzen seine Hand, schimpfte und hechtete davon.

Der kleinere rannte wie ein Anhängsel hinter ihm her.“

Die Erinnerungen an das Geschehen haben Großvater dermaßen erheitert, dass Tränen vor Lachen aus seinen Augen rollen. Und immer wieder zwirbelt er an seinen Schnauzer.

„Weiter Großvater, was hast du denn an dem Zylinder gemacht?“

„Tja, man hatte mich unterschätzt. Ich bastelte mir nämlich ein Nagelbrett, das ich unter den Zylinder steckte. Dass der Zylinder dann kaputt ist, war mir der Spaß wert.“

„Bumm, der muss geschrien haben. Hattest dann Ruhe von den beiden oder haben sie sich gerächt?“

„Das wär ja noch schöner! So unverfroren wie die waren, ist dem Frechdachs Recht geschehen. Nein, der hat sich nichts mehr getraut. Meine Kameraden waren stolz auf mich. Dieser Vorfall schweißte uns noch mehr zusammen. Ach, war das eine herrliche Zeit. Eine großartige, schöne Zeit.“

Stundenlang hätte Christine Großvaters Geschichten hören wollen:

„Noch was, Großvater, bitte, bitte noch was“.

„Ein anderes Mal, mein Sonnenschein. Jetzt muss ich mich ein bisserl hinlegen. Ausruhen und erholen von dem vielen Essen.“

„Essen?“ Fragt Christine erstaunt. „Woher? Was hast denn gegessen, Großvater?“

„Eben NIX!“

„Ui! Ich mache dir ein Brot mit Senf und ich mache mir Haferflocken mit Zucker. Willst auch Haferflocken mit Zucker?“

„Nein“, lacht er, „die stauben mir aus den Ohren raus. Hol uns ein paar Birnen vom Garten, die essen wir.

War alles mal mein“, sagt Großvater und schnalzt an seinen Hosenträgern. „Das Haus, die Gärten hinter und vorm Haus. Alles war mein.“

„Na und jetzt nicht mehr, Großvater?!“

„Ui-je, mein Mäderl. Das alles habe ich meinem Neffen und deiner Mutter überschreiben müssen. Dafür sollten sich mich Lebzeiten verpflegen und hegen. „Ha- Ha“, setzt er verbittert hinzu.

„Großvater?“ Fragt Christine „diese ältere Dame, die das Haus wegen mir verlassen musste, wer war das?“

„Meine Schwester. Och, Christinchen, wir haben zu dritt hier geschuftet. Meine Schwester, Raimunds Mutter und ich. Aus einem Trümmerhaufen stellten wir dieses Haus auf und haben die beiden Gärten angelegt.

Jaja, das waren meine Schwester Frieda, Hildegard, die Mutter meines Neffen und ich. Nur wir drei haben dies hier erschaffen.

Werfen meine Schwester kaltherzig raus. Die Mutter von Raimund, deinem jetzigen Stiefvater ist vor fünf Jahren gestorben. Frieda, meine Schwester, mit richtigen Namen Friedricke sorgte für den Haushalt und pflegte auch den Garten.

„Der Garten ist wunderschön Großvater. So viele Blumen und das köstliche Obst.“

„Du wärst die gebührende Nachfolgerin für all das was ich geschaffen habe, mein Sonnenschein. Hätte ich nur von deiner Existenz vorher gewusst. Raimund und deine Mutter haben mich förmlich gezwungen, all das hier ihnen zu überschreiben.

„Dürfen sie das denn, Großvater“ fragte Christine erstaunt.

Dürfen, dürfen“, meint Großvater grimmig „Dumm war ich! Dumm ist gar kein Ausdruck dafür. Leichtgläubig, ich hatte ihren schönen Worten geglaubt und vertraut!

Deine Mutter stellte meine Schwester vor die vollendete Tatsache, dass sie ihre Kammer auf der Stelle räumen muss, weil ihr Kind, also du Christine, es braucht. Frieda weinte bitterlich. Sie wusste doch nicht, wohin sie sollte.

Bettelte deine Mutter und ihren Großneffen an, wenigstens noch über den Winter hier bleiben zu können.

Sie hat ja kein Einkommen. Ich konnte ihr nicht mehr helfen, weil ich alles schon übergeben hatte.

„Traurig ist das alles, und ich bin schuld.“

„Aber nein, mein Sonnenschein. Dich trifft keine Schuld.

Dass sie dich hierher geholt haben, ist eiskalte Berechnung von den beiden.

„Wieso Berechnung, Großvater?“

„Das verstehst du jetzt noch nicht. Ich befürchte, die hecken sicher weiter Schlechtes aus. Ich bin zwar alt und manchmal dumm gutgläubig, aber hören tu ich noch ganz gut.“

„Was hast den gehört, Großvater.“

Das gleiche hörst du doch auch, wenn sie sich wieder in den Haaren haben. Dann bewerfen sie sich nicht nur mit Schimpfworten, sondern halten sich gegenseitig ihre schlechten Taten vor.“

„Ach so. Hm, da halte ich mir jedes Mal die Ohren zu.

Dass sie mich nicht so lieb haben, wie andere Eltern ihre Kinder, das weiß ich schon. Sie wollen aus mir was Anständiges machen“, meint Christine.

„Du bist anständig genug, mein Sonnenschein. Die brauchen das nicht aus dir mehr machen. Sie sollten sich selbst bei der Nase nehmen.

Mache dir keine Sorgen wegen meiner Schwester.“

Beschwichtig der alte Mann.

„Die Genossenschaft hat Frieda zu einer kleinen Wohnung verholfen. Ihre Miete bezahle ich. Ich habe eine gute Pension.“

„Du bist ein guter Mensch, Großvater.“ Christine streichelt seine Hand und Großvater gönnt sich noch eine Virginia, die ihm sein Sonnenschein wieder anzündet.

„Eigentlich wollte ich schon schlafen gehen. Aber es gefällt mir mit dir.“ lächelt der alte Mann. Und Großvater erzählt weiter:

„Ich war ja mal Konsumleiter. Habe sehr gut verdient und deshalb auch eine gute Pension. Bis auf die Miete von Frieda erhalten mein Neffe und deine Mutter die volle Pension. Ich sollte Taschengeld bekommen. Muss jedes Mal darum betteln. Möchte mir wenigsten die Virginia und mal ein Bier kaufen können.

„Ui je Großvater, dir geht’s wie mir. Mit den Fünf Schilling in der Woche komme ich auch nicht weit.“

„Früher war ich regelmäßig am Stammtisch in der Ottakringer Schutzhütte,“ führt Großvater weiter aus. Das haben´s mir verboten, weil ich zu viel Familiäres ausplaudere. Ach Mäderl, die zwei machen mir das Leben schwer. Ich bin so froh, dass du da bist.“

Christine umarmt den Großvater und drückt ihm je ein Bussi links und rechts auf die Wangen.

„Sei nicht traurig Großvater, ich werde für dich sorgen.

Und wenn ich Geld verdiene, wohnst du bei mir“.