7,99 €
Eine Reise ins Ungewisse. Begleitet von Freundinnen fliegt die Protagonistin von Norddeutschland in die Schweiz. Während des Fluges folgen wir ihren Reflexionen und ihrer Geschichte, die in Rückblenden erzählt wird. Sie war früher eine bekannte Performerin und Autorin, doch ihre Bücher werden kaum mehr verkauft, sie empfindet sich als ausgegrenzt, auch körperlich ist sie inzwischen eingeschränkt. Ihre Freundin war als Archäologin auf gefährlichen Reisen unterwegs, sie selbst hatte sogar fliegen gelernt, Segelflugzeuge. Jetzt denkt sie über existenzielle Fragen nach; es geht um Leben und Tod und die Freiheit, selbst zu entscheiden – auch wenn sich ihre Freundinnen wünschen, dass sie mit ihnen zurückkehren wird.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 75
Traude Bührmann
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Cocktailstunde
Zum Buch
Poème
Über den Wolken
Dissonanzen
Sprechende Hände
Trauertriptychon
Genieverdächtig
Groupies
Allegro
Gruftig
Geschenk des Himmels
Aus eigenem Willen
Wurzeln in der Luft
Abnehmende Zukunft
Stieftöchterlich
Posthumer Ruhm
Gehstock & Gertrudes Rosen
Briefkultur
Global gesehen
Lichtblicke
Altersenergie
Monologisch
Schuld
Und Sühne
Seeblick-Suite
Geschenke
Testament
Landung
Geburtstag
Epilog
Zu der Autorin
Weitere Veröffentlichungen von Traude Bührmann
Impressum
konkursbuch Verlag Claudia Gehrke
In ihrer neusten Novelle greift Traude Bührmann ein schwieriges Thema auf, aktive Sterbehilfe. Einfühlsam kleidet Traude Bührmann Charlotts letzte Reise in Worte. Begleitet von ihren engsten Vertrauten macht Charlott sich auf den Weg in die Schweiz – früher ein Paradies für unversteuerte Reichtümer, heute auch ein Ort für selbstbestimmtes Sterben.
Mit klarer, nüchterner Sprache und doch voll erfrischender Leichtigkeit erzählt die Autorin von Charlotts Kampf, von den Zweifeln, Ängsten und dem Widerstreben der Protagonistin und ihren Freundinnen. Charlotts Wegbegleiterinnen entfernen sich von ihr, hoffen, dass sie ihren Entschluss rückgängig macht und kommen ihr schließlich wieder näher und versuchen, die Freundin und Geliebte zu verstehen.
Charlott greift zu ihrem Lieblingsparfum. Poème. Verliert sich im Duft einer verflossenen Schwärmerei oder war es Liebe, die untrennbar mit diesem Geruch verbunden ist? Jeder Tag ein Gedicht, einen Sommer lang. Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst. Am Meer. Im Meer, gegrillte Sardinen am Strand, kreischende Möwen, Sonnenbrand, die Haut spielte eine Hauptrolle Tag und Nacht. Ehe sie sich versahen, standen ihre Züge in entgegengesetzte Richtungen abfahrbereit. Merci, in dieses Wort legten sie ihre ganze Gegenwart für die andere. Von Zukunft konnte keine Rede sein.
Letzter Aufruf nach Zürich. Bitte begeben Sie sich umgehend zum Ausgang 8. Please proceed to boarding gate 8 immediately.
»Anders überlegt? Willst du die Reise nicht mehr machen?«, wird Charlott aus dem zu kurzen Sommer gerissen.
»Nein, ich meine ja, ich komme schon.«
Dem Duft nachhängend weiß sie: Was verflossen ist, ist verflossen.
»Dein Stock«, bemerkt Judit nach ein paar Schritten.
Der Stock, ohne den sich Charlott seit Jahren nicht fortbewegt, lehnt noch am Parfumregal.
Bei der Sicherheitskontrolle wollte man ihr den Stock abnehmen. Charlott wies auf ihre Gehbeschwerden hin. »Dann holen wir Ihnen einen Rollstuhl.«
Genau das will sie vermeiden: Im Rollstuhl enden. Ein Gedanke, bei dem ihr sich schlechtes Gewissen einschleicht. Schließlich war ihre beste Schulfreundin den größten Teil ihres Lebens an den Rollstuhl gefesselt. Ein Autounfall an ihrem fünfzehnten Geburtstag. Sie saß im Fonds bei dem leichten Aufprall, war besorgt um ihr neues Kleid, als sie aus dem Wagen gezogen wurde. Laufen konnte sie fortan nur noch im Traum. Ihr fünfzigster Geburtstag war der letzte, den sie feierte, ganz groß.
Eine Bodenstewardess kam Charlott zur Hilfe, verhandelte mit dem Sicherheitsbeamten: im Flugzeug würde der Reisenden der Stock abgenommen. Und leise zu Charlott gewandt: »Jeder Flughafen hat seine eigenen Vorschriften.«
Charlott hat es gut getroffen mit ihrem Platz am Notausstieg, das heißt, sie hat beim Check-in wortreich darauf bestanden, regelrecht darum gekämpft, mit Hinweis auf ihre demolierte Gesundheit. Diese Reihe sei breiter als die anderen, sie könne ihre schmerzenden Beine besser ausstrecken.
Noch dazu der Fensterplatz, erst in, dann über den Wolken, umgeben von Freundinnen, die sie zu dieser Reise eingeladen hat. Eine Reise, die sie mal ihre Geburtstagsreise, mal hinein ins Abenteuer nennt. Neben ihr Simone, ihre langjährige Lebensgefährtin, hinter ihr Kim, die seit einem Jahr maßgeblich an ihrem Leben beteiligt ist. Vor ihr Judit, mit der sie die Liebe zur Musik verbindet. Der Platz daneben, für Josefine gedacht, ist leer.
Umgeben von Vertrauten und vom Himmel, so hat sich Charlott diese Reise vorgestellt. Sie kann sich in alle Richtungen fallen lassen, muss kein Geruckel am Vordersitz ertragen, keinen dickleibigen Passagier neben sich, keine schrille Stimme hinter ihrem Kopf. Plastikfenster und die leichte Aluminiumwand bewahren sie vorm Erfrieren im unterkühlten Himmel.
Entspannt an das Rückpolster gelehnt, wartet sie auf die Sekunde, in der die Maschine abhebt. Ganz bei sich im Körper sein, um diesen ach so flüchtigen Moment auszukosten. Aufheulen der Triebwerkdüsen, rasender Anlauf über das Rollfeld und schon luftgeboren, ein beglückendes Phänomen, im internationalen Fluggeschehen airborn genannt. Gereimt knüpft sie an diese Verdichtung an:
Manchmal wird ein Technikvorgang spirituell / beim Klang der Beschreibung sofort und schnell / airborn – dieses Wort / trägt mich weit weit fort/ zu einem wahrhaft poetischen Quell.
Die sie bergende und geschwind durchflogene Kumuluswelt setzt ihre Gedanken frei. Bevor sie sich jedoch in die gern besungene Freiheit über den Wolken, ins Grenzenlose vertiefen kann, lösen sich die zum Sprung verlockenden Wolkenformationen auf, Felder, Wiesen, Waldstücke breiten sich aus. Ein Fluss, nein, eine Straße, Windschutzscheiben blitzen auf. »Sonne einfangen« hieß das Spiel und »blind blitzen«, Spiegel in Kinderhänden, für jeden Spaß war sie zu haben. Spiegel gehörten später in all ihre Taschen, sich selbst zu begutachten, aber auch für den Fall eines Falles, Signale senden zu können, wenn sie sich einmal verirren sollte oder wenn Gefahr drohte. Ob es die Straße ist, die einst eine Entenfamilie blockierte? Da! Jetzt der Fluss, unverkennbar, an ihm radelte sie mit Simone entlang im Gegenwind, herausfordernder als jedes Bergauf, und der versprochene Rückenwind für die Rückfahrt drehte sich schließlich mit ihnen auf dem Deich.
Aha-Erlebnisse fädeln sich auf zu einer Gedankenkette rund um den alljährlichen Kulturfrühling in dieser Region: Chorkonzerte, Klettern gegen Castor, Zirkuspferde, Poesie der Stiefelschritte, Kreativ-Ateliers unter freiem Himmel, Wunderkammern kleiner und geschlossener Welten, rauschende uralte Eichen, Kunst abgleitender Gedanken. Ihre eigene lautmalerische Performance: Ein Reinfall. Kaum jemand kam. Lag es am Wetter, an mangelhafter Ankündigung – am Fußballendspiel, versicherten die Veranstalter – oder einfach daran, dass alles andere bunter war?
Der Ausblick auf die Erde rückt ihr unerbittlich Situationen auf den Leib, die sie vergessen glaubte, an die sie nicht erinnert werden möchte. Mit jeder Faser ihres Leibes, mit jedem Gedankensplitter will sie sich dem Hier und Jetzt, dem Flüchtigen und Blauen widmen, den Gefühlen, die den Transit zu ihrem bevorstehenden Geburtstag begleiten. Hatte sie das Abgleiten ihrer Karriere nicht längst ad acta gelegt?
Sie zieht die Verdunklung vors Fenster. Das Licht ist so widerwärtig grell. Trotz der Sonnenbrille, die ihr halbes Gesicht bedeckt, ein Relikt aus lebenslustigeren Zeiten. Wann? Sie hat aufgehört die Jahre zu zählen, rechnet zurück in Dekaden. War es vor drei oder vier Jahrzehnten? Aufbruchzeiten, euphorische Revolten mit der Gewissheit: Wir verändern die Welt! Die Welt gehört uns. Freedom is just another word for nothing left to lose … You can get it if you really want …
»Weißt du noch …?«
Nein, sie mag Simone nicht darauf ansprechen. Sie hatten sich erst nach dieser turbulenten, dieser anregenden, dieser weltbewegenden Epoche kennengelernt und Charlott möchte nicht in den Dunstkreis eines Kriegsveteranen geraten. Außerdem ist Simone in ihre Zeitung vertieft, wie jeden Morgen. Oder gibt sie sich nur den Anschein der Alltäglichkeit? Nicht mal das mittlere Sudoko bekommt sie auf die Reihe, radiert, verbessert, radiert, starrt Löcher in die Luft, versinkt darin.
Könnte sie ihr doch Sonnenstrahlen in den Abgrund schicken! Technisch kein Problem, in Norwegen wurde gerade mit riesigen Spiegeln Sonnenlicht in ein von Bergen eingeschlossenes Dorf geleitet. Mit Sonnenbrillen ausgerüstet warteten die Menschen auf die ersten Strahlen. Eine hundert Jahre alte Idee wurde Wirklichkeit.Eine solch aufhellende Wirklichkeit aber im selben Flugzeug zu ihrem Nebensitz zu leiten, scheint Charlott aussichtslos. Selbst wenn sie die Verdunklung wieder hochzöge und ihren Spiegel hervorholte.
Fasten your seatbelt, der Hinweis ist erloschen.
Charlott lässt den Gurt angeschnallt. Das Flugzeug könnte plötzlich in ein Luftloch fallen und ihr Kopf an die Kabinendecke knallen. Den braucht sie noch für klare Gedanken. Hätte sie ihren Fahrradhelm dabei, wäre die Situation anders.
»Hühnersandwich oder Käse?«
»Gerne Huhn, danke.«
«Für mich bitte auch.
»The chickens used on this bread are raised and produced with respect for animal welfare«, liest Simone leise den Verpackungshinweis vor.
»Das ist doch was!«
Gespannt auf den Geschmack des respektvoll großgezogenen und verarbeiteten Huhns, hat Charlott Mühe, das zusammengeschweißte Zellophanpapier aufzureißen. Sie schafft es mit Simones spitzem Sudukobleistift.
Missmutig beißt sie in das wabbelige Weißbrot. Das hat das einst in Würde lebende Huhn nicht verdient. Respektlos, es in solch eine Umgebung zu betten.
»Krankenhausessen«, mäkelt sie. Deftigeres wäre ihr lieber angesichts des anstrengenden Tages, der vor ihr liegt.
Simone lenkt ein:
»Wir gehen später richtig essen, Bündner Fleisch oder Käse-Fondue, was die Schweizer Küche so bietet.«
»Käse-Fondue ohne mich, verklebt nur den Magen, übrigens sollen alle Milchprodukte Brustkrebs erzeugen.«
»Hast du es überhaupt jemals gegessen?«
»Nein.«
»Dann hast du in dieser Hinsicht nichts zu befürchten.«
»Und in anderer?«
Simone zuckt mit den Achseln.
»Lass dir doch was einfallen! Erfinde. Einen Gag oder Unsinniges, irgendwas, nur nicht so was Resigniertes. Einfach trostlos.«
»Mir ist nicht nach Witzen zumute. Es spielt auch keine Rolle mehr, was dich krank machen könnte.«
»Mach bitte nicht so ein Gesicht.«
Simone schluckt. Sie möchte jetzt keine Meinungsverschiedenheit ausfechten, um Todesart oder Todeszeitpunkt streiten, schon gar nicht um die Tonlage: »Der Ton macht die Musik.«
Sie weiß, Charlott besteht auf ihrem Ton: »Genau, die Dissonanzen bringen die Melodie zum Klingen.«