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Können sie aus den Trümmern ihrer Vergangenheit eine gemeinsame Zukunft aufbauen?
Milliardär Arsène Corbin ist ein eiskalter und berechnender Geschäftsmann. Deshalb gerät er auch immer wieder mit der leidenschaftlichen Schauspielerin Winnifred Ashcroft aneinander, die die Hauptrolle in seinem Theaterstück spielt. Denn Winnie ist alles, was Arsène nicht ist - warmherzig und liebevoll. Dennoch können die beiden nicht leugnen, dass eine ganz besondere Verbindung zwischen ihnen besteht. Als schmerzhafte Geheimnisse aus der Vergangenheit ans Licht kommen, die zeigen, wie eng sie wirklich durch das Schicksal miteinander verbunden sind, müssen sie sich entscheiden: Ist trotz aller Unterschiede eine gemeinsame Zukunft möglich?
»Ein weiteres Buch von L. J. Shen, das ich geliebt habe, denn sie enttäuscht mich einfach nie. Ich freue mich schon riesig auf die weiteren Bände der Reihe!« MALLAK von ENDLESSBOOKWORLD über RIVAL
Der zweite Band der neuen Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin L. J. Shen
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Seitenzahl: 532
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Motto
1. Teil
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
2. Teil
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von L. J. Shen bei LYX
Impressum
L. J. SHEN
Cruel Castaways
FALLEN
Roman
Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek
Jahrelang hatte Arsène Corbin nur ein Ziel: Das Herz seiner ehemaligen Stiefschwester Gracelynn Langston zu erobern. Als Grace seinen Heiratsantrag annimmt, scheint der Plan des Milliardärs endlich aufzugehen – bis Grace bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommt und Arsène in ein tiefes Loch fällt. Dieses Unglück bringt ihn mit Winnifred Ashcroft zusammen, deren Ehemann in derselben Maschine saß. Arsène und Winnie könnten unterschiedlicher nicht sein und geraten sofort aneinander. Während Arsène ein eiskalter Geschäftsmann ist, brennt Winnie für die Schauspielerei. Und ihre Abneigung – und Anziehung – wird noch größer, als ausgerechnet Winnie die Hauptrolle in dem neuen Stück erhält, das in Arsènes Theater in New York aufgeführt wird. Doch als dunkle Geheimnisse über ihre verstorbenen Partner aufgedeckt werden, kommen sie sich unwillkürlich näher. Können die beiden trotz allem die schmerzhafte Vergangenheit hinter sich lassen und eine gemeinsame Zukunft finden?
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für P. und A.
Ich habe euch ja gewarnt, dass uns irgendwann niemand mehr einfallen wird, dem wir unsere Bücher widmen können.
Wir müssen anfangen, uns mit neuen Leuten zu treffen.
»Ich weiß es jetzt, Kostja, ich verstehe es, dass bei unserer Arbeit, gleichviel, ob wir Theater spielen oder schriftstellern, nicht der Ruhm, nicht der Glanz, nicht das, wovon ich träumte, die Hauptsache ist, sondern die Fähigkeit zu dulden.«
Anton Tschechow – Die Möwe
Die alten pastellfarbenen Häuser Portofinos mit den charakteristischen niedrigen Satteldächern stehen so dicht an dicht, dass man nicht einmal ein Blatt Papier dazwischenschieben könnte. Unten im Hafen dümpeln in gleichem Abstand zueinander sorgfältig vertäute Yachten, derweil ein paar letzte Sonnenstrahlen der einbrechenden Dämmerung trotzend das Mittelmeer in einen glitzernden Teppich verwandeln.
Ich faulenze auf dem Balkon meiner Hotelsuite mit Aussicht auf die italienische Riviera und beobachte einen Marienkäfer, der sich halb um die eigene Achse dreht, so wie die Marmorskulptur der Venus von Milo.
Ich verhelfe ihm wieder zum Gleichgewicht, dann trinke ich einen Schluck Weißwein und widme mich der Speisekarte, die auf meinem Schoß liegt. Heute Abend scheint das Wildschweinragout das teuerste Gericht zu sein, ergo werde ich es zwangsläufig bestellen, nur um zu sehen, wie die Idioten von der Buchhaltung vor ihrem Risotto ins Schwitzen geraten, wenn sie erkennen, dass diese Konferenz sie mehr Geld kosten wird, als sie auszugeben geplant hatten.
Firmenveranstaltungen sind der sichere Tod einer jeden guten Idee. Es ist allgemein bekannt, dass niemand auf einem formellen Event dieser Art ein nutzbringendes Geschäftsgeheimnis ausplaudern würde. Wertvolle Marktinformationen werden, genau wie Waffen, in den finsteren Seitengassen der Industrie gehandelt.
Es ist nicht mein Arbeitsplatz, der uns hierhergeführt hat. Tatsächlich habe ich gar keinen Arbeitsplatz, der diese Bezeichnung verdient hätte. Ich bin ein einsamer Wolf. Ein selbstständiger, nach Stunden bezahlter Unternehmensberater, der Hedgefonds-Gesellschaften dabei behilflich ist, sich im Dschungel potenzieller Kapitalanlagen zurechtzufinden. Ich sage ihnen, in was sie wie viel investieren sollen und wie sie die annualisierten Renditen, die ihre Kunden von ihnen erwarten, stemmen können. Meine Freunde vergleichen mich oft mit Chandler aus Friends. Keiner von ihnen versteht, was genau ich tue. Dabei ist mein Job eigentlich einfach erklärt: Ich helfe reichen Leuten, noch reicher zu werden.
»Ich probiere nur noch schnell das neue Kleid an«, ertönt an der Balkontür die wie ein Schnurren klingende Stimme einer Frau. »Ich brauche maximal zehn Minuten. Trink nicht zu viel. Du schaffst es ja schon nüchtern kaum, halbwegs höflich zu diesen spießigen Smokingträgern zu sein.«
Ich pfeffere die Speisekarte auf den Tisch neben mir, nehme mein Buch – Kurze Antworten auf große Fragen von Stephen Hawking – wieder zur Hand und blättere eine Seite weiter.
Da sich die Suite auf dem obersten Stockwerk des Hotels befindet, habe ich einen unverstellten Blick auf praktisch alle anderen gen Süden zum Hafen hin ausgerichteten Balkone.
Ich bemerke ein Paar zwei Etagen unter mir.
Die beiden sind die Einzigen, die auf ihrem Balkon den Sonnenuntergang genießen. Sie stecken die Köpfe zusammen. Seine Haare sind weizenblond, ihre eine tizianfarbene Mischung aus Gold und Rot, die an glühenden Wüstensand erinnert.
Er trägt einen schicken Anzug, sie ein schlichtes burgunderrotes Kleid, das billig, fast schon nuttig wirkt. Ein Callgirl? Nein. Hedgefonds-Magnaten von der Wall Street legen Wert auf edel aussehende Escort-Damen. Ich spreche von der Sorte, die über einen begehbaren Designer-Kleiderschrank, rot besohlte Stilettos und die Manieren einer Privatschulabsolventin verfügt. Eine Pretty Woman findet man nur in Märchen und Julia-Roberts-Filmen. Kein Mensch in Manhattan wertschätzt Charme, Aufrichtigkeit und Gewitztheit bei einer Frau.
Folglich ist sie eine Landpomeranze. Vielleicht eine ehrgeizige Einheimische, die sich in der Hoffnung auf ein großzügiges Trinkgeld in sein Bett hat locken lassen.
Die beiden teilen sich einen Pfirsich und feuchte, klebrige Küsse. Saft rinnt über ihre Lippen, als er sie von dem Pfirsich abbeißen lässt. Sie knabbert daran, lächelnd und ohne die Augen von dem Mann abzuwenden. Er küsst sie gierig, worauf sie die Zähne in seiner Unterlippe vergräbt. Er entzieht sich ihr und flüstert etwas in ihr Ohr.
Die Frau wirft lachend den Kopf zurück und gibt den Blick auf ihren blassen langen Hals frei. Ich rutsche unruhig auf meinem Stuhl hin und her, wobei ich meine stetig anschwellende Erektion unter meinem Buch verberge. Keine Ahnung, was mich am meisten antörnt – der Pfirsich, die Frau oder die Tatsache, dass ich hiermit offiziell unter die Spanner gegangen bin. Vermutlich alles gleichermaßen.
Der Mann senkt den Kopf und leckt genüsslich, wie um ihn nicht zu verschwenden, den Pfirsichnektar von ihren Lippen, dabei drängt er sie mit seinem Körper gegen die Brüstung.
Etwas Unausgesprochenes spielt sich zwischen ihnen ab, etwas, das mir ein Prickeln im Nacken verursacht. Was immer es ist, es findet in meinem Leben aktuell nicht statt.
Und ich bin es nicht gewohnt, Verzicht üben zu müssen.
Mit einem leisen Ächzen öffnet sich die Glastür hinter mir. »Hast du den Weißwein schon gekostet?« Mein Kopf fährt in Richtung der Stimme herum.
»Die Anis- und Trüffel-Aromen sind zu dominant, findest du nicht?«, spottet meine Begleiterin und zieht eine Schnute. Sie ist immer noch im Bademantel. Wie viele Stunden kann es dauern, ein verdammtes Kleid anzuziehen?
Ich trinke einen Schluck. »Mir schmeckt er. Im Übrigen werden wir zu spät kommen.«
»Seit wann legst du Wert auf Pünktlichkeit?« Sie zieht eine Braue hoch.
»Tu ich nicht. Aber ich habe Hunger«, antworte ich kurz angebunden.
»Spiel deine Karten geschickt aus, dann bekommst du mich vielleicht zum Dessert.« Sie krönt ihr sardonisches Lächeln mit einem anzüglichen Zwinkern.
Ich lasse den Wein im Glas kreisen. »Kein Dessert, kein Begleiter. Du wirst eine Gegenleistung erbringen, schließlich bin ich nicht gerade für meine Selbstlosigkeit bekannt.«
Sie verdreht die Augen. »Kannst du nicht wenigstens so tun, als wärst du sympathisch?«
»Kannst du nicht wenigstens so tun, als würdest du mich mögen?«, feuere ich zurück.
Sie schnappt nach Luft. »Natürlich mag ich dich. Warum wäre ich sonst mit dir zusammen?«
»Da fallen mir dreiunddreißig Millionen Gründe ein.« Darauf beläuft sich mein Nettovermögen ohne das Erbe, das ich zu erwarten habe.
»Gott, bist du vulgär. Meine Mutter hatte recht, was dich betrifft.« Sie knallt die Glastür zu.
Ich lege das Buch auf den Tisch und wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Pärchen auf dem Balkon zu. Sie sind immer noch eifrig bei der Sache und knutschen vollkommen hemmungslos. Er packt mit der Faust in ihre Mähne, zieht ihren Kopf nach hinten und küsst sie hungrig. Ihre Zungen liefern sich ein erotisches Duell. Lächelnd legt sie die Hände an seine Wangen und streift mit den Zähnen über seine Unterlippe. Mein Schwanz wird von Neuem hart. Ich sehe der Frau an, dass sie mit Haut und Haar diesem Mann gehört, und diese blinde, mit tiefer Zufriedenheit gepaarte Überzeugung, dass sie die seine ist, weckt in mir das Verlangen, ihr das Hirn rauszuvögeln, nur um den Gegenbeweis anzutreten.
Weil nun mal kein Mensch einem anderen gehören kann. Wir alle sind nichts weiter als zu Boden gestreckte Feinde, die versuchen, in dieser Welt zu überleben.
Er bahnt sich küssend einen Weg ihre Kehle hinunter, dann umfasst er ihre Brust und hebt sie seinem Mund entgegen, wobei sich die aufgerichtete Spitze deutlich unter ihrem Kleid abzeichnet. Erst als seine Lippen die Schlucht zwischen ihren Brüsten erreichen, kommt die Frau wieder zur Besinnung.
Sie schiebt ihn schwer atmend weg. Womöglich ahnt sie, dass sie beobachtet werden. Falls sie auf eine verlegene Reaktion meinerseits hofft, kann sie lange warten, denn das wird nicht passieren. Immerhin sind sie diejenigen, die sich ganz ungeniert beim Petting auf ihrem Balkon zur Schau stellen. Ich bin nur irgendein Gast, der an einem entspannten Sommertag ein gutes Glas Wein genießt.
Wieder geht die Tür auf, und Gracelynn Langston erscheint erneut, dieses Mal in einem schwarzen paillettenbesetzten Chiffonkleid. Ich habe ihr das Akris-Teil einen Tag, nachdem sie zum tausendsten Mal in diesem Jahrzehnt in mein Bett zurückgekrochen kam, gekauft.
Das ist Gracelynns klassisches Muster. Sie schläft mit mir, danach serviert sie mich ab, nur um kurz darauf zu ihrer eigenen Überraschung mit zerknirschter Miene, sichtlich gedemütigt und häufig betrunken wieder auf meiner Türschwelle aufzutauchen.
Mich hingegen überrascht es nie.
Ich habe zu akzeptieren gelernt, was wir sind: ein dysfunktionales, verkorkstes Paar, genau wie ihre Mutter und mein Vater es waren. Mit dem Unterschied, dass es bei uns keine körperliche Gewalt gibt.
Im Lauf der Jahre habe ich ein meisterliches Talent dafür entwickelt, mit meiner Stiefschwester fertigzuwerden und ihre explosive Persönlichkeit zu meinem eigenen Vorteil zu nutzen.
Mittlerweile kann ich den Moment, in dem Grace mich verlassen wird, exakt vorherbestimmen. Es passiert immer dann, wenn unsere Beziehung anfängt, sich ernsthaft und echt anzufühlen. Wenn der verruchte Nervenkitzel, den eigenen Stiefbruder zu ficken, abklingt und sie realisiert, mit wem sie sich eingelassen hat. Mit einem Mann, den sie verabscheut. Einem unnahbaren, wortkargen Monster. Einem Paria, der von der höflichen Wall-Street-Gesellschaft ausgestoßen und wegen Insiderhandels mit einem zweijährigen aufsichtsrechtlichen Berufsverbot belegt wurde.
Wann immer sie mich abschießt, gehe ich, verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk, auf Distanz zu ihr, bin nicht mehr verfügbar. Ich schenke demonstrativ fremden Frauen Beachtung, und zwar der Sorte, die Grace missbilligt, weil sie zu stark geschminkt sind und ihre Secondhand-Designertaschen mit dem Selbstbewusstsein einer Hotelerbin spazieren tragen.
Die Masche wirkt Wunder. Gracelynn – Grace, wie ich sie nenne –, kommt jedes Mal zu mir zurück. Sie kann mich nicht ausstehen, aber noch weniger erträgt sie es, wenn ich eine andere Frau an meinem Arm hängen habe.
»Zieh meinen Reißverschluss hoch«, sagt sie und tänzelt mit schwingenden Hüften auf mich zu. Sie dreht den Rücken zu mir, und ich kann jeden einzelnen Wirbel erkennen. Grace ist es gelungen, sich ihre Ballerinafigur zu bewahren, obwohl sie den Traum schon vor langer Zeit aufgeben musste.
Ich leiste der Aufforderung Folge. »Wie viele Leute werden uns heute Abend mit ihrer Mittelmäßigkeit beglücken?«
»Wie üblich zu viele«, antwortet sie mit mehreren Haarklammern im Mund, während sie ein paar letzte Strähnen in ihrem Chignon feststeckt. »Gott sei Dank sind nur die zwanzig hochrangigsten Mitarbeiter samt deren Begleitung eingeladen, und keine hohlköpfigen Assistenten.«
Grace stellt mich nie als ihren Freund vor, sondern immer nur als ihren Stiefbruder, und das, obwohl mein Vater und ihre Mutter sich bereits scheiden ließen, als wir beide noch am College waren.
Dass sie mich überhaupt vorstellt, ist allein dem Umstand geschuldet, dass ich eine bekannte Größe im Börsengeschäft bin. Gefürchtet, respektiert und selten gemocht. Grace weiß um meinen Einfluss, meine Zugkraft. Ich mag das schwarze Schaf der Hedgefonds-Welt sein, trotzdem verstehe ich mich darauf, Geld zu scheffeln, und die Leute an der Wall Street lieben Menschen, die diesen Trick beherrschen.
Ich halte beim Zuziehen des Reißverschlusses inne, als mein Blick die Narbe auf ihrem oberen Rücken erfasst und ich daran erinnert werde, was Grace vor vierundzwanzig Jahren zugestoßen ist. Was mir zugestoßen ist. Ich streiche mit der Fingerkuppe darüber. Sie bekommt Gänsehaut und zuckt zurück, als hätte ich sie geschlagen.
»Ist sie sehr deutlich zu sehen?« Grace räuspert sich und nestelt an ihrem perfekt sitzenden Armband.
»Nein«, schwindle ich, als mich aus unerfindlichen Gründen das Bedürfnis überkommt, die Narbe zu küssen, wie um Grace zu trösten. Anstatt dem Drang nachzugeben, ziehe ich den Reißverschluss hoch und sage: »Na, dann wollen wir mal, Venus.«
»Venus?«
»Der heißeste Planet des Sonnensystems.« Ich zwinkere ihr zu und beschwöre meinen inneren Christian Miller herauf, einen engen Freund von mir, der es irgendwie geschafft hat, in seiner Beziehung aufzublühen, anstatt wie ich ein krankes Spielchen daraus zu machen.
Ich sehe vor meinem geistigen Auge, wie Grace verächtlich die Nase kräuselt. »Ein Glück, dass du Schlauberger so introvertiert bist. Kannst du dir vorstellen, was los wäre, wenn deine Schwäche für Astronomie bekannt würde?«, schnaubt sie und weicht einen Schritt zurück. »Jetzt brauche ich nur noch passende Ohrringe. Was findest du besser? Die roségoldenen Diamantstecker oder die Aquamarine?«
Erstere hatte ich ihr zu ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag geschenkt und dabei absichtlich das Geschenk ihres damaligen Freunds übertrumpft. Entsetzt über die Aussicht, dauerhaft bei einem mittelständischen Immobilienmakler zu landen, der es sich höchstens leisten konnte, ihr Louboutins aus der letzten Saison zu spendieren, hatte sie noch am selben Abend mit ihm Schluss gemacht. Einige Stunden später fand ich sie in meinem Bett vor, mit nichts am Leib außer besagten Ohrsteckern. Das zweite Paar kaufte ich ihr nach Beendigung meiner dreimonatigen Affäre mit Lucinda – ihrer Erzfeindin aus Kindertagen –, als Grace nach einer unserer unzähligen Trennungen zu lange gezögert hatte, zu mir zurückzukommen.
Die arme Lucinda. Es war eine unschöne Überraschung für sie gewesen, Grace in meinem Bett vorzufinden, als sie von ihrer Tournee als Primaballerina aus Paris zurückkehrte.
Hinter meinen Geschenken steckt ausnahmslos immer eine Absicht, ein Ziel, ein giftiges Motiv. Sie sind wie schmutzige, räuberische Küsse. Eine Mischung aus Leidenschaft und Schmerz.
»Die Aquamarine«, empfehle ich ihr.
Sie beugt sich zu mir und drückt einen kühlen Kuss auf meine Lippen. Ich will, dass sie aus dem Weg geht, damit ich feststellen kann, ob das Pärchen zwei Etagen unter mir inzwischen zum Vögeln übergegangen ist. Die exhibitionistischen sexuellen Vorlieben der beiden übertreffen Graces und meine bei Weitem. Ich linse zu ihrem Balkon. Graces Blick folgt meinem.
Ihre Lippen verziehen sich zu einem boshaften Lächeln. »Wie ich sehe, hast du Bekanntschaft mit meinem Vorgesetzten gemacht. Gewissermaßen jedenfalls.«
»Du kennst diesen Trottel?« Ich nehme einen Schluck von meinem Wein.
»Paul Ashcroft? Bestimmt habe ich ihn schon mal erwähnt. Er ist der neue COO von Silver Arrow Capital.«
Das Unternehmen, für das Grace als Analystin arbeitet.
Paul und seine Gespielin haben uns den Rücken zugewandt und behalten ihre Hände jetzt bei sich. Sie scheinen sich zu unterhalten.
»Das hast du ganz sicher nicht. Nicht, dass er einen besonders einprägsamen Eindruck machen würde.« Ich weise mit dem Kinn zu der Frau in Rot. »Offenbar amüsiert er sich prächtig mit dieser Landpomeranze da.«
Grace lässt ein entzücktes Lachen vernehmen. Nichts bereitet ihr mehr Freude, als mitzuerleben, wie eine andere Frau heruntergemacht wird. »Ja, sie hat ein recht schlichtes Gemüt. Trotzdem hat er ihr einen Ehering an den Finger gesteckt, ob du es glaubst oder nicht. Einen sehr teuren übrigens.«
Ich schnaube verächtlich. »Er ist Hedgefonds-Manager. Risikoanlagen sind sein Metier.«
»Sie ist eine Juilliard-Absolventin aus dem tiefsten Süden. Ich gebe den beiden sechs Monate.« Grace kneift die Augen zusammen, um einen besseren Blick auf das Paar zu haben.
»Wie großzügig von dir«, kommentiere ich mit einem leisen Lachen.
Ich kenne Männer wie Paul. Wall-Street-Haie, die sanftmütige Südstaatenschönheiten umwerben, nur um am Ende zu entdecken, dass Gegensätze sich zwar anziehen, für eine funktionierende Partnerschaft jedoch nicht taugen. Solche Ehen münden immer in eine Scheidung, inklusive Rosenkrieg und – falls die Frau sich beeilt – einem fetten monatlichen Kindesunterhalt-Scheck.
»Du kennst mich doch. Liebenswürdigkeit ist mein zweiter Vorname. Ich werde mir jetzt die Ohrringe anstecken. Willst du etwa so gehen?« Grace mustert stirnrunzelnd mein Outfit, das sich aus einem schwarzen Kaschmirpullover und einer karierten Hose zusammensetzt.
»Das Letzte, wonach mir der Sinn steht, ist, einen guten Eindruck zu machen.« Ich wende mich wieder meiner Lektüre zu.
»Du verhältst dich grundlos rebellisch.«
»Ganz im Gegenteil«, widerspreche ich und blättere eine Seite um. »Ich habe durchaus einen Grund. Nämlich den, dass ich verdammt noch mal in Ruhe gelassen werden will. Bisher hat das wunderbar geklappt.«
Grace schüttelt den Kopf. »Du kannst von Glück reden, dass du mich hast.«
Sie verzieht sich mitsamt ihrer aufgeblasenen Attitüde und dem dazu passenden Ego nach drinnen.
Ich schaue ein letztes Mal zum Balkon der Ashcrofts. Paul ist verschwunden.
Seine Frau nicht. Sie starrt direkt zu mir herauf, mit einem wilden, anklagenden Ausdruck im Gesicht. Fast scheint es, als wartete sie auf irgendeine Reaktion von mir.
Hat sie bemerkt, dass ich sie beobachte?
Verwirrt gucke ich über meine Schulter, um sicherzugehen, dass sie tatsächlich mich meint. Hinter mir ist niemand. Der Blick aus ihren großen blauen Augen durchbohrt mich förmlich.
Wird sie als Geisel festgehalten? Unwahrscheinlich. Noch vor wenigen Minuten hat sie mit ihrem Ehemann rumgemacht und dabei ziemlich glücklich gewirkt. Versucht sie etwa, mir Schuldgefühle einzujagen, weil ich ihnen zugesehen habe? Na, dann viel Glück. Mein schlechtes Gewissen hat sich zuletzt gemeldet, als ich zehn war und mit einem animalischen Knurren in einem Krankenhaus die Fäuste gegen die Wände gedroschen habe.
Ich halte ihrem Blick unverwandt stand, ohne zu wissen, was da gerade vor sich geht, aber wie immer scheue ich nicht vor einer feindlichen Konfrontation zurück. Ich ziehe eine Braue in die Höhe.
Die Frau blinzelt zuerst. Ich lache kopfschüttelnd in mich hinein und will schon weiterlesen, als ich sehe, wie sie sich hastig mit der Hand über die Wange wischt. Warte mal … sie weint.
Und das während eines Luxusurlaubs an der italienischen Riviera. Was für launische Geschöpfe Frauen doch sind. Man kann es ihnen einfach nicht recht machen. Armer Paul.
Wir versinken erneut in diesem eigenartigen Blickduell. Sie wirkt wie besessen. Ich sollte aufstehen und mich zurückziehen, doch die Frau sieht so zart und verletzlich aus, so fehl am Platz, dass ein Teil von mir darauf brennt zu erfahren, was sie als Nächstes tun wird.
Seit wann schert es dich nicht einen Dreck, was andere Menschen tun?
Ich stehe lässig auf, schnappe mir mein Buch und trinke mein Weinglas leer, dann drehe ich mich auf dem Absatz um und gehe davon.
Gut möglich, dass Mrs Ashcroft ein Problem hat.
Aber es zu lösen ist nicht meine Aufgabe.
Eine Stunde später flattert Grace mit einem Champagnerglas in der Hand auf dem weiß-grau gemusterten Marmorboden zwischen ihren Kollegen umher. Sie lacht in den richtigen Momenten, runzelt mitfühlend die Stirn, wenn Empathie gefragt ist, und stellt mich den Anwesenden als ihren Stiefbruder und außergewöhnliches Finanzgenie vor.
Ich spiele mit. Mein finales Ziel war schon immer gewesen, Grace vor aller Augen – meines Vaters, ihrer Mutter, meiner Freunde – zu der meinen zu erklären. Die Frau geht mir unter die Haut, sie hat sich dauerhaft in jeder meiner Zellen eingenistet, und ich werde nicht ruhen, bis ich sie als mein kostbares Eigentum herumzeigen kann.
In gewisser Weise genieße ich es, dass sie unsere wahre Beziehung verheimlicht. Denn je mehr sie darauf pocht, dass wir nicht mehr sind als Stiefgeschwister, desto bitterer wird die Pille schmecken, die sie zu schlucken hat, wenn wir die Katze aus dem Sack lassen.
In meinen dunkelsten, schäbigsten Fantasien male ich mir aus, wie Gracelynn Langston sich stammelnd dafür rechtfertigt, dass sie ausgerechnet den Mann geheiratet hat, von dem alle glauben, er sei nichts weiter als ihr Stiefbruder.
Sie wird meinen Ring tragen, komme, was da wolle.
In dem Restaurant wimmelt es von Menschen. Grace und ich unterhalten uns eine Weile mit Chip Breslin, dem CEO des Unternehmens. Er jammert, dass er letzten Monat gezwungen war, Geschäfte mit hoher Dynamik aufgrund strengerer Richtlinien der US-Notenbank drastisch zu reduzieren, wobei er zu mir her schielt, in der Hoffnung, dass ich meine Meinung dazu kundtue. Aber ich gebe keine kostenlosen Tipps. Erst recht nicht zum jetzigen Zeitpunkt, wo mein eigenes Handelsportfolio wegen meiner zweijährigen Sperrung auf Eis liegt.
Endlich hört Chip auf, um den heißen Brei herumzureden. »Ach, kommen Sie, Corbin. Werfen Sie uns doch den einen oder anderen Knochen hin.« Ein gackerndes Lachen. »Wie, schätzen Sie, wird das nächste Quartal verlaufen? Laut meinem Kumpel Jim von Woodstock Trading haben Sie erwähnt, dass man ausschließlich auf fallende Kurse setzen sollte.«
»Ich bin von Berufs wegen Pessimist.« Auf der Suche nach Ablenkung lasse ich meinen Blick durch den Raum wandern. »Ungeachtet dessen hat man mir eine Auszeit verordnet. Und ich werde für diesen Plausch nicht gegen die Auflagen verstoßen.«
»Aber das würde ich niemals von Ihnen erwarten!« Er wird rot und lacht verlegen.
»In Wirklichkeit haben Sie mich gerade dazu aufgefordert«, entgegne ich unverblümt.
Breslin verkündet grinsend, dass es an der Zeit sei, seine Frau von der Bar loszueisen. »Sie wissen ja, wie das ist.« Er zwinkert mir zu und stupst mich beim Gehen mit dem Ellbogen an.
Tatsächlich weiß ich nicht, wie das ist. Grace legt in allen Lebensbereichen – außer, wo es unsere Beziehung betrifft – Wert auf eiserne Disziplin. Sie ist genauso gefühllos, berechnend und skrupellos egoistisch wie ich.
»Schau, das ist der Grund, warum niemand dich mag.« Grace klackert mit ihren sorgfältig manikürten, dezent lackierten Fingernägeln gegen ihr Glas. »Er wollte mit dir fachsimpeln, und du hast ihn kalt auflaufen lassen.«
»Es gibt nur sehr wenige Leute, denen ich meine Gegenwart nicht in Rechnung stelle, und dreiunddreißig Komma drei Prozent davon stehen gerade vor mir.« Meine Augen wandern zu ihrem Dekolleté. Ich denke, ich werde sie heute Nacht zwischen den Brüsten vögeln. Grace mag es selbst mit Kondom nicht, wenn ich in ihr komme, auch wenn sie sich sonst in der Regel auf alles einlässt, was mein Herz – und mein Schwanz – begehrt.
»Lässt du gerade deinen Charme spielen, um in mein Höschen zu gelangen?« Sie grinst mich an.
»Ich hatte gehofft, dass du gar keins anhast.«
Der Raum füllt sich zunehmend, es wird immer wuseliger und stickiger, nur in unserem Winkel nahe der Bar bleibt es ruhig.
»Warum blockieren die Leute den Eingang?«, fragt sie plötzlich. »Was soll dieser Wirbel?«
Ich folge ihrer Blickrichtung und sehe, wie im selben Moment Paul und seine Hinterwäldlerin das Restaurant betreten. Die Leute strömen ihnen regelrecht entgegen, einschließlich Chip und seiner Angetrauten, die sich an seinem Arm festklammert, während sie sich schwankend im Zickzackkurs einen Weg zu den Neuankömmlingen bahnt. Die allgemeine Aufmerksamkeit gilt hauptsächlich Pauls hübscher blonder Frau, die ein echter Hingucker ist. Sie sticht unter den schwarz, grau und beigefarben gekleideten Gästen heraus wie ein lebhaftes, farbenprächtiges Andy-Warhol-Gemälde. Sie ist ein kurioses Geschöpf. Ihre Aufmachung ist zu schrill, ihr Lächeln zu breit, ihre blitzenden Augen saugen ihre Umgebung förmlich in sich auf. Sie kommt mir auf bezaubernde Weise kindlich vor.
»Gibt sie dort drüben Gratis-Blowjobs?«, erkundige ich mich im Plauderton, weil ich weiß, dass meine heimliche Geliebte es gar nicht schätzt, ignoriert zu werden – vor allem nicht wegen einer anderen Frau.
»Würde ich ihr durchaus zutrauen.« Grace kaut auf der Innenseite ihrer Wange, ihre Nasenflügel blähen sich. »Winnie ist jedermanns kleines Schoßhündchen. Sie gibt Paul Cowboy-Kekse – nach dem Rezept von Laura Bush – mit ins Büro, außerdem arbeitet sie ehrenamtlich für Kinderhilfsorganisationen und –«
»Ihr Name ist Winnie?« Ich ziehe die Stirn in Falten.
»Eigentlich Winnifred.« Sie verdreht die Augen. »Bizarr, oder?«
»Er hat eine Karikatur geheiratet«, sage ich, um sie bei Laune zu halten.
Die Frau ist zu süß, um wahr zu sein, und sie hat die Juilliard besucht. Die Schule war auch Graces erste Wahl gewesen, als sie noch glaubte, eine Chance auf eine Karriere als Ballerina zu haben. Es erstaunt mich, dass sie Winnifred nicht feindseliger gesinnt ist. Hat meine Stiefschwester endlich gelernt, mit Konkurrenz umzugehen?
»Wir sollten die beiden begrüßen.« Sie sieht aus, als würde sie sich lieber auf der Stelle übergeben.
Mich verlockt es auch nicht sonderlich, dieser perfekten Südstaatentussi, die auf ihrem Balkon geweint und mich mit Blicken erdolcht hat, meine Aufwartung zu machen, aber ich will mir auch nicht von Grace anhören müssen, dass ich kein Teamplayer sei.
Wir schieben uns so nah wie möglich an die Ashcrofts heran. Winnifred ist umringt von Frauen, die sie um ihr Keksrezept bitten, derweil hat Paul besitzergreifend den Arm um sie legt. Grace drängelt sich bis zu ihnen durch und haucht Paul einen flüchtigen Kuss auf beide Wangen.
»Hallöchen, ihr beiden. Wie schön, euch zu sehen.« Sie küsst nun auch Winnie und fasst ihre Arme. »Sie sind eine wahre Augenweide, Winnifred.«
In Wirklichkeit hält sie diese Frau mit ihrem billigen Fummel und den gestreiften Stöckelschuhen, die sie vermutlich im Schlussverkauf bei Walmart erstanden hat, für das genaue Gegenteil.
»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben, Grace.« Winnies Lächeln wirkt ehrlich und von Herzen kommend. »Sie sehen aus wie ein Filmstar.«
In der Rolle der Dunklen Fee.
»Das ist mein Stiefbruder Arsène Corbin. Wir haben geschäftlich viel miteinander zu tun, darum ist unsere Bindung in den vergangenen Jahren recht eng geworden.« Grace deutet mit der Hand in meine Richtung, als wäre ich ein Objekt, das auf einer Wohltätigkeitsauktion versteigert werden soll. Ich muss grinsen. Die zu ausführliche Erklärung entlarvt sie jedes Mal wieder. Würde sie es dabei belassen, mich als ihren Stiefbruder vorzustellen, würde wahrscheinlich nicht halb Manhattan hinter ihrem Rücken darüber tuscheln, dass ich sie regelmäßig flachlege.
Ich schüttle Paul die Hand. Er strahlt mich an. »Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, Mr Corbin. Wie lebt es sich so außerhalb der Broker-Welt?«
»Genauso unbefriedigend wie innerhalb.« Ich löse meine raue, trockene Hand aus seiner schwitzigen. »Aber ich bin weiter umtriebig und investiere jetzt in materielle Vermögenswerte.«
»Ja, das ist mir zu Ohren gekommen. Sie haben ein Transport- und Frachtunternehmen erworben, nicht wahr?« Paul streicht sich übers Kinn. »Äußerst clever, wenn man bedenkt, wie das Onlineshopping boomt.«
Er ist das menschliche Pendant zu Hafergrütze, farblos, fade und ohne Biss. Ich hatte schon mit genügend privilegierten Kerlen wie ihm zu tun, um zu wissen, wie er tickt. Paul gehört zu den Typen, die mit ihren Sekretärinnen ins Bett steigen, kaum dass ihre Frauen die Fünfunddreißig überschritten haben. Die sich über Männer wie mich auf dem Laufenden halten, um sich bei ihnen geschäftliche Ideen abzuschauen.
»Das ist Winnifred, meine bessere Hälfte.« Paul küsst die zierliche Frau auf die Schulter. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf mich, und schlagartig wird mir klar, warum er es nicht bei einem flüchtigen Abenteuer belassen wollte. Sie sieht, ganz objektiv betrachtet, hinreißend aus. Ihre makellose Haut schimmert wie Seide, ihre leuchtend blauen Augen blitzen vor Neugier, ihr Lächeln ist einnehmend und ansteckend. Sie gehört zu den Menschen, die die Gabe besitzen, einen Raum durch ihre Gegenwart in Wärme erstrahlen zu lassen. Wohingegen Grace nur irgendwo auftauchen muss, und schon sinkt die Temperatur auf den Gefrierpunkt. Mein Herz eingeschlossen.
Zum Glück verkörpert Winnifred zu sehr das Mädchen von nebenan, um einen Reiz auf mich auszuüben.
»Hallo!« Sie wirft sich mir in einer unangemessenen halben Umarmung entgegen. Entweder ist sie unfähig, lange einen Groll zu hegen, oder sie bringt mich nicht mit dem Mann auf dem Balkon in Zusammenhang.
Ich entziehe mich ihr sofort. Hoffentlich trägt sie nicht irgendein Tierseuchenvirus in sich.
Paul schmunzelt sichtlich entzückt über die Ungezwungenheit seiner Frau. »Wo sitzt ihr zwei?«, fragt er an Grace gerichtet.
Sie wirft einen Blick auf unsere Einladungskarten. »Platz fünfzehn und sechzehn.«
»Wir haben neunzehn und zwanzig. Ich schätze, ihr werdet uns noch ein Weilchen länger ertragen müssen«, witzelt er vergnügt.
Juchhu.
Im Lauf des Abends keimt in mir der Verdacht, dass Winnifred schwanger ist. Sie rührt keinen Tropfen Alkohol an, sondern begnügt sich mit Mineralwasser. Sie kostet nicht von den Platten mit Aufschnitt und hält sich von den E-Zigaretten- und Zigarrenrauchern fern. Außerdem verschwindet sie regelmäßig auf die Toilette, so als würde irgendetwas Kleines gemütlich in ihr schlummern und auf ihre Blase drücken.
Grace ist vollauf damit beschäftigt, den richtigen Leuten die Stiefel zu lecken. Bildlich gesprochen, versteht sich. Gerade unterhält sie sich mit Chip, Paul und einem Haupt-Trader namens Pablo über das Geschäft. Die drei Männer versuchen, mich in das Gespräch einzubeziehen, aber ich lasse sie höflich abblitzen. Wie alle exotischen Geschöpfe schätze ich es nicht, durch die Gitterstäbe eines Käfigs bedrängt zu werden – in meinem Fall mit Fragen zu den gegen mich erhobenen Anschuldigungen wegen Insiderhandels. Ohne Zweifel würde jeder auf dieser Veranstaltung zu gern erfahren, warum ich mit einem blauen Auge davongekommen bin.
»Sie lassen sich nicht gern in die Karten schauen, oder, Corbin?« Paul nickt verständnisvoll, nachdem ich ihn mit einer weiteren kurzsilbigen Antwort meine bevorzugten Handelsaktien betreffend abgespeist habe. »Winnie ist genauso. Sie lehnt es generell ab, über ihre Arbeit zu sprechen.«
»Das liegt daran, dass ich zurzeit keine habe.« Sie errötet leicht und trinkt einen Schluck von ihrem Wasser.
Ein Funken Interesse regt sich in mir. Sie ist nicht bloß Hausfrau? Wie erfrischend.
»Was machen Sie beruflich, Winnifred?«
»Ich habe erst dieses Jahr die Juilliard abgeschlossen. Und jetzt hangele ich mich von einem Casting zum nächsten, könnte man sagen.« Ihr gedehnter Südsaatenakzent ist fast schon amüsant. »Ist leider nicht so, dass ich mich vor Aufträgen nicht retten kann.« Sie lacht verlegen. »Es ist schwer, es im Big Apple zu schaffen. Aber was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker, richtig?«
»Oder es schwächt dich.« Ich zucke mit den Achseln. »Hängt ganz von dem Was ab.«
Das schlichte kleine Ding schaut mich mit großen Augen an. »Da ist was dran.«
»Sind Sie denn ausreichend gerüstet, um in New York Erfolg zu haben?«, hake ich nach.
»Würde ich es andernfalls versuchen?« Wieder erscheint dieses zutiefst hoffnungsvolle, vom Glauben an das Gute beseelte Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Die Menschen zieht es aus vielerlei Gründen nach New York, und nur die wenigsten sind koscher. Wie haben Sie Paul eigentlich kennengelernt?«
Es ist, als würde ich ihr mit jeder Frage ein Kleidungsstück ausziehen und sie absichtlich vor versammelter Mannschaft entblößen. Und wie alle Menschen, die sich nackt dem Licht der Öffentlichkeit ausgesetzt sehen, fängt sie an, sich zu winden und nervös auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen.
»Na ja.« Sie räuspert sich. »Ich –«
»Sie haben ihn im Delmonico bedient?«, rate ich ins Blaue hinein. Es könnte auch im Le Bernardin gewesen sein. Sie war eine solide Acht. Im richtigen Outfit vielleicht sogar eine Neun.
»Tatsächlich bin ich auf der Party zum vierten Geburtstag seiner Nichte als Fee aufgetreten.« Sie kneift die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und runzelt die Stirn.
»Als was?« Ich verschlucke mich fast an meinem Wein. »Entschuldigung, aber ich habe das nicht ganz verstanden.«
Das stimmt zwar nicht, aber diese Geschichte ist so gut, dass ich sie noch mal hören will. Zeitlose amerikanische Unterhaltung. Die Lehrbuch-Version von Armes Mädchen trifft reichen Arsch.
Paul ist mit Pablo und Grace ins Gespräch vertieft, er scheint nicht mal zu merken, dass ich seine Frau einem regelrechten Verhör unterziehe.
Winnifred nimmt eine aufrechte Haltung ein und schaut mir fest in die Augen, wie um mir zu demonstrieren, dass sie keine Angst vor mir hat. »Ich sagte, ich bin auf der Geburtstagsparty seiner Nichte als Fee aufgetreten. Ich habe Pauls Gesicht mit Glitzerfarbe geschminkt. Er konnte nicht aufhören zu lachen und hat nicht mal protestiert, als ich Tinkerbell auf seine Wange gezeichnet habe. Ich begriff, dass in ihm ein toller Vater steckt, und gab ihm meine Nummer.«
Bestimmt hat es auch nicht geschadet, dass er schätzungsweise in einem Oldtimer zu der Party kutschiert ist, der mehr wert ist als Winnifreds Elternhaus.
»Danach hatte kein anderer mehr eine Chance bei ihr.« Paul, der sich aus seiner Unterhaltung mit Pablo und Grace ausgeklinkt hat, streicht mit der Nase über ihre Halsbeuge, dann pflanzt er mit geöffneten Lippen einen Kuss darauf. »Jetzt gehört sie mir für den Rest meines Lebens. Nicht wahr, Babydoll?«
Wetten, dass er den Spruch romantisch findet? In Wahrheit klingt er eher danach, als würde er eine Katalogbraut bewerben.
»Täusche ich mich, oder ist da ein leichtes Näseln in Ihrem Tonfall, Winnifred?«, frage ich mit Unschuldsmiene.
Grace schießt mir einen warnenden Blick zu. Ich hatte schon immer die Angewohnheit, mit meinem Essen zu spielen. Nur dass sich heute die geistig minderbemittelte Frau ihres Vorgesetzten auf meinem Teller befindet.
»Ich bin aus Tennessee.« Winnie schluckt sichtlich. »Genauer gesagt aus einer Ortschaft namens Mulberry Creek, unweit von Nashville.«
»Der Heimat des besten Apfelkuchens aller fünfzig Staaten?« Ich grinse in mein Weinglas.
»Eigentlich sind wir mehr für unsere Kekse bekannt. Ach ja! Und natürlich für unsere inzestuösen Vorlieben.« Sie lächelt mich honigsüß an.
Also weiß sie sich doch zu wehren. Darauf war ich nicht gefasst.
»Komm schon, Babydoll. Kein Grund, sarkastisch zu werden.« Paul schnipst mit den Fingern gegen ihr Kinn.
Wenn er sie noch ein einziges Mal Babydoll nennt, zerbreche ich mein Weinglas und schlitze ihm mit einer Scherbe die Kehle auf.
»Was hat Sie dazu bewogen, nach New York zu ziehen?« Ich weiß selbst nicht, warum ich nicht aufhören kann, diese Frau zu drangsalieren. Aus Langeweile? Wegen meiner soziopathischen Tendenzen? Keine Ahnung.
Sie sieht mich durchdringend an und sagt: »Na, die vielen blinkenden Lichter natürlich. Und Sex and the City. Ich dachte mir, du meine Güte, das Leben in New York ist bestimmt genauso wie in diesen glamourösen Filmen. Ach ja, dieser Song von Alicia Keys, der hat dann den Ausschlag gegeben.«
Grace tritt unter dem Tisch so fest auf meinen Fuß, dass ich meine, Knochen splittern zu fühlen. Dabei knallt ihr Knie mit solcher Wucht gegen die Unterseite der Tischplatte, dass alles darauf ins Wackeln gerät. Paul zuckt überrascht zusammen. Die Warnung kommt zu spät. Ich bin nicht mehr in der Lage, mich zurückzuhalten. Winnifred Ashcroft ist der einzige halbwegs annehmbare Unterhaltungsfaktor dieser Veranstaltung, und an ihrer Selbstachtung zu kratzen, köstlicher als jedes Gericht, das man hier heute serviert.
»Winnie ist ein bisschen empfindlich, was ihre Herkunft betrifft.« Paul tätschelt ihr den Kopf, als wäre sie ein putziger Chihuahua.
»Es ist ja auch wie in Sex and the City, oder nicht?«, frage ich liebenswürdig, derweil Grace den Absatz ihres Stilettos in meinen Schuh bohrt, als wollte sie meine Zehen zu Staub zermalmen. »Sie haben Ihren Mr Big gefunden.«
»Paul ist eher ein Mr Medium, falls mich mein Blick vorhin am Urinal nicht getäuscht hat«, spottet Chip. Alle lachen. Alle außer Winnie, die mich anstarrt, als fragte sie sich, womit sie das verdient hat.
Du hast meine Aufmerksamkeit eingefordert. Heute Nachmittag auf dem Balkon. Jetzt siehst du, wie rücksichtslos ich mit den Gefühlen meiner Mitmenschen umgehe.
Grace zupft an meinem Ärmel. »Schluss jetzt, Arsène. Es wird Zeit, das Thema zu wechseln.« Sie lächelt entschuldigend in die Runde. »Die Leute sind hier, um sich zu amüsieren, und nicht, um von dir ausgehorcht zu werden.«
Ich weiß, dass Grace nicht aus Herzensgüte eingreift. Sie ist eine kluge Frau, die im Leben vorankommen will. Und ich pinkle gerade ihrem Chef und seiner Babydoll ans Bein.
»Eigentlich finde ich, dass ich jetzt an der Reihe bin, Fragen zu stellen.« Winnie reckt aufmüpfig das Kinn vor.
Ich lehne mich zurück und beobachte sie mit unverhohlenem Vergnügen. Sie ist wie dieser zappelnde Marienkäfer vorhin auf meinem Balkon. Bezaubernd verzweifelt. Zu schade, dass ich mich bereits auf Grace festgelegt habe, andernfalls würde ich mich ein paar Monate mit Winnifred vergnügen. Paul wäre dabei noch nicht mal ein Hindernis. Diese Sorte Frau entscheidet sich für den höchsten Bieter, und ich habe nun mal die dickere Brieftasche.
»Schießen Sie los«, fordere ich sie auf.
»Was machen Sie beruflich?«
»Ich bin ein Multitalent.«
»In welcher Branche?«
Ich zucke lässig mit den Schultern. »In jeder, die finanziell lukrativ ist.«
»Bestimmt geht es etwas genauer. Ihre Beschreibung würde auch auf den Waffenhandel passen.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust.
Na gut. Dann lass uns spielen.
»Aktien, Unternehmensberatung, Währungen, Bedarfsgüter. Dummerweise bin ich aktuell wegen Insiderhandels für zwei Jahre gesperrt.«
Sämtliche Aufmerksamkeit richtet sich auf uns. Ich war diesem Thema den ganzen bisherigen Abend ausgewichen, weil ich von meinem Vater die ungesunde Angewohnheit geerbt habe, den Leuten nie zu geben, worauf sie aus sind.
»Wie lautet die Anklage?«
»Marktmanipulation.« Bevor sie fragen kann, was das bedeutet, kläre ich sie freiwillig auf. »Man sagt mir nach, Investoren mit falschen Angaben in die Irre geführt und mich weiterer Vergehen schuldig gemacht zu haben.«
»Stimmt das?« Winnifred hält meinen Blick fest und sieht dabei so unschuldig aus wie ein Kind.
Grinsend lecke ich mir vor aller Augen mit der Zunge über die Unterlippe. »Ich habe eine Eigenart, Winnifred.«
»Nur eine?« Sie blinzelt spöttisch, dann lenkt sie ein. »Nämlich?«
»Ich spiele nie, um zu verlieren.«
Noch immer halten ihre hübschen kornblumenblauen Augen meinen Blick fest. Mir kommt der herzlose Gedanke, dass ihr die Aquamarin-Ohrringe zehnmal besser stehen würden als Grace. Sie mit nichts als diesem Schmuck am Leib zu sehen, würde mir eine Menge Freude bereiten. Wer weiß? Vielleicht begeht Grace ja bald wieder den Fehler, mir den Laufpass zu geben. Dann werde ich eine kurze Affäre mit dieser Kleinen anfangen, nur um meine Stiefschwester daran zu erinnern, dass ich immer noch ein Mann mit gewissen Bedürfnissen bin.
»Und die Leute hier akzeptieren Sie trotzdem?« Winnifred blickt sich überrascht im Restaurant um. »Obwohl sie wissen, dass Sie etwas Schlimmes getan und ihnen geschäftlich geschadet haben?«
»Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter. Selbst die, die es kümmert, sehen darüber hinweg, sobald Gefühle zu tatsächlichen Handlungen führen. Die Menschen sind notorisch selbstsüchtig, Winnifred. Darum hat Russland die Ukraine angegriffen. Darum hat man Afghanistan seinem Schicksal überlassen. Darum gibt es humanitäre Krisen im Jemen, in Syrien und im Sudan, von denen man noch nicht mal mehr etwas hört. Weil die Leute vergesslich sind. Sie regen sich auf, anschließend denken sie nicht mehr daran.«
»Für mich gilt das nicht.« Sie bleckt die Zähne wie ein verwundetes Tier. »Mich kümmern all diese Dinge. Ihnen mögen sie egal sein, aber das heißt nicht, dass der Rest der Menschheit genauso kaltschnäuzig ist wie Sie. Sie sind ein gefährlicher Mann.«
»Gefährlich!«, quiekt Grace, bevor sie ein Lachen herauspresst. »Aber nein. Arsène ist ein zahmer Stubentiger. Wie alle in der Familie. Wir sind harmlose Zahlenjongleure.« Sie fächelt sich Luft zu und plappert weiter. »Natürlich ist das nicht so aufregend wie das Showbusiness. Meinem Stiefvater gehört übrigens ein Schauspielhaus. Als Teenager bin ich ständig dorthin gegangen. Ich konnte mich diesem Charme einfach nicht entziehen.«
Es stimmt, dass Douglas Eigentümer eines Theaters ist, allerdings hat Grace ihr Faible dafür früher nur vorgegaukelt, um die Zuneigung meines Vaters zu erlangen. Die Bühne ist kein einträgliches Geschäft, und Gracelynn mag nur profitable Dinge.
Das Ablenkungsmanöver ist von Erfolg gekrönt. Winnifred konzentriert sich jetzt ganz auf meine Stiefschwester und will alles über das Calypso Hall Theater erfahren. Grace antwortet voller Enthusiasmus.
Mein Handy klingelt. Ich ziehe es aus der Tasche und werfe einen Blick auf das Display. Es zeigt die Vorwahl von Scarsdale an, doch die Nummer dahinter kenne ich nicht. Ich drücke auf Ablehnen. Chip stellt mir irgendeine Frage über Nordic Equities.
Es klingelt wieder. Dieselbe Nummer. Ich drücke den Anruf weg.
Kapier’s endlich.
Diese verdammten Betrüger mit ihrer Masche, sich Telefonnummern aus der Region, in der man lebt, zu bedienen.
Der nächste Anruf erfolgt abermals aus New York, wenngleich von einer anderen Nummer. Ich bin kurz davor, das Handy auszuschalten, als Grace, die Winnifreds Ergüssen über das Musical Hamilton lauscht, die Hand auf meinen Schenkel legt und mir zwischen zusammengebissenen Zähnen zuraunt: »Es könnte der Juwelier sein. Wegen der Halskette, die du mir aus Botswana mitgebracht hast. Geh ran.«
Beim vierten Klingeln stehe ich auf und entschuldige mich, bevor ich das Restaurant verlasse und auf den Balkon mit Blick auf den Hafen trete. Ich wische über die grüne Taste.
»Was gibt’s?«, fauche ich.
»Ist da Arsène?« Die alte, männliche Stimme kommt mir vage vertraut vor.
»Bedauerlicherweise ja. Wer sind Sie?«
»Bernard, der Assistent Ihres Vaters.«
Ich schaue auf meine Armbanduhr. In New York ist es vier Uhr nachmittags. Was kann mein Vater von mir wollen? Wir sprechen uns nur selten. Ein paarmal pro Jahr fahre ich nach Scarsdale, um mich mal wieder sehen zu lassen und Familienangelegenheiten zu erörtern – Douglas’ Vorstellung von emotionaler Nähe, vermute ich –, doch ansonsten sind wir praktisch Fremde. Ich hasse ihn nicht wirklich, aber ich mag ihn auch nicht. Was mit Sicherheit auf Gegenseitigkeit beruht.
»Also, Bernard?«, drängle ich ungeduldig und stütze meine Ellbogen auf der Brüstung auf.
»Ich weiß nicht recht, wie ich das sagen soll …« Er verstummt.
»Vorzugweise schnell und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen«, antworte ich. »Worum geht es? Hat der alte Herr eine neue Gespielin?«
Seit seiner Scheidung von Miranda hat mein Vater es sich zum Prinzip gemacht, die Frau an seiner Seite alle paar Jahre auszutauschen. Er gibt keine Versprechungen mehr ab, wird mit keiner sesshaft. Eine Ehe mit einer Langston ist das wirksamste Heilmittel gegen den Glauben an die Liebe.
»Arsène …« Bernard schluckt schwer. »Ihr Vater … er ist tot.«
Die Welt dreht sich unbeirrt weiter. Um mich herum lachen Leute, während sie rauchend und trinkend diesen milden italienischen Sommerabend genießen. Am Himmel zieht ein Flugzeug vorbei und durchbohrt eine dicke weiße Wolke. Die Menschheit ist vollkommen unbeeindruckt von der Tatsache, dass Douglas Corbin, der fünftreichste Mann der USA gestorben ist. Und warum auch nicht? Für die Wohlhabenden ist der Tod nichts weiter als ein Affront. Die meisten akzeptieren ihn mit verbitterter Resignation.
»Echt?«, höre ich mich sagen.
»Er hat heute Morgen einen Schlaganfall erlitten. Die Haushälterin hat ihn gegen halb elf leblos aufgefunden. Ich weiß, wie schwer diese Nachricht Sie treffen muss, und vermutlich hätte ich warten sollen, bis Sie wieder im Lande –«
»Schon gut«, falle ich ihm ins Wort. Ich streiche mir mit der Hand übers Gesicht und versuche, meine Gefühle auszuloten. Aber offen gestanden spüre ich rein gar nichts. Da ist nur diese sonderbare Empfindung, die einen überkommt, wenn ein Möbelstück, an das man gewöhnt ist, plötzlich ausrangiert wird und nur eine kahle Stelle zurückbleibt. Doch da ist kein Schmerz, keine herzzerreißende Trauer. Nichts, das erahnen ließe, dass ich heute meinen einzigen lebenden Angehörigen verloren habe.
»Ich sollte die Reise abbrechen und zurückkommen«, überlege ich laut.
»Das wäre wohl das Beste.« Bernard atmet hörbar aus. »Ich weiß, das alles kommt sehr plötzlich. Es tut mir furchtbar leid.«
Ich stelle den Anruf auf Lautsprecher, nehme das Handy vom Ohr und scrolle durch die nächsten verfügbaren Flüge. Einer geht in zwei Stunden. Den könnte ich schaffen.
»Ich werde die Fluginformationen an Sie weiterleiten. Bitte schicken Sie jemanden, der mich abholt.«
»Selbstverständlich. Wird Miss Langston Sie begleiten?«
»Ja. Sie wird dort sein wollen.«
Die kleine Schleimerin stand meinem Vater näher als ich und hat ihn jedes zweite Wochenende besucht. Die Tatsache, dass für Bernard außer Frage steht, dass Grace bei mir ist, spricht Bände. Mein Dad wusste definitiv, dass ich ein Verhältnis mit meiner Stiefschwester habe, und hat mit seinem Assistenten darüber getratscht. Witzig, dass er das Thema mir gegenüber nie angeschnitten hat. Andererseits waren Grace und Miranda schon ein wunder Punkt für uns beide, seit er mich aus dem Haus geworfen und auf ein Internat verfrachtet hat.
Auf dem Rückweg ins Restaurant lege ich einen Zwischenstopp auf der Unisex-Toilette ein. Als ich meine Kabine wieder verlasse, höre ich hinter einer der Türen das markerschütternde Schluchzen einer Frau. Ist sie verletzt?
Nicht dein Problem, ermahne ich mich.
Ich rolle meine Ärmel hoch und wasche mir die Hände, als das Weinen immer lauter und unbeherrschter wird.
Ich kann unmöglich einfach gehen. Was, wenn sie ein Kind geboren und in die Toilette geworfen hat? Ich mag kein Gewissen haben, trotzdem ist das Ertränken von Säuglingen nichts, was ich unterstütze.
Ich drehe den Wasserhahn zu, gehe zu der Kabine.
»Hallo?« Ich lehne mich mit der Schulter dagegen. »Wer ist da drinnen?«
Die Frau weint noch immer, es klingt jetzt ein bisschen wie ein Schluckauf, doch sie antwortet nicht.
»Hey«, probiere ich es mit etwas sanfterer Stimme. »Sind Sie okay? Soll ich irgendwen rufen?«
Vielleicht die Polizei? Oder jemanden, der ein mitfühlendes Herz hat?
Wieder keine Antwort.
Ich verliere die Geduld, bin mit den Nerven auch so schon am Ende. Die Nachricht vom Tod meines Vaters hat mich völlig aus der Bahn geworfen.
»Wenn Sie mir nicht antworten, trete ich die Tür ein.«
Sie schluchzt noch hemmungsloser und unkontrollierter. Ich gehe einen Schritt zurück, hole mit dem Bein aus und trete mit solcher Kraft gegen die Tür, dass sie wie in einem schlechten Actionfilm aus den Angeln fliegt und gegen die Kabinenwand knallt.
Aber ich finde weder ein Neugeborenes noch eine Verletzte vor.
Sondern Winnifred Ashcroft, die in ihrem roten Kleid zusammengekrümmt über dem Spülkasten der Toilette hängt und aus einer Weinflasche trinkt. Ihr Make-up ist verschmiert, ihr Haar wild zerzaust, und sie zittert am ganzen Leib.
Ist sie doch nicht schwanger?
Hafergrützen-Paul ist wirklich zu bedauern. Er hat es nicht mal geschafft, sich eine anständige Trophäenfrau zu angeln.
Tränen strömen über ihre Wangen. Sie hat einen ordentlichen Zug, die Flasche ist halb leer. Wir liefern uns einen komplett bescheuerten, wortlosen Anstarrwettbewerb. Offenbar erwartet sie nicht, dass ich sie frage, was los ist.
»Steckst du in Schwierigkeiten?«, erkundige ich mich barsch und eigentlich nur, um meiner Bürgerpflicht nachzukommen. »Tut Paul dir weh? Missbraucht er dich?«
Sie schüttelt den Kopf. »Du wirst als Mann nie auch nur halb an ihn heranreichen!«
Das war’s dann mit meinem Lebensziel.
Ich warte, dass sie sich aufrafft und die Toilette räumt. Sie ist das wunderlichste Wesen, dem ich je begegnet bin.
»Paul ist was ganz Besonderes«, fügt sie in echauffiertem Ton hinzu, so als wäre ich derjenige, der auf einer Bakterienkolonie kauert und seinen Kummer in Alkohol ertränkt.
»Dein Ehemann ist der Inbegriff von Durchschnittlichkeit, aber dieses Gespräch möchte ich jetzt nicht vertiefen«, kontere ich. »Wenn ich also nichts für dich tun kann –«
»Nein, kannst du nicht. Und selbst wenn ich Hilfe bräuchte, würde ich bestimmt nicht dich darum bitten. Du eingebildeter Fatzke.« Sie wischt sich schniefend mit dem Ärmel unter der Nase durch. »Hau ab.«
»Nanu, Winnifred. Seid ihr Südstaatenschönheiten nicht berühmt für eure freundliche, umgängliche Art?«
»Verschwinde endlich!« Sie springt auf die Füße und knallt mir das, was von der schief in den Angeln hängenden Tür noch übrig ist, vor der Nase zu.
Kurz überlege ich, ihr meine Nummer zu geben, für den Fall, dass Paul sie doch misshandelt. Bis mir wieder einfällt, dass ich wegen Dads Tod, Graces Unentschlossenheit, meiner Karriere und dem ganzen anderen Mist schon genug am Hals habe.
Ich drehe mich um und verlasse die Toilette.
Um Gracelynn Langston mitzuteilen, dass mein lieber Rabenvater das Zeitliche gesegnet hat.
Damals
Wie viele abschreckenden Beispiele begann auch meine Geschichte ganz klassisch in einem großen, herrschaftlichen Anwesen mit Buntglasfenstern, Spitz- und Strebebögen, Kreuzrippengewölben, Wandmalereien, handgeschnitzten Schachfiguren aus Marmor und breiten geschwungenen Treppen.
Und natürlich einer bösen Stiefmutter und einer hochmütigen Stiefschwester.
Der Abend, der alles verändern sollte, verlief – nach typischer Manier bevorstehender Katastrophen – zunächst vollkommen normal.
Dad und Miranda fuhren in die Stadt, um sich im Calypso Hall Theater die Premiere von Tschechows Die Möwe anzusehen. Wie so oft ließen sie Grace und mich zu Hause zurück. Miranda liebte Kunst, und mein Vater liebte Miranda. Uns hingegen liebte niemand, darum mussten wir uns die Zeit miteinander vertreiben.
Wir klauten einen Pappkarton aus der Küche, drückten ihn flach und rutschten auf ihm abwechselnd die Treppe hinunter. Dabei kamen wir immer wieder Hausangestellten ins Gehege, die beladen mit warmen, flauschigen Handtüchern, Zutaten für das Abendessen und frisch gereinigten Anzügen zwischen den Räumen umhereilten. Hätten sie die Macht dazu gehabt, sie hätten uns zerquetscht wie lästige Insekten. Aber die hatten sie nicht. Wir waren Corbins. Begütert, privilegiert und einflussreich. Die Auserwählten von Scarsdale, dazu bestimmt zu vernichten, und nicht, vernichtet zu werden.
Wir glitten über die Stufen, bis unsere Hintern wund waren unter unseren Designerklamotten und sich meine Wirbelsäule von dem vielen Geruckel wie Wackelpudding anfühlte. Trotzdem wäre es uns nicht eingefallen aufzuhören. Es gab nur wenig, was man in diesem Palast tun konnte. Videospiele waren verboten (sie machten das Gehirn träge, behauptete mein Vater), Spielsachen verursachten Unordnung (abgesehen davon waren wir dafür sowieso zu alt, befand Miranda), und unsere Hausaufgaben hatten wir bereits erledigt.
Grace flitzte gerade ein weiteres Mal die Treppe hinunter, als plötzlich die Haustür aufflog, und sie mit dem Kopf voran gegen Dads Schuhe prallte. Ihr entfuhr ein ulkiges »Umpf«.
»Was um alles … Arsène!«, donnerte er und stieg über Grace hinweg. Kratzspuren von Fingernägeln verunzierten seine Wange. »Was soll dieser Unsinn?«
»Wir haben doch nur –«
»Beschlossen, euch absichtlich zu verletzen? Denkst du etwa, ich habe die Zeit, um mit euch zur Notaufnahme zu fahren?«, spuckte er. »Ab in eure Zimmer. Sofort!«
»Gracelynn.« Meine Stiefmutter folgte dicht hinter ihm und schloss die Tür. Ich musste nicht erst auf ihre Finger sehen, um zu wissen, dass Dads Blut daran klebte. Sie attackierte ihn immer, wenn sie stritten. »Mach deine Ballettübungen, Schätzchen. Daddy und ich haben etwas zu besprechen, das nur Erwachsene angeht.«
Daddy.
Er war nicht Gracelynns Daddy.
Himmel, er war ja nicht mal wirklich meiner.
Douglas Corbin besaß keine Vaterqualitäten.
Seltsamerweise hasste er meine Stiefschwester – immerhin das Kind eines anderen Mannes – trotzdem nicht so leidenschaftlich wie mich.
»Entschuldige, Mom.«
»Schon gut, Süße.«
Gracelynn stand auf und wischte sich den Staub von den Knien. Sie klemmte sich den knittrigen Pappdeckel unter den Arm, dann spurteten wir die Treppe hinauf und den dunklen Flur entlang. Wir wussten, was Sache war, und keiner von uns wollte einen Logenplatz bei Dads und Mirandas Auseinandersetzung.
Die beiden taten nichts anderes, als sich zu zoffen und anschließend zu versöhnen. Unsere Anwesenheit war weder bei Ersterem noch bei Letzterem erwünscht. So waren wir überhaupt erst auf die Idee mit dem Treppenrutschen und unserem Balanceakt gekommen. Aus Langeweile, weil wir ständig allein waren.
»Denkst du, sie werden uns bestrafen?«, fragte Gracelynn.
Ich zuckte die Achseln. »Mir schnuppe.«
»Ja … mir auch.« Sie stieß mir ihren knochigen Ellbogen in die Rippen. »Hey, wollen wir ein Wettrennen zu meinem Zimmer veranstalten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Wir treffen uns auf dem Dach.«
Sie sauste über den goldenen Marmorboden und verschwand hinter ihrer Tür.
Wann immer wir auf unsere Zimmer geschickt wurden, kletterten wir die Feuerleiter hoch und lungerten auf dem Dach herum. Um die Zeit totzuschlagen und über alles Mögliche zu quatschen, ohne dass die Bediensteten uns belauschen und verpetzen konnten.
Ich betrat Gracelynns Zimmer, das aussah, wie von Barbie höchstpersönlich entworfen. Es verfügte über ein Himmelbett mit einem Baldachin aus rosarotem Tüll, einen weißen Steinkamin und weich gepolsterte Sessel. Ihre Ballettsachen lagen überall verstreut.
Sie liebte Ballett. Keine Ahnung, warum. Weil diese Liebe eindeutig nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Gracelynn war eine lausige Ballerina. Nicht, weil sie nicht hübsch gewesen wäre, sondern, weil sie nur das war. Es mangelte ihr nicht bloß an Talent, sondern ironischerweise auch an Grazie.
Das Fenster stand offen, die Vorhänge flatterten im Wind. Sogar sie konnten besser tanzen als meine Stiefschwester.
Ich schnürte meine Sneakers zu, kletterte aus dem Fenster und stieg die regennasse Eisenleiter hoch. Gracelynn lehnte mit überkreuzten Knöcheln an einem der Schornsteine und stieß wie ein Drache Dampfwolken vor dem Mund aus.
»Bereit für den Balanceakt?« Sie grinste.
Der Dachfirst war so schmal, dass wir beim Überqueren vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen mussten. Die Herausforderung bestand darin, auf diese Weise so schnell wie möglich von einem Schornstein zum nächsten zu gelangen. Wir wechselten uns ab und stoppten die Zeit. Ich hatte den Verdacht, dass Gracelynn fast jedes Mal schummelte, darum ließ ich sie niemals gewinnen.
»Misst du jetzt endlich die Zeit, oder was?« Sie streckte herausfordernd das Kinn vor.
Ich nickte und zog meine Stoppuhr aus der Hosentasche. »Bereit, deine nächste Schlappe zu kassieren, Schwesterherz?«
Gracelynn hatte ein Problem. Und zwar mich. Ich war klüger als sie und schrieb bessere Noten, ohne mich auch nur auf die Tests vorzubereiten. Außerdem war ich sportlicher – ich galt als der zweitbeste Tennisspieler meiner Altersgruppe im ganzen Bundesstaat, wohingegen sie eine gerade mal mittelmäßige Tänzerin war.
Logischerweise war ich auch deutlich schneller als sie. Ich gewann immer. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, ihr auch nur den kleinsten Triumph zu gönnen. Weil sie ein nerviges, verzogenes Gör war.
Dasselbe konnte man von mir sagen, nur kaschierte ich meine Defizite besser.
»Ich werde nicht verlieren, du … du … Hotdog-Brötchen!«, versetzte sie mit hochrotem Gesicht.
Ich lachte und hielt die Stoppuhr in die Luft. »Deine Zeit läuft ab jetzt, Furzgesicht.«
»Langsam hab ich echt die Nase voll davon, mich wegen den beiden unsichtbar machen zu müssen.« Sie griff in ihre Haare, die so schwarz waren wie ihre Augen, und zwirbelte sie zu einem schmerzhaft aussehenden Knoten. »Die Eltern von all meinen Freundinnen –«
»Miranda und Doug sind keine Eltern«, unterbrach ich sie und blinzelte zum Himmel hinauf, wo sich bedrohliche graue Wolken zusammenballten. Es würde jeden Moment anfangen zu regnen. »Sie sind einfach nur Leute, die Kinder haben. Das ist ein Unterschied.«
»Aber das ist nicht fair!« Gracelynn stampfte mit dem Fuß. »Jedes Mal, wenn meine Mom sich über deinen Vater ärgert, lässt sie es an mir aus.«
Dies schien mir ein guter Zeitpunkt zu sein, sie darauf hinzuweisen, dass ich Mirandas bevorzugte Zielscheibe war. Sie tat nämlich nichts lieber, als sich bei meinem Vater darüber zu beschweren, wie missraten ich sei.
Arsène lacht nicht. Er weint nicht. Seine einzigen Interessen sind Astronomie und Mathematik, was – nimm mir das nicht übel, Doug – einfach nicht normal ist für einen Zehnjährigen. Womöglich stimmt mit ihm etwas nicht. Wir würden ihm einen schlechten Dienst erweisen, wenn wir ihn nicht untersuchen ließen. Oh, und er gähnt nicht, wenn andere das tun! Ist dir das schon mal aufgefallen? Das weist auf mangelnde Empathie hin. Er könnte ein Soziopath sein. Der mit uns unter einem Dach lebt!
Aber ich hielt den Mund, weil ich nicht riskieren konnte, dass Gracelynn ihrer Mutter brühwarm berichtete, dass mich deren Verhalten nicht kaltließ.
»Wie meinst du das?«, fragte ich stattdessen.
»Zum Beispiel wünsche ich mir schon seit einer Ewigkeit so ein handgenähtes Tutu, wie Lucindas Eltern es ihr aus Moskau mitgebracht haben. Letzte Woche hat Mom mir versprochen, dass sie mir eins bestellen wird. Aber bevor sie heute mit deinem Dad ins Theater gegangen ist, hat sie plötzlich einen Rückzieher gemacht und behauptet, dass es zu teuer ist und ich zu schnell rauswachsen werde. Und das nur, weil sie wütend auf ihn war.«
»Was ist so besonders daran? Warum ist dir dieses dumme Kleid denn so wichtig?«
»Es ist kein Kleid, Ars. Sondern ein Tutu!«
»Wenn du das sagst.«
»Jawohl, das sage ich! Und zwar den lieben, langen Tag, wenn es sein muss!«
»In Wahrheit willst du gar nicht das gleiche Tutu wie Lucinda. Du beneidest sie um ihr Talent. Und das kann man weder in Russland noch sonst wo kaufen«, teilte ich ihr unumwunden mit.
Lucinda und Gracelynn waren eine Klasse unter mir. Lucinda gehörte zu der Art von Mädchen, dem alle nacheiferten. Sie war hübsch und nett und dementsprechend verhasst bei Gracelynn und ihren kleinen Klonen.
»Ich kann’s nicht fassen, dass du das gerade von dir gegeben hast.« Sie ballte die Hand zur Faust und fuchtelte mit ihr vor meinem Gesicht. »Mom hat recht, was dich angeht.«
»Sie hat mit rein gar nichts recht. Jetzt lauf endlich los. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, blaffte ich und startete die Stoppuhr. »Und ab!«
»Du Fiesling!«, fauchte sie. »Ich hasse dich!«
Nur, um sie zur Weißglut zu treiben, fing ich an, laut mitzuzählen.
»Pah! Dir werd ich’s zeigen! Ich werde gewinnen!«
Gracelynn streckte beide Arme zur Seite und setzte sich in Bewegung. Sie lief viel zu schnell, fast hatte es den Anschein, als würde sie über den Dachfirst fliegen, während sie zwischendurch immer wieder von Nebelschwaden verschluckt wurde. Ich sah, wie sie hin und her schwankte, sie konnte jede Sekunde in die Tiefe stürzen.
»Oh Gott«, zischte ich. »Mach langsam. Was tust du –«
Noch bevor ich den Satz zu Ende bringen konnte, verfehlte ihr rechter Fuß den schmalen First. Sie geriet ins Trudeln und ruderte mit den Armen, um ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen. Ihr rechtes Bein rutschte weg. Sie stieß ein überraschtes Keuchen aus und machte einen Satz nach vorn, um den Schornstein zu umfassen, verfehlte ihn jedoch um wenige Zentimeter.
Mit einem panischen Schrei schlitterte sie seitlich das Dach hinunter, dann war sie nicht mehr zu sehen. Scheiße. Meine Lunge versagte den Dienst, ich bekam keine Luft. Mein erster Impuls war: Was hat sie sich bloß dabei gedacht? Gefolgt von: Dad wird mich umbringen.
Ich wartete auf den Aufprall. Vielleicht hatte Miranda recht, und ich war wirklich ein Soziopath. Wer sonst würde darauf lauschen, den Körper seiner Stiefschwester aus zehn Metern Höhe auf dem Boden aufschlagen zu hören?
»Grace?« Die ersten Regentropfen platschten auf das Dach und übertönten meine Stimme. »Gottverdammt, Gracelynn!«
»Hier drüben!«, rief sie.
Erleichterung durchströmte mich. Sie war nicht tot. Ich hockte mich auf den First, dann ließ ich mich vorsichtig über die Dachziegel bis zur Regenrinne hinuntergleiten.
Sie klammerte sich mit den Fingern daran fest, ihr Körper baumelte in der Luft.
Sollte ich Dad und Miranda holen? Oder versuchen, sie aus eigener Kraft hochzuziehen?
Verdammt, ich hatte keine Ahnung. Ich hätte nie gedacht, dass einer von uns je so dämlich sein würde, wie ein tollwütiger Affe über dieses Hausdach zu rennen.
»Hilf mir«, flehte sie, während sich die Tränen auf ihrem Gesicht mit Regentropfen vermischten. »Bitte!«
Ich packte ihre Handgelenke, lehnte mich nach hinten und fing an zu ziehen. Dichte Regenschleier trübten meine Sicht. Ihre Haut war kalt, nass und schlüpfrig, ihre Handgelenke so zart, dass ich Angst hatte, sie ihr zu brechen. Sie versuchte, sich nach oben zu hangeln, dabei klammerte sie sich so verzweifelt an meinen Unterarmen fest, dass ihre Fingernägel blutige Male hinterließen. Dasselbe hatte ihre Mutter heute Abend mit meinem Vater gemacht.
In diesem Moment beschloss ich, dass ich Douglas Corbins Schicksal nicht teilen würde. Nie wieder würde ich wegen einer Langston blutige Wunden davontragen.
»Zieh stärker!«, wimmerte sie. »Ich rutsche ab. Merkst du das nicht?«
Mir war, als würden die Sohlen meiner Schuhe durchschmoren, während ich versuchte, Gracelynn auf das Dach zu zerren. Die Chancen waren aufgrund der physikalischen Gegebenheiten verschwindend gering. Ich musste die nassen Schindeln erklimmen und dabei noch mal mein eigenes Körpergewicht hinter mir herziehen. »Halt dich wieder an der Regenrinne fest. Ich rufe Dad zu Hilfe.«
»Ich kann nicht.«
»Dann werden wir beide abstürzen.«
»Lass mich nicht allein!«
Dachte sie etwa, ich wollte sie umbringen? Ich schwebte ja selbst in Lebensgefahr.
»Okay, ich werde dich noch ein paar Sekunden halten, damit deine Arme sich ausruhen können. Danach musst du dich für ein oder zwei Minuten an der Rinne festklammern, bis ich Dad geholt habe.«
Ihre Unterarme rutschten ein paar Zentimeter tiefer in meinem Griff, während sie in der Luft zappelte wie ein Regenwurm. »Nein! Verlass mich nicht! Ich will nicht sterben!«
»Sieh nicht nach unten«, keuchte ich, dann ließ ich mich auf die Knie fallen und zog mit aller Kraft. Es fühlte sich an, als würden meine Gliedmaßen von meinem Körper losgerissen. Aber sie war zu schwer, zu glitschig. »Schau einfach … in mein Gesicht.«
Plötzlich war das unbarmherzige Gewicht, mit dem ich mich abmühte, verschwunden. Mein Körper wurde nach hinten geschleudert, ich schlug mit dem Hinterkopf auf den Dachplatten auf. Ein fernes Platschen drang an mein Ohr.
Sie ist abgestürzt.
In blinder Panik kroch ich, den Blick auf den Boden gerichtet, an der Dachrinne entlang und versuchte, durch den Regen hindurch zwischen dem Matsch und den dichten Sträuchern etwas zu erkennen. Grace war auf der Abdeckung des leeren Pools gelandet. Sie lag von Wasser umgeben in der Vertiefung in der Mitte.