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BAD BOYS, LIEBE & ROCK’N’ROLL
Als Vaughan nach langer Zeit zurück in seine Heimatstadt kehrt, ist er auf alles vorbereitet - nur nicht auf eine tropfnasse und verzweifelte Braut in seiner Badewanne. Die wunderschöne Fremde heißt Lydia und hat gerade erfahren, dass ihr Verlobter sie betrogen hat. Mehrmals. Mit einem Mann! Eigentlich hat Vaughan einen Berg eigener Probleme. Aber da der Ex-Rockstar und frisch gebackene Barkeeper es nicht übers Herz bringt, Lydia einfach ihrem Schicksal zu überlassen, nimmt er sie vorübergehend bei sich auf - nicht ahnend, dass sie mit ihrer toughen und zugleich verletzlichen Art seine Welt auf den Kopf stellen wird ...
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Seitenzahl: 437
Kylie Scott
Crazy, Sexy, Love
Roman
Ins Deutsche übertragen von Katrin Reichardt
Als Vaughan zum ersten Mal seit Jahren zurück in seine Heimatstadt kehrt, rechnet er mit allem – nur nicht mit einer tropfnassen und weinenden Braut in seiner Badewanne. Die wunderschöne Fremde heißt Lydia Green und hat soeben erfahren, dass der Mann, dem sie an diesem Tag das Jawort geben wollte, sie betrogen hat … und zwar mit seinem besten Freund! Um den Hochzeitsgästen nicht gegenübertreten zu müssen, ist Lydia Hals über Kopf über den Gartenzaun aufs Nachbargrundstück geflüchtet, durch das erstbeste offene Fenster geklettert – und in Vaughans Badezimmer gelandet. Eigentlich müsste sich der Ex-Rockstar erst einmal um seine eigenen Probleme kümmern: die Bar seiner Schwester auf Vordermann bringen und sein Elternhaus verkaufen, um seine Schulden abzubezahlen. Aber mit ihrer schlagfertigen und zugleich verletzlichen Art fasziniert Lydia ihn zutiefst, und Vaughan bringt es nicht übers Herz, sie einfach auf die Straße zu setzen. Dabei weiß auch Lydia, dass sie auf schnellstem Weg wieder aus Coer d’Alene verschwinden sollte. Hier, wo sie sich endlich eine Zukunft aufbauen wollte, hat sie nun weder Freunde, noch einen Job. Geschweige denn einen Ehemann! Und dass ein Bad Boy wie Vaughan, der den Rock’n’Roll-Lifestyle lebt und das Gegenteil von all den Männern ist, mit denen Lydia normalerweise ausgeht, ihr Herz so verrückt schnell schlagen lässt, kommt ihr gar nicht gelegen …
Für Astrid, die während der Entstehung dieses Buches gestorben ist. Sie war furchtbar, und sie war wundervoll. Sie war der beste Hund, den sich ein Mädchen nur wünschen kann.
Fuck.
Ich starrte auf mein Handy, und der Mund stand mir vor Schreck weit offen. Herrje, die beiden gingen ganz schön ran. Zungen umwickelten sich, Zähne stießen aneinander. Ohne Zaudern oder Zurückhaltung rieben sie ihre Körper aneinander. Der Winkel der Aufnahme und die Beleuchtung waren mies, doch ich bekam bei Gott noch genug mit von dieser nicht jugendfreien Aktion.
Das konnte nicht wahr sein. Was zum Teufel sollte ich jetzt tun?
Draußen auf dem Korridor waren Stimmen zu hören, Gelächter, lauter normale, fröhliche Geräusche. Das konnte ich an meinem großen Tag ja auch durchaus erwarten. Diesen Schweinkram auf meinem Handy dagegen eher weniger. Ich wollte es nicht sehen, schaffte es aber auch nicht, den Blick abzuwenden. Wer immer mir das geschickt hatte, hatte seine Nummer unterdrückt, doch die fragliche Person konnte damit nur eine einzige Absicht verfolgt haben.
Scheiße.
Oh Gott, zu sehen, wie sicher ihre Berührungen wirkten, wie merklich vertraut sich ihre Körper waren, war schier unerträglich. Mein Magen hob sich, und Galle brannte in meiner Kehle. Schluss jetzt. Ich schluckte angestrengt und warf das Handy auf das brandneue, übergroße Bett. Dort lag es, während das Video unablässig weiterlief, und sah inmitten der verstreuten roten Rosenblütenblätter aus wie ein schlechter Witz. Ich hätte es gleich gegen die Wand schleudern sollen. Oder drauftreten oder was auch immer.
Chris hatte gesagt, dass sie nur ein bisschen ausgehen, gemütlich beisammensitzen wollten. Nur er und sein Trauzeuge Paul. Ein paar Drinks kippen und über alte Zeiten reden. Von wilden Zungenspielchen hatte er ganz sicher nichts erwähnt, denn daran hätte ich mich, trotz der stressigen Hochzeitsvorbereitungen, bestimmt erinnert.
Meine Augen juckten, und in meiner Wange zuckte ein Muskel. Ging das schon länger hinter meinem Rücken so, und wenn ja, wieso war ich so ein riesiger Vollidiot gewesen und hatte es nicht gemerkt? Ich schlang die Arme um meinen Körper, ganz fest, und versuchte, nicht die Fassung zu verlieren.
Es klappte nicht. Nicht einmal ansatzweise.
Das Schlimme daran war, dass es bei genauerer Betrachtung durchaus verräterische Anzeichen gegeben hatte. Chris’ Libido ließ sich nicht gerade als ungezügelt bezeichnen. Zwar hatten wir bei all den gemeinsamen Abendessen und Ausflügen, die unsere stürmische Romanze bestimmten, oft Händchen gehalten und uns geküsst. Aber zu richtigem Geschlechtsverkehr war es nicht wirklich gekommen. Immer hatte er eine Entschuldigung parat gehabt. Seine Familie sei religiös, wir sollten uns an die Tradition halten und bis zur Hochzeitsnacht warten, wenn wir es erst dann täten, würde es etwas ganz Besonderes werden, blablabla. Damals klang das schlüssig für mich. Dass er schlicht nicht auf Frauen stand, wäre mir nie im Leben in den Sinn gekommen. In jeder anderen Hinsicht war er einfach so perfekt.
Nein, das stimmte nicht. Nach diesem Video zu urteilen, hatte Coeur d’Alenes Goldjunge mich als Alibifreundin benutzt und beabsichtigt, dies bis zu unserem Lebensende durchzuziehen.
Tief in meinem Inneren zerbrach ein Teil von mir. Mein Herz, meine Hoffnungen, meine Träume, keine Ahnung, was genau. Aber mir tat alles weh. Nie zuvor in meinem bisherigen, fünfundzwanzigjährigen Leben hatte ich etwas Vergleichbares erlebt. Der Schmerz war unerträglich.
Die Stimmen im Korridor kamen näher, während auch das Ächzen und Stöhnen in meinem Handy lauter wurde. Dem Chris im Video gefiel offensichtlich, was sein Trauzeuge mit seinem Genital anstellte. Dreckskerle. Und ich hatte gedacht, dass ich endlich ein Zuhause gefunden hatte. Wie dämlich war ich eigentlich?
Auf keinen Fall konnte ich jetzt dort rausgehen, vor all diese Menschen treten und eingestehen, was für ein Narr ich gewesen war. Dass ich für dumm verkauft worden war. Zumindest nicht im Moment. Mein Verstand brauchte erst einmal eine Chance, das Ausmaß dessen zu begreifen, was Chris getan hatte, wie gründlich er mich beschissen hatte.
Wumm, wumm, wumm!, hämmerte eine Faust draußen gegen die Schlafzimmertür. Ich zuckte zusammen, riss die Augen schmerzhaft weit auf.
»Lydia, es wird Zeit«, verkündete Chris’ Vater.
Ähm, ja … vergiss es. Ich war raus aus der Geschichte.
Von Panik ergriffen rannte ich blindlings los. Nicht gerade einfach, wenn man total außer Form ist und noch dazu im kompletten Hochzeitsornat steckt, aber ich schaffte es trotzdem. Ich flog geradezu. Schon interessant, welche Kräfte das Grauen in einem wecken kann.
Durch die Glastüren hinaus auf die Veranda. Über die weite Fläche des penibel geschnittenen, grünen Rasens, wo bei jedem Schritt die Pfennigabsätze meiner Schuhe in den weichen Boden einsanken. Ich hörte leise Musik und Stimmengewirr. Alle Gäste hatten sich vor dem Haus versammelt und warteten auf den Beginn der Trauungszeremonie, nach der Cocktails und Häppchen gereicht werden würden. Entsprechend flüchtete ich durch den Garten hinterm Haus, an Sträuchern und Hecken vorbei, quer über diverse Blumenbeete, die ich zertrampelte. Die Dornen eines Rosenbusches verfingen sich in meinen Strümpfen, zerkratzten mir die Beine. Egal. Keine Zeit zu verlieren. Denn hinter einem Baum versteckt stand ein Kompostbehälter, perfekt platziert am knapp zwei Meter hohen Zaun, der dieses Grundstück vom benachbarten trennte.
Jawohl, klasse. Meine Flucht würde gelingen.
Sollte Chris doch allen erklären, weshalb seine Braut sich aus dem Staub gemacht hatte. Oder noch besser: Paul konnte das übernehmen, dieser schleimige, hinterlistige, Männer stehlende Scheißkerl.
Zum Glück hatte ich nicht die bodenlange Robe angezogen, in die seine Mutter mich hatte quetschen wollen. Bei den vielen Tüllunterröcken würde es mit dem wadenlangen Kleid schon schwierig genug werden. Ich raffte sie hoch und kletterte ohne größere Schwierigkeiten auf den etwa hüfthohen Behälter. Äußerst wacklig richtete ich mich auf. Ein erschreckend schriller Laut drang aus meiner Kehle. Ich packte den rauen Holzzaun und klammerte mich so fest daran, dass meine Fingerknöchel weiß wurden.
Normalerweise hatte ich es nicht so mit Beten. Aber der große Boss dort oben würde mich doch bestimmt nicht abstürzen und auf dem Hintern landen lassen. Nicht heute. Wenn er wirklich noch das dringende Verlangen verspürte, mich zu strafen, sollte er das an einem anderen Tag tun. Heute hatte ich schon genug gelitten.
Schön tief durchatmen, ganz gerade und ruhig stehen. Ich konnte es schaffen. Im Garten neben meinem und Chris’ überkandideltem Mini-Schloss stand ein kleines Haus, in dem alles still zu sein schien.
Perfekt.
Ohne Rücksicht auf meine manikürten French Nails, die ohnehin schon total zerkratzt waren, stemmte ich mich hoch, wand mich hin und her, bis meine Hüften sich hoch genug befanden, damit ich ein Bein über den Zaun schwingen konnte. Dass ich mir dabei die Genitalien klemmte, war wirklich nicht schön. Ich hätte schwören können, dass ich meine Schamlippen aufschreien hörte, von dem Rest dort unten ganz zu schweigen. Wenn ich wirklich eines Tages noch Mutter werden wollte, musste ich mich in Bewegung setzen … und zwar pronto. Als ich mich flach vorbeugte und mühsam meinen Oberkörper ausbalancierte, bohrten sich die Latten des Holzzauns schmerzhaft in meinen Bauch. Schweißtropfen rannen mir übers Gesicht und hinterließen höchstwahrscheinlich tiefe Gräben in dem zentimeterdicken Make-up. (Die Visagistin hatte mir Chris’ Mutter empfohlen.)
»Tante Lydia?«, fragte eine leise, hohe Stimme. »Was machst du da?«
Ich kreischte vor Schreck auf. Glücklicherweise befand sich für einen richtigen Schrei nicht genug Luft in meiner Lunge. Unter mir stand ein kleines Mädchen und sah mich mit großen, braunen Augen fragend an.
»Mary. Hi.« Ich lächelte sie strahlend an. »Du hast mich erschreckt.«
»Warum kletterst du auf den Zaun?« Sie ließ den Rock ihres weißen Satin-Blumenmädchenkleides hin und her schwingen.
»Ähm, also …«
»Spielst du ein Spiel?«
»Äh …«
»Darf ich mitspielen?«
»Ja!« Ich lächelte gequält. »Ja, ich spiele gerade mit deinem Onkel Chris Verstecken.«
Ihre Miene hellte sich auf.
»Und nein, du kannst leider nicht mitspielen. Tut mir leid.«
»Warum denn nicht?«, fragte sie enttäuscht.
Das ist das Problem mit kleinen Kindern. Sie haben immer so viele Fragen.
»Weil es eine Überraschung ist«, sagte ich. »Eine ganz große Überraschung.«
»Onkel Chris weiß nicht, dass du spielst?«
»Nein, er weiß nichts davon. Deshalb musst du mir versprechen, niemandem zu verraten, dass du mich hier hinten gesehen hast. Okay?«
»Aber woher soll er dann wissen, dass er dich suchen soll?«
»Da ist was dran. Aber dein Onkel Chris ist ein kluger Kerl. Er wird ganz schnell von selbst draufkommen.« Insbesondere, da ich mein Telefon zurückgelassen hatte, auf dem noch immer dieser fiese Porno lief. Angesichts der ganzen Situation fiel es mir verdammt schwer, ein schlechtes Gewissen wegen des Outings zu haben. »Du darfst also niemandem verraten, dass du mich gesehen hast, ja?«
Für einen Moment blickte Mary angestrengt auf ihre jetzt schon verschrammten Satinschühchen. Ihre Mutter wäre darüber sicher nicht begeistert. »Ich mag es nicht, wenn mein Bruder meine Verstecke verrät.«
»Nein, das ist blöd, nicht wahr?« Ich merkte, wie mein Bein abrutschte, und stieß einen unterdrückten Fluch mit Sch am Anfang aus, von dem ich eigentlich dachte, dass er nicht zu verstehen sein würde.
Ihre rosa Lippen formten sich zu einem O. »Dieses Wort solltest du aber nicht benutzen! Mami hat gesagt, dass das ungezogen ist.«
»Stimmt, stimmt«, räumte ich hastig ein. »Das ist ein schlechtes Wort, und es tut mir leid, dass ich es gesagt habe.«
Sie seufzte erleichtert. »Ist schon gut. Mami sagt, dass du nicht ordentlich erzogen wurdest und wir deshalb mit dir Nach… Nachsüch… Nachtsich…« Verärgert runzelte sie die Stirn.
»Nachsicht haben sollen?«
»Ja, genau.« Sie grinste. »Bist du wirklich in einer Scheune aufgewachsen? Ich fände es lustig, in einer Scheune zu wohnen.«
Oh Mann. Genau das passiert, wenn man hochnäsige, reiche Zicken kleine Kinder beeinflussen lässt. Chris’ Schwester war die Hauptanwärterin für eine Stock-aus-dem-Arsch-Entfernung. Im Grunde kam seine komplette Familie dafür infrage.
»Nein, Süße«, antwortete ich. »Das stimmt nicht. Aber ich glaube, deine Mama würde sich in einer Herde Kühe sehr wohlfühlen.«
»Muh.« Sie lachte fröhlich.
»Ganz genau. Du solltest jetzt lieber wieder zurück zu den anderen gehen. Und vergiss nicht: Verrate niemandem, dass du mich gesehen hast.« Ich winkte ihr mit den Fingern und versuchte gleichzeitig, mich in eine bequemere Position zu bringen, ohne dabei in den Abgrund zu stürzen. Was kaum zu schaffen war.
»Versprochen! Bye!«
»Bye.«
Das Kind rannte durch den Garten davon und war bald nicht mehr zu sehen. Und jetzt musste ich schleunigst von diesem Zaun herunter. Wie immer ich es auch anstellen würde, Schmerzen würden sich wohl kaum vermeiden lassen. Daran ließ sich nichts ändern. Ich reckte und wand mich, woraufhin die Muskeln in meinen Oberschenkeln und meinen Waden heftigen Prostest einlegten. Wäre ich doch nur auf Chris’ zahllose Aufforderungen, ihn ins Fitnessstudio zu begleiten, eingegangen. Jetzt war es zu spät. Ganz langsam, mit dem Knie zuerst, hob ich erst ein Bein und dann das zweite über den Zaun. Holzsplitter verfingen sich in meinem Kleid, zogen Fäden und zerrissen die Seide. Ich glitt am Zaun hinab, hing für einen unerträglich langen Augenblick in der Luft, während das raue Holz die Haut an meinen Händen aufriss und meine Muskeln sich dehnten, bis ich es kaum noch aushielt. Dann tat die Schwerkraft ihre Wirkung.
Ich prallte mit Wucht auf den Boden. Schmerzhaft.
So viel zum Thema Plus-Size. Meine extra Pölsterchen hatten den Sturz kein bisschen abgefedert. Ich rollte mich auf den Rücken und blieb, keuchend wie ein Kettenraucher, im hohen Gras liegen. Meine Welt bestand nur noch aus Schmerz. Vielleicht würde ich einfach gleich hier an Ort und Stelle sterben. Eigentlich ein ganz schönes Plätzchen dafür.
»Lydia, bist du hier draußen?«, rief jemand. Betsy, die Empfangsdame des Maklerbüros. »Liddy?«
Ich hasste es, so genannt zu werden. Wie die Pest. Und diese blöde Kuh wusste das ganz genau.
Ich antwortete nicht, lag nur da und atmete schwer (und so leise wie möglich). Sie konnte mich garantiert nicht sehen; dafür hätte sie schon selbst auf den Zaun klettern müssen. Und das würde sie wohl kaum tun. Betsy war ungefähr genauso unsportlich wie ich. Vorerst war ich in Sicherheit. Über mir störte eine vorbeiziehende weiße Wolke kurz das makellose Blau des Himmels. Was für ein herrliches Wetter für eine Hochzeit im Juni. Eigentlich konnte man sich nicht beklagen.
Betsys Stimme entfernte sich. Zeit, sich in Bewegung zu setzen.
Ganz langsam rappelte ich mich auf. Jeder einzelne meiner Muskeln schmerzte. In der Ferne wurde von einer Vielzahl von Stimmen wieder und wieder mein Name gerufen. Langsam schwang Panik in den Rufen mit. Und ich stand derweil hier. Ohne Geld, ohne Kreditkarten, ohne Telefon, ohne alles. Zugegeben, mein Notfallfluchtplan war nicht ganz ausgereift. Aber wenigstens hatte ich es bis über den Zaun geschafft.
Der Garten des Nachbarn war ein Dschungel und komplett verwildert. Zum Glück, denn sonst hätte ich mir bei meinem Sturz womöglich tatsächlich etwas gebrochen. In einem Kreis aus großen, alten Pinien stand ein hübscher, grauer Bungalow. Er hatte sehr viel Charme. Gebäude wie dieses waren es, die mich dazu inspiriert hatten, Maklerin zu werden. Um die Möglichkeit zu haben, anderen Menschen dabei zu helfen, ein wundervolles Heim zu finden, wo sie den Rest ihres Lebens verbringen konnten. Einen Ort, wo sie ihre Kinder großziehen und ihre Nachbarn kennenlernen konnten, wo sie Straßenfeste und Grillpartys veranstalten konnten. Anstatt ihren Nachwuchs auf der Suche nach der nächsten tollen Gelegenheit durchs ganze Land mitzuschleppen und mit ihm von einer schäbigen Mietwohnung mit hauchdünnen Wänden in die nächste zu ziehen.
Doch anstatt Menschen ein neues Heim zu verkaufen, hatte es bei mir leider damit geendet, dass ich seelenlose Eigentumswohnungen vertickte und Kunden Immobilien aufschwatzte, die sie sich nicht einmal ansatzweise leisten konnten. Ich war mehr als naiv gewesen. Halsabschneiderei war für die Machenschaften in meiner Branche noch ein freundlicher Begriff.
Aber zurück zu meiner gegenwärtigen Situation.
Hier in Sanders Beach ging es ziemlich ruhig zu, und die Hochzeitsgesellschaft würde schon bald anfangen, nach mir zu suchen. Draußen auf der Straße würden sie mich sofort entdecken. Das durfte nicht passieren. Ich musste erst einmal wieder zu Atem kommen und mich ein wenig sammeln. Abwarten, bis das Video Chris als den verlogenen, fremdgehenden, gemeinen Arsch entlarvte, der er war, und dann … Nun ja, bis dahin hätte ich mir hoffentlich so etwas wie einen Plan zurechtgelegt.
Ganz besonders gut gefiel mir an diesem Bungalow das weit offen stehende Fenster an seiner Rückseite.
Ich raffte die traurigen Überreste meiner Röcke zusammen, schleuderte den verbliebenen hochhackigen Schuh vom Fuß und begann, mir einen Weg durch das hohe Gras zu bahnen. Im Haus waren keinerlei Lebenszeichen auszumachen. Wahrscheinlich waren die Bewohner ausgegangen und hatten vergessen, das Fenster zu schließen. Dahinter lag ein kleines, altmodisches und verstaubtes Badezimmer. Noch immer regte sich nichts.
Sollte ich Hausfriedensbruch begehen oder riskieren, entdeckt zu werden? Keine schwere Entscheidung. Ich würde es wie Goldlöckchen machen und reingehen. Wenn mich deswegen ein Bär fraß, ließ sich das eben nicht ändern. Wenigstens würde ich eine anständige Mahlzeit für ihn abgeben.
Das Fenster lag nicht besonders hoch. Diesmal hatte ich beim Klettern keine Schwierigkeiten. Mit einer Hand stützte ich mich am Rand der Badewanne ab, während ich die andere nach dem Fußboden ausstreckte. Alles lief super, bis es daranging, meine Hüften durch den Fensterrahmen zu schieben. Das Holz bohrte sich schmerzhaft in meine Seiten, und dann ging es nicht mehr weiter. Ich steckte fest.
»Scheiße«, fluchte ich, vorsichtshalber mit gesenkter Stimme.
Ich wand und drehte mich hin und her, grunzend vor Anstrengung, und strampelte mit meinen Füßen in der Luft. Gott sei Dank konnte mich niemand sehen. Himmel, ich konnte es schaffen, jawohl, das konnte ich. Was machte es schon, wenn ich dabei noch ein bisschen mehr von meinem Rock oder meiner Haut einbüßte? Gar nichts, ganz genau. Ich packte fest den Rand der Wanne und zog noch einmal mit aller Kraft. Stoff riss, und mein Hüftspeck gab nach. Kopfüber plumpste ich zu Boden. Mein Gesicht landete zuerst, gefolgt vom Rest meines Körpers. Bei all dem Radau, den ich dabei verursachte, wunderte es mich, dass die Nachbarn nicht mit der Polizei im Schlepptau angerannt kamen.
»Oh Gott«, wimmerte ich und rang nach Atem.
Der Grad meiner Schmerzen und meiner Demütigung hatte gerade offiziell das Niveau »übel« überschritten und pendelte sich nun bei »grausam« ein. Was für ein Fiasko.
Ganz vorsichtig und langsam atmete ich tief durch die Nase ein und den Mund wieder aus. Okay, das klappte soweit. Höchstwahrscheinlich waren also keine Rippen gebrochen. Die Nase war auch noch heil. Ich ließ die Zunge auf der Suche nach wackligen Zähnen durch meinen Mund wandern. Alles gut. Trotzdem fühlte ich mich wie nach einer Barschlägerei mit einem wütenden Mob. Meine rechte Wange pochte heftig, und für eine ganze Weile lag ich einfach nur benommen am Boden. Selbst, wenn ich gewagt hätte, mich zu bewegen, wäre ich dazu gar nicht in der Lage gewesen. Im alten Bungalow blieb alles still. Ich war allein, zum Glück. Allein zu sein war am besten, das hatte ich nun begriffen.
Doch nur für den Fall, dass doch jemand kommen würde, schleppte ich mich in die Badewanne und zog den Duschvorhang zu. Anschließend arrangierte ich sorgfältig die Überreste meiner Seiden- und Tüllröcke um mich herum.
Es wurde Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Ihr ins Auge zu sehen und sie anzunehmen. Mein Mann war in Wahrheit weder mein Mann noch mein bester Freund. Wir würden nicht in einem trauten Heim zusammenleben. Und meine Traumhochzeit? Vollkommen ruiniert.
Was soll’s, ich hatte ein Plätzchen gefunden, wo ich mich verstecken und warten konnte, bis der Tag vorüber war. Sollte Chris sich mit dem Fiasko auseinandersetzen, das er selbst heraufbeschworen hatte. Ich musste mich erst einmal um mich selbst kümmern.
Heiße Tränen begannen über meine Wangen zu laufen. Und das taten sie noch für eine lange, lange Zeit.
Schwere Schritte rissen mich aus meiner Benommenheit. Ich wusste nicht, wie lange ich schon in der Badewanne saß, ins Leere starrte und über die Katastrophe nachgrübelte, in die sich mein Leben verwandelt hatte. Da immer noch Sonnenlicht ins Badezimmer fiel, konnte jedoch noch nicht allzu viel Zeit verstrichen sein.
Die Schritte kamen näher und näher. Und dann waren sie im Raum. Oh Shit. Ich erstarrte, wagte nicht einmal zu atmen. Ich hörte ein lautes Gähnen, gefolgt von knackenden Gelenken. Dann schob sich eine große Hand hinter den Duschvorhang und drehte das Wasser auf. Ein Schwall eiskaltes Wasser ergoss sich über mich. Es fühlte sich an, als würden eine Milliarde winziger Messer in meine Haut stechen. Die vielen Kratzer und Abschürfungen, die ich mir bei meiner Flucht zugezogen hatte, brannten höllisch. Ich biss die Zähne zusammen und zog die Schultern bis zu den Ohren hoch. Als ob mich das irgendwie davor bewahren würde!
Japp, da saß ich nun, zusammengekauert, und hörte einem Mann dabei zu, wie er pinkelte. Toll. Einfach toll.
Ich konnte ja schlecht einfach aus der Wanne springen und ihn mitten in seiner Verrichtung unterbrechen. Und was hätte ich auch sagen sollen? Mir war vollkommen bewusst, dass dies keine Situation war, in der man sich erwischen lassen sollte.
Ich war praktisch in das Haus dieses Mannes eingebrochen.Ich hatte mich danach häuslich mit einem Nervenzusammenbruch in seiner Badewanne eingerichtet.Normale Menschen, die bei klarem Verstand waren, taten so etwas nicht. Ich hatte keine Vorstrafen, hatte bisher nie etwas wirklich Verrücktes oder auch nur Interessantes getan. An allem war nur dieser Mistkerl Chris schuld. Aber nun musste ich eben das Beste aus der Situation machen und hoffen, dass dieser Mann Sinn für Humor hatte.
Gerade, als das Wasser begann, wärmer zu werden, spülte er, und schon wieder prasselte eiskaltes Wasser auf mich herab. Eigentlich hatte ich just in diesem Augenblick den Mund aufmachen und mich zu erkennen geben wollen, doch das Eiswasser setzte dem ein jähes Ende. Wie Nadelstiche traf es auf meine Haut. Mir war erbärmlich kalt. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz und Wut laut aufzuschreien.
Dann wurde der Duschvorhang zurückgerissen.
»Ach du Scheiße!« Der Mann war sehr groß, sehr nackt und sehr verblüfft. Er taumelte einen Schritt zurück, hielt sich am Hocker hinter sich fest und sah mich wütend mit weit aufgerissenen Augen an. »Was zum Teufel soll das denn?«
Gute Frage.
Ich klappte den Mund auf, schloss ihn wieder. Meine sprachlichen Fähigkeiten hatten mich offenbar gerade im Stich gelassen. Schweigend starrten der Mann und ich uns an.
Obwohl er keine Kleidung trug, aus der ich Rückschlüsse über ihn hätte ziehen können, erkannte ich, dass dieser Kerl die Coolness in Person war. Er schien etwa so alt zu sein wie ich, möglicherweise auch etwas älter. Er hatte längeres, rotblondes Haar, hellblaue Augen und ein kantiges Gesicht, einen schlanken, aber muskulösen Oberkörper, der über und über mit Tattoos bedeckt war, und ein ziemlich großes Glied. Nicht, dass ich ihm bewusst in den Schritt gestarrt hätte, aber es war nun mal sehr schwierig, einen Penis und Hoden zu ignorieren, die einem direkt vorm Gesicht baumelten. Ich neigte den Kopf, um meine Blickrichtung zu ändern, doch es half nichts. Überall, wo ich hinschaute, war dieses Glied.
Und ich sollte jetzt aufhören, ihn anzugaffen. Okay.
»Hi.« Mit völliger Seelenruhe, die ich absolut nicht empfand, streckte ich die Hand aus und drehte den Wasserhahn zu. Viel besser. Sein Monsterpenis hatte mich vorübergehend aus dem Konzept gebracht, doch jetzt war ich wieder ganz da. Höchste Zeit, sich aus diesem Schlamassel herauszureden. »Hey.«
»Was hast du verdammt noch mal in meinem Haus zu suchen?«, fragte er rundheraus.
»Ja. Also …« Ich strich mir meine triefnassen, blonden, schulterlangen Haare sorgfältig hinter die Ohren. Als ob das irgendetwas nützte! Mein geschwungener Lidstrich und die falschen Wimpern klebten wahrscheinlich inzwischen an meinen Wangen. »Ich, ähm, ich …«
»Was?«
»Ich bin Lydia«, platzte ich mit dem Erstbesten heraus, das mir in den Sinn kam.
Keine Antwort. Aber sein hübsches Gesicht nahm nun einen eindeutig ärgerlichen Ausdruck an. Selbst sein rotblondes Haar wirkte eine Spur flammender. Na schön, dann eben keine gegenseitige Vorstellung und Austausch von Höflichkeiten. Nachvollziehbar. Ihr glaubt ja nicht, wie schwer es mir fiel, den Blick auf sein Gesicht gerichtet zu lassen. Ich musste wirklich kämpfen. Vielleicht lag es daran, dass ich so lange keinen Penis mehr gesehen hatte. Dieser hier übte auf jeden Fall eine geradezu hypnotische Wirkung auf mich aus. Ich schwöre, dieses Ding verfügte über magische Kräfte. Es war so groß und beweglich, schwang jedes Mal, wenn der Mann sich bewegte, sacht hin und her. Obwohl ich mich wirklich anstrengte, zuckte mein Blick wie von selbst immer wieder dorthin.
Endlich erlöste er mich von meinen Qualen, indem er ein Handtuch vom Halter zog und es sich um die Hüften schlang. Das ergab einen ziemlich sexy Minirock. Dieser Look stand nicht jedem Mann.
Aber zurück zu meinen Erklärungsversuchen.
»Äh, also erstens würde ich mich gern für all das entschuldigen.« Dabei wies ich mit der Hand auf ihn und sein Badezimmer und na ja, einfach alles. »Für alle Unannehmlichkeiten, die ich hier in deinem Badezimmer möglicherwiese verursacht habe.«
Der Mann stand kerzengerade da, thronte mit in die Hüften gestemmten Händen über mir. Seine Arme und Handgelenke waren mit Tattoos überzogen. Trotzdem gab es noch eine Menge Sehnen zu sehen. Er war definitiv niemand, mit dem man sich anlegen sollte. Wahrscheinlich hätte er mir mit Leichtigkeit den Hals umdrehen können. Bestimmt war er ein Tattoo-Model oder Biker oder Pirat oder so. Jemand sehr Heißes und Furchteinflößendes.
Verflixt. Ich hätte mir wirklich ein anderes Haus aussuchen sollen.
»Normalerweise breche ich nicht bei Fremden ein und verstecke mich in deren Badewanne«, plapperte ich ziemlich planlos. »Darum tut es mir wirklich aufrichtig leid. Ernsthaft. Es tut mir ganz furchtbar leid. Aber du hast ein sehr schönes Heim.«
»Ach ja?«
»Also, ich meine, deswegen bin ich nicht hier. Ich wollte nur …« Verdammt, in meinem Kopf ging es drunter und drüber. Ich holte tief Luft, atmete schön langsam wieder aus und versuchte es noch einmal. »Mir gefallen diese alten Bungalows im Arts-and-Crafts-Stil. Dir nicht auch? Sie haben so viel Seele.«
Er sah mich stirnrunzelnd an. »Bist du etwa high? Was zum Teufel hast du genommen?«
»Nichts!«
»Du hast dir keine Pillen reingezogen oder irgendwas geschnieft?«
»Nein, ich schwöre es.«
»Auch nichts getrunken?«
»Absolut gar nichts«, beharrte ich, doch in seinem Gesicht zeichneten sich weiterhin Misstrauen und Wut ab. Das, in Kombination mit den Stoppeln an seinem Kinn und den Ringen unter seinen Augen, ließ meinen Gastgeber wider Willen sehr schlecht gelaunt und übernächtigt aussehen. Konnte ich ihm eigentlich nicht verdenken.
»Du bist also völlig nüchtern«, sagte er.
»Vollkommen.«
Eine Pause entstand.
»Du hältst mich jetzt wahrscheinlich für komplett durchgeknallt, oder?«, fragte ich, obwohl ihm die Antwort auf diese Frage bereits überdeutlich in seinem hübschen Gesicht geschrieben stand.
»Ja, eigentlich schon.«
Oh Gott. »Aber das bin ich nicht. Ich bin voll zurechnungsfähig.«
»Bist du dir da sicher?« Er blickte wenig überzeugt über seinen langen Nasenrücken hinweg auf mich herab. »Ich habe schon einige schräge Sachen erlebt. Geschichten, die du mir nicht glauben würdest. Aber eins muss ich dir sagen: Das hier … Also, du hast wirklich den Vogel abgeschossen.«
»Super.« Und ich würde so hundertprozentig höchstwahrscheinlich im Knast landen. Ich hatte mir einen Keks verdient. Welches Talent ich an den Tag legte, eine katastrophale Situation noch weiter zu verschlimmern, war erstaunlich.
»Hast du was von meinen Sachen angefasst?«, fragte er. »Hast du was eingesteckt?«
»Aber klar, dein Sofa habe ich ganz geschickt in meinem Ausschnitt versteckt. Und du wirst nicht glauben, wo sich der Fernseher verbirgt.«
Wieder kniff er drohend die Augen zusammen. »Ganz unter uns, Babe: Jetzt ist nicht unbedingt der richtige Zeitpunkt für Scherze.«
Mist. »Tut mir leid. Bitte entschuldige. Das habe ich nicht so gemeint. Es ist dein gutes Recht, wütend zu sein.«
»Verdammt richtig.«
Ich nickte zerknirscht. »Ich habe dein Eigentum nicht angerührt.«
Der Kerl stand reglos da und sah mich an. Hinter seinen Augen schien einiges vor sich zu gehen, doch was genau, das konnte ich nicht in ihnen lesen.
Eine verirrte Träne rann mir übers Gesicht. Sie hatte sich wohl versteckt und auf genau diese besondere Gelegenheit gewartet. Oje. Wie erbärmlich. Ich schniefte und wischte sie rasch mit dem Handrücken weg.
»Herrgott«, murmelte er.
»Das alles tut mir furchtbar leid. Die Wahrheit lautet, dass ich einfach nur einen Ort gesucht habe, wo ich mich ein Weilchen verstecken kann. Ich wollte dich nicht verärgern.«
Er seufzte. Es klang nicht gerade zufrieden. »Lydia?«
»Ja?« Obwohl ich mich zusammennahm, bebte meine Stimme ein wenig.
»Sieh mich an.«
Ich tat es. Er sah noch immer verstimmt und total cool aus, ich dagegen war noch immer ein Wrack.
»Ich bin Vaughan«, sagte er.
»Hi.«
Er nickte mit dem Kinn, und dann herrschte wieder Schweigen zwischen uns.
Seine Zungenspitze glitt über seine Oberlippe, während sein Blick zuerst auf das geöffnete Fenster und dann wieder auf mich fiel. Japp, genauso war ich hier hereingekommen. Houdini war gegen mich ein Witz.
»Lydia, was hast du in meinem Haus zu suchen? Die Wahrheit bitte.«
»Also, das ist eine längere Geschichte.« Und eine schrecklich peinliche obendrein. Aber na ja, dieser ganze Tag war eine einzige Peinlichkeit.
Vaughan verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust und wartete geduldig, während ich an meinen zerfetzten Röcken rumfummelte und mir den Kopf darüber zerbrach, wie ich die Story so zurechtbiegen könnte, dass ich am Ende nicht wie ein kompletter Volltrottel dastand. Herrje, die Löcher in meinen Strümpfen waren riesig. Auf einer Seite lugte mein kompletter Fuß hervor. Ich war sowas von geliefert.
Vaughan ging neben der Wanne in die Knie und legte die Arme auf den Rand. So nah wirkten seine Augenringe im Kontrast zu seiner hellen Haut noch viel breiter und dunkler. Und er hatte Tränensäcke so groß wie Handtaschen. Trotz seines scharf geschnittenen, schmalen Gesichts wirkte er ausgelaugt. Bereit für hundert Jahre Schlaf.
Dieses Gefühl kannte ich nur zu gut.
»Das sieht wie ein Hochzeitskleid aus«, stellte er sachlich fest.
»Ja, das ist es auch. Ich wollte eigentlich heute heiraten.« Ich atmete tief durch und wischte mir mit den Händen übers Gesicht. Wie erwartet beschmierte ich mir dabei die Handflächen mit schwarzem Augen-Make-up. »Oh Mann, ich muss furchtbar aussehen.«
Kommentarlos griff Vaughan nach einem Handtuch und reichte es mir. Es war ziemlich fadenscheinig und alt. In die Jahre gekommen wie der Rest des Hauses. Ich hatte zwar erst einen Raum zu Gesicht bekommen, aber als Maklerin hatte ich für solche Dinge ein Gespür. Ich tippte darauf, dass in den vergangenen fünf Jahren nur die allernötigsten Instandhaltungsmaßnahmen getroffen worden waren. Eventuell hatte das Haus sogar leer gestanden. Da die Front hinter Büschen verborgen lag, hatte ich es mir bisher nie genauer ansehen können.
»Danke.« Ich tupfte mich, so gut es eben ging, mit dem Handtuch trocken. Von meinem wunderschönen Kleid waren nur tropfnasse Fetzen übrig. »Vaughan, es tut mir leid, dass ich in dein Haus eingebrochen bin. Ich schwöre, normalerweise tue ich so etwas nicht.«
»Nein«, sagte er. Seine Stimme klang tief. »Das habe ich mir auch schon gedacht. Wo kommst du her?«
»Aus dem großen Haus hinter deinem.«
Er runzelte die Stirn. »Du bist über den Zaun geklettert?«
»Ja.«
Er musterte mich noch einmal. Seine Augen sahen müde und gerötet aus. »Das ist ein hoher Zaun. Muss ja ein absoluter Notfall gewesen sein.«
»Es war ein Desaster.«
Einen Moment lang sah er mich gedankenverloren an. Dann seufzte er wieder und richtete sich auf.
»Rufst du jetzt die Polizei?«, fragte ich, während sich meine Kehle vor Anspannung zusammenschnürte. »Ich weiß, dass es dein gutes Recht wäre, das stelle ich nicht infrage. Ich, also, ich würde es nur gern wissen. Damit ich mich mental darauf vorbereiten kann und so weiter.«
»Nein. Das werde ich nicht.«
»Danke. Das weiß ich zu schätzen.« Erleichtert sackte ich zusammen.
Da klatschte er in die Hände, womit er mir einen höllischen Schrecken einjagte. »Okay, Lydia. Wir werden folgendermaßen vorgehen.«
»Ja?«
»Ich bin die ganze Nacht durchgefahren und erst heute Vormittag hier angekommen, hatte nur ein paar Stunden Schlaf. Wenn ich nicht bald Kaffee bekomme, könnte es hässlich werden. Und du musst dich wohl mal abtrocknen.« Er streckte mir die Hand hin. »Machen wir erst mal klar Schiff. Dann setzen wir uns hin, und du kannst mir die lange Geschichte darüber erzählen, wie um alles in der Welt du in meinem Haus gelandet bist. Einverstanden?«
»Einverstanden«, sagte ich schon wieder etwas zuversichtlicher.
Er zog mich hoch. Dann legte er seine kraftvollen Hände um meine Taille und hob mich aus der Wanne. Augenblicklich floss das Wasser in Rinnsalen aus meinem vollgesaugten Kleid und sammelte sich zu meinen Füßen auf dem abgewetzten Holzboden. Chris wäre absolut nicht begeistert gewesen. Er mochte Unordnung nicht. Doch da es Vaughan nicht zu jucken schien, machte auch ich mir keine weiteren Gedanken darüber.
»Und du alarmierst wirklich nicht die Polizei?«, fragte ich.
»Nein. Halt still«, sagte er und zupfte vorsichtig eine künstliche Wimper von meiner Wange.
»Danke.«
»Dein Kleid ist ziemlich am Arsch.« Er begutachtete mich von Kopf bis Fuß.
»Ich weiß«, sagte ich bedrückt.
»Ich lasse dich alleine, damit du dich umziehen kannst.«
»Warte. Bitte. Ich kann es nicht allein ausziehen.«
Wieder runzelte er die Stirn.
»Das ist ein Vintage-Kleid«, erklärte ich grimmig. »Es gibt keinen Reißverschluss, nur eine Reihe kleiner Knöpfe auf dem Rücken.«
»Na klar.« Ohne ein weiteres Wort drehte er mich um und begann, sich mit besagten Knöpfen zu befassen. Während er sich vorwärtsarbeitete, summte er leise ein Lied, das mir irgendwie bekannt vorkam.
»Bist du nicht mehr sauer?«, fragte ich verwundert.
»Nö.«
»Aber ich bin in dein Haus eingebrochen.«
»Fenster stand offen.«
»Das ist trotzdem Hausfriedensbruch.«
Mit geschickten Fingern öffnete er weiter mein Kleid. »Du hast in der Wanne gesessen und geheult, weil irgendein Saftsack dich verarscht hat.«
Ich war sprachlos.
»Zumindest schließe ich das aus dem Kleid und so weiter. Ich nehme mal an, er war es auch, der dir den blauen Fleck auf der Wange verpasst hat?«
»Nein. Niemand hat mich geschlagen. Und ja, mit der Verarsche liegst du richtig.« Ich versuchte, ihn anzusehen, aber außer meinen zerzausten Haaren konnte ich nichts erkennen. Beeindruckend, wie gut sie die Dusche überstanden hatten. Die Haarstylistin hatte wirklich ganze Arbeit geleistet.
»Du wurdest sicher nicht geschlagen?« Er klang wenig überzeugt.
»Ja. Als ich durchs Fenster geklettert bin, habe ich den Halt verloren und bin auf den Boden gefallen. An meinen Einbruchtechniken muss ich noch feilen.«
»Ich würde dir eher einen anderen Beruf empfehlen.« Er war mit den Knöpfen fertig, trat einen Schritt zurück und kratzte sich am Kopf. »Kommst du mit dem Kleid jetzt allein zurecht?«
»Ja, vielen Dank«, sagte ich zu seinem Spiegelbild. »Für alles, meine ich.«
»Kein Problem.« Er lächelte beinahe und schüttelte ein wenig den Kopf, als könne er das alles nicht recht fassen. Oder er wunderte sich über sich selbst, weil er mich nicht sofort wieder aus dem Fenster hinausgejagt hatte, durch das ich gekommen war.
Ich wäre in seiner Situation jedenfalls vollkommen schockiert gewesen.
Er wandte sich zur Tür. »Bis gleich.«
Unter dem durchgeweichten Hochzeitskleid sah es noch ganz gut aus. Meine Petticoats und das Korsett waren sogar ziemlich trocken geblieben. Oder würden es bei diesem warmen Wetter bald wieder sein. Ich brachte meine Panda-Augen wieder in Ordnung und wickelte meine Haare in einen Handtuchturban. Mehr ließ sich nicht ausrichten.
Zeit, loszuziehen und die Küche zu suchen. Dank des betörenden Kaffeedufts, der mich leitete, war sie sehr leicht zu finden. Der Bungalow war ungefähr L-förmig. Offenbar war er irgendwann umgestaltet worden und hatte dabei einen moderneren Grundriss erhalten.
Ein hübsches, charmantes Haus.
Von der Küche aus führten hohe Glastüren hinaus auf eine Terrasse hinterm Haus, auf der mehrere Blumentöpfe mit längst abgestorbenen Pflanzen herumstanden. Im Haus war es schummrig, was an den ungeputzten Fenstern lag. Im goldenen Schein der Nachmittagssonne schwebten Staubkörnchen.
Vaughan erwartete mich am Küchentisch. Er hielt eine Kaffeetasse in der Hand, eine weitere stand ihm gegenüber. Er trug Jeans und ein zerknautschtes T-Shirt von irgendeiner Band. Selbst, wenn er auf einem Stuhl lümmelte, sah er gut aus. Anders als Chris, aber dennoch unheimlich anziehend. Wie er da so saß, groß und schlank, das Haar im Gesicht, strahlte er eine solch lässige Coolness aus. Mann, wie ich Leute hasste, die attraktiv waren, ohne sich dafür anstrengen zu müssen. Wenn ich es mal lässig angehen ließ, mündete das in fettigen Haaren und Jogginghose.
»Hi.« Ich hob grüßend die Hand.
Er hatte angestrengt ins Leere gestarrt, völlig in Gedanken versunken. Doch nun zwinkerte er mehrmals und musterte mich langsam von oben bis unten. Obwohl ich ihn schon nackt gesehen hatte, war es mir etwas unangenehm, in meiner gerüschten Unterwäsche vor ihm zu stehen. Wie dämlich. Nach allem, was heute passiert war, brauchte ich jetzt auch nicht mehr damit anzufangen, Schamgefühle zu entwickeln. Und das Gute war, dass das Korsett meinen Rundungen eine wunderschöne Sanduhrform verlieh. Vaughan schien das ebenfalls zu bemerken. Ich war bestimmt nicht auf erotische Abenteuer aus, aber ein wenig aufrichtige, männliche Wertschätzung für meine weiblichen Formen tat trotzdem gut. Es konnte nur besser werden und so weiter.
»Ich habe versucht, das Badezimmer wieder ein bisschen in Ordnung zu bringen«, sagte ich und zog mir einen Stuhl heran. »Das Kleid habe ich zum Trocknen aufgehängt.«
»Okay.«
»Danke für den Kaffee.«
»Kein Thema«, sagte er barsch. »Ich hoffe, du trinkst ihn schwarz. Ich war schon eine Weile nicht mehr hier, demzufolge ist weder Zucker noch Milch im Haus.«
»Schwarz ist gut.« Ich nippte vorsichtig an dem Gebräu. Ah, Kaffee. Mein treuster Freund (abgesehen von Wodka). Irgendwo im Kühlschrank mussten sich noch ein paar Kaffeebohnen versteckt haben, denn er war wirklich nicht übel. Ich hätte auch miesen Instantkaffee heruntergewürgt. Trotzdem schön, dass ich das nicht musste. Es waren die kleinen Freuden, die zählten. »Schmeckt toll.«
Ein Grunzen.
Mit dem Koffein in meiner Blutbahn fühlte ich mich schon wieder etwas mehr wie ich selbst. Weniger wie Miss Havisham in einem abgerissenen Kleid, mehr wie eine moderne, patente Frau. Ich schüttelte den ganzen Mist, der passiert war, ab und setzte mich etwas aufrechter hin.
»Vaughan, es tut mir wirklich aufrichtig leid, dass das alles passiert ist, dass ich dich in meine Probleme hineinziehe.«
»Ich weiß.« Er sah mir beim Sprechen nicht in die Augen, da er noch immer damit beschäftigt war, meine Formen zu begutachten. Vielleicht war er aufgrund des Schlafmangels aber auch einfach weggetreten und ich befand mich nur rein zufällig in seinem Blickfeld.
»Ich kann es gar nicht oft genug sagen. Du hast dich toll verhalten, ganz ehrlich.«
Noch ein Grunzen.
Offen gestanden machte mich dieser Mann neugierig. Ich fragte mich, wie er wohl sein mochte, wenn er nicht gerade mit Schlafmangel und einer durchgebrannten Einbrecherbraut zu kämpfen hatte. War er ein Mensch, der selten lächelte oder häufig? Ich konnte es nicht beurteilen. Obwohl ich eigentlich meinen Lebensunterhalt damit verdiente, andere Menschen einzuschätzen und ihnen Mist anzudrehen, stand ich heute komplett auf dem Schlauch.
»Du hattest nicht einmal Gelegenheit zu duschen«, sagte ich.
Er zuckte mit einer Schulter. »Später.«
»Ich verspreche, sobald ich den Kaffee getrunken habe, bist du mich los.«
»Hat keine Eile.« Noch immer kein Blickkontakt.
Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her.
Er verfügte wirklich über eine ganz eigene Anziehungskraft. Seine Lippen waren weder dick noch schmal. Nur hübsch. Ich hätte sie gern lächeln sehen. Nur um zu wissen, dass ich ihm mit meinem Drama nicht den ganzen Tag verdorben hatte.
»Das ist wirklich ein schönes Haus«, sagte ich. »Du verbringst wohl nicht viel Zeit hier?«
»Nein.«
»Bedauerlich.«
Vielleicht hatte er für seine Verhältnisse schon mehr als genug geredet und kein Interesse an einem weiteren Gespräch. Das war okay für mich. Doch ich bezweifelte, dass das der Fall war. Weggetreten war er tatsächlich. Obwohl ich nicht glaubte, dass Müdigkeit dafür die Ursache war.
Ich musterte ihn abschätzend. »Vaughan?«
»Ja?«
»Schönes Wetter heute, oder?«
»Toll.«
»Ja, das stimmt. Wirklich tolles Wetter«, sagte ich begeistert. »Ich liebe dieses Wetter.«
Sein hübsches Gesicht blieb ausdruckslos und seine Hand fest um die halbvolle Kaffeetasse geschlossen. Wären nicht seine einsilbigen Antworten und dieses Brustkorb-auf-und-ab beim Atmen gewesen, hätte man glatt meinen können, er hätte am Tisch den Löffel abgegeben. Und es waren weder mein verschmiertes Make-up noch meine wild in den Handtuchturban gewickelten Haare, die ihn so sehr fesselten. Ich bezweifelte, dass er bei seiner Begutachtung überhaupt so weit nach oben gekommen war.
Es sah ganz danach aus, als stünde mein Beinahe-Nachbar auf Brüste.
Zugegeben, meine Hochzeitswäsche von Elomi war wirklich erlesen. Ich war mir so sicher gewesen, dass sie Chris begeistern und zu ein paar post-ehelichen, sexy Spielchen animieren würde. Was für ein Witz. Ein Umschnalldildo wäre bestimmt sinnvoller gewesen.
»Ich wollte mich nur noch mal dafür bedanken, dass du für das alles so viel Verständnis aufbringst«, sagte ich.
»Kein Ding«, versicherte er meinen Brüsten.
»Du hast dich toll verhalten.«
»Mm.«
»Andere hätten sicherlich nicht so verständnisvoll reagiert.«
»Arschlöcher«, sagte er und presste missmutig die Lippen aufeinander. Meine Brüste freuten sich bestimmt sehr über seine aufmunternden Worte.
Ich trank meinen Kaffee und wartete. Irgendwann müssten die beiden ihm doch langweilig werden. Und ich wartete weiter. Nichts passierte. Das laute Ticken der Wanduhr war das einzige Geräusch im Zimmer. Zwar war ich auch kein Unschuldslamm, denn ich konnte nicht leugnen, dass ich seine Lendenregion begutachtet hatte, aber so schamlos angestiert hatte ich ihn nun auch wieder nicht. Ich hatte mich diskret verhalten – zumindest weitgehend.
»Vaughan?«
Er holte tief Luft, und seine Nasenflügel blähten sich. »Hm?«
»Du starrst mich an.«
»Was?«
»Meine Brüste.« Ich wies auf die entsprechende Körperregion. Obwohl ich mir recht sicher war, dass er bereits wusste, wo sie sich befanden. »Die hier, Vaughan. Die Babyfütterer, die sündigen Kopfkissen. Du starrst sie an.«
Er riss den Kopf hoch und sah mich verdutzt an.
»Ich hätte ja nichts gesagt, aber das geht nun schon eine Weile so, und ich beginne, mich unwohl zu fühlen.«
»Mist«, raunte er, denn ihm schien klar zu werden, was er getan hatte. Dann wandte er den Blick ab.
»Versteh mich nicht falsch. Da du höchstwahrscheinlich der Einzige bist, der mich jemals in diesem Aufzug sehen wird, finde ich deine Wertschätzung eigentlich ganz schön. Aber, na ja, jetzt wird es langsam doch etwas unangenehm.«
»Entschuldige, Lydia.«
»Schon gut.« Ich versuchte, nicht zu lächeln. Versuchte es.
Er runzelte die Stirn und konzentrierte sich nun sehr darauf, seinen Kaffee zu trinken. »Hab nicht gemerkt, dass ich das getan habe.«
»Macht nichts. Du magst Brüste. Kann ich verstehen«, sagte ich und inspizierte die Mädels. »In dem Korsett kommen sie irgendwie ziemlich zur Geltung.«
»Ja.«
»Und der Fairness halber muss ich sagen, dass auch ich dich vorhin in all deiner Pracht gesehen habe.«
Er lachte schnaubend auf. Keine Ahnung, wie er es fertigbrachte, diesen Laut so attraktiv klingen zu lassen, aber er schaffte es. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem leichten, drolligen Lächeln. Und dieses Lächeln? Das war entzückend.
Ich fragte mich, was sich gerade jenseits des Zauns bei Chris und Co tun mochte. Nicht, dass es mich interessierte. Unter ihrer Gartenparty hätte sich ein flammendes Portal zur Hölle auftun können und ich hätte keinem von ihnen geholfen. Offenbar war ich bei der Verarbeitung meiner Beziehung in die zornige und verbitterte Phase eingetreten. Mit Verleugnung war ich jedenfalls durch.
»Du wolltest mir von deinem Hochzeitsdesaster erzählen«, bemerkte Vaughan.
»Stimmt.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Eine äußerst defensive, Die-Schotten-dicht-machen-Geste. Doch sie bewirkte lediglich, dass meine Brüste nach oben gedrückt wurden. Sofort starrte Vaughan wieder. Ich rutschte beklommen auf meinem Stuhl herum. »Du hättest nicht zufällig ein Oberteil für mich, das ich mir ausleihen könnte, od…«
»Nein.«
»Nein?«
Er räusperte sich. »Sorry.«
»Du besitzt nur ein Oberteil?«
»Ja, ähm … Weißt du, die Fluggesellschaft hat mein Gepäck verloren.«
»Hast du nicht gesagt, du wärest die ganze Nacht durchgefahren?«
»Stimmt, stimmt. Bin erst geflogen, dann gefahren. Hab beschlossen, in Portland ins Auto zu steigen und die schöne Aussicht zu genießen.«
»Mitten in der Nacht?«
»Ja.« Er wandte sich ab und kratzte sich an den rotgoldenen Stoppeln am Kinn. »Die Sterne und den ganzen Kram. War richtig nett.«
Aha. Okay. Um Handtücher zu bitten konnte ich mir wahrscheinlich sparen. Die einzigen, die ich bisher gesehen hatte, hingen nun nass im Bad. Und sein Bettlaken zu stehlen, um mir eine Toga daraus zu machen, ginge wohl etwas zu weit. Kein Problem, das würde ich schon aushalten. Mein Gastgeber hatte ja offenbar auch kein Problem mit körperlicher Offenheit. Auch wenn sein Körper aus Marmor gemeißelt zu sein schien und meiner eher einem Marshmallow ähnelte. Chris hatte mich immer gern »Dickerchen« genannt. Zwar hatte es bei ihm irgendwie süß geklungen, aber unangenehm war es trotzdem gewesen.
Wie viel hatte ich ignoriert oder entschuldigt? Gute Frage. Gedankenverloren knabberte ich an meinem Daumennagel. Nein. Genug. Ich würde nicht zulassen, dass er weiter mein Selbstbewusstsein untergrub. Das Video hatte mich aufgeweckt. Keine Entschuldigungen mehr.
»Ich glaube, dass mein Verlobter schwul ist und mich als Alibifrau benutzt hat«, verkündete ich erhobenen Hauptes. »Das war im Grunde schon die ganze Geschichte.«
Vaughan riss die Augen auf. »Shit.«
»Ja.«
»Was ist passiert?«
»Ich machte mich gerade für die Hochzeitsfeier fertig, als mir jemand ein Video schickte, auf dem er mit einem anderen Mann rummachte.«
»Deshalb bist du geflüchtet?«
»Deshalb bin ich geflüchtet.« Ich sank auf meinem Stuhl zurück. »Warum? Was hättest du denn an meiner Stelle getan?«
»Ich hätte mich aus dem Staub gemacht.«
Ich nickte und fühlte mich noch etwas entspannter. »Gut.«
»Ich stehe nicht auf Männer. Um mich überhaupt auf eine Verlobung mit einem Mann einzulassen, hätte ich schon ziemlich besoffen sein müssen.« Er sah mich verschlagen an. »Aber ja, ich wäre definitiv auch abgehauen.«
»Haha.«
Das Lächeln zeigte sich nur langsam, aber es war eindeutig da. Seltsam. Er lächelte, und schon schien sich ein tonnenschweres Gewicht von meinen Schultern zu heben. All den Staub und die Dunkelheit im Haus nahm ich nicht mehr wahr. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass ich mich nicht mehr so allein fühlte. Keine Ahnung. Aber es half.
»Und in dieser Unterwäsche und dem Kleid hätte ich niemals so gut ausgesehen wie du«, meinte er nachdenklich und rieb dabei mit dem Daumen über den Rand seiner Kaffeetasse.
»Ach nein?«
»Dafür fehlen mir einige deiner körperlichen Vorzüge.«
»Oh, wie lieb von dir«, sagte ich gedehnt und lachte leise. »Ich bin mir sicher, dass du in Frauenkleidern toll aussiehst, Vaughan. Aber es ist trotzdem nett, dass du so etwas sagst.«
»Gern geschehen.« Er trank wieder einen Schluck Kaffee und musterte mich dabei unablässig aus seinen hellblauen Augen. Kein einziges Mal glitt sein Blick dabei nach unten zu den eben angesprochenen Körperteilen. Wahrscheinlich war er viel zu sehr damit beschäftigt, sich meine hübsche Sammlung an Kratzern und blauen Flecken und meinen desolaten Brautzustand anzusehen.
Ich rutschte wieder auf meinem Stuhl hin und her und zupfte nervös an mir herum. Aber wozu eigentlich? Ich sah furchtbar aus. Damit musste ich mich eben abfinden. Ich stieß schnaubend die Luft aus und bemühte mich, nicht mehr an den ganzen Mist zu denken. Alles würde gut werden. Das Leben würde weitergehen. Und immerhin hatten ich und meine verquere Lebenssituation es geschafft, diesen Mann ein klein wenig aufzumuntern.
Ja, ich hatte einen Fehler begangen. Es war fraglos einiges schiefgelaufen. Aber so schlimm dran war ich gar nicht. Mal abgesehen von meinen zahllosen Kratzern und Schrammen und meinen schmerzenden Muskeln war ich zumindest gesund.
»Du hast ein hammermäßiges Lächeln«, sagte er und starrte mich noch immer an.
Oh Mann, das meinte er ernst. Oder vielleicht wollte er auch nur nett sein. »Danke schön.«
Ein Nicken.
Er rieb sich das stopplige Kinn, und zwischen seinen Augenbrauen erschienen kleine Fältchen. »Und du warst nicht versucht, ihn bloßzustellen, ihn vor allen Gästen zu outen?«
»Eine ehrliche Antwort?« Ich dachte in aller Ruhe über seine Frage nach, überlegte hin und her. »Angst davor, es zu tun, hatte ich eigentlich nicht. Es war nur so … Das waren nicht meine Freunde. Diese Gäste, das waren Geschäftsfreunde, Bekannte, Freunde seiner Familie. Die meisten kannte ich gar nicht persönlich. Ich lebe wohl noch nicht lange genug hier, um einen eigenen Freundeskreis zu haben. Ich habe immer entweder gearbeitet oder meine Zeit mit Chris verbracht. Meine Eltern konnten nicht zur Hochzeit kommen, und zu den Mädels, mit denen ich zur Schule gegangen bin, habe ich größtenteils keinen Kontakt mehr. Was diese Leute dort drüben über mich denken, ist mir weitgehend egal. Und ihre Meinung über ihn – nun ja, er hat uns diese Suppe eingebrockt. Dann kann er sie auch selbst wieder auslöffeln. Ich wollte einfach nur aus diesem ganzen Fiasko heraus, und das so schnell wie möglich.« Ich starrte gedankenverloren über seine Schulter hinweg ins Leere. »Wahrscheinlich habe ich mich geschämt. Er hat mich zum Narren gehalten.«
Er gab einen leisen Laut von sich.
»Wie dem auch sei.«
»Und so bist du also in meiner Badewanne gelandet?«
»Ja.« Ich lächelte verkrampft. »Mir fiel etwas zu spät auf, dass ich weder Geld noch Kreditkarten bei mir hatte. Und es schien mir eine gute Idee zu sein, mich erst einmal zu verstecken, bis die Lage sich beruhigt hätte. Meinen Nervenzusammenbruch ganz privat zu erleiden.«
»Mm.«
»Apropos. Es wird langsam Zeit, dass ich wieder nach drüben gehe und nachsehe, wie groß der Schaden ist.« Ich nahm noch einen stärkenden Schluck Kaffee. »Damit ich dir nicht mehr auf die Nerven falle. Außerdem brauche ich meine Handtasche.«
»Nur keine Eile.«
»Ich denke, ich habe mit meinem Drama schon genug von deiner Zeit in Anspruch genommen«, sagte ich und lachte leise auf. Es klang nicht überzeugend. Ich sollte wohl lieber noch ein paar Tage alles sacken lassen, ehe ich mich wieder an Witzen versuchte. Im Moment war alles noch zu frisch. Ich lief Gefahr, jeden Augenblick in Tränen auszubrechen. Entweder das, oder in wilde Rage zu verfallen. In meinem Inneren kochten zu viele Emotionen, und ich hatte nicht den Eindruck, dass dort genug Platz war, um sie alle zurückzuhalten. Nur ein kleiner Riss, und alles würde wieder hervorbrechen.
Nein. Nichts da. Ich drückte den Rücken durch. Ich konnte es schaffen. Ich konnte und ich würde es schaffen.
»Ernsthaft.« Er bedeutete mir mit der Hand, sitzen zu bleiben. Dann streckte er sich, reckte die Arme über den Kopf, hielt seine Ellbogen fest und ließ das Genick knacken. »Du willst dorthin bestimmt noch nicht wieder zurück. Ich würde das jedenfalls nicht wollen.«
»Bist du sicher?«
Er nickte. »Ja. Außerdem gibt mir deine Anwesenheit hier einen super Vorwand, um mich nicht mit meinem eigenen Mist auseinandersetzen zu müssen.«
»Du steckst auch in einem Drama?«
Ein Schulterzucken. »Geht uns das nicht allen so?«
»Ja, ist wohl eine Nebenwirkung von regelmäßigem Atmen.«
Er lächelte.
»Es gab nichts an eurem Liebesleben, das in dir den Verdacht geweckt hätte, dass er schwul sein könnte?«, fragte Vaughan.
»Ähm …«
»Es stört dich doch nicht, dass ich so etwas frage?«
»Also, ja. Ich meine, nein, es stört mich nicht, dass du fragst. Aber, ja, der Mangel an Intimitäten zwischen uns hätte mir schon zu denken geben sollen.« Oh Gott. Ja, das hätte er. Unbedingt. Wir hatten es nicht miteinander gemacht, vielmehr hatte ich mich zum Idioten gemacht. Scham erfüllte mich. »Ich kann noch immer nicht glauben, dass ich auf seinen Schwachsinn reingefallen bin.«
»Er hat ihn wahrscheinlich überzeugend rübergebracht.«
»Ja, das hat er auf jeden Fall.«
»Wenigstens hast du das mit der Hochzeit nicht durchgezogen.«
Ich schnaubte. »Um Himmels willen, nein. Sobald ich gesehen habe …«
Ein Nicken.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich schon begriffen habe, dass ich heute nicht heiraten werde. Ich werde nicht den Rest meines Lebens damit zubringen, gemeinsam mit ihm ein Zuhause zu erschaffen.«
»Das ist heftig.«
»Ja.« Ich faltete die Hände im Schoß. »Ich habe mich mitreißen lassen und mich kopfüber in ein Abenteuer gestürzt. Hat sich am Ende nicht ausgezahlt.«
Er sagte nichts. Eigentlich gab es dazu auch nichts zu sagen.
»Vertrauen ist kacke. Wie auch immer.« Ich schüttelte es ab. Zeit, nach vorn zu blicken und so weiter. Wenn ich mir das nur immer wieder vorbetete, würde ich vielleicht früher oder später auch daran glauben. »Um deine Frage zu beantworten, Vaughan: Ehrlich gesagt hatten wir kein erwähnenswertes Liebesleben.«
»Was?« Er stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und beugte sich näher zu mir. »Wann habt ihr beiden zum letzten Mal gevögelt?«
Ich zwinkerte. Er hatte nicht »Sex gehabt« gesagt. Oder »Liebe gemacht«. Er hatte »gevögelt« gesagt. Eigentlich war seine Wortwahl unerheblich, aber trotzdem … Vielleicht war ich auch prüde. Zwar hatte ich mich selbst nie für prüde gehalten, aber der heutige Tag hatte mehr als deutlich bewiesen, dass meinem Urteilsvermögen nicht zu trauen war.
»Lydia?«
»Sorry, ich hadere nur gerade wieder ein wenig mit mir selbst.«
»Lass das sein. Das hilft nicht.«
»Nein, tut es nicht. Aber an einem Tag wie heute fällt es mir schwer, es nicht zu tun.«
»Mm.«
Seine Arme waren bis zu den Handgelenken mit Tattoos bedeckt. Hauptsächlich waren sie in schwarz und grau gehalten, nur hier und da erstrahlten farbige Akzente. Eine E-Gitarre mit einem verschnörkelten Schädel darüber. Ein bläulicher Vogel im Sturzflug, umgeben von Flammenzungen. Wunderschöne Arbeiten. Sein Tätowierer war ein wahrhafter Künstler.
Er strich sich das rötliche Haar aus dem Gesicht und wartete noch immer auf meine Antwort.