Christmas undercover - Carlie Walker - E-Book

Christmas undercover E-Book

Carlie Walker

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Beschreibung

Ein Weihnachten wie kein anderes: RomCom trifft Cosy-Crime unterm Mistelzweig – unterhaltsam wie ein Netflix-Weihnachtsfilm!  Wer Emily Henry mag, wird diese rasante Weihnachtskomödie lieben ... Zu Weihnachten nach Hause – die Feiertage mit den Liebsten verbringen und alle Sorgen hinter sich lassen? Nicht mit Sydney Swift! Sydney ist CIA-Agentin, und als sie über Weihnachten zu ihrer Familie nach Maine fährt, hat sie eine Mission: ihre Schwester davon abzuhalten, den Sprössling einer der größten Verbrecherfamilien Amerikas zu heiraten. Für eine Agentin wie Sydney sollte das kein Problem sein. Aber zwischen Mistelzweigen und Zuckerstangen ist es gar nicht so leicht, verfängliche Informationen über Johnny zu sammeln. Ihr größtes Hindernis dabei ist Nick, sein Bodyguard: nervtötend charmant und attraktiv …

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Carlie Walker

Christmas undercover

Sie will ihn verhaften. Er will sie verführen …

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus

 

Über dieses Buch

Dieses Weihnachten wird spannend und romantisch!

Zu Weihnachten nach Hause – das Fest mit den Liebsten verbringen und alle Sorgen hinter sich lassen? Nicht mit Sydney Swift! Sydney ist CIA-Agentin, und als sie über die Feiertage zu ihrer Grandma Ruby nach Maine fährt, hat sie eine Mission: die traumhafte Winter-Wonderland-Hochzeit ihrer Schwester Calla platzen zu lassen. Denn Callas Verlobter ist niemand anderer als Johnny Jones, Sprössling einer der größten Verbrecherfamilien Amerikas. Für eine Agentin wie Sydney eigentlich kein Problem. Aber zwischen Mistelzweigen und Lebkuchen ist es gar nicht so einfach, verfängliche Informationen über Johnny zu sammeln. Ihr größtes Hindernis dabei ist Nick, Johnnys Bodyguard: extrem attraktiv – und ganz offensichtlich an Sydney interessiert. Was läge da näher, als sein Interesse für ihre Zwecke zu nutzen? Doch das ist leichter geplant als getan, denn Nick ist wirklich nervtötend charmant und Sydney weiß: Wenn ihre Mission gelingen soll, darf sie sich um keinen Preis verlieben…

Vita

Carlie Walker nahm an einem Studienprogramm für spätere Geheimdienstler teil, bevor sie feststellte, dass sie für eine Spionin viel zu ängstlich ist. Nach ihrem Studium arbeitete sie kurzzeitig im Verlagswesen, bevor sie Bestsellerautorin von sieben Kinder- und Jugendbüchern wurde. In ihrer Freizeit übt sie aber weiterhin Krav Maga, und beim Gewichtheben macht ihr niemand etwas vor. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihrem Hund in Atlanta, Georgia. Die Autorin ist Fan von Rettungshunden, RomComs aus den 90ern und Büchern mit Happy End. «Christmas undercover» ist ihr erster Roman für Erwachsene.

Silke Jellinghaus, geboren 1975, ist Übersetzerin, Autorin und Lektorin und lebt in Hamburg. Unter anderem hat sie Jojo Moyes und Graham Norton übersetzt.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «The Takedown» bei Berkely Romance, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«The Takedown» Copyright © 2023 by Carlie Walker 

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01825-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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Hinweise des Verlags

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Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

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www.rowohlt.de

Für Claire und Pete – ohne euch würde es dieses Buch nicht geben

Prolog

Heiligabend

Man erfährt viel über eine Familie, wenn man sich ansieht, wie sie sich an Heiligabend anzieht. Als ich ein Kind war, gehörten wir zur Jogginghosenfraktion. Zu den Zwanglosen. Ich trug von Kopf bis Fuß graue Baumwolle, und meine Schwester kuschelte sich zu mir aufs Sofa und futterte Ziegenkäse mit einem Löffel. Es gab kein großes gemeinsames Abendessen, keine eleganten Kerzen. Wir schalteten den Fernseher ein und stopften uns mit Fingerfood voll.

Dieses Jahr ist es anders.

Es ist auf so vielen Ebenen anders, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.

Beginnen wir mit dem Abendessen. Alle sitzen um den Tisch, meine Schwester hat zu Grandma Rubys handgetöpferten Keramiktellern unser bestes Besteck gedeckt (die glänzenden Gabeln und die geriffelten Servierlöffel). Bald werden sich auf den Tellern Kartoffelbrei und Truthahn und derlei herrlich duftende Dinge häufen.

Trotzdem muss ich kämpfen, dass sich mir nicht der Magen umdreht.

Wir essen sonst nie an einer langen Tafel mit frischen Tannenzweigen und mit Lametta umwickelten Vasen. Wir nehmen sonst nie die Windböen draußen wahr, die unser verlegenes Schweigen betonen.

Der allergrößte Unterschied jedoch ist er.

An seinem Sekt nippend, fängt der Verlobte meiner Schwester am anderen Tischende meinen Blick auf und zwinkert. Arschloch. Ich beiße so fest die Zähne zusammen, dass ich meinen Zahnarzt aufstöhnen höre, und nehme auf übertriebene, halsbrecherische Art einen riesigen Schluck Sekt. Mein Schmuck klimpert dabei. Er ist von Grandma Ruby. Sie hat mich überredet, ein paar ihrer Armbänder auszuleihen, weil es schließlich ein besonderer Anlass ist. Ich soll «weihnachtlich hübsch» aussehen. Wir haben Gäste.

Über mein Stück Truthahn hinweg starre ich Johnny ebenfalls an. Nachdrücklich. Mir wird bewusst, dass er den besten Pokerspieler der Welt abgeben würde. Sein Gesicht ist außergewöhnlich. Kein einziges gestutztes Barthaar darin verrät, was gestern Abend passiert ist. In seinem weißen, frisch gestärkten Leinenhemd sieht er heiliger aus als ein Ministrant. Oder wie ein fluffiger Eisbär. Na gut, Eisbären sehen vielleicht so aus, als könnten sie sich an kühlen Abenden Coca-Cola trinkend an dich kuscheln, aber komm ihnen einen Schritt zu nah, und sie zerreißen dich verdammt noch mal in tausend Stücke.

Iss einfach, sage ich mir. Iss einfach und halt die Klappe.

Normalerweise bin ich gut darin, die Klappe zu halten. Jemandem wie mir fällt es – wenn es sein muss – leicht, mit der Tapete zu verschmelzen. Aber heute Abend … lockern sich bei mir die Schrauben. Nach allem, was geschehen ist, sind meine Nerven zum Zerreißen gespannt, das spüre ich.

Ich rücke mit meinem Stuhl ein Stück zurück.

«Was machst du da?», flüstert Calla, meine Schwester, sodass niemand sonst es hören kann, und beugt sich zu mir herüber. Panik huscht über ihre Augenbrauen. Ja, ihre Augenbrauen. Sie sind genauso buschig wie meine, und sie sind prachtvoll. Früher hat sie immer befürchtet, sie könnten aussehen wie Raupen. «Ich habe gesagt, keine Tischreden. Und … du schwitzt. Wieso schwitzt du?»

«Ich schwitze nicht.»

«Sydney, es tropft dir vom Gesicht.»

Blind tupfe ich mir mit einer Stoffserviette die Stirn ab und ziehe meinen Rollkragen zwei Zentimeter vom Hals weg. Das ist definitiv das letzte Mal, dass ich Rentierwolle trage! Das Zeug ist nicht atmungsaktiv. «Ich möchte nur ein paar Worte sagen …»

«Nein! Nein, bitte nicht. Du …»

Sie packt meinen Ärmel, als wären wir sechs Jahre alt, und versucht, mich wieder auf meinen Stuhl hinunterzuziehen. Aber ich bin schneller – ha! Schief erhebe ich mich, weil ich am Ellbogen halb wieder hinuntergezerrt werde, komme schwankend zum Stehen und klopfe mit einem Buttermesser gegen mein Sektglas. Es klingt komödiantisch blechern, als würde eine Fee husten.

«Ich würde gern einen Toast ausbringen», sage ich. Mein Lächeln ist warmherzig, freundlich. Meine Stimme klingt liebenswürdig. In meinem Schaumwein steigen Bläschen auf.

Schweigen senkt sich über das Esszimmer, sodass als einziges Geräusch ein «Sie sind ein gemeiner Mensch, Mr Grinch!» aus den Lautsprechern dringt. Kommt mir passend vor. Es sitzt ein Grinch an diesem Tisch. Aber er wird sich am Ende des Films nicht verändert haben. Sein Herz wird immer ein bisschen zu klein bleiben.

«Johnny», sage ich zum Verlobten meiner Schwester und hebe mein Glas in seine Richtung. «Ich muss dir ja nicht sagen, wie glücklich du dich schätzen kannst, von jemandem wie Calla geliebt zu werden … aber ich sage es dir trotzdem.»

Alle am Tisch glucksen in sich hinein.

Selbst Johnny. Selbst Calla. Selbst der andere Typ am Tischende, der für den Moment noch namenlos bleiben soll. Ich will nicht an ihn denken. Ich will nicht an die zarte Berührung seiner Lippen denken oder an seine rauen Handflächen oder daran, wie er im Bett aussieht, wenn die Laken um seine Hüften geschlungen sind.

Im Augenblick lehnt er sich in seinem Stuhl zurück, hat die Hand auf den Mund gelegt und lächelt beklommen durch seine Finger. Er hängt an meinen Lippen.

Ich schüttele beinahe unmerklich den Kopf und spreche schnell weiter. «Calla ist zwar vielleicht ein Fan von Weihnachtspullis mit Glitzerfäden und Glöckchen, und möglicherweise fürchtet sie sich ein wenig vor winzig kleinen Hamstern …»

«Haustiere in Klassenzimmern sind unberechenbar», erwidert Calla, die ihr Gesicht halb mit den Händen bedeckt hat und sich ein Grinsen nicht verkneifen kann.

«Aber lass dich davon nicht täuschen. Sie ist ganz ehrlich einer der erbittertsten Haudegen, die ich kenne. Und der beste Mensch. Alle, die sie kennen, werden mir zustimmen.»

Calla neigt höflich den Kopf, was gleichzeitig Ich liebe dich und Sydney, bist du betrunken? bedeutet. Und ja, das bin ich vielleicht ein bisschen, aber das hier ist wichtig. Ich bin nicht fertig mit meiner Rede. Noch nicht.

Mein Blick bohrt sich in Johnnys.

«Wenn es hart auf hart kommt, würde ich für meine Schwester alles tun. Alles. Ich habe das Glück, sie zu lieben, genauso wie du das Glück hast, sie zu lieben. Deswegen … erhebt eure Gläser.»

Rund um den Tisch steigen sieben Gläser ins Licht des Kronleuchters. Alles glitzert. Wir sehen aus wie auf einer Weihnachtskarte.

«Auf Calla und Johnny», sage ich.

«Auf Calla und Johnny», wiederholen die anderen einschließlich des Mannes am Tischende. Nick. (Na gut, so heißt er. Nick.) Natürlich suche ich mir ausgerechnet diesen Moment aus, um seinem Blick zu begegnen. Er nickt mir leicht und ernsthaft zu, wie um zu sagen Schöne Rede, Syd, und ich denke an Mistelzweige und die Grübchen an seinem unteren Rücken und – oh ja – dass ich ihn im Auftrag der Regierung verführt habe.

Mein Hals schnürt sich zu.

Ich glaube, es könnte sein, dass ich ihn hasse.

Und ich habe keine Ahnung, wie diese Sache für uns beide ausgeht.

«Seid nett zueinander», sage ich mit belegter Stimme zum schwungvollen Abschluss. «Sonst, Johnny, muss ich dir nämlich jeden Knochen in deinem Körper einzeln brechen und all so was. Okay? Wer will Truthahn?»

1

Uppsala, Schweden

Fünf Tage zuvor

Ich kann nicht einfach auf ihn zugehen und fragen, ob ich übernehmen darf. Ich habe mich am Rand der Tanzfläche positioniert und nippe so leicht an einem Glas Champagner, dass ich beinahe gar nichts schmecke. Wichtig ist nur mein Mund. Er soll auf meinen Mund achten. Meine Lippen sind von einer dicken Schicht blutroten Lippenstifts bedeckt. Die Farbe passt perfekt zu meinem Kleid, einer trägerlosen Robe mit hohem Schlitz bis zum Oberschenkel, das schreit: Ich bin dein Weihnachtsgeschenk.

Hin und wieder wirbelt Alexei seine Partnerin herum und dreht den Kopf in meine Richtung. Es ist subtil. Aber ich bemerke solche Dinge. Dinge zu bemerken, ist mein Job. Sein Blick wandert von meinem Knöchel nach oben zur nackten Haut meines Oberschenkels und schließlich bis zu meinem Mund. Automatisch öffne ich die Lippen, halte seinen Blick fest, strahle ihn abgezählte zwei Sekunden lang an, bevor ich scheu den Blick senke.

Ich bin nicht scheu.

Ich bin bloß clever. Und gut ausgebildet.

Außerdem unruhig. Während meine Fingerspitzen das Champagnerglas festhalten, ignoriere ich das Kratzen, das sich unter meine Perücke stiehlt. Vermutlich versteht sich das von selbst, aber mir ist mein eigenes Haar lieber: ein dunkelblonder Bob, der fast meine Schultern berührt. Pech für mich, dass Alexei «der Bulgare» Borovkov – meine Zielperson – Brünette bevorzugt. Das steht in der Akte. Alle seine vier Freundinnen (vier simultane Freundinnen) haben langes, dunkles, gewelltes Haar. Also habe ich das heute Abend auch.

Ich nehme einen weiteren lächerlich langsamen Schluck von meinem Champagner – und warte.

Bei diesem Job ist Warten, unter Druck gelassen bleiben, die halbe Miete.

Ich lasse den Alkohol durch meine Zähne rinnen und sehe mich zum sechzehnten Mal im Ballsaal um. Lichterketten baumeln von der Decke, grüne Zweige hängen über den mit Schnee betupften Fenstern, und ein massiver Kronleuchter aus geschliffenem Glas ruft: Vornehm! Es ist ein Ort, an dem ich mir als Kind niemals hätte vorstellen können zu sein. Beim Weihnachtsbingo in der Moose Lodge vielleicht, aber auf einem Winterball, bei dem die Tickets doppelt so viel kosten wie mein erstes Auto, niemals.

Es gibt zwei unverstellte Fluchtwege. Mehrere Bodyguards laufen herum und bemühen sich, unauffällig zu wirken. Ein Mann drüben in der Ecke trägt Ohrhörer. Keiner von uns. Einer von Alexeis Jungs. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums spielt ein Streichquartett När det lider mot jul, ein schwedisches Weihnachtslied, bei dem die Geige voll auftrumpft, und ich tappe mit meinen Stilettos im Takt, bis es zu Ende ist. Alle applaudieren dem Geiger – und dann ist mein Moment gekommen.

Ich muss mich nicht einmal wappnen.

Es ist eine Gewohnheit, mein Muskelgedächtnis, mein Geist und mein Körper sind im Einklang miteinander.

Alexei tritt einen Schritt von seiner Tanzpartnerin zurück, verbeugt sich und wirft mir einen direkten Blick zu. Eine Sekunde lang ist es so, als wären wir die beiden einzigen Menschen im Ballsaal.

Jetzt muss ich meinen Fang nur noch einholen.

Es sollte reichen, wenn ich mir träge auf die Lippe beiße, als würde ich darüber nachsinnen, wie er wohl schmeckt – aber mitten im Biss stocke ich. Ich habe mich selbst dabei ertappt. Ich bin so unschuldig! Alexei sieht es und kommt augenblicklich herüberstolziert in seiner weißen Krawatte und den weißen Rockschößen, genauso, wie ich es geplant habe.

«Sie sind schön», sagt Alexei. Er spricht Englisch mit schwerem Akzent und streckt mir seine weiß behandschuhte Hand entgegen, überzeugt davon, dass ich sie schütteln werde. Meine Finger gleiten hinein, als wäre ich ein zerbrechlicher kleiner Vogel – und nicht etwa eine knallharte CIA-Agentin, die ihn flugs und geräuschlos außer Gefecht setzen könnte. Unter meinem Kleid bestehe ich nur aus Kraft und muskulösen Kurven. Ein Führungsoffizier hat mich mal als «eher eindrucksvoll als schön» bezeichnet.

Als das Quartett wieder aufspielt, zieht mich Alexei zur Mitte der Tanzfläche. Es ist ein langsameres Lied diesmal, mit mehr Cello darin.

«Sie sind Bulgare?», frage ich auf Englisch mit schwedischem Akzent. Der Ballsaal befindet sich in Uppsala, eine halbstündige Zugfahrt von Stockholm entfernt, ein schwedisches Alter Ego ergibt also am meisten Sinn.

Alexei grinst und zieht meine Brust an seine Brust, und ich achte darauf, mich nicht zu versteifen. Achte darauf, regelmäßig zu atmen, normal. Sein Hals riecht nach Blutorangen mit einer Spur von Leder, und sein senfblondes Haar ist hinter seine Ohren gegelt. Auf meinen Absätzen bin ich nur fünf Zentimeter kleiner als er. Wir passen gut zusammen. «Kluges Mädchen», sagt er, nachdem er mit der Zunge geschnalzt hat. «Du erkennst also meinen Akzent? Du sprichst Bulgarisch?»

«Ich spreche sechs Sprachen», sage ich wahrheitsgemäß. Es ist die erste und die einzige Wahrheit, die ich ihm heute Abend mitteilen werde. «Aber mein Bulgarisch ist nicht besonders gut.»

«Und mein Schwedisch ist nicht besonders gut.» Alexeis Lippen zucken. «Ich wette, wir könnten uns beibringen eine Menge …?» Er lässt die Frage offen und wartet darauf, dass ich ihm meinen Namen nenne.

«Annalisa», lüge ich.

Annalisa Andersson. Eine Salonlöwin aus Göteborg. Sternzeichen Jungfrau. Sie reitet. Mag Gin und Dubonnet mit einer Scheibe Zitrone.

Es ist schon komisch, wie viel man über eine Person wissen kann, die es gar nicht gibt.

Und wie wenig über eine, die es gibt.

Alexeis Finger verschränken sich mit den meinen auf eine Art und Weise, die mir vor Jahren noch einen kalten Schauer über den Rücken gejagt hätte. «Bist du hier ganz allein, Annalisa? Es ist nicht gut, an Weihnachten allein zu sein.»

An Weihnachten allein.

In meinem Beruf sind alle auf der Suche nach Schwachstellen. Was Alexei nicht weiß, ist, dass er meinen gerade unangenehm nahekommt. Kurz blitzt meine Familie vor meinem inneren Auge auf – Calla, Grandma Ruby, Sweetie Pie, sogar Dad –, dann blinzle ich sie alle weg. Sie dürfen im Moment nicht hier sein. Alexei ist alles andere als das, was man einen «anständigen Kerl» nennen würde. In den letzten drei Monaten hat er Waffengeschäfte gegen NATO-Verbündete finanziert. Begegne ich ihm nicht mit voller Konzentration, fliege ich in einem Leichensack zurück in die Vereinigten Staaten.

Ich strecke die Hand nach oben aus, fahre die scharfe Kante von Alexeis Kieferknochen nach und flüstere ihm direkt ins Ohr: «Ich bin doch gar nicht mehr allein, oder?»

Ich spüre durch sein Hemd hindurch, wie sich sein Herzschlag beschleunigt. Sein Adamsapfel hüpft, als er diskret schluckt, und ich habe ihn im Sack. Ich weiß, dass ich ihn im Sack habe.

Fünfundneunzig Prozent meiner Arbeitszeit beim CIA ist nicht so. Normalerweise bekomme ich eine ganz spezifische Anweisung: ausländische Spione zu rekrutieren. Das ist es. Das mache ich. Ich identifiziere die Personen, studiere sie und bringe sie mit der US-Regierung in Kontakt. Ich war schon in ganz Nordeuropa und dem ehemaligen Ostblock eingesetzt. Lange, kalte Monate, in denen ich mich in Hinterzimmern und Bars mit Informanten getroffen habe – und dann, manchmal, kommt ein Auftrag aus heiterem Himmel. Der Sohn eines bulgarischen Milliardärs ist in Europa auf Reisen, nimmt an einem Wohltätigkeitsball in Uppsala teil. Jemand hat ihn überredet, das Geld seines Vaters für die Finanzierung von Raketenkomponenten einzusetzen. Audio- und Satellitenüberwachung waren bislang erfolglos. Müssen herausfinden, mit wem er sich heute später am Abend trifft. Und plötzlich tausche ich meine Cargohose gegen ein von der Regierung finanziertes Ballkleid. Ich tanze zu einem Lied nach dem anderen, bevor ich meine Hände unter Alexeis Anzugsjackett schiebe und seine Brust hinunterfahre. Meine Finger sind flink, feinfühlig, geschickt.

Alexei schnurrt förmlich. «Weißt du», murmelt er, «du siehst aus wie diese amerikanische …»

Ich achte darauf, jede Anspannung in den Schultern zu vermeiden.

«… Schauspielerin», endet er, was sehr viel besser ist als amerikanische Agentin. «Wie heißt sie noch? Die mit dem Gesicht. Dem runden Gesicht. Dunkle Augenbrauen, Haare blond.»

«Rundes Gesicht …» Ich tue so, als würde ich nachdenken, und lenke ihn dabei noch mehr ab, meine Finger wandern an den Flanken seines Körpers entlang, und – zack. Ich stecke ihm das Mini-Aufnahmegerät ins Jackenfutter.

«Ah!», sagt Alexei, als wäre er von einer Babywespe gestochen worden, und meine Muskeln machen sich bereit, einen Angriff abzuwehren. Ich entspanne mich innerlich wieder, als er blökt: «Ach, mir fällt nicht ein ihr Name. Du bist eine so gute Tänzerin, dass ich verliere den Verstand.»

Mit einem Zwinkern danke ich ihm.

 

Solche Erfolge gibt es nicht oft: eine Mission, die so verrückt reibungslos abläuft, dass sie einem vorkommt wie eine Trainingseinheit. Alexei hätte genauso gut ein Ausbilder sein können, der in die Rolle eines Milliardärs geschlüpft ist. Das ärgert mich: der Verdacht, dass der Auftrag vielleicht ein bisschen zu gut gelaufen ist. Aber ich war so sorgfältig wie möglich – und werde auf dem Heimweg genauso wachsam bleiben. Als das Technikteam schließlich meinen Ohrhörer anpingt, um zu bestätigen, dass sie durch Alexeis Wanze alles hören können, entschuldige ich mich mit einem langweiligen, abgedroschenen Vorwand.

Ich muss pinkeln! Auf Wiedersehen.

Ich gehe an der Toilettentür vorbei und schlüpfe unbemerkt in die Garderobe. Alles folgt methodisch einer Choreografie. Ich vergewissere mich noch einmal, dass ich allein bin, dann absolviere ich unter Volldampf den nächsten Schritt. Perücke ab. Schwarzer Parka an. Pumps aus. Ankle Boots aus Gummi an. Ich ziehe mir eine abgetragene Cargohose über das Kleid und stopfe mir den seidigen Stoff in den Taillenbund. Zwanzig Sekunden, länger brauche ich nicht, und schon bin ich straßentauglich. Ich ziehe meinen Rucksack aus dem Eckschrank, verlasse langsam, aber zielstrebig die Garderobe – und trete hinaus in die Innenstadt von Uppsala.

Schneidender Wind und Schneeflocken fliegen an meinen Ohren vorbei und erinnern mich an Maine: Schneeschuhwandern im Dezember, eingefrorene Zehen am Lagerfeuer, dieser erste Anflug von Winter. Ich ziehe mir die Kapuze meines Parkas über den Kopf und verdecke damit mein akkurat geschnittenes Haar. Sollte mir jemand folgen, wird er nur die Gestalt eines Menschen sehen: schlank, möglicherweise athletisch, relativ groß.

Zum Glück folgt mir niemand zum Bahnhof. Niemand Verdächtiges steigt in meinen Waggon. Keiner schaut mir über die Schulter, während ich so tue, als würde ich eine Modezeitschrift lesen. In der Zugtoilette stoße ich erschöpft die Luft aus, halte meine Handgelenke unter den Wasserhahn und schrubbe, bis das Make-up abgeht und der schwarze Umriss meines Halbmond-Tattoos wieder sichtbar wird. Manchmal fühlt sich diese winzig kleine Tätowierung wie das einzig wahre Kennzeichen dafür an, wer ich einmal war.

Ich spritze mir eine Handvoll warmes Wasser ins Gesicht, schaue in den Spiegel und wische mir mit einem Papiertuch über die klebrig roten Lippen. Sehe ich glücklich aus?

Vielleicht ist das die falsche Frage. Dieser Job sollte mich nie glücklich machen.

Dieser Job sollte mich … was? Unberührbar machen?

Wieder in Stockholm kaufe ich im erstbesten Lebensmittelladen einen Laib schwedisches Zimtbrot und verschlinge ein Drittel davon bereits auf dem Heimweg. Heim trifft es nicht wirklich. Das Stockholmer Riverside Hotel war in den letzten beiden Tagen eben der Ort, an dem ich übernachtet habe. Es ist in Ordnung. Um Längen besser als der Bahnhof in Mazedonien oder diese Herberge auf dem Balkan. Der Automat hier spuckt einen anständigen Espresso aus (wenn einem lediglich der Koffeingehalt wichtig ist. Für mich ist die richtige Dosierung so koffeinhaltig, dass ich die Zukunft vorhersagen kann). Die Hotelteppiche sind IKEA-blau, die Flure sind mit Gemälden von besonders zottigen Kühen geschmückt, und niemand stellt einem Fragen, abgesehen von dem gelegentlichen «Sind Sie mit Ihrem Aufenthalt bei uns zufrieden?».

Was gut ist. Natürlich.

In der holzgetäfelten Lobby schiebe ich mir die Einkaufstüte in die Armbeuge, drücke am Aufzug auf den Knopf mit der Nummer 3 und trete hinein, als es Ping macht. Mit meinen Ankle Boots stapfe ich den Flur entlang und hinterlasse eine pudrige Schneespur. Als ich vor meinem Zimmer ankomme (Nummer 306, neben dem Koffeinversorgungsautomaten), zerre ich mir einen Fäustling aus und krame in den Tiefen meines Parkas nach dem Schlüssel.

Was wohl meine Familie jetzt gerade macht, sechs Tage vor Weihnachten, zu Hause in Maine? Ich kann nicht verhindern, dass ich an sie denke.

Außerdem … höre ich etwas. Jemanden. Gerade in diesem Moment, in meinem Hotelzimmer.

Das Geräusch erwischt mich wie ein Pfeil in den Nacken. Es war noch nie jemand in meinem Hotelzimmer. Niemals, nie. Und schon gar nicht nach einer Mission.

Ich wusste doch, dass der Auftrag zu glatt gelaufen ist! Hat jemand beobachtet, wie ich Alexei verwanzt habe? Bin ich in Gefahr? Wer zum Teufel ist in meinem Zimmer? Ich wappne mich, lege das Brot ab, schlüpfe aus dem Rucksack und greife nach meiner Waffe. Auf der anderen Seite der Tür ist eine weibliche Stimme zu hören – und das Gedudel des Fernsehers. Der Eindringling sieht sich etwas im Fernsehen an. Vielleicht eine Spielshow? Kann das stimmen? Alle paar Sekunden ertönt eine Glocke, nach dem Motto: Ding, ding, ding, Sie haben einen Preis gewonnen! Und die Person in meinem Zimmer stößt ein lautes, heiseres Lachen aus, wie Miss Piggy bei den Muppets.

Das hier weist alle Anzeichen einer Falle auf. Und nicht einmal einer besonders guten Falle. Sollte sie sich nicht wenigstens in einem Schrank verstecken, um dann herauszuspringen und mich abzustechen?

Wie auch immer, ich kann nicht ewig hier draußen stehen bleiben. In diesem Zimmer befinden sich Geheiminformationen im Wert von zwei Monaten, und die kann ich nicht einfach abschreiben. Mein Führungsoffizier würde mich umbringen. Falls die Person in meinem Zimmer nicht zuerst den Versuch dazu unternimmt.

Plötzlich verstummt der Fernseher.

Dann ruft die Stimme: «Sind Sie das, Sydney? Kommen Sie bitte rein.»

Sie hat einen amerikanischen Akzent. Klingt nach mittlerem Westen. Noch ein Trick? Reflexartig übernimmt meine Ausbildung das Kommando. Zwei tiefe Atemzüge. Jegliche Angst abspalten. Ich hebe die Pistole, mache einen Schritt um das Zimtbrot herum und öffne die piepsende Tür mit meiner Karte. Ich stoße sie auf und spähe hinein. Blauer Teppich, blaue Wände. Abgetragene Laufschuhe neben der Tür, genau dort, wo ich sie stehen gelassen habe. Doch sofort schlägt mir auch der unverwechselbare Geruch von Frikadellen entgegen. In einer … Muskat-Sahnesoße? Das ist etwas, was ich nicht bestellt und nie mit in dieses Zimmer genommen habe. Ich biege um die Ecke, trete durch den Eingang in …

«Oh, gut. Da sind Sie ja.»

Die Frau in meinem Zimmer sieht mich kaum an. Sie wendet den Kopf nur ganz leicht in meine Richtung, gerade so weit, dass ich die herbe Kontur ihres Profils erkennen kann. Kurzes, kastanienbraunes Haar fällt ihr ins Gesicht. Alles an ihr ruft windgepeitscht, obwohl sie gemütlich am Esstisch vor dem Fernseher sitzt. Sie muss um die vierzig Jahre alt sein. Zweiundvierzig? Dreiundvierzig?

Was allerdings wichtiger ist, ich habe keine Ahnung, wer zum Teufel sie ist.

Oder warum sie so viele Fleischbällchen bestellt hat. Auf dem Tisch häufen sich eine Platte mit geräuchertem Lachs, eine Schüssel mit Spaghetti und etwas, das aussieht wie Wildbret. Oder Rentier?

«Ich hatte ein bisschen Hunger, deswegen habe ich einfach alles bestellt.» Die Frau zuckt mit den Schultern, klappt die Speisekarte vom Zimmerservice zu und richtet den Blick nun direkt auf mich. Ihr Blick ist scharf und leuchtend und würde den Durchschnittsmenschen möglicherweise einschüchtern. «Sie essen doch auch, oder? Ich hätte die doppelte Menge bestellen sollen, aber ich wusste nicht, wann ich mit Ihnen rechnen kann. Orangensaft? Es kommt noch mehr Essen. Sie müssen ein Ohr darauf haben, ob es an der Tür klopft … Wollen Sie sich nicht setzen?»

Sie deutet auf den anderen Esszimmerstuhl.

«Es tut mir leid», sage ich, obwohl mir überhaupt nichts leidtut. Sarkasmus sickert in meine Stimme. «Wer sind Sie eigentlich?»

«Sie wollen mich jetzt doch nicht erschießen, oder?»

Meine Waffe bleibt auf ihren Kopf gerichtet, aber der leichte Geschmack von Furcht in meinem Mund verflüchtigt sich.

«Nur, wenn Sie versuchen, mich vorher zu erschießen.»

«Gut», sagt sie und wedelt mit ihrer freien Hand. «Das wäre auch eine sehr blutige Angelegenheit. Zu viel Papierkram, und es würde wahrscheinlich in den Nachrichten kommen, wenn Sie meine Leiche nicht schnell genug irgendwo entsorgen könnten. In dieser Stadt gibt es nicht viele Müllcontainer. Sie würden mich in den Fluss werfen müssen. Der Fluss ist allerdings zugefroren, also müssten Sie wohl ein Loch bohren. Ziemlich zeitaufwendig.» Sie schnappt sich die Fernbedienung, wechselt den Sender, schaut etwa zwölf Sekunden lang zu und schnippt dann mit dem Finger in Richtung Fernseher. «Was, glauben Sie, ist hier los?»

Nichts, was so seltsam wäre wie das, was sich gerade hier abspielt, denke ich. Auf dem Bildschirm vollzieht sich eine häusliche Szene. Es ist eine Art von schwedischer Vorabendserie. Ohne die Frau mit den Fleischbällchen aus den Augen zu lassen, höre ich eine Weile zu, wie Helga – ich glaube, sie heißt Helga – erfährt, dass ihre große Liebe Sven sie betrogen hat. An ihrem Hochzeitstag. Mit ihrer Schwester.

«Ein Familiendrama», sage ich ausdruckslos. Ein Muskel an meinem Kiefer zuckt ganz leicht. Alle paar Sekunden huschen meine Augen zum Schrank in der Erwartung, dass ein Angreifer (Alexei? Alexeis Kontaktmann?) zwischen meiner Wintergarderobe hervorplatzt.

«Ah.» Die Frau schnieft und reibt sich die Nase. «Ich weiß alles über Familiendramen. Ich sollte im Augenblick eigentlich in Finnland sein.» Sie neigt den Kopf in Richtung Nachbarzimmer, als läge Finnland gleich nebenan. «Skiferien. Ich hasse Skifahren. Zu viel Schnee. Mein Sohn hat sich gleich am ersten Tag beide Handgelenke verstaucht. Können Sie sich das vorstellen? Beide Handgelenke.»

«Das ist ja … furchtbar», sage ich mit so eben noch ausreichendem Einfühlungsvermögen und zügele meine scharfe Zunge. Falls du überhaupt einen Sohn hast. Lügt sie mich an? Ihre Körpersprache ist zwanglos, nicht anmaßend, sie wirkt ehrlich, aber so etwas kann man vortäuschen. Erlernen. In Gedanken gehe ich ihre Vokale durch und überlege, ob ich irgendwelche Löcher in ihrem amerikanischen Akzent ausmachen kann. Vielleicht hat sie ihn nur aufgesetzt. Ist sie vom FSB? Verdeckte Operationen? Gleichzeitig frage ich mich, ob mein Laptop immer noch in der Kommodenschublade eingeschlossen ist.

«Ja, na ja, so hat er jetzt wenigstens etwas, worüber er jammern kann. Mein Sohn jammert sehr gerne. Aber jetzt im Ernst, nehmen Sie die Waffe runter. Ich bin unbewaffnet, sehen Sie?» Sie klopft von oben nach unten ihren Wollpullover ab, der so finnisch aussieht, dass er ein Mitbringsel aus einem Souvenirladen sein könnte. Es sind Preiselbeeren darauf. «Und unter dem Tisch ist auch nichts, sehen Sie? Schauen Sie im Schrank nach, wenn Sie wollen. Schauen Sie unters Bett. Es ist niemand hier. Nur Sie und ich und ein paar Fleischbällchen, ja? Wir stehen auf der gleichen Seite.»

Ich stoße ein Schnauben aus, eine blonde Haarsträhne fällt mir übers Auge. «Ich werde nicht einfach darauf vertrauen, dass Sie …»

«Sydney Swift», sagt sie und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. Sie faltet die Hände ordentlich im Schoß, wie eine Schulbibliothekarin. «Sechsundzwanzig Jahre alt. Case Officer bei der CIA. Ausgezeichnete Sprachkenntnisse. Sie verwandeln im Augenblick einen übergelaufenen albanischen Kriminologen in einen brauchbaren Agenten – und kommen gerade von einer Weihnachtsfeier zurück. Ein Milliardärssohn, glaube ich? Irgendwas mit Raketen? Sie haben in Cape Hathaway, Maine, die Highschool besucht, wo Sie … mal sehen, ob ich das noch zusammenbekomme … in der Marschkapelle Flöte gespielt und zwei Jahre in Folge die All-State-Debattiermeisterschaften gewonnen haben. Darf ich Ihnen ein Foto zeigen?»

Mein Mund wird trocken. Wie … Wie zum Teufel …?

Langsam zieht sie unter dem Teller mit den Fleischbällchen ein Foto hervor und schiebt es mit zwei Fingern über den Tisch. Auf dem Bild ist ein sechzehnjähriges Mädchen mit sonnengeküsstem Haar zu sehen, mit kräftigen Augenbrauen und einer Zahnspange im Mund. Ihre intelligenten Augen blicken katzenartig in die Kamera.

Sie hält eine Debattentrophäe in der Hand.

Sie ist ich.

«Sie haben in Bowdoin internationale Beziehungen studiert», fährt die Frau fort, «dann in Georgetown. Abschluss mit Auszeichnung. Ihre Mutter ist gestorben, als Sie noch ein Kind waren – ein Autounfall, ganz plötzlich. Deswegen sind Sie und Ihre kleine Schwester bei Ihrer Großmutter und Ihrem alleinstehenden Vater aufgewachsen. Auf der Farm haben Sie beim Rekrutieren von Spionen die dritthöchste Punktzahl Ihres Jahrgangs erzielt und die zweithöchste im defensiven Fahren. Auf Ihrem privaten Handy sind mehr Fotos von einem Hund namens «Sweetie Pie» gespeichert als von Menschen. Aktuell keine Liebesbeziehung. Überzeugter Single, genau genommen. Wie schlage ich mich bis jetzt?»

Sie hat alle Nägel auf den Kopf getroffen. Absolut alle. Mein letzter Freund und ich haben uns nachts um zwei auf dem Parkplatz in Langley getrennt, nachdem er mir sagte, es sei zu schwierig, mit einer Spionin zusammen zu sein. Und er war ein Spion.

Ich knirsche mit den Zähnen.

«Ziemlich gut?», fragt die Frau. «Ich weiß. Und jetzt setzen Sie sich.»

 

Sie heißt Gail Jarvis. Angeblich. Angeblich ist sie die Gail Jarvis, stellvertretende Abteilungsleiterin beim FBI. Sie zieht gemächlich ihren Erkennungsausweis aus der Tasche, zusammen mit einer voraufgezeichneten Videobotschaft meines Führungsoffiziers, der nicht so aussieht, als stünde er unter Druck. (Wobei das zugegebenermaßen schwer zu sagen ist; Sandeep ist ein notorisch gut gelaunter Mensch.) Nachdem wir uns fünf Minuten unterhalten haben, stecke ich meine Waffe wieder in den Hosenbund und bin mir einigermaßen sicher, dass Gail nicht vorhat, mich mit Maschendraht zu strangulieren. Zumindest nicht unmittelbar. Draußen vor dem Zimmer poltern Partygänger vorbei, die auf Schwedisch etwas über Drinks bei einer Betriebsfeier herumschreien, und der Zimmerservice klopft an die Tür und bringt zwei Schalen mit gelber Erbsensuppe. Gail gibt dem Kellner ein Trinkgeld und stöckelt, ohne eine hastige Bewegung zu machen, zurück zum Tisch.

«Oh ja», sagt sie, nachdem sie ein paar Löffel probiert hat. «Die ist wirklich gut. Vollmundig. Die Schweden wissen, wie man eine gute Suppe kocht.» Dann kommt sie wieder zur Sache. «Also, den Anfang habe ich gemacht. Im Wesentlichen ist es so: Ich möchte, dass Sie für mich arbeiten.»

«Vorübergehend», schließe ich und stütze mein Kinn in die Hand. Mit den Fingern trommele ich gegen meine Wangenknochen. Wir spielen Schach, Gail und ich. Sie ist am Zug.

«Vorübergehend», sagt sie.

«Als eine Art Verbindungsfrau zwischen den Behörden?»

«Korrekt.»

Ich werfe ihr einen Blick zu, der besagt: Gail, Sie wissen doch selber, dass das alles keinen Sinn ergibt. Er besteht aus einem zusammengekniffenen Auge und einem leicht verzogenen Mund. Als sie den Ausdruck nicht wahrzunehmen scheint, spreche ich es aus, unverblümt wie immer. «Das ergibt keinen Sinn.»

Gail spießt mit ihrer Gabel ein Fleischbällchen auf. «Welcher Teil genau?»

Soll ich ihr die Gabel lassen? Sie stellt keine große Bedrohung dar, obwohl ich theoretisch auch mit einer geringeren Waffe jemanden ausschalten könnte. «Gehen wir davon aus, Sie sind diejenige, für die Sie sich ausgeben», setze ich an, winde meine Finger ineinander und lege sie auf den Tisch. Ich war noch nie in genau einer solchen Situation, also verlasse ich mich auf mein Selbstvertrauen. «Sagen wir, Sie haben wirklich gerade zufällig in Finnland Urlaub gemacht.» Ich male mit den Händen Anführungszeichen in die Luft. «Was ja wirklich ein toller Zufall ist … Warum brechen Sie in mein Hotelzimmer ein? Warum ich? Sie haben mir noch nicht einmal gesagt, wie genau der Auftrag lautet. Wieso nehmen Sie dafür nicht einen Ihrer eigenen Agenten?»

«Kann ich nicht.» Sie zieht das Fleischbällchen durch die Sahnesoße. Bei dem Anblick werde ich wieder hungrig. «Wir bekommen beim FBI Informationen herein und sie bleiben nicht im Haus. In diesem Fall ist selbst das kleinste Detail zu wichtig, als dass wir es nach außen dringen lassen könnten. Ich habe Leute in meiner Abteilung im Verdacht.»

Es folgt eine zu lange Pause. Das FBI redet nicht lange um den heißen Brei herum. «Und?», hake ich nach. Ich komme gerne zügig auf den Punkt. «Wozu brauchen Sie mich?»

Gail beißt in das Fleischbällchen und schluckt nachdenklich. «Also, erstens sind Sie eine Frau. Ich vertraue Frauen. Natürlich nicht allen Frauen, aber wenn ich wählen gehe, dann wähle ich Frauen, und zwar den ganzen Stimmzettel hinunter.» Sie macht mit der Hand eine entschiedene Bewegung, als würde sie durch Butter schneiden.

«Das ist keine effektive Art zu wählen.» Trotzdem verzieht sich mein Mundwinkel zu einem zögerlichen Lächeln. Es gibt beim Geheimdienst so wenige Frauen in höheren Positionen, da ist es gut möglich, dass sie ihren eigenen geheimen Händedruck haben.

Gail zuckt mit den Schultern. «Für mich funktioniert es. Und ich bin nicht, wie Sie behaupten, in Ihr Hotelzimmer ‹eingebrochen›. Habe keinen Schaden verursacht. Nur aus dieser chaotischen Lobby eine Schlüsselkarte geklaut. Also, jetzt würde ich ja gerne sagen, dass ich Sie für den Job will, weil Sie die Beste sind. Aber damit würde ich unsere Beziehung mit einer Lüge beginnen. Sie wissen, dass die CIA und das FBI sich streiten wie zwei Kampfhähne, Sie sind also nicht meine erste Wahl. Ich habe keine Ahnung, ob Sie die Beste sind. In Ihrer Akte steht, Sie wären kompetent, aber im Grunde brauche ich Sie, weil Sie die Einzige sind, die diesen Job vernünftig erledigen kann.»

In meinem Magen mischt sich leise Furcht mit Neugier und bildet eine Art schaumigen Cocktail. Das geschieht jedes Mal, kurz bevor mein Führungsoffizier mir einen Auftrag zuteilt. Es ist, als stünde man an der offenen Luke eines Flugzeugs, den Fallschirm auf den Rücken geschnallt. Unter einem wellt sich der Boden wie ein Flickenteppich, und es stockt einem der Atem. «Und der Job besteht aus …?»

«Sehen Sie diese Tränensäcke?», fragt Gail als Antwort und zieht mit einem Finger die bläuliche, pergamentartige Haut unter ihren Augen herab. «Alles von diesem Fall. Diesem einen Fall. Es kommt mir vor, als wäre ich dieser Familie schon meine halbe Karriere lang auf den Fersen. Zuerst dem Großvater, dann dem Vater, und jetzt dem Sohn. Johnny. Johnny Jones. Klingelt’s da bei Ihnen?»

Das tut es. Organisiertes Verbrechen. Eine Familie aus Boston. «Sollte es das?»

Gail saugt an ihren Zähnen. «Oh Mann.»

«Oh Mann, was?»

«Ich hatte gehofft, dass Sie Bescheid wissen.»

«Worüber Bescheid wissen?», frage ich irritiert.

«Sie sollten jetzt wahrscheinlich am besten einmal tief durchatmen.»

«Ich atme doch.»

«Ja, aber Sie atmen nicht tief.»

Okay, ich bin mit meiner Geduld am Ende. Ich werde wieder unverblümt. «Sagen Sie es einfach.»

Ich rechne Gail hoch an, dass sie anfängt zu reden. «An die Jones-Familie ist schwieriger heranzukommen als an die italienische Mafia. Früher waren sie echte Breitbandkriminelle. Glücksspiel, Autodiebstahl, Schutzgelderpressung, Bestechung von Amtsträgern, suchen Sie sich was aus. Sie haben angefangen, indem sie alles über eine Cafékette abgewickelt haben. Der Großvater? Man hat ihn den Kaffeekönig genannt.» Anscheinend um der dramatischen Wirkung willen macht sie eine Pause. «In den letzten anderthalb Jahren allerdings – Stille. Alle dachten, sie wären völlig abgetaucht. Bis ich anfing, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Verbrechen im ganzen Land miteinander in Verbindung zu bringen, an der Ost- und Westküste und in Teilen von Kanada. Raubüberfälle. Die Familie begeht jetzt Raubüberfälle.»

«Juweliergeschäfte?», frage ich geschäftsmäßig, damit sie schnell weiterredet.

«Juweliergeschäfte, Museen, Banken, Privathäuser – Millionen von Dollar. Erinnern Sie sich an den Raub im Kunstmuseum von St. Louis vor drei Monaten? Der, bei dem zwei Zivilisten erschossen worden sind? Das waren die. Ich habe fast acht Jahre lang versucht, ihr Netzwerk zu infiltrieren. Ich dachte schon, es wäre nicht zu bewerkstelligen, jedenfalls nicht mehr zu meinen Lebzeiten. Und dann hat Johnny Jones – der Sohn – letzte Woche seine Verlobung bekannt gegeben.»

Panik rieselt mir den Rücken hinunter. «Okay …»

«Mit Ihrer Schwester.»

Was sie da sagt, ergibt für mich zunächst keinen Sinn. Ihre Worte klingen nicht wie Worte. Erst denke ich, der Fernseher hätte einen Kurzschluss, aber nein, es ist nur mein Sehvermögen. An den Rändern ist meine Sicht eindeutig unscharf. «Nein», sage ich automatisch.

Gail zieht die Augenbrauen hoch, als wollte sie sagen: Tja, es stimmt aber.

Meine Fingerspitzen werden taub, und Erinnerungen steigen in mir auf wie Säure: Calla und ich mit unseren zusammenpassenden Brotdosen in Hummerform in der Grundschule. Calla, die mir die Zunge herausstreckt und sagt: «Wer zuerst bei der Schaukel ist!» Kleine Schwester. Beste Schwester.

«Das ist … unmöglich», sage ich zu Gail und kann dabei das Zittern in meiner Stimme nicht unterdrücken. Was bei mir praktisch nie vorkommt. «Sie machen Witze.»

«Sehe ich aus wie jemand, der gleich ein weißes Kaninchen aus der Tasche zieht?»

«Nein», wiederhole ich, weniger an sie als an mich selbst gerichtet. Ich sehe Calla und mich im Urlaub mit Grandma Ruby im Acadia National Park. Calla und mich, wie wir auf dem Dachboden Staubmäuse aufsammeln und sie Haustiere nennen. Uns beide zusammengekauert unter einer Steppdecke, nachdem Dad gegangen war, wie ich ihr zuflüsterte, ich würde nie wieder zulassen, dass ihr etwas Schlimmes zustößt. Eine Welle von Übelkeit schwappt mir gegen die Rippen. «Nein, Calla würde nie …»

«Calla hat aber», unterbricht mich Gail. «Es tut mir leid, dass sie Ihnen nichts davon gesagt hat. Aber Tatsache ist, dass Ihre Schwester in eine der am schwersten dingfest zu machenden Verbrecherfamilien einheiraten wird, die Amerika je hervorgebracht hat. Und über die sollen Sie Informationen sammeln.»

Mir fällt die Kinnlade herunter, und ich starre Gail an. «Sie wollen mich bitten, meine Schwester auszuspionieren?»

«Sehen Sie, da haben wir’s doch. Genau, wie es in Ihrer Akte steht. Sie sind schlau.»

Ihre Herablassung fühlt sich an, wie in einen eiskalten Fluss gestoßen zu werden, und das … das alles … zieht mich in die Tiefe. «Nein. Nein, das werde ich nicht tun. Das können Sie nicht von mir verlangen.»

Auf Gails Stirn bildet sich eine tiefe Falte. «Natürlich kann ich das. Ich habe es gerade getan.»

«Sie ist meine Schwester …»

«Die einen mutmaßlichen Verbrecher heiratet», sagt Gail. «Ja, das ist mir bewusst. Und Sie mögen glauben, dass Calla unschuldig ist und in völliger Unkenntnis der Umstände lebt – das ist in Ordnung. Glauben Sie das ruhig. Aber hier sind die Fakten, Sydney. Beim letzten Raubüberfall der Jones-Familie wurde ein achtzigjähriger Mann so heftig zu Boden gestoßen, dass er sich an drei Stellen den Schädel gebrochen hat. Er liegt seit über einem Monat im künstlichen Koma, wacht vielleicht nie wieder auf, und sein Hund vermisst ihn. Soll ich Ihnen ein Bild von seinem Hund zeigen?»

Mir dreht sich der Magen um. Ich weiß, was sie gerade tut. «Hören Sie auf.»

Gail hört nicht auf. «Er heißt Puffin und ist ein schokoladenbrauner Labrador mit sehr traurigen Augen. Und eine Frau Mitte dreißig wurde von einer Kugel getroffen, einem Irrläufer. Sie liegt immer noch im Krankenhaus. Sie könnte überleben, aber es besteht die Möglichkeit, dass ihre beiden Kinder am Weihnachtsmorgen ohne Mutter aufwachen werden.»

Heißer Schmerz kriecht in meinen Hals. «Gail.»

«Es gibt ein Muster», fährt Gail fort. «Jeder Raub ist größer und gefährlicher als der letzte. Jedes Mal steigt die Zahl der Opfer. Also, in den letzten achtundvierzig Stunden haben wir von zwei Gerüchten gehört. Erstens, dass der nächste Raubüberfall des Jones-Clans in der Silvesternacht über die Bühne gehen soll. Und zweitens scheint jemand aus ihrer Organisation auf dem Schwarzmarkt fünfzig Pfund C4 gekauft zu haben.»

Fünfzig Pfund? Das … das reicht, um eine ganze Reihe von Banken in die Luft zu jagen. Eine ganze Straße. Und das in der Silvesternacht, bei den Menschenmassen? «Du lieber Himmel», flüstere ich.

«Das betrifft deutlich mehr Menschen als Ihre Familie», betont Gail. «So viel C4 kann Tausende von Menschen verletzen. Was ist das Zielobjekt? Was sind die Pläne der Jones-Leute? Wie können wir sie aufhalten, bevor sie ihren bislang schlimmsten Anschlag verüben? Calla bringt Johnny über die Feiertage mit nach Hause, damit er Ihre Grandma kennenlernt. Damit bekommen Sie die Gelegenheit, es herauszufinden. Hurra, hurra, Familienzeit! Packen Sie Ihre Koffer für Maine.»

2

Was schenkt man einem Mafiaboss zu Weihnachten?

Mit gerümpfter Nase hebe ich den Teewärmer aus Baumwolle hoch und mustere ihn. Winzige Rentiere tanzen in einem Muster über den Stoff. Ein klares Nein. In meinem Korb befindet sich bereits viel zu viel Toblerone, und ich habe zwei Strickpullover, eine Dose schwarzen Tee mit Weihnachtsgewürz und ein T-Shirt mit der schwedischen Königsfamilie eingepackt. Eigentlich hatte ich vor, etwas von Amazon liefern zu lassen, aber da ich Weihnachten nun tatsächlich nach Hause fahre, sollte ich meine Geschenke auch selbst mitbringen. Wirklich durchdachte Geschenke, wie zum Beispiel …

In meinem Gesichtsfeld taucht eine Tasse mit der Aufschrift ALLES LIEBE VOM FLUGHAFEN STOCKHOLM ARLANDA auf. Darauf ist ein Wikinger zu sehen, der eine Begrüßung rülpst.

Wieder nicht ganz das, wonach ich suche.

Um mich herum stöbern andere Flughafenbesucher im Geschenkeladen herum, so leicht und unbeschwert und – allem Anschein nach – gut ausgeruht. Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan. Gegen 3:30 hat mir mein Führungsoffizier bestätigt, dass meine Alexei-Mission erfolgreich war – und dass Gail die Wahrheit gesagt hat. Sie arbeitet wirklich für das FBI. Calla heiratet wirklich Johnny Jones.

Wie zum Teufel ist es überhaupt dazu gekommen? Wie haben sie sich kennengelernt? Wie lange sind sie schon zusammen? Wann soll die Hochzeit sein? Weiß Calla, dass ihrem Verlobten kriminelle Aktivitäten vorgeworfen werden?

Das kann nicht sein.

Ich reibe mir die Augen und sage mir: Auf keinen Fall. Calla ist notorisch regelkonform. Sie gehört zu den Leuten, die sich vor einem Software-Update tatsächlich die Geschäftsbedingungen durchlesen. Als Kinder haben wir mal Weihnachtskarten an unsere Nachbarn verteilt, und sie weigerte sich wegen Postbetrugs, deren Briefkästen zu öffnen. Was, wenn wir versehentlich die Werbezettel darin durcheinandergebracht hätten? Und sie ist ein guter Mensch. Ich habe sie einmal zu Fuß einen achtspurigen Highway überqueren sehen, um eine Schildkröte zu retten. Sie weicht mit dem Auto Tauben aus. Sie recycelt mit einem Eifer, der üblicherweise nur in olympischen Sportarten anzutreffen ist.

Ich kenne meine Schwester.

Ich kenne sie.

Aber in meinem Kopf fiept diese leise Stimme, die sich immer meldet, wenn ich angespannt bin, wenn ich die Motive von jemand anderem infrage stelle: Kennst du sie wirklich, Sydney? Jeder ist zu allem fähig, oder nicht?

Kann ich meinem Urteil vertrauen, wenn es um die Menschen geht, die ich am meisten liebe?

«Nur das hier», sage ich und stelle meinen Korb neben der Kasse ab. Wie hat sich Calla bei unserem letzten Treffen verhalten? Normal, oder? Das war vor vier Monaten auf einem Kurztrip an die Ostküste der USA. Ich war mit einer Kontaktperson in der Nähe der Boston Public Library verabredet, also habe ich an diesem Samstagmorgen bei Calla in ihrer Wohnung vorbeigeschaut – und Bagels und Kaffee mitgebracht, kleine Sühnegaben. Es tut mir leid, ich hatte so viel zu tun. Ich bin ätzend. Sie schnappte nach Luft, als sie mich sah, zog mich fest an sich, und wir redeten zwei Stunden lang auf ihrem Sofa. Über ihren Job in der örtlichen Grundschule. Über ihre Schülerinnen und Schüler und den winzigen Gemüsegarten und dass sie darüber nachdachte, sich eine Katze zuzulegen.

Kaum über mich.

Ich bin gut darin geworden, solchen Fragen auszuweichen.

In vielerlei Hinsicht ähneln meine Schwester und ich uns. Wir sind organisiert, akribisch genau, ehrgeizig. Bernsteinfarbene Augen und dichte Wimpern von Dads Seite der Familie, hervorstehende Wangenknochen und ein breites Lächeln von Moms Seite. Aber Calla ist viel vertrauensseliger als ich. Sie ist offener. Sie lässt sich von ihrem Herzen leiten, während ich in letzter Zeit eher wie die unnahbare Katze bin, die sie aus dem Tierheim retten wollte: manchmal warm, aber auch misstrauisch. Wenn man sich von seinen Gefühlen überwältigen lässt, wenn man die Menschen zu nah an sich heranlässt, löst das oft Katastrophen aus.

«Viel Toblerone», bemerkt die Kassiererin.

«Großer Feiertag», erwidere ich ausdruckslos, wickele eine aus und beiße ab.

Auf halbem Weg zu meinem Gate fällt mir siedend heiß etwas ein. Ich krame in meinem Rucksack und fische mein Nicht-Wegwerf-Handy heraus. Callas letzte Sprachnachricht kam vor fast einer Woche. Ihre Stimme zwitschert aus dem Hörer.

 

Hey, Syd. Ich bin’s. Weißt du noch? Deine Schwester? Ungefähr so groß wie du, braune Haare, Narbe auf dem Knie von unserem Sprung von der Schaukel? Okay, jetzt wo du das richtige Bild vor Augen hast … du warst in letzter Zeit besonders abwesend. Ruf mich mal an, bitte. Ich habe … ich habe ein paar Neuigkeiten. Es ist niemand gestorben oder so. Es ist überhaupt nichts Schlimmes, aber könntest du … ruf mich einfach zurück, okay? Ich hab dich lieb, tschüss.

 

Du hast sie nicht mal zurückgerufen, denke ich, und in meinem Hals bildet sich ein Kloß. Da war die Reise nach Oslo, dann Stockholm, und mein Deckname hat sich zweimal geändert – aber Scheiße, das ist keine Entschuldigung. Nach drei Jahren bei der CIA dachte ich, ich wäre inzwischen besser darin, den Job und meine Familie unter einen Hut zu bringen. Mit Calla, mit Grandma Ruby in Kontakt zu bleiben. Als ich in meine Arbeit eingetaucht bin, wollte ich niemals ihnen entgleiten.

Meine Augenwinkel brennen, dann blinzele ich den Schmerz weg. In Boston ist es mitten in der Nacht, also schreibe ich ihr hastig eine SMS (Tut mir leid, dass ich deinen Anruf verpasst habe, ich verspreche, mich zu melden, wenn du wach bist), stecke das Telefon in meinen Koffer und hole zwei Preiselbeerkaugummis heraus, die ich mehr als nur ein bisschen brachial zerkaue. Wahrscheinlich sollte ich mich mehr darum bemühen, weihnachtlich gute Laune auszustrahlen, aber jedes Mal, wenn ich denke: Rudolph! Schneeflocken! Heißer Cider! Krippe!, denke ich gleichzeitig: Deine kleine Schwester heiratet einen Gangsterboss, und du warst zu beschäftigt, um an dein verdammtes Telefon zu gehen.

 

In meinem ersten Jahr bei der CIA kümmerte ich mich noch um Calla. Nicht in großem Stil. Nur bei kleinen Dingen: Ich besorgte Sachen für die Schule, oder ich erinnerte sie vor einem Kälteeinbruch daran, ihren Reifendruck zu checken. Trotz ihres Organisationstalents vergisst Calla manchmal sich selbst – und ich sorgte dann dafür, dass sie sich an sich erinnerte. Während der Grippesaison schickte ich ihr Vitamin-C-Tabletten und ein Fläschchen Zink. Ich ließ ihr Säcke mit Streusalz in ihre Wohnung in Boston liefern, weil sie einmal selbst nicht daran gedacht hatte, auf dem eisigen Gehweg ausgerutscht war und sich das Steißbein gebrochen hatte.

Wann habe ich aufgehört, mich in allen wichtigen Bereichen um sie zu kümmern?

Warum habe ich das zugelassen?

Calla und ich sind in Cape Hathaway in Maine aufgewachsen, das genauso malerisch ist, wie es klingt. Wir sind mit dem Fahrrad zur Grundschule gefahren, haben wilde Blaubeeren gesammelt und unter dem Nordlicht Süßes oder Saures gespielt. Jedes Jahr gibt es in Cape Hathaway nach Halloween einen aggressiven Wetterumschwung, der das Ende der Touristensaison und den offiziellen Winteranfang einläutet. Ich weiß, dass sich einige Mainer gerne über den Schnee beschweren (er ist zu kalt, zu nass), aber ich kann von diesem Zeug nicht genug bekommen. Das ist Callas Schuld. Wenn es zum ersten Mal schneite, weckte sie mich immer mitten in der Nacht, zerrte mich auf die Einfahrt hinaus und befahl mir, die Hände auszustrecken: «Du musst die erste Schneeflocke, die du fängst, essen. Das bringt Glück.»

«Das hast du dir ausgedacht», sagte ich.

«Vielleicht.» Sie zuckte mit den Schultern. «Vielleicht auch nicht.»

Und dann standen wir da Stiefel an Stiefel auf dem Beton, ohne zu wissen, dass wir Jahre später – als Calla vierzehn war und ich sechzehn – Dad hinterherschauen würden, wie er davonfuhr. Wir sahen zu, wie sein Pick-up auf der verschneiten Auffahrt eine Spur zog, und wir winkten ihm mit unseren Fäustlingen nach. Er wollte schließlich nur einen Campingausflug machen, oder? Er ließ uns ja nur für eine Weile allein …

Mein Atem stockt, als das Flugzeug landet und ich aus dem Fenster all den Schnee sehe. Portland liegt unter einer meterhohen Schneedecke. Es ist 16:36 Uhr, und die Sonne ist bereits untergegangen, aber dank der Lichter der Stadt kann ich dennoch die Dampfschwaden sehen, die von den Gebäuden aufsteigen. Ein zarter Nebel hängt über der Stadt. Die Luft des Spätnachmittags ist schwer und eiskalt. Gut, dass ich meine Thermo-Handschuhe eingepackt habe.

Und meinen Taser.

Im Mietwagenzentrum des Flughafens suche ich ein Auto aus, das sagt: Ich bin keine Bedrohung für dich, Johnny Jones, und ich bin definitiv keine Spionin. Während ich dann mit dem Prius über das Eis in Richtung meiner Heimatstadt rutsche, muss ich ständig gegenlenken. Leider könnte ich, selbst wenn ich mir GEHEIMAGENTIN auf die Stirn geschrieben hätte, im Augenblick nicht noch mehr nach einer CIA-Agentin aussehen. Als ich noch in Maine lebte, bestand mein Look aus Goldreifen in den Ohren und farbenfrohen, bunt gefleckten Sweatshirts. Jetzt trage ich einen schwarzen Rollkragenpullover, schwarze Schneestiefel und eine schwarze Jeans, die die Wölbungen meiner Muskeln betont. Außerdem habe ich zwei dreifache Espresso getrunken, um wach zu bleiben. Das Koffein rast durch meine Adern wie Miniatur-Windhunde, und jedes Mal, wenn ich blinzle, sehe ich Johnnys Gesicht vor mir. Gestern Abend hat mir Gail Porträtfotos und zwei Gigabyte an Dateien geschickt, die ich mir ansehen sollte – und ja, ich kann auf gewisse Weise nachvollziehen, warum Calla sich in ihn verliebt hat. Auf rein körperlicher Ebene, meine ich. Weiche Locken, blondes Surfer-Haar. Schultern wie ein Linebacker. Sein Blick ist stechend.

Weil er dich buchstäblich abstechen würde, Sydney, denke ich und umfasse das Lenkrad fester. In diesen zwei Gigabyte befanden sich Gails persönliche Recherchen und alle verfügbaren Überwachungsbilder der letzten drei Raubüberfälle. Schwarz maskierte, Pistolen schwenkende Männer, die Schüsse auf Zivilisten abgaben, bevor sie sich mit ihren Millionen davonmachten.

Johnnys Männer. Johnnys Waffen.

Das jedenfalls glaubt Gail. Sie hat die Verflechtungen seiner Komplizen im gesamten Land nachgezeichnet und ihre Verbindungen bis kurz vor jeden Raub belegt. Johnny ist nie physisch am Tatort anwesend (seine Alibis sind wasserdicht, er lässt andere Leute die Drecksarbeit für sich machen), aber seine metaphorischen Fingerabdrücke sind überall auf den Plänen zu sehen. Was fehlt, sind absolut stichhaltige Beweise, die ihn mit den Verbrechen in Verbindung bringen – um den bislang schlimmsten Angriff zu verhindern.

Ich atme tief und selbstbewusst durch, weil ich weiß, dass ich vor Silvester alles regeln werde, und stelle die Temperatur der Sitzheizung hoch. Draußen herrschen minus fünfundzwanzig Grad. Wenigstens friere ich nicht in meinen Wollsocken und meinem in Schweden gekauften Parka. Ich ertappe mich sogar dabei, dass ich die Weihnachtslieder im Radio mitsumme und etwas fester auf das Gaspedal trete. Mir geht es gut. Ich kann damit umgehen, wie ich mit all meinen Aufträgen umgehen kann. Es muss sich nichts ändern.

Häuser fliegen vorbei. Bunte Lichter blinken unter dem frostigen Himmel. Je weiter ich mich von Portland entferne, desto aufwendiger wird der Häuserschmuck. Jemand hat einen Schlitten gezimmert und zwölf aufblasbare Rentiere davorgeschirrt. In einem anderen Garten erhebt sich eine so hohe Menora, dass sie den Ästen der Bäume in die Quere kommt. Als ich Cape Hathaway erreiche, geht die Weihnachtsstimmung förmlich durch die Decke.

Meine Heimatstadt nimmt die Festtage äußerst ernst. Möglicherweise zu ernst. Wir befinden uns in einem inoffiziellen Wettbewerb mit dem Hummerfischerörtchen nebenan und müssen uns jedes Jahr wieder zusammenraufen, um sie mit unserem freudigen Überschwang zu übertreffen. Dabei geht es um Leben und Tod … jedenfalls, wenn man meine Grandma Ruby fragt. Sie ist für die Hälfte der Schaufenster auf der Main Street zuständig, und hier unten sind wir in Glitzerhausen. Glitzer und Lametta und funkelnde Kränze. Hüfthohe, leuchtende Zuckerstangen säumen die Bürgersteige. Und jedes Haus ist bis zum Dach festlich geschmückt mit Kerzen in den Fenstern und Schleifen an den Türen. Riesige animatronische Weihnachtsmänner winken einem mit schneeverwehten Bärten zu.

Ich biege scharf nach links in die Cook Lane ab, trommele mit den Fingern auf das Lenkrad und gehe nochmals meinen Plan durch. Er lautet exakt folgendermaßen: Das Handy von Johnny klauen und einen von Gail zur Verfügung gestellten Tracking-Virus implantieren, ihn abhören, sein Zielobjekt für Silvester ermitteln und den Raub vereiteln. Frohe, frohe Weihnachten, juhu. Verhindern, dass der Mistkerl meine Schwester heiratet, egal mit welchen Mitteln. Calla wird nur über meine Leiche einen Gangsterboss heiraten.

Hoffentlich nicht im wörtlichen Sinn.

Ich meine, das wäre wirklich nicht besonders freudig.

Gerade, als ich in mein altes Viertel einbiege, klingelt mein Wegwerf-Handy. Ich gehe ran. «Hallo?»

Es ist Gail. «Gut, Sie sind angekommen. Der Flug von Calla und Johnny hat Verspätung. In etwa fünfundvierzig Minuten werden sie zusammen mit Marco, einem von Johnnys Leibwächtern, vor dem Haus halten. Vor sechzehn Minuten hat Ihre Grandma Ruth …»

«Ruby», berichtige ich sie. «Grandma Ruby.»

«Ruth, Ruby. Erdapfel, Erdbirne. Jedenfalls ist sie zum Supermarkt gefahren, also wollte ich Ihnen nur kurz mitteilen, dass die Samen gesät sind. Vorhin war ein Techniker da. Sie brauchen also nichts selbst zu verwanzen.»

«Warten Sie mal …» Ich schüttele den Kopf. Das FBI hat mein Haus verwanzt? Das sollte mich nicht überraschen, und doch – die Anmaßung ist wie ein Schlag ins Gesicht. «Das gehörte nicht zum Plan. Das wurde nie mit mir besprochen.»

«Oh.» Gail verstummt. «Ich dachte, das versteht sich von selbst.»

Mein Griff um das Telefon wird fester, und meine offene Empörung bricht sich Bahn.

«Sie sind Privatpersonen, Gail. Meine Familie. Wir haben keinen Durchsuchungsbeschluss. Wieso sollte ich davon ausgehen, dass wir meine Grandma Ruby abhören?»

«Wie ich sehe, sprechen wir nicht mehr in codierter Form.»

Ich fahre mit der Zunge an meinen Zähnen entlang. «Sie haben von ausgesäten Samen geredet. Wer soll ernsthaft denken, dass wir über Gartenarbeit reden?»

«Wir reden doch über Gartenarbeit. Ich züchte im Sommer Tomaten. Ein sehr entspannendes Hobby.» Gail räuspert sich. «Ich weiß, es mag verlockend sein, aber denken Sie bitte daran, was wir besprochen haben. Sie dürfen Ihrer Schwester unter keinen Umständen von dieser Mission erzählen.»

«Das haben wir ebenfalls nicht besprochen.»

«Es wurde impliziert.»

Und sie hat recht, so war es. Was nicht bedeutet, dass ich mit der Entscheidung nicht gerungen hätte. Genau genommen war sie der Grund, warum ich die ganze Nacht mit Triefaugen wach lag. Konnte ich Calla in die Details des Auftrags einweihen? Konnte ich ihr über Johnny reinen Wein einschenken? Die Sonne ging gerade über den Dächern von Stockholm auf, als mich die Realität traf wie ein Schlag: Nein, Sydney, das kannst du nicht. Ich bin mir absolut sicher, dass Calla nicht Teil von Johnnys Bande ist, aber … fünfzig Pfund Sprengstoff an Silvester? Ich kann das Risiko nicht eingehen, Menschenleben einer solchen Bedrohung auszusetzen.

«Wir brauchen genügend Beweise, um Johnny auffliegen zu lassen, bevor Sie aus der Deckung kommen», fährt Gail fort, «und ich habe nicht die geringste Zuversicht, dass Calla die Fassade aufrechterhalten wird, wenn sie die Situation durchschaut.»

Das ist ein weiteres Problem. Calla überstürzt und unter Druck mit so vielen heiklen Informationen zu überlasten, würde sie nur in eine noch kompromittierendere Lage bringen. «Na ja», schränke ich ein, ich hadere immer noch mit mir, «es könnte sein, dass sie mitspielt, wenn …»

«Sydney? Nein. Und jetzt sorgen Sie einfach dafür, dass Ihnen der Verlobte vertraut, verstanden? Viel Glück.» Damit legt sie auf.

Ich starre auf das Telefon und begreife, warum sich die CIA und das FBI beharken wie zwei Kampfhähne, wie Gail behauptet. Außerdem bedeutet die Tatsache, dass sie Wanzen versteckt haben, dass das FBI auch mich observiert. Sie trauen mir nicht ganz. Warum sollten sie auch? Meine Schwester wird in die Jones-Familie einheiraten. Das heißt, auch ich könnte ein Teil dieser Familie werden …

Der Prius gerät ins Schleudern, als ich in die Auffahrt einbiege, Schnee gibt unter meinen Reifen nach. Das Haus meiner Großmutter – mein Haus – sieht genauso aus wie immer: Es ist fast hundert Jahre alt, mit großen, auffälligen Fenstern. Es ist aus gelb gestrichenem Holz, sodass es sich in der dunklen, winterlichen Umgebung ausnimmt wie ein Strahl Sommersonne. Von der Veranda im Erdgeschoss baumelt eine Lichterkette in Eiszapfenform, und um die Säulen windet sich Tannengrün. Dort neben dem Wacholderbaum, an dem noch immer Dads alte Vogelkästen hängen, ist mein altes Kinderzimmer. Calla und ich haben auf diesem Baum so viele Stunden zugebracht und mit Ferngläsern Ausschau nach den Katzen der Nachbarn gehalten. Wie hießen sie noch gleich?

Milton und Cat Benetar, fällt es mir wieder ein. Ich bin immer noch angespannt von dem Telefonat. Angespannt auch, weil ich wieder zu Hause bin – all die Erinnerungen, die auf mich einströmen. Man kann meinen Herzschlag förmlich an meinem Hals pulsieren sehen. Ich habe das gerade im Rückspiegel überprüft.

Ich atme ein, halte die Luft an und stoße sie wieder aus.

Okay.

Ich parke, zerre meinen Koffer aus dem Kofferraum und fische meinen Ersatzschlüssel heraus in der Hoffnung, dass Grandma die Schlösser nicht ausgetauscht hat. Klar, ich könnte auch auf der Einfahrt auf sie warten. Ich kenne meine Grandma Ruby. Sie bummelt nicht durch die Gänge, sie wählt entschlossen aus. Mit obstzerschmetternder Geschwindigkeit werden die Lebensmittel in den Einkaufswagen geworfen. In fünfzehn Minuten wird sie wieder da sein. Aber die Auffahrt ist der Teil des Hauses, an dem ich mich am wenigsten wohlfühle. Ich kann beinahe noch die Reifenspuren von Dads Truck sehen, und außerdem ist es eiskalt hier draußen, und der Schnee fällt allmählich in Batzen.

Zum Glück passt der Schlüssel. Das Schloss dreht sich.

Und die Liebe meines Lebens erwartet mich, gleich hinter der Tür. Sie heißt Sweetie Pie. Ihr Fell ist schwarz-weiß gesprenkelt wie das eines Appaloosa-Pferdes, und ihre Augen sind so warm und schokoladenbraun, dass man weiche Knie bekommt. Es gibt da dieses Sprichwort über Seelenverwandte. Jeder hat einen in seinem Leben – und die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering, dass es ein Hund ist. Als ich dieses brave Mädchen ansehe mit ihren rosigen, schlabberigen Lefzen, wie sie allein bei meinem unerwarteten Anblick mit dem Schwanz wedelt, denke ich: Es stimmt. Oh Gott, es ist so wahr.

Sie stürzt sich auf meine Knöchel.

Es ist wie das Wiedersehen in Zeitlupe am Ende eines Films, und es sollte eigentlich auf einer Wiese stattfinden und nicht in einem Hauseingang. Ich lasse mich auf ein Knie fallen und spreche mit der zuckersüßen Stimme mit ihr, die ich allein für Hunde reserviere. «Süße Maus! Wer ist meine süßeste Sweetie Pie? Du bist das!»

Mit wackelndem Hinterteil gibt sie mir zwei lange Küsse, bei denen sie mein Gesicht mit einer dicken Schicht Hundesabber überzieht. In ihren leisen Wimmerlauten versteckt sich die Frage: Wo bist du gewesen?

Schuldgefühle überwältigen mich. Ich spüre einen Stich im Magen. «Gute Frage», flüstere ich zurück.

Wenn mich einer meiner Kollegen jemals fragen würde, warum ich zur CIA gegangen bin, würde ich ihn mit einer oberflächlichen Antwort abspeisen: wegen der Herausforderung, aus einem Pflichtgefühl heraus. Das stimmt nicht.

Die Wahrheit ist, dass meine CIA-Tarnidentitäten ihre Vorteile haben. Niemand kann dich verletzen, wenn er kaum weiß, wer du bist.

Hunde dagegen? Mit Hunden ist es etwas anderes. Bei ihnen kann ich ganz und gar ich selbst sein, ohne mich zu verstecken. Hunde würden einen nie austricksen, sie sind immer ehrlich.

«Ich würde mein Leben für dich geben», sage ich zu Sweetie Pie und umfasse ihr Gesicht mit beiden Händen.

Das ist schön, sagen ihre Augen. Sie stößt ein befriedigtes Schnauben aus und lacht hechelnd.