CREDO al dente - Pater Irritabilis - E-Book

CREDO al dente E-Book

Pater Irritabilis

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Beschreibung

Ein Mönch, in der Hand trägt er einen Stab mit Kreuz, Anker und Herz, den Symbolen für die Urtugenden: den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Diese drei sind das Ergebnis seiner Suche nach den wirklich vernünftigen Glaubenswahrheiten. Mit diesen drei unerschütterlichen Bausteinen formuliert der Mönch sein ganz persönliches, allgemein verständliches Credo, das aufmüpfige Theologiestudenten heimlich an die Regensburger Domtüren heften. Im Goldenen Turm ist die örtliche Engelzentrale untergebracht. Von oben herab beobachtet man trotz interner Streitereien aufmerksam das Geschehen in der Regensburger Altstadt, und nicht in allen Notfällen steht ausreichend geschultes Personal zur Verfügung. Hinreißend pietätlos, unglaublich ideenreich, einmalig boshaft und stets originell.

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Vollständige eBook Ausgabe 2018

 

 

© 2018 EDITION REGENSBURG

erschienen im Spielberg Verlag, Neumarkt/Regensbur

 

Umschlagillustration: © Susanne Engl-Adacker

 

Alle Rechte vorbehalten

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

 

(eBook) ISBN: 978-3-95452-088-6

 

www.spielberg-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Personen

Manuskript vom Sortierband

Vorwort mit Verdacht

Querkuss für Eiche

Spion bei Verschwörern

Freispruch ohne Gewähr

Lauschangriff vor Weihnachten

Japaner unter Schießzwang

Katastrophe in Blau

Geheimnis um Perlenkette

Höhenflug über Federburg

Beichtzettel mit Krallen

Religion als Handelsware

Sterben mit Sibelius

Dachreiter in Seenot

Preis für Eigetora

Niederschlag mit Rückenwind

Ende einer Tauchfahrt

Fußnoten

Ein Mönch betritt die Szene. In der Hand trägt er einen Stab mit Kreuz, Anker und Herz, den Symbolen für die Urtugenden: den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Diese drei sind das Ergebnis seiner Suche nach den wirklich vernünftigen Glaubenswahrheiten.

Mit diesen drei unerschütterlichen Bausteinen formuliert der Mönch sein ganz persönliches, allgemein verständliches Credo, das aufmüpfige Theologiestudenten heimlich an die Domtüren heften.

Personen

Die Hysops

Pantaleon

Vater

Viola

Mutter

Arachne-Ariosa

Tochter

Universario

Sohn

Continua Isetta Hyazintha

Tochter

Quarto und Quinto

Zwillingsbrüder

Au-pair-Mädchen

aus Russland, Sibirien, Kirgisistan

Die Engel

Markus Aurelius

Erzengel auf dem Altenteil

Lucius

Engel in Ausbildung

Angelus de Ratisbona

Einsatzleiter / Präfekt

Die Stadt Regensburg

Stadtoberhaupt

Oberbürgermeister

Betha Flott

Pressesprecherin

Tourismus-GmbH

Die Presse

RR Rudolf Radler

Lokalredakteur

Colombo

Musikkritiker

Paul Freser

Herausgeber

Gisela

Volontärin

Die sonstigen Personen

Rohhahn

Theologe, Religionslehrer

Animabella Büxenstein

Geschiedene Rohhahn

Feinoma und Eulenopa

Großeltern der Hysopkinder

Manuskript vom Sortierband

Ein zu drei Wochen Sozialarbeit verurteilter Ein-Euro-Jobber mit vier Semestern Germanistikstudium und anschließend abgebrochener Lehre als Verwaltungsfachwirt erwacht für Sekunden aus seiner tranceähnlichen Abgestumpftheit, reißt in gequälter Rückbesinnung auf seine Gymnasialreife einer plötzlichen Eingebung folgend ein mit Blumendraht verschnürtes und übel zugerichtetes Bündel DIN-A4-Blätter vom Müllsortierband und nimmt es später mit nach Hause. Sein ehemaliger Deutschlehrer hätte ihn für diesen kulturellen Rettungsakt wohl von der langen Liste seiner hoffnungslosen Fälle gestrichen.

Der Papierpacken enthielt die in diesem Buch abgedruckten Geschichten, wobei allerdings neben den Titelseiten auch der Schluss des Manuskripts fehlt, denn der Text bricht mitten im Satz ab. Es ist müßig zu fragen, ob der Autor aufgrund widriger Umstände oder absichtlich anonym bleibt. Der Studienabbrecher selbst ist möglicherweise identisch mit jenem Azubi, von dem im Kapitel „Preis für Eigetora“ noch die Rede sein wird. Offensichtlich hat er es in der Posteingangsstelle der Stadtverwaltung von Regensburg nicht geschafft, sich auf die unterste Stufe einer Beamtenlaufbahn im mittleren Dienst hochzuarbeiten, sich dann in kindlichem Vertrauen auf staatliche Fürsorge fatalistisch ins soziale Netz fallen lassen und sein Monatsbudget mit kleinen Gaunereien aufgebessert. So landete seine Fundsache von recht ansehnlichem literarischen Unterhaltungswert nicht ganz zufällig und natürlich nicht kostenlos auf meinem Tisch.

Die aufgefundenen Geschichten sind in der Altstadt von Regensburg angesiedelt, und obwohl die lokalen Gegebenheiten stimmig und viele aktuelle Bezüge enthalten sind, muss der Wahrheitsgehalt der Schriften nach meiner Meinung angezweifelt werden. Eine Befragung von Bewohnern ergab zum Beispiel keinen einzigen Hinweis auf eine Familie Hysop oder einen anderen der genannten Protagonisten, dafür allerdings Hinweise auf einen inzwischen verstorbenen Mönch, von dem gesagt wird, er habe seinem Konvent im Kloster Weltenburg wegen der Ernennung eines erzkonservativen Abtes im heiligen Zorn den Rücken gekehrt und dann wie der mit seiner Klosterneugründung gescheiterte Max Emanuel Prinz von Thurn und Taxis (besser bekannt unter dem Namen „Pater Emmeram von Schloss Prüfening“) ein zurückgezogenes Leben geführt.

Die ungeschminkte, manchmal geradezu sperrig-derbe, despektierliche, zu satirischer Übertreibung neigende und gelegentlich brüskierende Ausdrucksweise auf der einen und dann die fundierten Bibelkenntnisse, die religiösen und philosophischen Exkurse und nicht zuletzt die lateinischen Zitate auf der anderen Seite – ein frustrierter Ex-Mönch wäre als möglicher Autor vorstellbar. Ohne wirklich verletzen zu wollen, triefen die Schriften von ätzend kritischen und sarkastischen Rundumschlägen, anstößigen Gegenüberstellungen, saloppen Formulierungen und profanen Ausdrücken. Und trotz eines teilweise antiquierten Satzbaus müssen sie aber auch den Vergleich mit kabarettistischen Texten nicht scheuen. Gelegentlich meint man den Jargon von einfältigen Politikern im Wahlkampf herauszuhören, die mit hölzerner Rhetorik geifernd vollmundig auf den Putz hauen, weil sie unbedingt von den Medien wahrgenommen werden wollen.

Mit einer beispiellosen Jovialität wird über Engel geredet, als wären sie Menschen wie wir. Besonders ein Jungengel fällt mit seinen grotesk unkonventionellen Vorschlägen auf. Und auch die drei Gottheiten der christlichen Religion – Vater, Sohn und Heiliger Geist – werden volksnah in allzu irdische Denkweisen einbezogen, gewinnen aber dadurch an sympathischer Nähe; man muss sich nur auf die Inhalte einlassen.

Oft kann auch Hintersinniges durch die beabsichtigte Doppeldeutigkeit von Wortspielen ausgemacht werden. Manche empfindsame Seele wird empört den Kopf schütteln und in ohnmächtiger Wut schäumen. Andere (insbesondere routinierte Kirchenbesucher und die Priesterschaft) werden vielleicht in einen vorexplosiven Zustand geraten und würden das indexverdächtige Machwerk in ihrer Entrüstung am liebsten der heiligen Inquisition übergeben wollen, obwohl auch sie spätestens in den letzten Geschichten den Verdacht hegen müssten – so wie jemand im Augenblick des Erschreckens nicht weiß, ob er weinen oder lachen soll –, dass der Verfasser als Spötter nur getarnt, eigentlich seine Seele offenlegt und andeutet, wie ratlos, verletzt und desorientiert er selbst ist und wie er so eigentlich unser aller Anteilnahme verdient. Er ringt um eine Religion, die adaptiv mit der Zeit geht, und muss doch hilflos zusehen, wie der Machtapparat seiner Kirche mit abgefeimten, in Einzelfällen auch verlogenen Funktionären die Gläubigen gleichsam rechtlosen Untertanen mit restriktiven Werkzeugen unter Kuratel stellt, so wie es einst die Päpste der Renaissance mit ihren Untertanen gemacht haben: der skrupellose, macht- und geldgierige Sixtus IV., der gottgleiche Alexander VI., der gnadenlose Julius II., den Martin Luther einen „Blutsäufer“ nannte, und der Wildschweinjäger und Bankrotteur Leo X., der die deutsche Übersetzung der Bibel verbot, damit dem lateinischen Klerus nicht die Lufthoheit über die Evangelien verloren ging. Diese vier, die ihre eigenen Kinder, ihre Enkel und Lustknaben mit der Kardinalswürde ausstatteten, haben seinerzeit bar jeder Scham einen Machttypus vorexerziert, der sich, was ja böse Zungen behaupten, subtil in einschlägigen Kreisen bis heute erhalten hat.

Vermutlich hatte der Schreiber, der übrigens auch über fundierte Musikkenntnisse verfügt, zunächst für Neffen und Nichten mehrere unterhaltsame Kindergeschichten erfunden und diese später, an seinem Tag des Zorns, voller Verbitterung und Wut mit kritischen Statements am Imperium Kirche angereichert. Die Frage bleibt, ob der Autor provozieren und gezielt verletzen will oder ob es ein Versuch ist aufzurütteln. Vielleicht wollte er auch ein „Hexenhämmerchen“ als Anleitung zu einer Erneuerung des Glaubens schwingen. Kühn prophezeit er das Ende der katholischen Regelkirche mit ihrer erschreckend funktionierenden Mechanik der Hierarchie. Nebenbei verlagert er – uns allen um eine Generation vorauseilend – Gegenwartsgeschehen in die Zukunft und berichtet von Ereignissen so, als wären sie schon Historie.

Aus der Tarnung mit Kindergeschichten heraus betätigt er sich als Heckenschütze gegen die Tore der Amtskirche. Eines gelingt ihm dabei auf bestechende Art: Der häufige Wechsel zwischen profanen und religiösen Inhalten, dieses Vor- und Zurückschwingen zwischen der Leichtigkeit der einen und der Schwere der anderen Seite, löst beträchtliche Stoßwellen aus. Es ist, als wären beim Drucken die Manuskripte eines Kinderbuchs und einer ketzerischen Streitschrift durcheinandergeraten.

Manchmal navigiert der Autor gefährlich in der Nähe des teuflischen Credos eines Jago[Fußnote 1]. Hätte er gegen Ende des Buches und am vorläufigen Ende seiner stürmischen Pilgerfahrt nicht ein eigenes Credo verfasst – man hätte zu Recht einen Kirchenaustritt vermuten dürfen. So lässt sich rätseln, ob er ratlos und unentschlossen geworden war oder letztlich seiner eigenen Sache überdrüssig. Vielleicht hat ihm auch der Tod die Feder aus der Hand genommen und ein verärgerter Vermieter hat die Wohnung ohne nähere Inspektion einer Entrümpelungsfirma überlassen. Aber das alles bleibt Spekulation.

Im Kapitel „Religion als Handelsware“ beschreibt der unbekannte Autor nach außen hin eine zum Scheitern verurteilte Ehe, in Wahrheit aber – so darf vermutet werden – schildert er unter dem ungeliebten Joch des Keuschheitsgelübdes den lebenslangen Kampf vieler seiner Berufsgenossen zwischen Reinheit und Begierde, weil sie wie er nicht im Stande sind, Gottesliebe, Eigen- und Nächstenliebe auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, und er projiziert aufgewühlt seine eigenen gegensätzlichen Gefühle auf das Biest eines voyeuristischen Religionslehrers und eine die Sexualität ablehnende schöne Apothekerin, und das mit blasphemischen Anspielungen auf die göttliche Jungfrau Maria.

Als Ganzes betrachtet entstand so im fliegenden Wechsel von Kinderbuchstil, Vorlesung, Tagebucheintrag, Monolog und Dialog, Protokoll, Leserbrief, Reportage, E-Mail, Fastenpredigt und ähnlichen literarischen Ansätzen eine amüsante und reizvolle Collagenlektüre. Wird der Leser eben noch schmunzelnd an eigene Jugendsünden erinnert, sieht er sich unvermittelt mit einem anderen Genre konfrontiert und muss urteilen, ob er beispielsweise einen gefälschten Hirtenbrief oder gar eine Persiflage auf eine Enzyklika vor sich hat.

Abgesehen von wenigen Fußnoten habe ich die Texte des unbekannten Autors nicht um ein Jota verändert, auch nicht die umgangssprachlichen Ausdrücke und die vielen Fremdwörter; ich habe mir lediglich erlaubt, passend zum Inhalt und zur inneren Logik des Fragments einen aufrüttelnden Titel zu finden. Hier beißt sich einer die Zähne am Glauben aus – es ist ein Credo „al dente“. Ihn selbst, den Verfasser, der wohl an seinem Kinderglauben irregeworden ist, habe ich mit „Pater Irritabilis“ (frei übersetzt: Vater Zorntiegel) aus der Anonymität hervorholen und ihm ein Gesicht geben wollen.

Wegen aktueller Bezüge und aus rechtlichen Gründen sehe ich mich stellvertretend für Pater Irritabilis genötigt, vorsorglich auf die nachfolgende salvatorische Formel zu verweisen.

Jede Ähnlichkeit mit natürlichen oder juristischen Personen, sei es in deren Beschreibung und Aussehen, in deren Äußerungen in Wort, Metapher und Gestik oder in deren Auftreten, ist rein zufällig. Vermeint jemand, sich trotzdem in einer der zentralen Gestalten erkennen zu müssen, so möge er nicht ausschließen, dass auch eine andere Person gemeint sein könnte, womit mit diesem Zugewinn an Erkenntnis jedes Ärgernis beseitigt wäre. Vieles ist einfach unvermeidbar und ohne Absicht, wie in jedem anderen Buch auch. Malefizer sind im Grunde angenehme Zeitgenossen. Für Reste von Betroffenheit beim einen oder anderen Leser würde ich mich im Namen des Verfassers trotzdem ohne Wenn und Aber entschuldigen.

Gottfried Zeis

Vorwort mit Verdacht

Wer immer sich über die Steinerne Brücke der zum Weltkulturerbe erhobenen Altstadt von Regensburg nähert, richtet seinen Blick im Sinne des Erbauers vorzugsweise auf die himmelwärts ragenden Türme von St. Peter. Eine Häuserzeile weiter stemmt sich der Goldene Turm als ein mittlerweile respektiertes, aber doch recht gesichtsloses Wahrzeichen der Stadt prahlerisch in die Höhe. Dieser Import aus San Gimignano[Fußnote 2] gerät nur eher beiläufig als Teil des Panoramas in das Blickfeld. Das Interesse der gaffenden Touristenmassen gilt allein der physikalischen Dimension dieser hohlen Vierkantsäule. Niemand vermutet, dass dort im neunten Stockwerk eine überirdische, außerordentlich straff organisierte, äußerst mobile, rund um die Uhr verfügbare und wohltätige Abteilung einer universell operierenden Macht ihre örtliche Einsatzzentrale aufgeschlagen hat, und dass dadurch dieses allgemein als höchster Geschlechterturm Deutschlands bestaunte Symbol des Reichtums, dieser unrentable und vor allem phallische Protzbau und diese üble Bausünde der Vergangenheit zum ersten Mal in seiner Geschichte eine sinnvolle Verwendung findet.

Im Gegensatz zu diesen guten Mächten im Turm tummeln sich zu seinen Füßen in den Gässchen, in renovierten Patrizierburgen, Schlössern, Kirchen, Pfarrhöfen und Amtsstuben allerlei Bösewichter, Lügner, Angeber, Maulhelden, Ehebrecher, Vorbestrafte und sonstige üble Gestalten. Ein liebenswertes Malefiztum, dieses Regensburg. Es wimmelt geradezu von kleinen und großen sympathischen Missetätern und Schwerenötern.

Trotz anders lautender Presseberichte wird zum Beispiel niemand ernstlich glauben, dass sich darunter ein mehrfach der Wahrheitsbeugung überführter Bischof befindet, der den Medien Hetze gegen den Katholizismus unterstellt und der darüber hinaus nicht gewusst haben will, dass einem wegen Pädophilie strafversetzten Priester erneut Jugendseelsorge übertragen, also der Bock zum Gärtner gemacht wurde; der auch mit leichter Hand eine erkleckliche Geldsumme im Gegenwert einer Eigentumswohnung ausgibt, um damit die Reise seines Domchores in den Vatikan zu finanzieren und dafür schon mal ein Pöstchen im päpstlichen Kulturrat zugewiesen bekam. Ein Schelm, wer da nur an die Zerkleinerung von Süßholz denkt, wo es sich doch eindeutig um eine raffinierte Variante von Simonie[Fußnote 3] handelt! Ist es nicht allzu menschlich, wenn jemand, der sich verkannt fühlt und dem der Boden unter den Füßen zu heiß wird, in Anwendung der zweiten göttlichen Tugend[Fußnote 4] auf die Hilfe von oben hofft? Mit Tutti wird ihm die neue Domorgel mit Pauken und Trompeten aus Tausenden von Pfeifen den Marsch blasen, vorzugsweise die schnarrenden Zungen aus dem Register der Posaunen werden dabei in Anlehnung an das Jüngste Gericht laut erschallen. Wenn Exzellenz seine Fahne einholt und mit großer Zeremonie von seinem Thron im Dom herabsteigt, wird es ein imposanter Abgang sein, lauter jedenfalls als vordem bei seinem Ziehvater im Vatikan, dessen Auszug aus Tübingen nur von wenigen, wenn auch schrillen Tönen begleitet wurde. Klägliche Trillerpfeifen hatten dort nämlich an den Mauern der Festung Ratzinger gekratzt und auf der Innenseite größere schmerzliche Spuren hinterlassen, als die Fassade bis heute vermuten lässt.

Auch eine fromme Sympathisantin macht hin und wieder polternd von sich reden, eine streitbare Frau, die wider allen tierischen Ernst nach alter Bauernart (gewiss mit einigem Unbehagen, wie man ihr zugutehalten kann) erst nach positiver Prüfung ihrer Fertilität in guter Hoffnung zum Traualtar schritt. Ungeniert propagiert sie neuerdings in den Medien ihr weichgespültes Christentum, wonach die Fähigkeit zu sündigen doch irgendwie gottgewollt sei und die Kirche in Würdigung dieser Tatsache für die verschiedenen Kategorien von Fehltritten angepasste Reparatursets anbiete, mit deren schmerzfreier Anwendung man sich elegant wieder in den Stand der Gnade versetzen könne. Glaube in Larifari-Lifestyle wird praktiziert wie die Vereinsstatuten der Oberaltneuhäuser Feuerwehrkapelle. Nach ältlichen Spielregeln versucht die Dame neuerdings auch, ihren Kindern Partner auszusuchen. Im Übrigen erscheint sie – fromm wie Elisabeth – als glühende Verehrerin der Jungfrau Maria an einschlägigen Wallfahrtsorten und beichtet beiläufig öffentlich ihre unkeuschen Gedanken. Das Bistum wäre gut beraten, rechtzeitig Rücklagen für die immensen Kosten einer Seligsprechung zu bilden.

Neben Klerus und Adel ist in Form eines agilen Oberbürgermeisters und eines engagierten Stadtparlaments auch das Bürgertum angemessen vertreten, womit dieses in der Bausubstanz mittelalterlich gebliebene Malefiztum seine entsprechenden Standesvertreter in die Gegenwart gerettet hat.

In diesem historischen Umfeld und in unmittelbarer Nachbarschaft zum „Goldenen Turm“ wohnen völlig unbescholten in den oberen Stockwerken eines spätgotischen Patrizierhauses die Hysops mit ihren fünf Kindern. Vordergründig möchte ich von dieser wunderbaren Familie erzählen, aber zwanghaft befassen sich meine Gedanken auch mit himmlischen, christlichen, pseudoreligiösen und allzu irdischen Dingen.

Querkuss für Eiche

Viola

„Querkuss, Sie haben schon richtig gehört.“ Wie oft hatte Viola vor ihrer Verehelichung ihrem jeweiligen Gegenüber in Schulen, Behörden und Hotels ihren Namen wiederholen müssen und wie oft hatte sie geargwöhnt, die Rückfrage käme eher selten von einem Gehörgeschädigten, und es wurde nur aus einer verschmitzten Laune heraus für einen kleinen Lustgewinn nachgefragt, um sich vielleicht mit einigen absonderlichen Gedankengängen die dem Namen innewohnende Tätigkeit vorzustellen. Wie ein langjähriger Grundschullehrer oder gar ein Gebärdensprachendolmetscher führte Viola regelmäßig verlegen eine Hand zum Mund, gab blasiert ein Handküsschen und dann eben noch einmal: „Quer wie Kuss“.

Das änderte sich auch nicht entscheidend, als sie sich endlich Visitenkarten beschafft hatte. Sie musste wirklich mit einem verrückten Namen leben. „Aber immer noch besser als der des bekannten Geigers namens Kussmaul“, hatte sie sich immer getröstet. Mit vierzehn hatte sie besonders zu leiden, als die Jungen sich wieder für Mädchen zu interessieren begannen, diese dem Stadium ihrer Entwicklung entsprechend zwar öffentlich hänselten, aber die Verspotteten trotzdem gerne hinter Garagen und Büschen dem natürlichen Drang folgend zu küssen versuchten. Viola hatte sich aber Strategien zurechtgelegt, und als nach langer trotziger Verweigerungshaltung auch bei ihr die Neugierde obsiegte, war es ohne Belang, ob sie quer oder längs geküsst wurde. Das Sticheln hatte rasch ein Ende genommen. Peinlich blieb während der Schulzeit nur, dass ausgerechnet Maria Schmalohr unentwegt um ihre Freundschaft buhlte. Da zeigte sie die kalte Schulter. Das wäre des Guten dann doch zu viel gewesen.

Später war ihr im Leistungskurs Latein in Verbindung mit dem Geschichtsunterricht plötzlich klar geworden, wie ihre Familie wahrscheinlich nur durch die Dummheit eines unqualifizierten Pfaffen zu dem weltweit einmaligen Namen gekommen sein musste. Die Humanisten der Renaissance nämlich übersetzten ihre herrlichen deutschen Namen ins Griechische oder Lateinische. Man denke nur an Melanchthon (Schwarzerde) oder an den Johann Müller aus Königsberg, der sich erst Molitor (Müller) nannte und später als berühmtester Mathematiker seiner Zeit mit dem wohlklingenden Namen Regiomontanus (der Mann aus Königsberg, kurz: Königsberger) in die Wissenschaft Eingang fand. Damals mussten Violas Vorfahren Eiche geheißen und sich den entsprechenden lateinischen Namen Quercus zugelegt haben. Ein frommer, aber des Lateinischen weniger kundiger Priester, der eben angenehm erschöpft von seiner Haushälterin abgelassen hatte, kritzelte dann nach dem 30-jährigen Krieg statt „Quercus“ in sein Taufbuch eben das, woran er sich beim Hören des Namens aufgrund seines aktuell gestörten Sündenfalles erinnert fühlte, und notierte Querkuss.

Verständlich also, wenn Viola für Namen von Kindheit an nicht nur sensibilisiert war, sondern sich später geradezu als Namensrassistin entpuppte. Erwachsen geworden wimmelte sie Verehrer mit bodenständigen Namen gnadenlos ab. Darunter fielen Namen mit Endsilbe -inger (Pollinger, Hofinger, Schaidinger), alle Meiers, ob sie nun mit ai, ei, ey oder ay geschrieben wurden, alle Namen mit stimmhaftem l am Ende, wie Liebl, Siegl, Riedl, Rödl, Roidl, Blödl, Liedl, Freundl, Gröschl und Wuschl. Auch alle Müller, Schneider und Schuster blieben außen vor. Sie zielte keineswegs auf berühmte Namensvettern wie Patzak oder Bismarck ab, aber es sollte ein unbelasteter Name sein, den sie gegen den ihren auf dem Standesamt würde eintauschen wollen.

Pantaleon (Name griechischer Herkunft, zweideutig übersetzbar: Ganz Löwe oder All-Erbarmer) – Pantaleon Hysop; ja das war ein Name. Der Studienkollege hätte nicht auch noch gutaussehend, einfühlsam, gebildet, warmherzig, musikalisch, rücksichtsvoll, verlässlich, handwerklich geschickt, humorvoll, schlagfertig, unaufdringlich, sportlich und sonst was sein müssen; schon von seinem Namen fühlte sich Viola förmlich überrumpelt. Pantaleons Großmutter Chryssa hatte sich in einen Wehrmachtsoffizier verliebt, und als die 999er gegen Kriegsende die griechische Insel Zakynthos räumten, sorgte ein Kamerad und Freund ihres inzwischen gefallenen Bräutigams dafür, dass sie beim Rückzug aus Griechenland samt Kind zu den deutschen Angehörigen gelangte. Dort wurde sie unerwartet herzlich empfangen. Eine glückliche Fügung für sie, denn mit dem Verdacht der Kollaboration wäre sie zeitlebens geächtet worden und hätte in ihrer Heimat nicht Fuß fassen können.

Wegen der weniger humorvollen Kindheitserinnerungen und der manchmal schmerzlichen Erfahrungen und Demütigungen wegen Querkuss schenkte Viola Namen allerhöchste Aufmerksamkeit und so kann man sie nicht verurteilen, dass sie anfangs bei der Wahl der Vornamen für ihre Kinder auch über das Ziel hinausschoss. Ihre Abkömmlinge sollten ganz besondere, ausgefallen attraktive Namen haben, vor allem nicht abgedroschen und mit der Mode gehend, und wenn schon nicht einmalig, dann jedenfalls melodisch, vokalreich und einem Versmaß folgend, vielleicht auch mit musikalischem Bezug.

Als das Ultraschallbild einen weiblichen Nachkommen verriet, bürdete sich Viola mit der Wahl des Doppelnamens für diese erste Tochter eine zweite Schwangerschaft, eine Namensschwangerschaft auf, bis sie endlich mit Arachne-Ariosa niederkam. Wieder und wieder hatte sie sich die Namenskombination laut vorgesprochen, um Rhythmik und Melodik akustisch zu überprüfen. Nicht zu Unrecht nahm sie an, dass ein gut klingender Name Aufmerksamkeit erwecken kann. Zusammen mit dem Familiennamen floss das dahin wie Lyrik von Weltgeltung: Arachne-Ariosa Hysop. Hatte der Standesbeamte bei Arachne-Ariosa schon mit dem Registereintrag gezögert, so musste Viola für Universario, den Namen des ersten Sohnes, mit all ihren zur Verfügung stehenden etymologischen Sprachkenntnissen die Starrköpfigkeit des Beamten niederringen, bis er abgekämpft den Stift zückte. Der Sieg war total, und als sie für die zweite Tochter auf den Namen Continua Isetta bestand, strich er nach einem Blick in die entschlossenen Augen Violas unterwürfig die Segel.

Bei den Zwillingen dann hatte der Ehrgeiz bei der Namensfindung deutlich nachgelassen. So ist es eben: Beim ersten Kind wird fotografiert, gefilmt und jeder unbeholfene Strich auf dem Papier gewürdigt und abgeheftet. Beim dritten Kind hält sich die Euphorie bereits in Grenzen und es kostet Überwindung, ein Fotoalbum anzulegen. Nicht überraschend also, wenn bei weiteren Kindern die Namensfindung leichter von der Hand geht. Der Beamte im Standesamt von Regensburg unternahm schon gar keinen Versuch eines Widerspruches, als er Viola zum vierten Mal vor sich in geistiger Kampfuniform aufgebaut sah und sie für die Zwillinge eigentlich einfallslos, aber originell den durchnummerierten Eintrag Quarto und Quinto einforderte. Er hätte auch bedenkenlos Fahrradpumpe oder

Spion bei Verschwörern

Universario

Alle Hysops sind schon eingeschlafen, nur Universario wirft sich in seinem Seeräuberbett von der einen Seite auf die andere. Die Mutter hat ihn heute beim Gute-Nacht-Kuss ausgelassen. Einfach wortlos ausgelassen!

Uno rutscht aus dem Bett. Er schleicht ins Bad, auf der anderen Seite hinaus in das Schlafzimmer der Eltern, hinaus auf den Flur, ins Wohnzimmer. Angst in der Dunkelheit hält ihn heute nicht auf, denn gerade geht zwischen den Domtürmen die glühende Scheibe des Vollmondes auf und leuchtet zum gotischen Fenster herein. Aber horch! Wer flüstert da? Es kommt aus der Küche. Er zwängt seinen Kopf durch den Türspalt und spitzt die Ohren. Aus dem Ofen vielleicht? Oder doch aus dem Geschirrspüler? Jetzt scheppert es im Kühlschrank.

Da sind Einbrecher versteckt! Ein Feigling ist Uno nicht, tappt einen Schritt vorwärts und legt sein Ohr an. Jetzt kann er eine zarte Stimme weinen hören: „Und mich hat er mit dem Löffel geschlagen. Immer wieder hat er auf mich eingeschlagen und mich verspritzt. Wie kann man nur so etwas Süßes wie mich so verprügeln! Bitte, rück doch ein bisschen näher und reib mich ein wenig!“

Universario wird neugierig. Er bohrt seinen Zeigefinger in die Gummidichtung und hebelt die Türe einen Spalt auf. Trotz der Dunkelheit kann er sehen, wie die Butterschale zu schaukeln beginnt. Sie watschelt um die Essiggurken herum und zwängt sich durch zwei Salatköpfe hinüber zum Marmeladentöpfchen.

„So“, tröstet die Butter, „jetzt kannst du dich an mir reiben, du armes Pflümli. Nicht wahr, das kühlt und gleich tut es gar nicht mehr weh.“

„Du bist ein Schatz! Ach tut das gut, wirklich gut. Hm! – Aber sag mal, wie siehst du denn aus! Deine gelbe Haut ist ja ganz zerkratzt.“ – „Ja hast du denn nicht gesehen, wie der Malefizer immer wieder auf mich eingestochen hat?“, jammert es im Kühlfach. „Zehnmal hat er mir die Gabelspitzen in den Rücken gestoßen, dass sie am Bauch wieder herausgekommen sind. Dazu hat er gelacht und bei jedem Stich Pfpfr und Pfffff gemacht. Ich bin doch eine anständige Butter und muss mir das gar nicht gefallen lassen, nicht wahr? Das Au-pair hat ihm endlich die Gabel abgenommen, er hätte sonst Hackepeter aus mir gemacht.“

„Nasch doch einfach an mir herum. Süßigkeit heilt alle Wunden. Sei doch nicht so schüchtern! Na komm schon!“ Die Butter beugt sich über das Marmeladentöpfchen und tippt genüsslich in die köstliche Medizin. Dann räuspert sie sich und sagt entschlossen: „Wenn uns Uno morgen wieder so schlecht behandelt, versauen wir ihm das Hemd. Dann wird er schon was erleben. Ich gebe das Kommando. Machen wir das?“

Das hatte der Spion an der Türe nicht erwartet. Eine Verschwörung im Kühlschrank. Gegen ihn. Vielleicht ist es doch besser, wenn er morgen beim Frühstück die Speisen gut behandelt und Butter und Pflümli krault und streichelt, bevor er vom Brot abbeißt. – Mit leichtem Unwohlsein schleicht Uno zurück in sein Seeräuberbett, und jetzt weiß er auch plötzlich, warum er kein Küsschen bekommen hat. Aber das stiehlt er sich auf dem Rückweg von den Lippen seiner Mama. Sie hat es im Traum wohl gespürt.

Freispruch ohne Gewähr

Aurelius und Lucius

Der Erzengel Aurelius hob seinen Blick. Die Augen waren ihm schwer geworden, die Buchstaben verschwammen. Die Verse für den heutigen Tag im Vademekum[Fußnote 5] hatte er pflichtgemäß, aber gelangweilt heruntergeleiert. Nun blickte er hinüber zum Steuermann Sankt Petrus[Fußnote 6], dem Felsen, an der Westfassade des Domes, wie er im Gold der untergehenden Sonne tapfer in seiner Nussschale Kurs hält. Aurelius stand auf, streckte gähnend die Arme in die Höhe und reanimierte seine zwei Flügelpaare, die trotz Schwerelosigkeit mangels Durchblutung eingeschlafen waren. Dann blickte er von der Einsatzzentrale unter dem Dach des Goldenen Turmes auf die Wahlenstraße hinunter.

In Nummer 37, dem Deggingerhaus, registrierte er eine Veränderung. Nach Auszug der Bücherei Hugendubel war das Geisterhaus jahrelang leer gestanden. Jetzt aber machten sich Leute an der Fassade zu schaffen und hatten schon ein großes K montiert. In den Schaufenstern standen Berge von Kisten mit dem Aufdruck KARE herum. Von einigen waren bereits die Deckel abgenommen und Angestellte entnahmen Lifestyle-Gegenstände aus Porzellan, Glas, Leder, Tuch und Plastik und rückten sie in der Auslage hin und her. Eine elegant gekleidete Mittdreißigerin ging vor die Türe und gab durch Handzeichen zu verstehen, ob eine reich dekorierte Vase mehr nach links oder rechts gedreht werden sollte. Schließlich reckte sie den rechten Daumen nach oben und die Angestellte drinnen begann, für eine dekorative Porzellanskulptur den werbewirksamsten Platz zu finden.

„Gott zum Gruß, Meister! Ich melde mich zurück.“ Lucius[Fußnote 7] war in Sonderfunktion von seinem ersten Auslandseinsatz zurückgekommen und wartete auf Antwort. Müde drehte sich Aurelius dem jugendlichen Schutzengel zu. Ein niedersinkender Unterarm mit einer sich nach oben einladend öffnenden Hand erlaubte ihm, Platz zu nehmen und weiterzusprechen. „Meister, ich komme mit meiner Klientin aus Altötting[Fußnote 8] zurück. Sagt mir, Meister, was ist das in den Kirchen immer für ein dreitüriger Kasten, in dessen Mitte ein schwarzer Mann sitzt! Abwechselnd verschwinden beiderseits Menschen und unterhalten sich flüsternd mit dem mysteriösen Wesen in der mittleren Abteilung. Ich habe viele solcher Kästen auch hier schon gesehen, zum Beispiel in St. Emmeram.“ – „Du Dummkopf! Hast du noch niemals etwas von Beichten gehört? Nein? Es ist Zeit für Nachhilfe, mein Freund.“

Nun begann Aurelius den umtriebigen Wirbelwind Lucius aufzuklären über Seele, Erbsünde[Fußnote 9], Schuld, Sühne, Reue, Beichtgeheimnis, Absolution[Fußnote 10], Sündenstrafen, Ablass – über Sünden in Gedanken, Worten und Werken und auch durch Unterlassung vieler guter Werke – über Hölle, Fegefeuer und Himmel und über all die anderen Probleme, mit denen sich Christen herumschlagen müssen, seit die Urväter der Kirche und danach noch viele, viele andere übermotivierte, selbstgefällige Eiferer festgelegt haben, dass alle Menschen sich an ihrer weltfremden Einstellung zu den Dingen zu orientieren haben, besonders restriktiv auf dem Gebiet der Sexualität und der Beziehung der Geschlechter. Wenn die Schlafsaalaufsicht einen geplagten Klosterschüler bei sexueller Selbsterregung ertappte, wurde ihm die Decke weggerissen und ein energischer Fingerzeig verwies den Sünder in die Kapelle zum Kreuzwegbeten, ganz abgesehen von dem öffentlichen Bekenntnis seiner Verfehlung vor den Mitschülern am nächsten Tag. Alles, was sie sich selbst versagten und dabei häufig versagten, sollten die anderen auch nicht genießen. Ihre dogmatische Sicht der Dinge wird der Klientel bis auf den heutigen Tag immer wieder in Wort und Schrift von der Kanzel, in Hirtenbriefen und den unschuldigen Kindern im Religionsunterricht eingepaukt, damit sie nie vergessen, was sie tun dürfen und was nicht. Besonders zu bedauern sind die Erstkommunionkinder, die man parallel zum Beichtunterricht in psychologische Behandlung geben muss.

Und bei allem dann diese weit verbreitete Falschheit, Doppelzüngigkeit und Verlogenheit der Amtsträger! Ein Beispiel nur: Ein deutscher Bischof in Afrika. Vor der herausgeputzten Fassade einer Missionsstation formuliert er hochtrabende Plattitüden in die Mikrofone der Medienvertreter, während eine Ordensfrau am Seiteneingang die frommen Worte konterkariert und Kondome an dauerschwangere Mütter verteilt. Aberwitzig dazu im Background ein Knabenchor mit der fünften Strophe des Liedes: „Als wir jüngst in Regensburg waren“. Bekanntermaßen wird dort das verlogene Fräulein Kunigund vom großen Nix auf „des Strudels Grund“ gezogen. Sie hat trotz ihrer verlorenen Unschuld die Warnung des Schiffers hochnäsig in den Wind geschlagen.

Aurelius wurde lauter: „Das Handeln der Nonne am Seiteneingang ist näher am Evangelium als Seine Eloquentia[Fußnote 11] am Haupteingang. Wie die Nonne gehen auch viele Priester in der Alltagsseelsorge in aufrechter Überzeugung, in Liebe und Güte zu Werke, aber häufig werden sie wie die Polizeibeamten von den Führungskräften kritisch beobachtet, oft genug zurückgepfiffen oder im Stich gelassen, wenn sie von Ganoven vor Gericht gezerrt werden und auf eigene Kosten die Verteidigung arrangieren müssen. Die Nonnen und Priester an vorderster Front verdienen den Respekt aller Welt, nicht aber die Bischöfe, die von der Namensherkunft (aus dem Griechischen: epi-skopoi) letztlich nur Aufseher geblieben sind. Sie gefallen sich in der Rolle der Glaubensgeber; die Schafe als Glaubensnehmer sollen gefälligst auf das Denken verzichten. Gewerkschaft, Betriebsrat und dergleichen aus der realen Arbeitswelt: Fehlanzeige.

Wir in unserer Unsterblichkeit werden zusehen müssen, wie die schöne christliche Religion so wie alle bereits vorausgegangenen Systeme in Vergessenheit geraten wird. Bleiben werden die aus dem Christentum erwachsene Kunst, die Musik, die Gemälde, die Literatur, die Monumente, die Kultgegenstände, die Sakralbauten. All das werden die Staaten als Erbe erhalten. Die Religion dahinter wird schon in naher Zukunft lediglich Betätigungsfeld der Historiker sein. Betrachte doch die Pyramiden der Ägypter und Mayas. Man restauriert sie, erschließt sie für den Tourismus – aber kennst du jemanden, der sich als gläubiger Maya bekennt? Isis und Osiris feiern in der ,Zauberflöte‘ als magische Gottheiten fröhliche Urständ. So werden die religiösen Tabus aller Religionen gebrochen und nur theaterfähige Höhepunkte profan als Historienschinken aufgeführt werden. Der Kreuzweg unseres Meisters und die ,Landshuter Fürstenhochzeit‘ stehen dann auf einer Stufe. Die Organisatoren der Passion in Oberammergau handeln schon heute vor allem aus wirtschaftlichen und nicht aus religiösen Beweggründen.

Im Regal da hinten steht der Katholische Erwachsenenkatechismus, beide Bände“, fuhr der weise Erzengel fort. „Die habe ich vor einiger Zeit in der Dombuchhandlung mitgehen lassen. Blättere ruhig einmal in den 900 eng bedruckten Seiten und vergleiche mit deinen Kenntnissen des Evangeliums! Sehr rasch wirst du begreifen, wie von Beginn an die christliche Lehre verkompliziert wurde, wo Jesus doch so verständlich gepredigt und vieles in einprägsamen Gleichnissen erklärt hat. Die Herausgeber versuchen, mit rund dreihundert Zitaten von einhundert Leuten ihre eigenen Erläuterungen abzusichern, darunter vorrangig Philosophen von Plato bis Nietzsche, dann Wissenschaftler, Entdecker, Dichter, Denker, Weise und Schriftsteller, Reformatoren, Kaiser und jede Menge heiliger Männer, und – kaum zu glauben – sechs der Anmerkungen, gerade mal zwei Prozent, sind tatsächlich von Frauen. (Mutter Theresa und die Theresias von Avila, von Lisieux und von Jesus, natürlich Hildegard von Bingen und Ingeborg Bachmann mit den vor Erleuchtung nur so triefenden zwei Worten von der gestundeten Zeit, weil alles irdische Leben endlich und vergänglich ist.)

Daran wird die Männerwirtschaft in der Kirche so richtig sichtbar, weil niemand ernstlich interessiert ist, den Maulkorb abzunehmen, den der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief den Frauen verpasst hat[Fußnote 12] und den Thomas von Aquin mit Anleihe bei Aristoteles wissenschaftlich zu untermauern versuchte, indem er behauptete, Frauen seien ,unvollständige Männer‘ und nur durch einen Fehler im Fortpflanzungsprozess geboren, sozusagen mit Samen der Handelsklasse B oder C gezeugt.

Sind denn die da unten alle betriebsblind geworden? Bilden sie sich vielleicht gar ein, sie könnten mit Hilfe von handverlesenen Ohrenbläsern einerseits den christlichen Glauben von innen heraus begreifbar machen und ihn andererseits gegen andere Religionen und Ketzerei schutzimpfen? Wortkrücken sind das. Bei allen Bemühungen auch, das Widersprüchliche in den Evangelien zu erklären – eine wohltemperierte Stimmung, um es musikalisch auszudrücken, ist in all den Jahrhunderten nicht gelungen. Adam mit Nabel – ein Hohn des Schöpfungsberichtes. Wer war seine Mutter? Hat der Gott Vater, verspielt wie ein Kind, mit dem Wort ,fertig‘ nur stolz seinen Daumen in den weichen Ton gedrückt?

Die wahrlich verschreibungspflichtige Rezeptur der christlichen Glaubenslehre aus den Studierstuben der Kirchenväter wird bis heute nicht homöopathisch verabreicht, sondern schon den Neugeborenen mit ritueller Strenge unter Schwüren und Versprechungen der umstehenden Erwachsenen mit der Absicht der Gewinnmaximierung (wie eine Bäuerin beim Gänsestopfen) in Überdosierung verabreicht. Der Zeremonienmeister vollführt sein Ritual mit der Routine einer Krankenschwester bei der Pillenvergabe, wobei diese an die Kaffeepause denkt und er auf wenige und nur kurz störende musikalische Beiträge hofft, damit er den Beginn der Sportschau nicht versäumt.

Zuerst überträgt der Bischof den rangniederen Funktionären in der Soutane durch Handauflegung und Salbung die Kraft und die Erlaubnis, ihrerseits Wasser und Öl zu segnen, um diese Flüssigkeiten über den Täufling zu verteilen, womit dieser im Ghetto des Reiches Gottes auf Erden Aufnahme findet (so eine geschlossene Gesellschaft nach der Art der Colonia dignidad). Aus der Überinterpretation des Apostelwortes (Paulus, Römer 5,12), wonach wir alle Kinder Adams sind, hat sich der religiöse Seiteneinsteiger Augustinus auf der Suche nach einem neuen Betätigungsfeld den Begriff ,Erbsünde‘ aus den Nägeln gesogen und der katholischen Kirche mit diesem Konstrukt ein starkes Schwert in die Hand gegeben. Karl der Große hat damit die Sachsen bekehrt und die Spanier sind seiner heiliggesprochenen kaiserlichen Majestät in ganz Mittel- und Südamerika an Effektivität in nichts nachgestanden.

Durch das Hinwegtaufen dieser fiktiven Erbsünde, mit dem Auftragen des heiligen Öls und mit dem Eintrag in die Matrikel[Fußnote 13] verdient der Priester an dem neuen Mitglied seine ersten Stolarien[Fußnote 14], und der Täufling selber, sofern er nicht zu feige ist, auf dem Standesamt den Kirchenaustritt zu beantragen, – dieser Täufling wird bis an sein Lebensende auf seine Steuerschuld acht Prozent Kirchensteuer zahlen. Hinsichtlich des Nicht-abtrünnig-Werdens hat die Amtskirche einige probate Mittel geschaffen, den Glauben an Gott zeitlebens schön am Schmoren zu halten. Die Mitläufer erwerben sich auf diese Weise anlässlich ihres irdischen Abgangs als Gegenleistung den Anspruch, noch einmal mit dem gleichen heiligen Öl in so einer Art rudimentärer Minieinbalsamierung für ihre Ankunft im Jenseits salonfähig gemacht zu werden. Ist der nach allen Regeln der Kunst von Sünden reingewaschene Steuerzahler erst einmal unter der Erde, beginnen die Einnahmen noch einmal kräftig zu sprudeln und über Jahrzehnte hinweg wird der Leichnam ausgeschlachtet, sprich kapitalisiert, selbstredend natürlich auch die Seele, die man zu diesem Zweck der Unvollkommenheit verdächtigt, sie mit einem Bündel von Sündenstrafen bepackt und im Niemandsland herumvagabundieren lässt.

Die frommen Mönche, die für alles ein ,...torium‘ erfunden haben, (für Essen, Schlafen, Schreiben, Beten, Heilen ein Refektorium, Dormitorium, Skriptorium, Oratorium und ein Sanatorium) siedelten jenseits des Irdischen ein Purgatorium (Fegefeuer) an. Dort hat die arme Seele zu warten, bis irdische Fans behaupten, sie habe auf der letzten Etappe der Läuterung ein Wunder gewirkt und zum Beispiel einen Blinden sehend oder einen austherapierten Todeskandidaten gesund gemacht. Die arme Seele könnte jetzt in die Himmel aufsteigen und heiliggesprochen werden, aber dazu ist ein Verfahren nötig, das wie alle Prozesse ohne finanzielle Mittel nicht in Fahrt kommt, so dass feststeht: Mit reichlich Geld lässt sich auch der soziale Status im Jenseits erheblich verbessern.

Zu Luthers Zeiten verfasste der geschäftstüchtige Papst Leo X. gnädigerweise eine allen Bedürfnissen entsprechende Gebrauchsanweisung, wie mit den automatisch funktionierenden Ablassbriefen diese raffiniert erdachten Sündenstrafen getilgt und gleichzeitig dem dummen Christenvolk die letzten Pfennige zum Bau des Petersdoms aus der Tasche gezogen werden konnten. Mit etwas bösem Willen kann man damit das größte Heiligtum der katholischen Kirche als eine zu Stein gewordene Müllhalde betrachten, erbaut aus final entsorgten Sündenstrafen. Diesen sündhaften Geldstrom brachten die Reformatoren mit Gefahr für Leib und Leben mühsam zum Versiegen.

Aber man wusste sich zu helfen und nun werden heilige Messen verkauft, um die versprochene Himmelfahrt der armen Seele zu beschleunigen. Je nach Zahl der vor dem Altar auflaufenden Ministranten, der Menge des verbrannten Weihrauchs und dem Grad der festlichen Ausgestaltung mit Orgel, Orchester und Gesang – ob stille Messe, Amt, Hochamt oder Pontifikalamt – kann man auf einer nach oben offenen Skala als Gott wohlgefälliger Spender einsteigen und seinen entschlafenen Angehörigen über die Maßen viel Gutes tun, weil sie selbst behördlicherseits in den Zustand absoluter Passivität versetzt wurden und ihre Lage nicht mehr verbessern können. Darüber hinaus findet sich für freiwillige Zuwendungen immer eine offene Hand. Die Hinterbliebenen dürfen auf wunderliche Weise ihr schlechtes Gewissen beruhigen, hatten doch viele von ihnen vorher in der Hoffnung auf eine gute Erbschaft das Hinscheiden gar nicht erwarten können. Der Priester seinerseits schämt sich nicht, diese allzu menschlichen Instinkte profitabel für seine Zwecke zu nützen und sein Messopfer nach interner Gebührenordnung anzubieten und keiner verübelt es ihm. Kommt er diesbezüglich in seiner gut beackerten Gemeinde selbst mit dem Messelesen nicht mehr nach – die Nachfrage ist also höher als das Angebot – gibt er die akquirierten Gottesdienste weiter; ein schwunghafter Handel, von dem besonders die Klöster profitieren. Ein fein gesponnenes Netz das alles, von einer nicht zu überbietenden Raffinesse.

Augustinus sei für seine Erfindung auf immer und ewig Dank gesagt. Darum auch lässt man auf diesen Frömmler nichts kommen. Ron Hubbard - Stichwort ,Scientology‘ - konnte mit seinem Thetan[Fußnote 15] hier leicht Anleihe nehmen.

Eh der junge Mensch zur Selbstbesinnung reift, ist er schon auf Gedeih und Verderben einem System ausgeliefert, das ihn ein Leben lang mit allerlei Sakramenten (sichtbare rituelle Handlung mit unsichtbarer Wirkung) an sich bindet. Ohne kirchlichen Segen darf er nicht einmal das andere Geschlecht „erkennen“ oder sich gar vermehren. Er entkommt dem System auch dann noch nicht, wenn er im Alter nach Sterbehilfe verlangt und diese ihm erbarmungslos verweigert wird.

In den Retorten der Kirchenväter lauert der Glaube wie der Geist in der Flasche. Niemand wagt den Pfropfen abzunehmen aus purer Angst, es könnte ein Dämon entweichen, von dem man nicht weiß, was er anstellen wird, und von dem keiner vorhersagen kann, ob er sich ein zweites Mal einsperren ließe. Glaube müsste doch Kreativität zulassen, individuelle Gestaltungsmöglichkeiten.“

Aurelius seufzte auf und wetterte ungebremst weiter. Er muss dabei wohl an Giordano Bruno gedacht haben, der Schriften des heiligen Hieronymus in die Latrine geworfen hatte. „Es wäre besser, in einer Art zweiter Bücherverbrennung alle theologischen und exegetischen[Fußnote 16] Schriften zu vernichten und noch einmal ganz von vorne mit der Bergpredigt zu beginnen. Auch die Arbeit an den sechzehn geplanten Bänden einer Gesamtausgabe aller dokumentierter Schriften von Josef Ratzinger, Papst Benedikt XVI., ist so oder so vollkommen sinnlos. Die Bücher werden verstauben und nur gelegentlich wird ein Doktorand der Theologie ein paar Zeilen daraus zitieren. Ich vermute, der derzeitige Bischof unserer Heimatstadt will – bodenständig ausgedrückt – Rad fahren und eine Hinwegbeförderung in den Vatikan begünstigen. Das ganze unverständliche Vokabular von Primat, Episkopat bis Zölibat; von Zelebration, Konsekration, Elevation, Konfirmation, Transsubstantiation, Kommunion, Exkommunikation bis Inquisition und Glaubenskongregation; von Absolution bis Apokalyse; von Sakrileg bis Sakrament; von Genitrix bis Kruzifix und all die unzähligen anderen lateinischen Worthülsen – hinweg mit dieser verklausulierten Amtsssprache, die betreffs Unverständlichkeit Juristendeutsch den Rang abläuft! Wenn man ein entsprechendes Vokabular erfunden hat, lässt sich herrlich damit argumentieren, so wie Politiker im vorausschauenden Vergessen mit inhaltslosen Begriffen mächtig Schaum schlagen können. Mit codiertem Vokabular wird das Unerklärbare nicht fassbar. Gott muss man lieben können wie die eigene Mutter, ganz ohne Gebrauchsanweisung. Gott kann man nicht lieben, nur weil der Glaube wie das Einmaleins oder wie Verkehrsregeln eingepaukt wurde. Glaube fällt nicht automatisch unter die Erbmasse.

Alle Religionen bedienen letztlich Urinstinkte der Menschen, und bis in die Gegenwart schlagen allerorts gewitzte Manager daraus Profit, indem sie immerzu neues Wissen schaffen und es dogmatisierend verwissenschaftlichen. Sie vernarren sich wie Pygmalion in ihre eigenen Luftschlösser und feilen so lange an ihren Konstrukten, bis sie ihre Phantasien für wahr halten, also daran glauben und am Ende von ihrem Kunstwerk so fasziniert sind, dass sie sich zu allem Unglück einreden, ihr Artefakt sendungsbewusst und werbend unter das Volk bringen zu müssen. Und dann wird im grauen Alltag unter Vernachlässigung des Zeitgeistes mit verstaubten Ritualen und mit abgenützten Gesten herumzelebriert. Gott ist zur Handelsware geworden. Priester wie Banker nehmen Geld für zweifelhafte Versprechungen. Hunderte von Sekten suhlen sich in diesem Gewerbe.

Was interessiert eigentlich einen Gläubigen das eitle, selbstgefällige und vor allem verworrene Salbadern der Theologen, die letztlich nur mit ihrem Wissen untereinander kokettieren. Glaube entzieht sich der Forschung. Theologie wie Astrologie sind Pseudowissenschaften. Exegese ist zum Selbstläufer einer Elite geworden, hat keinen Basisbezug mehr. Eine neue Bescheidenheit mit einer entdogmatisierten Glaubenslehre ist angesagt. Die Dogmen sind Ecksteine, die zu Steinen des Anstoßes geworden sind. Die Kirche funktioniert mit der gefühllosen Pedanterie des Räderwerks einer Turmuhr in winterlicher Nacht, sie ist eine Schuld-und-Sühne-Kirche geworden, eine Satisfaktionskirche. Ehrlicherweise sollte sie sich in eine börsennotierte GmbH umwandeln (Gesellschaft mit beschränkter, genau: beschränkt beschränkter Haftung), in der den kleinen Leuten Vorzugsaktien ohne Stimmrecht aufgezwungen werden und in der die Dividenden samt Bonusanteilen ausschließlich in die Hände der Emittenten fließen – eine Erd-Himmel-Handelsgesellschaft, in der um Vorteile gewuchert und Gut gegen Böse verrechnet wird, damit per Saldo die Bilanz rechtzeitig zur Himmelfahrt ausgeglichen ist.

Man predigt zwar Liebe, weckt Hoffnungen, droht aber mit hässlichen Instrumentarien und bestraft höchstrichterlich gnadenlos“, ereiferte sich Aurelius weiter. Geradezu zornig fuhr er fort: „Um die armen Seelen zu läutern, wurden auch gar oft die Leiber bis in den Tod gefoltert, gezwickt, gestreckt, verstümmelt, gehängt, gevierteilt, aufgespießt oder lebendig begraben und davor noch mit glühenden Zangen gerupft. Da lies mal in der ‚Bambergischen peinlichen Halsgerichtsordnung‘ von 1507. Bischof Johann Georg Fuchs von Dornheim und sein Weihbischof Friedrich Förner haben mit den dort kaltblütig klassifizierten Foltermethoden einigen hundert missliebigen Bürgern unter dem Vorwand der Hexerei Geständnisse nie begangener Taten herausgefoltert, sie dann verbrannt und ihr Vermögen der Kirche zugeführt. Vornehmlich die weiblichen Körper standen europaweit im Interesse der heiligen römisch-katholischen und allein seligmachenden Kirche. So ein unzüchtiges, dralles, langhaariges Weib zum Beispiel richtig rituell zu verbrennen, war ein Heiden- und Mordsspektakel. Zum Autodafé nahmen die Gaffer tagelange Reisen auf sich. Das Oktoberfest, eine Papstmesse oder ein Fußballendspiel wirken im Vergleich dazu wie eine Beerdigung.

Anlässlich einer solchen Hinrichtung formierte sich eine Schola[Fußnote 17] von Kapuzenmännern und rief alle Heiligen um Fürsprache an, wobei sie vergeblich versuchten, mit ihrem immer wiederkehrenden ‚Ora pro nobis‘[Fußnote 18] lautstark die Schmerzensschreie der Brennenden zu übertönen. Aus Kohlegefäßen und Räucherpfannen stiegen Schwaden auf und der Zug umrundete zu dumpfen Trommelschlägen und mit dem Gebimmel von Handschellen schweren Schrittes die Hinrichtungsstätte. Der Vormann in vollem Ornat verspritzte in kreuzförmiger Bewegung Unmengen von Weihwasser gegen das Feuer und an einer langen Stange wurde der Röchelnden immer wieder ein Kruzifix vor das Gesicht gehalten, bis der Heiland daran selbst zu leiden begann. – Die Menschenmenge amüsierte sich schaudernd an den Zuckungen, Verkrümmungen und an den Todesschreien des Opfers. Der eine oder andere deutete religiös entzückt auf die Stellen, wo die Flammen bereits Löcher in das Büßerkleid brannten und geile Blicke zuließen, und wo sich alsbald die nackte Haut in Blasen aufwarf, aufplatzte und schmorend in Fetzen herabfiel.

Ich werde nie verstehen, warum unser wegen seiner Barmherzigkeit so intensiv verherrlichte Gott Vater regelmäßig mit anderen Dingen beschäftigt war. Er hätte doch wie früher mit Blitz, Donner und Hagelschlag und allen alttestamentarischen Mitteln zum Schutz seiner gequälten Kreatur gegen die Scharfmacher vorgehen müssen. Hatte sein Sohn nicht gepredigt: ‚Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.‘?“

Aurelius beugte sich vor und giftete mit zusammengebissenen Zähnen weiter: „Was müssen die Menschen auch die Religion weltweit so verdammt ernst nehmen, kleingläubig, verdrossen, unterwürfig, verbiestert, angsterfüllt und mit einer ständigen inneren Hab-Acht-Stellung. Unaufhörlich verletzen sie sich im christlich-kratzigen Dickicht. Meinen die Miesepeter denn, sie müssten Gott dauernd verherrlichen, damit er ihr wohlgesonnener Freund bleibt? Sie sollten mit jenseitigen Dingen so leicht, ja spielerisch verfahren wie mit einer börsennotierten AG; da geht es auf und ab, gibt es mal Dividende und mal nicht. Sieh doch uns an, wie unbeschwert wir darüber reden können.

So ein globales religiöses Chaos, wie es derzeit auf der Welt herrscht, kann unser Gott und auch der Gott anderer Religionen niemals gewollt haben. Ist es aus unserer Sicht nicht ein Widerspruch in sich selbst, erst eine ganze Woche lang an einer Welt herumzubasteln und dann eine Arbeit von so offensichtlich schlechter Qualität abzuliefern, dass Gott seinen Sohn eiligst und noch vorehelich zeugen ließ und als Erlöser zur Generalsanierung hinterherschicken musste? Eine Rückrufaktion wäre angebracht gewesen. Außerdem braucht unser Chef überhaupt keine Welt, er hat ja schließlich unsere himmlischen Heerscharen. Gott ist die Unendlichkeit des Weltraumes, das ist die einzig anzulegende Messlatte seiner Größe. Und hätte er seine Fähigkeiten wirklich unter Beweis stellen müssen, dann hätte man mehr erwarten dürfen als dieses erbärmliche Stückwerk; das spottet ja seiner Majestät. Vielleicht blüht irgendwo im fernen Universum eine wirklich heile Welt, die ihm in allem zur Ehre gereicht. Das müsste er auch gar nicht an die große Glocke hängen. Im Credo bekennen sich die Christen vorsorglich ja auch zu einem Gott, der neben der sichtbaren auch eine unsichtbare Welt geschaffen hat. – Aber höre, mein jugendlicher Freund Lucius, was ich da eben mit divergenter Denkweise gesagt habe, bleibt unter uns. Zu niemandem ein Wort!“, fügte er verschwörerisch hinzu. „Michael hat überall seine Ohren. Ich möchte nicht von seinem Flammenschwert, wie mein früherer Freund Luzifer, ins ewige Inferno gestoßen werden.

Übrigens im Heiligenhimmel da oben ist man längst abgebrüht und auf beiden Ohren taub für die Schmerzensschreie einer brennenden Hexe. Niemand hat auf die vielen Ora-pro-nobis-Anrufungen gehört oder die Fürbitten an die Zentrale weitergereicht oder auch nur einen Finger für eine gute Himmelfahrt der gerösteten Seele gekrümmt. Auch die ‚Regina sanctorum omnium‘ (Königin aller Heiligen) und auch unsere ‚Regina angelorum‘, unsere Engelskönigin – Queen Mary, wenn du so willst – hat keine Anstalten gemacht, für die lebende Fackel ein gutes Wort einzulegen, geschweige denn meine selige Namensschwester, die Klausnerin Aurelia, aus eben dem Kloster St. Emmeram. Petitionen prallen ab wie Bittgesuche der kleinen Leute bei den blasierten Politikern, denen man die Ohren amputiert hat. Ob so oder so – uns hat man nach der feierlichen Exekution immer die Aufräumarbeiten überlassen.

‚In paradisum deducant te angeli‘ und ‚Chorus angelorum te suscipiat‘ (Aus den Psalmen 42, 114 und 115 – Der Chor der Engel nehme dich auf und führe dich ins Paradies) sang die nur zum Schein heilige Schola nach dem Niederbrennen der Flammen, während eine Eskorte unserer jeweiligen Regionalabteilung – ein sogenanntes Himmelfahrtskommando – zur Abholung der Seele hinabfuhr und sie aus der Asche buddelte. Ganz gleich, ob Hexe, Säufer, Fixer, Richter, Soldat, Selbstmordattentäter, Mörder, Kinderschänder, Staatsanwalt, Bischof, Pfarrhaushälterin oder Politiker: Wir müssen das jeweilige Häuflein Elend vor den göttlichen Richterstuhl apportieren, damit seine Seele ins Paradies, in Abrahams Schoß oder zu Gott selber (‚qui es in caelis‘, der du in den Himmeln bist) in einen der Himmel geleitet wird, falls nicht die Verbannung in die ewigen Abgründe vorgesehen ist. In Fällen von Kindern und tugendhaften Menschen kann so ein Auftrag ein Sonntagsvergnügen sein, aber ansonsten ist das kein allzu begehrter Job. Um den Großteil der Toten könnten sich auch die Walküren kümmern. Die haben jedenfalls ausreichend Erfahrung, sind bestens ausgerüstet, aber schmollen seit unserem Einschreiten entmachtet und verschnupft in Walhall. – Benimm dich, Lucius, denn eh du dich versiehst, bist du Teil des Himmelfahrtskommandos!

Heutzutage hat man die Verfolgung abtrünniger Schäfchen verfeinert. Angeblich um das Seelenheil der Schüler bemüht, tritt man zum Beispiel mit Kreide im Rachen als getarnter Datenwolf mitleidslos an einfältige Rektorinnen heran, damit sie die Adressen derjenigen Eltern herausrücken, die ihre Kinder vom Religionsunterricht abgemeldet haben und ohne Rücksicht auf den Datenschutz werden Dossiers anlegt und zu gegebener Zeit ins Spiel gebracht, wie es in München auch schon mal die machtbesessene Tochter eines Ministerpräsidenten versucht hat. Es wird auch nicht mehr lange dauern, bis die E-Mail-Adressen aller Getauften gesammelt sind. Dann wird das Gewissen jedes Einzelnen automatisch, täglich und nachhaltig mit Reli-Spam von allerhöchster Stelle gezüchtigt. Man wird dieses Treiben einer aufgeschreckten Bischofskonferenz wegen der im Grundgesetz garantierten Glaubensfreiheit nicht einmal verbieten können. Die Foltermethoden zielen nicht mehr auf den Körper ab, sondern man legt die Daumenschrauben auf verschlagene Weise an, droht mit dem Verlust des Arbeitsplatzes, mit dem Einfrieren der beruflichen Karriere, mit Strafversetzung und anderen widerspruchsresistenten Maßnahmen und zwingt aufmüpfige Charaktere, ins Glied zurückzutreten. Die katholische Kirche erhebt den Anspruch, allein selig machend zu sein. Der Christ muss total gefügig sein. Diese mittelalterliche Vormachtstellung wurde nie in Frage gestellt.“

Aurelius hatte sich richtig in Rage geredet, schwieg jetzt aber plötzlich. Zornesröte stand ihm im Gesicht. Gegen seinen Willen hatte er sich ereifert. Lucius konnte nur fassungslos den Kopf schütteln, dass den Menschen solche Fesseln angelegt sind. Unglaublich und jenseits seiner Phantasie! Er erstaunte sich immer wieder über das Langzeitgedächtnis seines Lehrmeisters. Jetzt aber lauschte er auf das Angelusläuten[Fußnote 19] und wartete, bis die Wahlenstraße und die umliegenden Gassen das Dröhnen des letzten Glockenschlages von den Domtürmen eingeatmet hatten. Dann unterbrach er die Stille und erzählte: „Ich habe ja meinen Schützling in St. Emmeram[Fußnote 20] schon oft in den Drei-Kammer-Kasten begleitet, aber da hat man sich zwanglos nur über belanglose Dinge und Kindereien unterhalten. Von sündigem Fehlverhalten keine Spur. Ich bin da regelmäßig eingenickt. Aber gestern, in Anbetracht des Sonntags ,Quasi modo‘,[Fußnote 21] des ‚Weißen Sonntags‘, dem Tag, an dem überall herausgeputzte Kinder zum ersten Mal in den christlichen Kirchen am Herrenmahl teilnehmen dürfen, ist meine Frau in tugendhaften Kindheitserinnerungen nach Altötting gepilgert, aber nicht wie die richtigen Büßer in einer dreitägigen Wallfahrt mit Blasen an den Füßen und Erbsen in den Schuhen, sondern sie hatte ihre Harley entmotten lassen und näherte sich wohl aus gutem Grund immer zögerlicher und abseits der Hauptverkehrswege im Zickzackkurs dem Wallfahrtsort mit seinem schwarzen Gnadenbild. In einer Gaststätte schälte sich die Fahrerin aus ihrem Overall und kostümierte sich mit einem moderesistenten, bereits etwas abgetragenen Kleid aus ihrem überschaubaren Fundus. Das Outfit war durchaus gelungen, Standardbekleidung einer Bäuerin aus der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Die Tarnung würde versagen, selbst wenn sie ihr Gesicht vermummt hätte. Letztlich hat sie sich nämlich wie Petrus am Lagerfeuer mit ihrer Sprache verraten.

Ich bin auch diesmal mit hinein in das Drei-Kammer-System und erhoffte wieder einige entspannte Minuten. Aber diesmal ging es offensichtlich um schwere Kaliber. Erst jetzt erschließt sich mir der tiefere Sinn des Vorganges. Meine Pilgerin war einem zittrigen, alten Priester am Krückstock gefolgt, dem Glöckner Quasimodo von Notre Dame[Fußnote 22] nicht unähnlich, und hatte sich ehrfürchtig vor ihm auf die Knie geworfen. Sie schien es kaum erwarten zu können, sich endlich der Sünde unkeuscher Gedanken zu bezichtigen[Fußnote 23]. Jetzt verstehe ich ja, was damit gemeint ist. Der Quasimodo, CIA-Mann, Staatsanwalt, Verteidiger und Richter in Personalunion hatte sofort eingehakt und nach Einzelheiten gefragt. Er ließ nicht locker, bohrte immer weiter, trat mitfühlend aufseufzend in ein inquisitorisches Verhör ein, sog sabbernd mit undefinierbaren Lauten und Geräuschen die Überproduktion von Speichel in die Mundhöhle zurück und erfragte genaue Angaben, stocherte überall in der Frau herum und lehnte sich erst befriedigt zurück, als die brave Witwe mit immer größerem Widerwillen und immer leiser werdend ächzend herauswürgte, dass sie sich die Nähe eines Mannes gewünscht hatte, der sie berühren sollte – ja, dass sie es sich wie mit ihrem verstorbenen Mann gewünscht hatte, schnack..., dass sie dabei ganz gute Gefühle gehabt hatte und es nicht aufhören sollte ...

‚Genug! Halte ein, meine Tochter! Nicht weiter!‘ hatte der Quasimodo sie aufs Äußerste erregt unterbrochen, entfernte sein Ohr von ihrem schwül-heißen Atem und starrte der Glühenden geradewegs ins brennende Gesicht. Das so gut wie nie öffentlich verwendete Wort ‚schnack...‘, dessen zweite Hälfte ihr im Halse stecken geblieben war, hatte den schwarzen Mann elektrisiert und die weithin bekannte Büßerin enttarnt. Dieses Wort haftete an ihr wie ein Kainsmal. Verwirrt geriet von da an der Redefluss des Systemmanagers immer wieder ins Stocken. Ihm war schlagartig bewusst geworden, im Gegensatz zu seiner gewöhnlichen Stammkundschaft (Bauernfamilien und Kleingewerbetreibende aus dem Umland, vielleicht einmal ein örtlicher Bankdirektor) eine hochgestellte Dame auf den Pfad der Tugend zurückführen zu müssen. ‚Äh, du bist mit einer drückenden Last und schweren Schuld von weit her gekommen, meine Tochter, nicht wahr? Gut, gut so! Ganz gut so! Das siehst du brav richtig: Unzucht, ähm, in Gedanken ist genau so sündhaft wie die Tat selbst, auch mit deinem verstorbenen, ähm, Gemahl, von dem dich der Tod ja geschieden hat. Der Jesuit Sanchez sagt dazu: „Die Ergötzung am früheren Wollustgefühl ist für eine Witwe sündhaft.“ Hast du denn bedacht, dass durch dein unzüchtiges Denken auch ein außereheliches Kind gezeugt werden kann, und du in Gefahr gerätst, es dann auch in Gedanken abzutreiben, he? – Äh, du hättest eine noch größere Schuld auf dich geladen, eine furchtbare Todsünde. Gott bewahre! Äh-äh! Bereue fleißig! Tu Buße!

Und, da ich dich kenne, meine Tochter, darf ich dir noch einen guten Rat geben: Hüte dich vor Talk-Shows, äh, und höre auf, mit deinen Sünden zu kokettieren! Ja? Bedenke doch, was das Sprichwort sagt: ‚Die dümmsten Schafe suchen sich ihren Metzger selbst.‘ Außerdem ist es sündhaft, über deine erotischen Phantasien zu sprechen und geradezu hoffärtig, sie, äh, in der Presse hinauszuposaunen und, ja, und an die große Glocke zu hängen. Oh, mein Kind, äh! Schlimm! Das ist arg schlimm, ähm! Das sollst du nicht tun. Das öffentliche Bekenntnis deiner bösen Gedanken macht Männer auf dich aufmerksam und erregt sie. Denk an deine Jugendsünden! Wer selbst im Glashaus sitzt, sollte nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Da wollen wir gleich mit einschließen, dass du nicht nur in Gedanken, sondern auch in Worten gesündigt hast. Es ist nur noch ein kleiner Schritt zur Tat. Äh, kehr um! Geh in dich! Mach das in Gottes Namen nicht wieder!