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Sie ist die Prinzessin der Upper East Side, er der Sohn des Dienstmädchens. Ihre Liebe hatte nie eine Chance
Christian Miller hat sich als rücksichtsloser Anwalt in New York einen Namen gemacht. Der Selfmade-Millionär hat nur ein Ziel: endlich Rache an Hedgefonds-Tycoon Philipp Roth nehmen, der Christians Leben zerstörte, weil er als Teenager dessen Tochter Arya küsste. Als eine Klientin Roth nun der sexuellen Belästigung beschuldigt, sieht Christian seine Chance gekommen. Nur eins steht ihm im Weg: seine Jugendliebe Arya, die als Pressesprecherin ihren Vater verteidigt. Arya weiß nicht, dass Christian der Junge von damals ist, doch er hat sie nie vergessen können. Als beide auf entgegengesetzten Seiten stehen, entflammen alte Gefühle. Und Christian muss sich entscheiden: Rache oder die große Liebe?
"Diese Enemies-to-Lovers-Geschichte macht süchtig. Die Leser:innen werden das Buch nicht aus der Hand legen können!" PUBLISHERS WEEKLY
Der Auftakt zu der CRUEL CASTAWAYS-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin L. J. Shen
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Seitenzahl: 528
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von L. J. Shen bei LYX
Impressum
L. J. SHEN
Cruel Castaways
RIVAL
Roman
Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek
Fass bloß nichts an. Das war die wichtigste Regel, wenn Nicholai seine Mutter zur Arbeit als Dienstmädchen ins luxuriöse Penthouse von Philipp Roth begleitete. Doch Nicholai berührte nicht irgendetwas, sondern das Wertvollste überhaupt: Roths Tochter Arya. In ihrer Kindheit verbrachten die beiden die Ferien miteinander, teilten all ihre Geheimnisse – und als Teenager ihren ersten Kuss. Als Aryas Vater sie dabei erwischte, sorgte er nicht nur dafür, dass sie sich nie wiedersahen, sondern er machte Nicholai das Leben zur Hölle. Seitdem will dieser nur eins: Rache. Mittlerweile hat der Junge aus armen Verhältnissen sich unter dem Namen Christian Miller zum erfolgreichsten Anwalt New Yorks hochgearbeitet. Und als eine Klientin Roth der sexuellen Belästigung beschuldigt, sieht Christian seine Chance auf Vergeltung endlich gekommen. Nur eins steht ihm im Weg: Arya, die als Pressesprecherin ihren Vater verteidigt. Arya weiß nicht, dass er der Junge von damals ist, doch verspürt sofort eine unerklärliche Anziehung zu dem rücksichtslosen Anwalt der Gegenseite. Christians Gefühle für seine Jugendliebe sind jedoch mit nur einem Blick zurück, und er muss sich entscheiden: Will er versuchen, das Herz der Frau zu erobern, die er nie vergessen konnte, oder ihren Vater vernichten?
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für meine Anwaltsfreundin Ivy Wild, die mich lehrte, dass es nicht nur das Moralischste, sondern auch das Kostengünstigste ist, auf der richtigen Seite des Gesetzes zu bleiben.
Fass. Bloß. Nichts. An.
Das war die einzige Regel, die meine Mutter mir je auferlegt hatte, und ich war schlau genug, sie zu befolgen, weil sie mir andernfalls den Hintern versohlt und den Rest des Monats Haferbrei mit Kornkäfern vorgesetzt hätte.
Es waren die Sommerferien nach meinem vierzehnten Geburtstag, in denen das Streichholz entzündet wurde, das später alles niederbrennen sollte. Der orangerote Funke sprang über, das Feuer breitete sich aus und verzehrte mein Leben, hinterließ nichts als Phosphor und Asche.
Aus Sorge, ich könnte irgendwelchen Unfug anstellen, wenn sie mich allein zu Hause ließe, schleifte meine Mom mich mit zu ihrem Arbeitsplatz. Ihr stichhaltigstes Argument lautete, dass ich nicht wie meine Altersgenossen werden sollte: ein Gras rauchender, Vorhängeschlösser knackender Tunichtgut, der verdächtig aussehende Päckchen für ortsansässige Drogendealer beförderte.
Hunts Point war der Ort, wo Träume begraben wurden. Nicht, dass meine Mutter je welche gehabt hätte, aber sie betrachtete mich als ihre Verantwortung, und ihre Pläne sahen nicht vor, mich gegen Kaution aus dem Knast zu holen.
Im Übrigen war ich selbst nicht scharf darauf, daheim herumzusitzen und an meine Realität erinnert zu werden.
So kam es, dass ich sie jeden Tag in die Park Avenue begleiten durfte. Unter einer Bedingung: Es war mir strengstens untersagt, mit meinen schmutzigen Fingern irgendetwas im Penthouse der Familie Roth anzufassen. Das galt für das überteuerte Mobiliar von Henredon, die Fenster mit Blick auf die Bucht, die aus Holland importierten Pflanzen – und erst recht für das Mädchen.
»Sie ist etwas Besonderes und Mr Roths Augenstern. Nichts darf ihren Ruf beflecken«, ermahnte mich meine Mom, eine Immigrantin aus Belarus, mit schwerem Akzent, während wir zusammengepfercht mit anderen Malochern – Reinigungskräfte, Gärtner, Portiers – im Bus saßen.
Arya Roth war der Fluch meines Daseins, noch bevor ich sie das erste Mal traf. Ein fein geschliffener, unantastbarer Edelstein, unendlich kostbar im Vergleich zu mir wertlosem Geschöpf. In den Jahren vor unserem Kennenlernen war sie nicht mehr als eine unangenehme Idee. Eine surreale Figur mit zwei Zöpfen, verwöhnt und zickig. Ich spürte nicht das geringste Bedürfnis, ihr zu begegnen. Tatsächlich hatte ich schon so manche Nacht in meinem Klappbett damit verbracht, mir vorzustellen, welches aufregende, kostspielige und altersgerechte Abenteuer sie wohl gerade erlebte, und ihr alles erdenklich Böse zu wünschen. Tragische Autounfälle, Flugzeugunglücke, Stürze von Klippen, Skorbut. Mir war alles recht. Ich malte mir aus, wie die privilegierte Arya Roth einen Horror nach dem anderen durchmachte, während ich mit einer Schüssel Popcorn auf dem Sofa lümmelte und lachend die Show genoss.
Alles, was ich aus den ehrfürchtigen Geschichten meiner Mutter über das Mädchen wusste, widerte mich an. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, war sie auch noch genauso alt wie ich, was es ärgerlicherweise praktisch unvermeidbar machte, Vergleiche zwischen unser beider Leben anzustellen.
Sie war die Prinzessin des Elfenbeinturms auf der Upper East Side und bewohnte ein Penthouse, das sich über fast fünfhundert Quadratmeter erstreckte, eine Größe, die jenseits meiner Vorstellungskraft lag. Ich dagegen hauste in einem Einzimmerapartment aus der Vorkriegszeit in Hunts Point, wo die lautstarken Streitereien der Prostituierten und ihrer Kunden unter meinem Fenster und das an ihren Ehemann adressierte Gezeter von Mrs Van ein Stockwerk tiefer den Soundtrack meiner Jugend bildeten.
Aryas Leben roch nach Blumen, Boutiquen und mit Fruchtaromen parfümierten Kerzen – wenn meine Mutter von der Arbeit kam, haftete ihrer Kleidung noch immer dieser schwache Duft an –, wohingegen der Gestank des unweit unserer Wohnung gelegenen Fischmarkts derart penetrant war, dass er regelrecht in die Hauswände einsickerte.
Arya war hübsch – meine Mutter schwärmte unentwegt von ihren smaragdgrünen Augen –, ich war schlaksig und linkisch. Ein mit spitzen Knien und abstehenden Ohren versehenes Strichmännchen. Meine Mom behauptete, dass ich irgendwann zu einem gut aussehenden jungen Mann heranwachsen würde, aber in Anbetracht meiner wenig ausgewogenen Ernährung hatte ich da so meine Zweifel. Anscheinend war es bei meinem Vater genauso gewesen, hatte er sich von einem jungen Spargeltarzan zu einem attraktiven Mann gemausert. Da ich den Mistkerl nie getroffen hatte, konnte ich das nicht beurteilen. Der Vater von Ruslana Ivanovas Sohn lebte in Minsk, zusammen mit seiner Frau, seinen drei Kindern und zwei hässlichen Hunden. Das Flugticket nach New York war sein Abschiedsgeschenk für meine Mutter gewesen, als er von ihrer Schwangerschaft erfuhr, verbunden mit der Bitte, sie möge ihn nie wieder kontaktieren.
Nachdem sie keine Familie hatte – ihre Mutter, auch sie alleinerziehend, war schon vor Jahren gestorben –, schien das für alle Beteiligten die sinnvollste Lösung zu sein. Mit Ausnahme von mir, versteht sich.
So landeten wir allein im Big Apple und begegneten dem Leben dort mit einem Argwohn, als wollte es uns an die Kehle. Oder vielleicht hatte es uns längst an der Gurgel gepackt, um uns zu erdrosseln. Es schien, als würden wir unablässig um irgendetwas kämpfen – um Luft, um Essen, um Strom, um das Recht zu existieren.
Was mich zu der letzten und verabscheuungswürdigsten aller von Arya Roth begangenen Sünden und dem Hauptgrund, warum ich sie nie kennenlernen wollte, bringt: Sie hatte eine echte Familie.
Eine Mutter. Einen Vater. Zahlreiche Tanten und Onkel. Eine Großmutter in North Carolina, bei der sie die Osterferien verbrachte, Cousins und Cousinen in Colorado, mit denen sie jedes Weihnachten Snowboarden ging. Ihr Leben hatte einen Kontext, eine Richtung, eine voll ausgestaltete Handlung samt Rahmen, in der jedes Detail in Technicolor erstrahlte, während mein eigenes Dasein einem zusammenhangslosen Schwarzweißfilm glich.
Sicher, ich hatte meine Mutter, aber wir beide erweckten eher den Eindruck, als hätte man uns zufällig zusammengewürfelt. Dann waren da noch die Nachbarn, die kennenzulernen Ruslana sich nie die Mühe gemacht hatte, die Prostituierten, die mir Sex im Austausch gegen mein Pausenbrot offerierten, und die Polizisten vom NYPD, die zweimal wöchentlich in unserer Nachbarschaft auftauchten und eingeschlagene Schaufenster mit gelbem Absperrband sicherten. Glück war ein Gut, das anderen Leuten gehörte. Leuten, die wir nicht kannten, die in anderen Vierteln wohnten und ein Leben führten, das mit unserem nichts gemein hatte.
Ich hatte mich schon immer wie ein Zaungast in der Welt gefühlt, wie ein Voyeur. Aber wenn ich schon zum Zuschauen verurteilt war, warum mir nicht das perfekte, bilderbuchhafte Leben der Roths aus nächster Nähe ansehen?
Um dem Höllenloch, in das ich hineingeboren worden war, zu entkommen, musste ich mich nur an die Regeln halten.
Fass. Bloß. Nichts. An.
Am Ende jedoch fasste ich nicht einfach irgendetwas an.
Sondern das Kostbarste, das der Haushalt der Roths zu bieten hatte: das Mädchen.
Heute
Er würde kommen.
Das wusste ich ganz sicher, auch wenn er sich verspätete. Was vor dem heutigen Tag noch nie vorgekommen war.
Wir trafen uns an jedem ersten Samstag des Monats. Bestimmt würde er gleich auftauchen, mit einem Grinsen im Gesicht, zwei Portionen Biryani und dem neuesten Büroklatsch, der jede Reality-Show in den Schatten gestellt hätte.
Ich machte es mir in einem Kreuzgang mit Aussicht auf einen im gotischen Stil angelegten Garten bequem, stützte meine Füße in den Prada-Pumps gegen eine mittelalterliche Säule und bewegte meine Zehen.
Egal, wie alt ich war oder wie gut ich es beherrschte, die skrupellose Geschäftsfrau zu geben, fühlte ich mich bei jedem unserer Treffen im The Cloisters wie eine picklige, leicht beeindruckbare Fünfzehnjährige, die dankbar war für jeden Krümel an Zuneigung und Aufmerksamkeit, den er mir zuwarf.
»Rutsch rüber, Liebes. Das Essen tropft.«
Hab ich’s nicht gesagt? Er ist gekommen.
Ich zog meine Beine unter mich, um Platz für meinen Vater zu machen. Er stellte die Plastiktüte ab, nahm zwei ölige Pappbehälter heraus und reichte mir einen davon.
»Du siehst furchtbar aus«, bemerkte ich und öffnete den Deckel. Der Duft nach Muskat und Safran stieg mir in die Nase und ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Das Gesicht meines Dads war gerötet und zu einer Grimasse verzogen, seine Augen von dunklen Schatten unterlegt.
»Tja, und du siehst wie immer fantastisch aus.« Er küsste mich auf die Wange, ließ sich mir gegenüber nieder und lehnte den Rücken an die Säule.
Ich versenkte meine Gabel in dem Gericht aus butterzartem Hähnchenfleisch auf einem Bett aus Reis, schob mir einen Bissen in den Mund und schloss die Augen. »Ich könnte das dreimal am Tag essen, und zwar jeden Tag.«
»Das glaube ich dir aufs Wort, nachdem du dich in der fünften Klasse ausschließlich von Makkaroni-Käse-Bällchen ernährt hast.« Er lachte leise. »Wie geht es mit dem Erringen der Weltherrschaft voran?«
»Langsam, aber unaufhaltsam.« Ich machte die Augen wieder auf. Mein Vater stocherte lustlos in seinem Essen herum. Nicht nur war er zu spät gekommen, er schien auch sonst nicht er selbst zu sein. Das Verräterischste war jedoch nicht seine leicht zerknitterte Aufmachung oder die Tatsache, dass er dringend einen frischen Haarschnitt benötigte. Nein, es war dieser Ausdruck in seinem Gesicht, den ich in den fast zweiunddreißig Jahren, seit ich ihn kannte, noch nie bei ihm gesehen hatte.
»Und wie geht’s dir so?« Ich saugte an den Zinken meiner Gabel.
Sein Handy vibrierte in seiner Hosentasche und sandte einen grünen Schimmer durch den Stoff. Er ignorierte es. »Ganz gut. Hab viel um die Ohren. Bei uns wird gerade eine Bilanzprüfung durchgeführt, darum geht es im Büro drunter und drüber. Alle laufen herum wie kopflose Hühner.«
»Nicht schon wieder.« Ich griff in seinen Behälter, fischte eine goldgelbe Kartoffelscheibe heraus, die sich unter dem Reisberg versteckte, und schob sie mir in den Mund. »Aber das erklärt eine Menge.«
»Was meinst du?« Er sah alarmiert aus.
»Du wirkst heute ein bisschen durch den Wind.«
»Es ist eine lästige Angelegenheit, aber was das betrifft, bin ich ein alter Hase. Wie läuft das Geschäft?«
»Tatsächlich wollte ich deine Meinung zu einem Kunden einholen.« Ich hatte gerade dazu angesetzt, ihm Details zu nennen, als sein Handy sich ein weiteres Mal meldete. Ich richtete den Blick auf den Brunnen in der Mitte des Gartens, um meinem Dad wortlos mitzuteilen, dass er den Anruf gern annehmen könne.
Stattdessen kramte er eine Serviette aus der Tüte und tupfte sich damit die Stirn ab. Feuchte, wölkchenförmige Flecken erschienen auf dem Papier. Wieso schwitzte er wie verrückt, wo die Temperatur noch nicht mal zwei Grad betrug?
»Wie geht es eigentlich Jillian?« Seine Stimme war eine Oktave höher gerutscht. Ein unheilvoller Schauder kroch mir über den Rücken, es war, als hätte sich ein feiner, kaum sichtbarer Riss in einer Mauer aufgetan. »Du sagtest, ihre Großmutter habe sich vergangene Woche einer Hüftoperation unterziehen müssen, darum habe ich meine Sekretärin gebeten, ihr Blumen zu schicken.«
Natürlich hatte er daran gedacht. Dad war eine Konstante, auf die ich vertrauen konnte. Während meine Mutter von der eher unzuverlässigen Sorte war – immer die Letzte, die mitbekam, was ich gerade durchmachte, blind gegenüber meinen Gefühlen und in den Schlüsselmomenten meines Lebens durch Abwesenheit glänzend –, vergaß mein Dad nie einen Geburtstag, nie das Datum einer Abschlussfeier oder was ich zu den Bar Mitzwas meiner Freundinnen angehabt hatte. Er hatte mir in Zickenkriegen beigestanden, bei diversen Trennungen und auch während der Gründung meiner Firma, indem er akribisch das Kleingedruckte mit mir durchging. Er war mir Mutter, Vater, Bruder und Kamerad zugleich. Ein Anker in den stürmischen Wogen des Lebens.
»Großmutter Joy ist auf dem Weg der Besserung.« Ich reichte ihm meine Serviette und musterte ihn neugierig. »Sie scheucht Jillians Mom schon jetzt wieder herum. Hör mal, bist du –«
Sein Handy brummte zum dritten Mal in einer Minute.
»Du solltest rangehen.«
»Nein, nein.« Er ließ den Blick umherschweifen, war auf einmal kreidebleich.
»Wer immer dich da zu erreichen versucht, wird nicht einfach aufgeben.«
»Wirklich, Ari, ich möchte viel lieber von deiner Woche hören.«
»Sie war gut, ereignisreich und liegt hinter mir. Jetzt geh schon ran.« Ich deutete in Richtung dessen, was offenbar der Grund für sein eigenartiges Benehmen war.
Mit einem schweren, resignierten Seufzer holte er das Handy endlich heraus und drückte es sich so fest aufs Ohr, dass alles Blut daraus wich.
»Hier Conrad Roth. Ja. Ja.« Er verstummte, seine Augen flackerten wild. Sein Essensbehälter glitt ihm aus den Fingern. Ich versuchte vergeblich, ihn noch rechtzeitig aufzufangen, aber das Biryani verteilte sich auf den antiken Steinen. »Ja. Ich weiß. Danke. Natürlich werde ich anwaltlich vertreten. Nein, ich gebe keinen Kommentar dazu ab.«
Anwaltlich vertreten? Ein Kommentar? Wegen einer Prüfung?
Touristen flanierten durch die Arkaden, fotografierten in Hockstellung den Garten. Eine Gruppe Kinder wirbelte um die Säulen herum, ihr Gelächter hell wie Kirchengeläut. Ich erhob mich und wischte die Schweinerei auf, die mein Vater auf dem Boden angerichtet hatte.
Es ist alles okay, sagte ich mir. Keine Firma lässt sich gern prüfen. Und ein Hedgefonds-Unternehmen schon dreimal nicht.
Aber ich glaubte selbst nicht recht an das, was ich mir da einzureden versuchte. Hierbei ging es nicht um seinen Job. Mein Vater hatte keine schlaflosen Nächte wegen seiner Arbeit, geschweige denn, dass er die Nerven verlor.
Er beendete das Telefonat. Unsere Blicke trafen sich.
Mir schwante Böses, noch ehe er einen Ton sagte. In wenigen Minuten würde ich unaufhaltsam in die Tiefe stürzen. Nichts konnte mich davor bewahren. Diese Sache war größer als ich. Größer sogar als er.
»Ari, da ist etwas, das du wissen solltest …«
Ich schloss die Augen und holte scharf Luft, wie um mich auf einen Sprung ins kalte Wasser vorzubereiten.
Nichts würde je wieder so sein wie zuvor.
Heute
Prinzipien. Davon hatte ich nur sehr wenige.
Tatsächlich waren es gerade mal eine Handvoll, und eigentlich würde ich sie noch nicht mal Prinzipien nennen. Präferenzen, beziehungsweise besondere Vorlieben traf es wohl eher.
Hierzu zählte zum Beispiel meine Weigerung, mich in meiner Funktion als Jurist mit Eigentums- und Vertragsrechtsstreitigkeiten zu befassen. Nicht, weil ich aus ethischen oder moralischen Grundsätzen Vorbehalte dagegen gehabt hätte, eine der gegnerischen Parteien zu vertreten, sondern weil ich das Thema einfach stinklangweilig fand und meiner kostbaren Zeit nicht würdig. Schadensersatzrecht war meine Spezialität. Ich mochte es schmutzig, emotional und destruktiv. Hatte die Sache dazu noch einen schlüpfrigen Beigeschmack, war das für mich die Krönung.
Außerdem zog ich es vor, mich mit meinen beiden besten Freunden, Arsène und Riggs, im Brewtherhood ein Stück die Straße runter bis an den Rand der Besinnungslosigkeit zu betrinken, anstatt lächelnd und nickend zuzuhören, während mein zwielichtiger Mandant eine weitere dröge Geschichte über die Tee-Ball-Künste seines Sprösslings zum Besten gab.
Ebenso gehörte es zu meinen Präferenzen – Prinzipien wäre zu viel gesagt –, Mr Nicht-ganz-Lupenrein alias Myles Emerson nicht zum Essen auszuführen. Allerdings war der Kerl im Begriff, sich gegenüber Cromwell & Traurig, der Kanzlei, für die ich arbeitete, zu einer stattlichen Honorarpauschale zu verpflichten. So kam es, dass ich an diesem Freitagabend mit einem schmierigen Grinsen im Gesicht meine Firmenkreditkarte in die Rechnungsmappe aus schwarzem Leder schob, nachdem ich Mr Emerson Törtchen von der Gänseleber, Tagliolini mit schwarzem Trüffel und eine Flasche Wein spendiert hatte, für deren Preis er seinen Sohn vier Jahre an eine Eliteschule hätte schicken können.
»Ich muss schon sagen, Leute, ich hab ein echt gutes Gefühl bei dieser Sache.« Mr Emerson rülpste und tätschelte seinen ansehnlichen Wanst. Optisch erinnerte er verblüffend an einen aufgedunsenen Jeff Daniels. Es freute mich, ihn positiv gestimmt zu wissen, immerhin konnte ich es nicht erwarten, ihm ab kommendem Monat alle vier Wochen mein Honorar in Rechnung zu stellen. Er war Eigentümer einer bedeutenden Gebäudereinigungsfirma, die hauptsächlich große Unternehmen zu ihren Kunden zählte, und gerade mit vier Schadensersatzklagen konfrontiert, allesamt wegen Vertragsbruchs. Er brauchte nicht nur juristischen Beistand, sondern außerdem einen Knebel, damit er seine vorlaute Klappe hielt. Emerson hatte in den letzten paar Monaten so viel Kohle abgedrückt, dass ich auf die Idee gekommen war, ihm eine Pauschale anzubieten. Die Ironie an der Sache blieb mir nicht verborgen: Dieser im Reinigungswesen tätige Mann hatte mich engagiert, damit ich seinen Dreck wegputzte. Nur dass ich im Gegensatz zu seinen Angestellten einen astronomisch hohen Stundensatz berechnete und nicht vorhatte, mich um mein Geld bescheißen zu lassen.
Es kam mir nicht mal in den Sinn, seine Verteidigung abzulehnen, so erbärmlich die Fälle auch sein mochten. Die offensichtliche Parallele im Hinblick auf die bedauernswerten Reinigungskräfte, von denen einige für weniger als den Mindestlohn und mit gefälschten Papieren arbeiteten, kratzte mich nicht.
»Wir sind dazu da, die Dinge für Sie einfacher zu machen.« Ich stand auf, um Emerson die Hand zu schütteln, und knöpfte mein Sakko zu. Er nickte Ryan und Deacon, den Partnern in der Kanzlei Cromwell & Traurig, zu, dann steuerte er zum Ausgang des Restaurants, wobei er es nicht unterlassen konnte, zwei der Kellnerinnen auf den Hintern zu glotzen.
Mit diesem Schwachkopf würde mir die Arbeit so bald nicht ausgehen. Zum Glück war ich von einem glühenden Ehrgeiz beseelt, was meinen Aufstieg in der Kanzlei betraf.
Ich setzte mich wieder und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück.
»Und jetzt zum eigentlichen Grund, warum wir alle uns hier versammelt haben.« Ich ließ den Blick von einem zum anderen wandern. »Ich spreche von meiner bevorstehenden Ernennung zum Partner.«
»Wie bitte?« Deacon Cromwell, ein nach Amerika ausgewanderter ehemaliger Oxford-Student, der die Kanzlei vor vierzig Jahren gegründet hatte und noch älter war als die Bibel, zog die buschigen Brauen zusammen.
»Christian glaubt, sich ein Eckbüro und ein Namensschild an der Tür verdient zu haben, nachdem er so viel Zeit und Mühe investiert hat«, klärte Ryan Traurig seinen betagten Partner auf. Er war Leiter der Prozessabteilung und ließ sich im Gegensatz zu Deacon gelegentlich sogar mal in der Kanzlei blicken.
»Denkst du nicht, wir hätten dieses Thema im Vorfeld besprechen sollen?«
»Wir besprechen es doch jetzt.« Traurig lächelte milde.
»Ich meinte, unter vier Augen«, stieß Cromwell hervor.
»Vertraulichkeit wird zu viel Wert beigemessen.« Ich trank einen Schluck Wein und wünschte, es wäre Scotch. »Wachen Sie auf, und sehen Sie den Tatsachen ins Auge, Deacon. Ich bin seit drei Jahren Senior Associate und berechne dasselbe Honorar wie ein Partner. Meine jährlichen Beurteilungen sind tipptopp, und ich ziehe die dicken Fische an Land. Ihr lasst mich schon zu lange zappeln. Ich möchte wissen, wo ich stehe. Mit Ehrlichkeit fährt man immer am besten.«
»Und das aus dem Mund eines Anwalts.« Cromwell warf mir einen vielsagenden Seitenblick zu. »Aber wenn wir schon ganz offen sprechen, darf ich Sie daran erinnern, dass Ihr Examen gerade mal sieben Jahre zurückliegt und Sie im Anschluss zwei Jahre lang für die Staatsanwaltschaft tätig waren? Es ist ja nicht so, als würden wir Sie einer Chance berauben. In unserer Kanzlei sind neun Jahre Voraussetzung für eine Partnerschaft. Zeitlich gesehen haben Sie Ihr Soll noch nicht erfüllt.«
»Zeitlich gesehen macht die Kanzlei dreihundert Prozent mehr Umsatz, seit ich eingestiegen bin«, konterte ich. »Scheiß auf die neun Jahre. Machen Sie mich zum Gesellschafter – und zum Namenspartner.«
»Sie sind ein Gierschlund in Reinkultur.« Er gab sich ungerührt, aber auf seiner Stirn zeigte sich ein leichter Schweißfilm. »Wie können Sie nachts noch ruhig schlafen?«
Ich ließ den Wein in meinem Glas kreisen, wie ein preisgekrönter Sommelier es mir vor zehn Jahren beigebracht hatte. Und ja, ich spielte außerdem Golf, nutzte zeitweise die firmeneigene Ferienwohnung in Miami und beteiligte mich in Herrenclubs an öden politischen Diskussionen.
»Normalerweise, indem ich mir eine langbeinige Blondine ins Bett hole.« Das war gelogen, aber ich wusste, bei einem Schwein wie ihm würde der Spruch gut ankommen.
Er quittierte ihn mit einem gackernden Lachen, wie von einem Gimpel seines Kalibers nicht anders zu erwarten. »Klugscheißer. Irgendwann bricht Ihnen Ihr Ehrgeiz noch das Genick.«
Was diesen Punkt betraf, variierte Cromwells Sicht auf die Dinge. Bei Junior Associates, die jede Woche sechzig abrechenbare Stunden meisterten, galt Ehrgeiz als eine großartige Sache. In meinem Fall hingegen war er ein einziges Ärgernis.
»Das sehe ich anders, Sir. Und jetzt hätte ich gern eine Antwort.«
»Christian.« Traurig flehte mich mit einem Lächeln an, endlich still zu sein. »Geben Sie uns fünf Minuten. Wir treffen uns anschließend draußen.«
Es gefiel mir nicht, vor die Tür beordert zu werden, während sie sich über mich berieten. Tief im Innern war ich immer noch Nicky aus Hunts Point. Aber dieser Junge musste sich den Standards der feinen Gesellschaft anpassen. Männer von Welt neigten nicht dazu, herumzubrüllen und Tische umzuwerfen. Ich musste dieselbe Sprache sprechen wie sie. Leise Worte, scharfe Klingen.
Ich schob meinen Stuhl zurück und warf mir meinen Givenchy-Mantel über. »Ganz wie Sie wollen. Ich werde die Zeit nutzen, um diese neue Zigarre von Davidoff zu probieren.«
Traurigs Augen leuchteten auf. »Etwa eine Winston Churchill?«
»Limitierte Auflage.« Ich zwinkerte ihm zu. Obwohl der Mistkerl sechsmal so viel verdiente wie ich, schnorrte er mich in einer Tour um eine Zigarre oder einen Drink an.
»Sieh an, sieh an. Hätten Sie vielleicht auch eine für mich?«
»Sicher doch.«
»Wir sehen uns gleich.«
»Nicht, falls ich Sie zuerst sehe.«
Ich stand schmauchend auf dem Gehsteig und beobachtete, wie die Ampeln zwischen Rot und Grün wechselten und Fußgänger in dichten Strömen gleich Fischschwärmen die Kreuzung überquerten. Die Bäume am Straßenrand waren kahl, abgesehen von den matt schimmernden weihnachtlichen Lichterketten, die noch darauf warteten, abgehängt zu werden.
Mein Handy meldete sich mit einem Pling. Ich zog es aus der Tasche.
Arsène: Kommst du? Riggs reist morgen früh ab, und er baggert gerade eine Braut an, der man dringend die Windel wechseln müsste.
Das konnte entweder bedeuten, dass sie zu jung war oder Gesäßimplantate hatte. Wahrscheinlich traf beides zu. Ich klemmte die Zigarre in meinen Mundwinkel und tippte eine Antwort.
Ich: Sag ihm, er soll seine Hose zulassen. Bin schon auf dem Weg.
Arsène: Spielen Daddy und Daddy Pingpong mit dir?
Ich: Nicht jeder von uns wurde mit einem zweihundert Millionen Dollar schweren Treuhandfonds geboren, Baby.
Ich steckte das Handy wieder ein.
Jemand versetzte mir einen kameradschaftlichen Klaps auf die Schulter. Ich drehte mich um und fand mich Traurig und Cromwell gegenüber. Letzterer umklammerte seinen Gehstock und zog dabei ein schmerzerfülltes Gesicht, als würde er von fürchterlichen Hämorrhoiden geplagt. Traurigs schmales, listiges Grinsen gab wenig preis.
»Sheila liegt mir ständig damit in den Ohren, dass ich mich mehr bewegen soll. Ich denke, ich werde nach Hause laufen. Ach, und Glückwunsch, Christian, dass Sie es geschafft haben, uns Emerson einzufangen. Wir sehen uns nächsten Freitag bei unserem wöchentlichen Meeting. Meine Herren.« Cromwell nickte knapp, setzte sich in Bewegung und war kurz darauf zwischen den Menschen und den aus Gullylöchern emporsteigenden weißen Dampfschwaden verschwunden.
Ich reichte Traurig eine Zigarre. Er nahm ein paar Züge, dabei klopfte er mit den Händen seine Taschen ab, als suchte er etwas. Vielleicht seine längst verlorene Würde.
»Deacon glaubt, dass Sie noch nicht so weit sind.«
»Das ist kompletter Schwachsinn.« Ich grub die Zähne in meine Davidoff. »Meine Bilanz ist makellos. Ich arbeite achtzig Stunden pro Woche und habe ein Auge auf jede große Streitsache, obwohl das eigentlich Ihre Aufgabe wäre. Im Übrigen steht mir genau wie den Partnern bei jedem meiner Fälle ein Junior Associate zur Seite. Wenn ich jetzt gehe, nehme ich ein Portfolio mit, das zu verlieren ihr euch nicht erlauben könnt. Das wissen Sie so gut wie ich.«
Vollpartner zu werden und meinen Namen auf der Kanzleitür zu lesen, wäre der Höhepunkt meines Lebens. Ein gewaltiger Sprung, aber ich hatte ihn mir redlich verdient. Die anderen angestellten Anwälte arbeiteten weit weniger als ich, sie zogen weder eine vergleichbare Klientel an Land, noch erzielten sie meine Ergebnisse. Außerdem war ich als frischgebackener Millionär auf der Suche nach dem nächsten Nervenkitzel. Es hatte etwas schrecklich Lähmendes, Monat für Monat meinen dicken Gehaltsscheck in Empfang zu nehmen und dabei zu wissen, dass die Erfüllung all meiner Träume zum Greifen nahe war. Die Ernennung zum Partner war mehr als eine Herausforderung; auf diese Weise könnte ich der Stadt, die sich von mir losgesagt hatte, als ich vierzehn war, den Mittelfinger zeigen.
»Na, na, kein Grund, patzig zu werden, mein Junge.« Traurig lachte verhalten. »Cromwell ist der Idee gegenüber durchaus aufgeschlossen.«
Mein Junge. Er tat gern so, als wäre ich noch ein Grünschnabel ohne Eier in der Hose.
»Aufgeschlossen?« Ich schnaubte verächtlich. »Er sollte mich anflehen zu bleiben und mir die Hälfte seines Imperiums anbieten.«
»Genau das ist die Krux an der Sache.« Traurig deutete mit einer theatralischen Handbewegung auf mich, als würde er ein Ausstellungsstück präsentieren. »Cromwell findet, dass Sie zu schnell zu bequem geworden sind. Sie sind erst zweiunddreißig, Christian, und haben nun schon seit mehreren Jahren keinen Gerichtssaal mehr von innen gesehen. Sie leisten Ihren Mandanten gute Dienste und genießen einen ausgezeichneten Ruf, aber Sie bieten nicht mehr alle Kräfte auf. Sechsundneunzig Prozent Ihrer Fälle werden außergerichtlich beigelegt, weil niemand sich mit Ihnen messen möchte. Cromwell will Sie hungrig und im Kampfmodus erleben. Ihm fehlt dieses Feuer in Ihren Augen, das ihn seinerzeit dazu veranlasst hat, Sie dem Staatsanwalt auszuspannen, als Sie und der Gouverneur im Clinch lagen.«
In meinem zweiten Jahr bei der Staatsanwaltschaft war ein riesiger Fall auf meinem Tisch gelandet. Es war dasselbe Jahr, in dem Theodore Montgomery, der damalige Bezirksstaatsanwalt von Manhattan, eins aufs Dach bekam, weil er aufgrund seines überwältigenden Arbeitspensums in einigen Fällen die Verjährungsfrist verstreichen ließ. Montgomery lud besagten Fall bei mir ab und bat mich, mein Bestes zu geben. Er wollte keinen weiteren Aufschrei der Empörung provozieren, hatte aus Personalmangel jedoch niemanden sonst, der ihn hätte bearbeiten können.
Der Fall wurde zum Gesprächsthema Nummer eins in Manhattan. Während meine Vorgesetzten Jagd auf Wirtschaftskriminelle und Bankbetrüger machten, war ich hinter einem Drogenboss her, der auf dem Weg zur exklusiven Geburtstagsparty seiner sechzehnjährigen Tochter einen dreijährigen Jungen totgefahren und Fahrerflucht begangen hatte. Fraglicher Drogenbaron, ein gewisser Denny Romano, hatte eine ganze Armada von Topanwälten hinter sich, wohingegen ich in meinem Anzug von der Heilsarmee und mit einer Ledertasche vor Gericht erschien, die dabei war, sich in ihre Einzelteile aufzulösen. Alle drückten dem Jungspund von der Staatsanwaltschaft die Daumen, dass er es schaffte, den großen, bösen Paten an die Wand zu nageln. Am Ende wurde Romano wegen fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Es war ein kleiner Sieg für die Familie des armen Jungen und ein gigantischer Triumph für mich.
Ich hatte gerade meinen Harvard-Abschluss in der Tasche gehabt, als Deacon Cromwell mich in einem Friseursalon aufspürte. Mein Plan sah eigentlich vor, mir einen Namen bei der Staatsanwaltschaft zu machen, doch er legte mir ans Herz, mich bei ihm zu melden, falls ich wissen wollte, wie es auf der anderen Seite des Zauns zuging. Nach dem Romano-Fall hatte ich nichts dergleichen tun müssen – Cromwell hatte mich von sich aus erneut kontaktiert.
»Er möchte mich wieder im Gerichtssaal sehen?« Ich spie die Worte förmlich aus. Einen Prozess zu gewinnen, war eine großartige Sache, andererseits war ich dafür bekannt, dass ich am Verhandlungstisch keine Gefangenen machte und mehr herausholte, als ich meinen Mandanten versprochen hatte. Wenn ein Fall dann doch vor Gericht landete, führte ich die gegnerische Partei nach allen Regeln der Kunst vor. Niemand wollte mit mir zu tun haben. Nicht die Spitzenanwälte, die satte zwei Riesen pro Stunde kassierten, nur um am Ende gegen mich zu verlieren, und auch nicht meine früheren Kollegen von der Staatsanwaltschaft, die nicht über die Mittel verfügten, um sich mit mir zu duellieren.
»Er will, dass Sie sich reinhängen.« Traurig rollte nachdenklich seine Zigarre zwischen den Fingern. »Gewinnen Sie einen Fall von breitem öffentlichem Interesse, einen, den Sie nicht durch einen vorteilhaften Deal in einem vollklimatisierten Konferenzraum zum Abschluss bringen können. Lassen Sie sich vor Gericht blicken, und der Alte macht Sie fraglos im Handumdrehen zum Partner.«
»Ich arbeite auch so schon für zwei«, erinnerte ich ihn. Es war die Wahrheit; ich schuftete wie ein Pferd.
Traurig zuckte mit den Achseln. »Ihre Entscheidung, mein Junge. Wir haben Sie im Schwitzkasten.«
Würde ich die Firma zum jetzigen Zeitpunkt verlassen, wo ich nur noch einen Atemzug davon entfernt war, Partner zu werden, könnte das meine Karriere um Jahre zurückwerfen, was dieser Schweinehund ganz genau wusste. Somit blieb mir nichts anderes übrig, als die Kröte entweder zu schlucken oder mein Glück bei einer kleineren, weniger renommierten Kanzlei zu versuchen.
Es war zwar nicht das Ergebnis, das ich mir von diesem Abend erhofft hatte, aber trotzdem besser als nichts. Abgesehen davon hatte ich keinen Zweifel an meinen Fähigkeiten. Wenn ich den richtigen Fall herauspickte und mir der Terminplan des Gerichts in die Karten spielte, könnte ich in wenigen Wochen Partner sein.
»Betrachten Sie es als erledigt.«
Traurig lachte auf. »Der arme Gegenanwalt, der dafür herhalten muss, dass Sie Ihr juristisches Können unter Beweis stellen, tut mir jetzt schon leid.«
Ich ließ ihn stehen und steuerte die Bar auf der anderen Straßenseite an, wo Arsène (ausgesprochen Aarsänn, so wie der fiktive Meisterdieb Lupin) und Riggs auf mich warteten.
Ich hatte keine Prinzipien.
Und wenn es um die Dinge ging, die ich mir vom Leben erhoffte, kannte ich außerdem auch keine Skrupel.
Das The Brewtherhood war unser Stammlokal in SoHo. Es lag nur einen Steinwurf von Arsènes Penthouse entfernt, wo Riggs sich einquartierte, wenn er in der Stadt war und nicht bei mir übernachtete. Wir mochten das Brewtherhood wegen seiner großen Auswahl an ausländischem Lagerbier, der nicht vorhandenen Cocktailkarte und seinem schnörkellosen, Touristen abschreckenden Charme. Vor allem aber bestach die kleine, stickige Kellerkneipe durch ein gewisses Außenseiterflair, das uns an unsere von Blumen der Nacht geprägte Jugend erinnerte.
Ich entdeckte Arsène auf den ersten Blick. Mein Kumpel stach heraus wie eine düstere Gestalt auf einer Karnevalsveranstaltung. Er hockte auf einem Barschemel und nuckelte an einer Flasche Asahi. Arsène bevorzugte Bier, das seiner Persönlichkeit entsprach – herb, mit einem ausländischen Touch –, und kleidete sich stets in den feinsten Savile-Row-Zwirn, obwohl er eigentlich gar kein Bürohengst war. Wenn ich es mir recht überlegte, ging er tatsächlich überhaupt keiner festen Tätigkeit nach. Er war ein Unternehmer, der gerne immer seine Finger im Spiel hatte, wenn es sich um lukrative Geschäfte handelte. Zurzeit mischte er bei mehreren Hedgefonds-Unternehmen mit, die freiwillig auf ihre zweiundzwanzig Prozent Performancegebühr verzichteten, nur um in den Genuss einer Zusammenarbeit mit Arsène Corbin zu kommen. Fusionsarbitrage und Convertible Arbitrage waren seine Spielwiesen.
Ich zwängte mich an einem Grüppchen beschwipster Frauen vorbei, die tanzend Cotton Eyed Joe sangen, wobei sie den Text komplett verhunzten, und lehnte mich gegen die Bar.
»Du bist spät dran«, sagte Arsène gedehnt und ohne den Blick von dem Taschenbuch zu nehmen, das vor ihm auf dem klebrigen Tresen lag.
»Und du ein Arsch.«
»Danke für die psychologische Einschätzung. Du bist nicht nur spät dran, sondern außerdem ungehobelt.« Er schob eine Flasche Peroni vor mich hin. Ich stieß mit ihm an und trank einen Schluck.
»Wo steckt Riggs?« Ich musste fast brüllen, um die Musik zu übertönen. Arsène wies mit dem Kinn nach links, und ich folgte der Bewegung mit den Augen. Mein Blick erfasste Riggs, der, eine Hand gegen die mit ausgestopften Tieren dekorierte Holzwand gestützt, den Hals einer Blondine mit den Lippen bestrich, während seine Finger vermutlich durch ihren Rock hindurch zwischen ihren Schenkeln zugange waren.
Jep. Arsène meinte definitiv ihre Hinternimplantate. Die Dinger sahen aus, als könnte sie mit ihnen bis nach Irland schwimmen.
Während Arsène und ich eher den Yuppie-Look pflegten, machte Riggs gern einen auf verlotterter Milliardär. Er war ein Hochstapler, ein Schlitzohr und ein Gesetzesbrecher. Ein Mann, für den Wahrheit so wenig zählte, dass es mich wunderte, warum er nicht Anwalt geworden war. Mit seinen strähnigen, flachsblonden Haaren, der sonnengebräunten Haut, dem Spitzbärtchen und den dreckigen Fingernägeln vermittelte er den klischeehaften Eindruck eines bösen Jungen aus dem Arme-Leute-Viertel. Er hatte ein schiefes Grinsen, Augen, die zugleich leer und unergründlich tief wirkten, und außerdem die ärgerliche Fähigkeit, mit seiner sexy Stimme über einfach jedes Thema, sein Stuhlgang inbegriffen, zu palavern.
Riggs war der Reichste von uns dreien. Trotzdem erweckte er nach außen den Anschein, als triebe er haltlos durchs Leben, unfähig, sich an irgendetwas zu binden, und sei es auch nur ein Mobilnetz.
»Und, wie war dein Meeting?« Arsène schlug sein Buch zu. Ich warf einen Blick auf den Titel.
Der Geist im Atom. Eine Diskussion über die Geheimnisse der Quantenphysik.
Arsènes Vorstellung von einem lustigen Abend.
Sein Problem bestand darin, dass er ein Genie war. Und wie wir alle wissen, fällt es einem Genie extrem schwer, sich mit Idioten zu befassen. Welche, auch das ist hinlänglich bekannt, neunundneunzig Prozent der zivilisierten Gesellschaft ausmachen.
Genau wie Riggs hatte ich Arsène auf der Andrew-Dexter-Jungenschule kennengelernt. Wir verstanden uns auf Anhieb. Doch während Riggs und ich uns neu erfunden hatten, schien Arsène beharrlich er selbst zu bleiben. Zynisch, grausam und leidenschaftslos.
»Es lief gut«, log ich.
»Dann bist du jetzt Cromwells und Traurigs neuer Partner?« Er musterte mich skeptisch.
»Noch nicht ganz, aber bald.« Ich pflanzte mich auf den Hocker neben ihm und gab Elise, der Barfrau, ein Handzeichen. Sie kam zu mir, und ich schob einen Hundert-Dollar-Schein über die Theke.
Sie zog eine Braue in die Höhe. »Das Trinkgeld hat’s ja mal in sich, Miller.«
Elises französischer Akzent war so weich wie der Rest von ihr.
»Der Auftrag, den ich für dich habe, auch. Ich möchte, dass du zu Riggs gehst und ihm wie in einem abgedroschenen Achtzigerjahre-Film einen Drink ins Gesicht schüttest. Tu so, als wärst du mit ihm verabredet und stinksauer, weil er dich wegen der Blondine da aufs Abstellgleis geschoben hat. Es gibt ’nen Hunni extra, wenn du es schaffst, ein paar echte Tränen zu verdrücken. Denkst du, du kriegst das hin?«
Elise rollte den Geldschein zusammen und steckte ihn in die hintere Tasche ihrer hautengen Jeans. »In New York als Barkeeperin zu arbeiten, ist gleichbedeutend damit, Schauspielerin zu sein. Ich habe drei Off-Off-Broadwayshows und zwei Tampon-Reklamen vorzuweisen. Natürlich kriege ich das hin.«
Eine Minute später roch Riggs’ Gesicht nach Wodka und Wassermelone, und Elise war um zweihundert Dollar reicher. Sie stauchte ihn gebührend zusammen, weil er sie habe warten lassen, und die Blondine stolzierte mit einem ärgerlichen Schnauben zurück zu ihren Freundinnen. Halb amüsiert, halb angepisst bahnte Riggs sich den Weg zur Bar.
»Wichser.« Er benutzte den Saum meines Sakkos, um sich das Gesicht abzuwischen.
»Sag mir etwas, das ich noch nicht weiß.«
»Penicillin hieß ursprünglich Schimmelsaft. Ich wette, das wusstest du nicht. Ging mir übrigens genauso, bis ich letzten Monat auf meinem Flug nach Simbabwe zufällig neben einer sehr netten Bakteriologin namens Mary landete.« Er schnappte sich mein Bier, leerte die Flasche in einem Zug und schnalzte mit der Zunge. »Spoileralarm: Im Bett stellte sich heraus, dass Mary keine Jungfrau war.«
»Du meinst auf der Toilette.« Arsène verzog angewidert das Gesicht.
Riggs lachte lauthals. »Jetzt tu mal bloß nicht so schockiert, Corbin.«
Das war noch so eine Sache in Bezug auf Riggs. Er war ein Nomade, der sich an anderer Leute Getränken vergriff, auf ihren Sofas pennte und wie ein armer Schlucker Economy flog. Er hatte keine Wurzeln, kein Zuhause, keine Verantwortung, die über seine Arbeit hinausging. Mit zweiundzwanzig hatte man ihm all das nachsehen können. Mit zweiunddreißig wurde es langsam zum Trauerspiel.
»Apropos Flugzeug. Wohin geht’s morgen?« Ich nahm ihm die leere Flasche weg, bevor er das verdammte Ding noch ableckte.
»Karakoram, Pakistan.«
»Sind dir in Amerika die Ziele ausgegangen?«
»Schon vor etwa sieben Jahren.« Er grinste unbekümmert.
Riggs arbeitete als freier Fotograf für den National Geographic und ein paar andere Magazine mit den Schwerpunkten Politik und Natur. Er hatte im Lauf der Jahre einen Haufen Preise gewonnen und die meisten Länder auf der Erde besucht. Ihm war alles recht, um dem zu entfliehen, was zu Hause auf ihn wartete – vielmehr nicht wartete.
»Wie lange wirst du uns mit deiner Abwesenheit beehren?«, erkundigte Arsène sich.
Riggs kippelte auf seinem Schemel zurück, sodass er auf zwei Beinen balancierte. »Einen Monat? Vielleicht auch zwei? Ich hoffe, im Anschluss noch einen Auftrag an Land zu ziehen und direkt weiterzufliegen. Womöglich nach Nepal. Oder nach Island. Wer weiß?«
Du jedenfalls nicht, so viel ist sicher, du unverbesserliches Riesenbaby.
»Christian hat Daddy und Daddy heute vergeblich um eine Beförderung gebeten«, klärte Arsène ihn mit monotoner Stimme auf. Ich griff mir sein japanisches Bier und schüttete es in einem Zug runter.
»Im Ernst?« Riggs klopfte mir auf die Schulter. »Vielleicht ist das ja ein Zeichen.«
»Dafür, dass ich meinen Job schlecht mache?«, hakte ich in liebenswürdigem Ton nach.
»Nein, sondern dafür, dass du kürzertreten und begreifen solltest, dass das Leben nicht nur aus Arbeit besteht. Du hast es geschafft. Es droht keine reale Gefahr, dass du je wieder arm sein könntest. Lös dich davon.«
Leichter gesagt als getan. Der mittellose Nicky würde immer in mir weiterleben, sich von zwei Tage altem Kasha ernähren und mich daran erinnern, dass Hunts Point nur ein paar Bushaltestellen und Fehlentscheidungen entfernt war.
Ich stieß Riggs den Ellbogen in die Rippen. Sein Barhocker kippte wieder nach vorn, Riggs lachte. »Es ist nicht so, als würde ich ihre Beweggründe nicht verstehen«, sagte ich, um den Sachverhalt richtigzustellen. »Sie wollen, dass ich einen prestigeträchtigen Fall übernehme und einen großen Sieg einfahre.«
Arsène bedachte mich mit einem sardonischen Lächeln. »Und ich dachte, so was passiert nur in Jennifer-Lopez-Filmen.«
»Cromwell hat sich diesen Scheiß einfallen lassen, um Zeit zu schinden. Nur macht es für mich keinen Unterschied, ob ich über eine weitere Hürde springen muss. Ich werde so oder so Partner.«
Ohne mich war Cromwell & Traurig nicht mehr als ein mit Rechtsdokumenten gefüllter Backsteinkasten auf der Madison Avenue. Nichtsdestotrotz genoss die Firma einen glänzenden Ruf, sie galt als Manhattans führende Anwaltskanzlei, und sie zugunsten einer Partnerschaft selbst in der zweitgrößten Kanzlei der Stadt zu verlassen, würde nicht nur für unbequeme Fragen, sondern auch für Stirnrunzeln sorgen.
»Zum Glück ist dieses Arme-Leute-Syndrom nicht ansteckend.« Riggs winkte abermals Elise heran und bestellte eine weitere Runde. »In deiner Haut zu stecken, muss echt anstrengend sein. Du bist wild entschlossen, die Welt zu erobern, selbst wenn du sie dafür in Schutt und Asche legen musst.«
»Niemand wird zu Schaden kommen, wenn ich kriege, was ich will.«
Mein Konter trug mir einhelliges Kopfschütteln und einen mitleidsvollen Blick von Riggs ein.
»Du bist exakt für diese Rolle geschaffen, Christian. Das ist der Grund, warum wir Freunde sind. Lass deinen Dämonen die Zügel schießen, und schau, wohin sie dich führen.« Riggs klopfte mir auf den Rücken. »Aber vergiss nicht, dass du erst jemanden vom Thron stoßen musst, bevor du nach der Krone greifen kannst.«
Ich lehnte mich auf meinem Barhocker zurück.
Köpfe würden rollen, das stand außer Frage. Allerdings würde meiner nicht darunter sein.
Heute
Meine Chance, zu beweisen, dass ich einer Partnerschaft würdig war, trudelte am darauffolgenden Montag wie ein mit einer roten Satinschleife verziertes Präsent bei mir ein, das nur darauf wartete, ausgepackt zu werden.
Es war ein Geschenk des Himmels. Wäre ich ein gläubiger Mensch, wozu ich absolut keine Veranlassung hatte, würde ich zur Fastenzeit auf etwas verzichten, um dem großen Wohltäter dort oben meine Dankbarkeit zu erweisen. Nicht auf etwas Elementares wie Sex oder Fleisch, schon eher auf meine Mitgliedschaft im Weinclub. Ich trank sowieso lieber Scotch.
»Hier ist eine Frau, die zu dir möchte«, verkündete Claire, eine Junior Associate der Kanzlei, nachdem sie an meine Bürotür geklopft hatte. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass sie einen dicken Aktenordner an ihre Brust drückte.
»Sehe ich aus wie jemand, der sich mit Laufkundschaft abgibt?«, fragte ich, ohne den Blick von den Unterlagen zu heben, die ich gerade durchging.
»Nein, darum wollte ich sie eigentlich wegschicken. Aber dann hat sie mir den Grund ihres Kommens genannt. Ich glaube, du tätest gut daran, deinen Hochmut runterzuschlucken und sie anzuhören.«
Anstatt aufzusehen, kritzelte ich weiterhin Notizen auf den Seitenrand des Dokuments.
»Lass hören«, bellte ich.
Claire nannte mir in aller Kürze die wichtigsten Fakten des Falls.
»Sie will gegen einen früheren Arbeitgeber Klage wegen sexueller Belästigung einreichen?« Ich warf meinen roten Filzstift, dem die Tinte ausgegangen war, in den Papierkorb und zog mit den Zähnen die Kappe von einem neuen ab. »Klingt nach einer Nullachtfünfzehn-Sache.«
»Es ist nicht irgendein Arbeitgeber.«
»Sondern der Präsident?«
»Nein.«
»Ein Richter vom Obersten Gerichtshof?«
»Äh, nein.«
»Der Papst?«
»Christian.« Sie kicherte heiser und machte eine kleine, kokette Bewegung mit der Hand.
»Dann ist der Fall nicht prestigeträchtig genug für mich.«
»Es geht um einen sehr einflussreichen Mann, der in den besten Kreisen New Yorks verkehrt. Er hat vor ein paar Jahren als Bürgermeister kandidiert und pflegt enge Kontakte zu sämtlichen Museen in Manhattan. Wir reden von einem richtig dicken Fisch.« Ich hob ein wenig den Kopf und sah, wie Claire sich mit dem Absatz ihres Stilettos die Wade kratzte. Sie versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen, trotzdem klang ihre Stimme leicht zittrig. Kein Wunder. Nichts törnte mich so sehr an wie das Wissen, dass ich drauf und dran war, einen saftigen Fall samt Hunderter verrechenbarer Stunden einzutüten und zu gewinnen. Es gab nur eines, das einen geborenen Killer wie mich mehr in Wallung versetzte als der Geruch nach Blut: der Geruch nach blauem Blut.
Ich riss den Blick von meinen Notizen los, legte den Stift weg und lehnte mich im Stuhl zurück. »Sagtest du, er hat sich um das Bürgermeisteramt beworben?«
Claire nickte.
»Wie weit ist er gekommen?«
»Ziemlich weit. Er wurde vom vormaligen Pressesprecher des Weißen Hauses, mehreren Senatoren und einigen New Yorker Amtsträgern unterstützt. Paradoxerweise machte er vier Monate vor den Wahlen aus familiären Gründen einen Rückzieher. Bis dahin stand ihm eine sehr hübsche, sehr junge, sehr ledige Wahlkampfleiterin zur Seite, die mittlerweile in einem anderen Bundesstaat lebt.«
Jetzt kamen wir der Sache schon näher.
»Ist die familiäre Begründung glaubwürdig?«
»Ist es glaubwürdig, dass der Weihnachtsmann Schornsteine hinunterrutscht und trotzdem die Heiterkeit in Person bleibt?« Claire legte den Kopf schief und zog eine Schnute.
Ich nahm abermals meinen Stift zur Hand und trommelte damit auf den Schreibtisch, während ich gründlich nachdachte. Ich hatte eine instinktive Ahnung, wer der Mann war, und mein Instinkt irrte nie. Was bedeutete, dass ich unbedingt die Finger von diesem Fall lassen sollte. Mir waren die Hauptakteure wohlbekannt, und den Beschuldigten hasste ich wie die Pest.
Nur entsprach das, was ich tun sollte, häufig nicht dem, was ich tun wollte.
Claire führte zig Gründe ins Feld, warum ich diesen Fall unbedingt übernehmen müsse, so als wäre ich irgendein drittklassiger Unfallmandat-Anwalt, bis ich sie schließlich mit einem Handzeichen zum Schweigen brachte.
»Erzähl mir von der Klägerin.«
Kurios, wie ich in jedem anderen Bereich des Lebens – Frauen, Ernährung, Sport, Ego – meine Impulse unter Kontrolle hatte, nur eben nicht da, wo eine ganz bestimmte Familie ins Spiel kam. Riggs täuschte sich. Nicht hinsichtlich der Dämonen, an denen mangelte es mir keineswegs. Allerdings wusste ich genau, wohin sie mich führen würden: zur Türschwelle dieses Mannes.
Eine sexy Röte überzog Claires Wangen, sie genoss es sichtlich, meinen Blick auf sich zu spüren, und ich merkte mir vor, es ihr heute Nacht nach allen Regeln der Kunst zu besorgen.
»Sie macht einen seriösen, vertrauenswürdigen, entgegenkommenden Eindruck. Mein Gefühl sagt mir, dass sie auf der Suche nach einem Spitzenanwalt ist. Es wird ein großes Verfahren werden.«
»Gib mir fünf Minuten.«
Claire wandte sich zur Tür, blieb dann noch einmal stehen. »Übrigens eröffnet heute Abend ein neues burmesisches Restaurant in SoHo …«
Sie ließ den restlichen Satz in der Luft hängen. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Claire. Wir machen unsere Beziehung nicht öffentlich.« So lautete unsere Abmachung.
Sie warf schmollend ihre Haare zurück. »Tja dann. Einen Versuch war’s wert.«
Zehn Minuten später lernte ich die Wirtschaftsprüferin Amanda Gispen kennen.
Claire hatte recht, Ms Gispen war das perfekte Opfer. Sollte dieser Fall vor Gericht landen, hätte sie gute Chancen, bei der Jury zu punkten. Die Frau mittleren Alters besaß eine angenehme Stimme, war gebildet, ohne herablassend rüberzukommen, attraktiv, wenngleich nicht sexy. Sie war von Kopf bis Fuß in St. John gekleidet, und ihre sorgsam gesträhnten Haare hatte sie zu einem Nackenknoten gebunden. Der Ausdruck in ihren braunen Augen drückte Intelligenz, aber keine Arglist aus.
Als ich den Konferenzraum betrat, in dem Claire sie platziert hatte, erhob sie sich, als wäre ich ein Richter, und neigte respektvoll den Kopf.
»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, Mr Miller. Es tut mir leid, dass ich unangemeldet hier auftauche.«
Das tat es keineswegs. Sie hätte sich um einen Termin bemühen können. Die Tatsache, dass sie bewusst darauf verzichtet hatte, offenbar davon überzeugt, von mir empfangen zu werden, weckte meine Neugier.
Ich streckte mich ihr gegenüber auf meinem Wegner-Drehstuhl aus, den ich mir zu Weihnachten gegönnt hatte. Mein Geld mit vollen Händen für Luxusgüter auszugeben, war eine Konstante in meinem Leben. Ich hatte keine Familie, die ich beschenken konnte. Eigentlich sollte dieser Stuhl in meinem Büro bleiben, aber von Zeit zu Zeit beförderte Claire, die es sehr genoss, sich Freiheiten herauszunehmen und unsichtbare Linien zu überschreiten, ihn in einen der Konferenzräume, als Indiz für unsere Freundschaft und Vertrautheit. Alle anderen wussten, dass ich ihnen derlei Mätzchen niemals durchgehen ließe.
»Warum ausgerechnet ich, Ms Gispen?«
»Bitte nennen Sie mich Amanda. Man sagt, Sie seien der Beste in der Branche.«
»Definieren Sie man.«
»Jeder Fachanwalt für Arbeitsrecht, den ich in den vergangenen zwei Wochen aufgesucht habe.«
»Ein gut gemeinter Rat, Amanda: Vertrauen Sie niemals einem Juristen, meine Wenigkeit eingeschlossen. Wen haben Sie engagiert?«
Ging es um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, empfahl ich meinen Mandanten stets, einen Spezialisten hinzuzuziehen, ehe wir Klage einreichten. Und ich wusste gern, mit wem ich Hand in Hand arbeiten würde. Anwälte gab es in dieser Stadt wie Sand am Meer, und die meisten waren in etwa so zuverlässig wie die New Yorker U-Bahn bei Schneefall.
»Tiffany D’Oralio.« Ihre Hände strichen nicht vorhandene Falten in ihrem Kostüm glatt.
Gar nicht übel. Und auch nicht für wenig Geld zu haben. Amanda Gispen meinte es definitiv ernst.
»Der Mann, der mir dieses Unrecht zugefügt hat, wird ohne jeden Zweifel eine ganze Armada von Staranwälten aufbieten, und Sie gelten als der unerbittlichste Vertreter Ihrer Zunft. Daher waren Sie meine erste Option.«
»Vielmehr Ihre erste Anlaufstelle. Und da wir uns nun offiziell kennengelernt haben, nehmen Sie vermutlich an, dass ich auf keinen Fall Ihren früheren Boss werde vertreten können.«
Ein zögerliches Lächeln. »Warum haben Sie mich empfangen, wenn Ihnen das bewusst war?«
Weil ich eher einen langsamen, qualvollen Tod sterben würde, als dieses verkommene Stück Scheiße zu verteidigen, hinter dem Sie her sind.
Ich musterte eingehend ihr Gesicht und kam zu dem Schluss, dass die Frau mir Respekt abnötigte. Amanda Gispen bewies Courage und Durchsetzungsstärke, eine Sprache, die ich verstand. Hinzu kam, dass, sollte mein Verdacht sich bestätigen, wir einen gemeinsamen Feind hatten, den es zu besiegen galt, was uns automatisch zu Verbündeten und besten Freunden machte.
»Weiß Ihr ehemaliger Arbeitgeber, dass Sie gerichtlich gegen ihn vorgehen wollen?« Ich griff nach dem Stressball, den ich im Konferenzraum bereithielt, und knetete ihn in meiner Hand.
»Ja.«
Schade. Ohne das Überraschungselement wäre es nur der halbe Spaß.
»Führen Sie das bitte näher aus.«
»Der Vorfall, um den es geht, spielte sich vor zwei Wochen ab, doch es gab schon früher erste Warnsignale.«
»Was ist passiert?«
»Ich habe ihm meinen Drink ins Gesicht geschüttet, als er mich auf dem Rückflug von einem Geschäftstreffen in Fairbanks in seinem Privatjet zu einer Partie Strip-Poker aufforderte. Er packte mich bei den Armen und küsste mich gegen meinen Willen. Ich taumelte nach hinten und stieß mir den Rücken an. Er kam wieder auf mich zu, ich hob abwehrend die Hand, bereit, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, als die Flugbegleiterin mit Erfrischungen hereinplatzte. Sie erkundigte sich mit betont lauter Stimme, ob wir sonst noch einen Wunsch hätten. Ich denke, sie wusste Bescheid. So wie wir gelandet waren, kündigte er mir. Er sagte, ich sei keine Teamspielerin, und beschuldigte mich, ihm zweideutige Signale gesendet zu haben. Und das, nachdem ich fünfundzwanzig Jahre für ihn tätig gewesen war. Ich drohte ihm, dass ich ihn verklagen würde. Bedauerlicherweise ist er dadurch vorgewarnt.«
»Es tut mir leid, dass Sie das durchmachen mussten.« Das war die reine Wahrheit. »Und jetzt erzählen Sie mir von den ersten Warnsignalen, die Sie vorhin erwähnten.«
Amanda atmete hörbar ein. »Eine Mitarbeiterin erzählte mir, dass er ihr ein Foto von seinem … seinem … Ding geschickt habe.« Sie schüttelte sich. »Und ich glaube nicht, dass sie die Einzige war. Sie müssen wissen, in dieser Firma herrscht eine sehr spezielle Atmosphäre. Die Männer dürfen sich praktisch alles erlauben, und die Frauen müssen es stillschweigend hinnehmen.«
Mein Kiefer spannte sich an. Ihr Angreifer war bestimmt schon jetzt von Anwälten umringt. Tatsächlich würde es mich nicht wundern, wenn sie planten, einen Antrag einzureichen, um die Klage aus verfahrenstechnischen Gründen abweisen zu lassen. Andererseits hatten Hedgefonds-Manager seines Kalibers meiner Erfahrung nach ein Interesse daran, sich außergerichtlich zu einigen. Auch die Opfer legten normalerweise keinen gesteigerten Wert darauf, in einem Raum voller Fremder von ihren schmerzlichen und demütigenden Erlebnissen zu berichten, nur um anschließend von der Gegenseite verhackstückt zu werden. Das Problem war, dass ich keinen Vergleich anstrebte. Falls ich richtiglag, was die Identität des Täters betraf, wollte ich vor aller Augen Frikassee aus ihm machen.
Gleichwohl würde ich ihn als Mittel zum Zweck benutzen, da am Ende meines großartigen Sieges über ihn die Partnerschaft auf mich wartete.
»Haben Sie sich das Ganze auch gut überlegt?« Ich rollte den Stressball über meine Handfläche.
Amanda nickte. »Er ist schon mit zu vielem ungestraft davongekommen, hat zu vielen Frauen Leid zugefügt. Frauen, die im Gegensatz zu mir nicht in der Lage waren, gegen ihn vorzugehen. Ihnen wurde viel Schlimmeres angetan als mir, und ich bin bereit, dem ein Ende zu machen.«
»Was erhoffen Sie sich von dieser Sache? Geld oder Gerechtigkeit?« In der Regel ermunterte ich meine Klienten, sich für Ersteres zu entscheiden. Nicht nur, weil Gerechtigkeit ein schwer definierbares, subjektives Ziel darstellte, sondern auch, weil es, anders als im Fall einer Entschädigung, keine Garantie dafür gab, dass sie einem gewährt wurde.
Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. »Wie wäre es mit beidem?«
»Das eine muss das andere nicht zwingend ausschließen. Aber wenn Sie einem Vergleich zustimmen, wird er die Sache schadlos überstehen und weiterhin Frauen belästigen.«
Randnotiz: Aus mir sprachen nicht nur die blutrünstige Bestie, die in mir hauste, und der vierzehnjährige Nicky, sondern auch der Mann, der schon genügend Opfer sexueller Gewalt getroffen hatte, um das Verhaltensmuster eines Triebtäters auf Anhieb zu erkennen.
»Und wenn ich es auf einen Prozess ankommen lasse?« Sie blinzelte nervös, hatte sichtlich Mühe, das alles zu verdauen.
»Gehen Sie womöglich als Siegerin hervor … vielleicht aber auch nicht. Doch selbst wenn wir verlieren, wovon ich – ohne Versprechungen zu machen – nicht ausgehe, wird er anschließend hoffentlich vorsichtiger sein und es schwerer haben, mit seinem übergriffigen Verhalten davonzukommen.«
»Was, wenn ich mich für eine außergerichtliche Einigung entscheide?« Sie nagte an ihrer Unterlippe.
»Dann kann ich den Fall nicht guten Gewissens übernehmen.«
Die Worte kamen von Nicky. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit diesem Schwein in einem klimatisierten Raum Zahlen und bedeutungslose Klauseln durchzugehen und dabei zu wissen, dass er weitere Schandtaten begehen würde, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ich beugte mich vor.
»Darum frage ich Sie noch einmal, Ms Gispen. Geld oder Gerechtigkeit?«
Sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, standen Gewitterwolken darin.
»Gerechtigkeit.«
Meine Finger knautschten den Ball fester, Adrenalin rauschte in meinem Blut.
»Es wird ein harter Kampf. Sie werden gezwungen sein, Ihre Komfortzone zu verlassen, und damit meine ich vollständig. Mal angenommen, es gelingt uns, den unvermeidlichen Antrag auf Klageabweisung abzuschmettern, beginnt anschließend die Ermittlungsphase. Die Gegenseite wird während dieser Phase schriftliche Beweisfragen und Anträge auf Offenlegung einreichen, mit dem einzigen Ziel, Sie zu diffamieren und Ihren Namen auf jede erdenkliche Weise durch den Schmutz zu ziehen. Es wird eidesstattliche Aussagen und Parteivernehmungen geben, und sobald all das vorbei ist, wird Ihr früherer Boss zweifelsohne einen Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren stellen, in der Hoffnung, dass die Klage vor Prozessbeginn abgewiesen wird. Es wird eine schmerzhafte, voraussichtlich langwierige und psychisch überaus belastende Prozedur werden. Wenn das hinter Ihnen liegt, wird sich Ihr Blick auf die menschliche Spezies als solche grundlegend verändert haben.«
Ich kam mir vor wie ein Student, der eifrig darum besorgt war, an alles zu denken, bevor er mit einem Mädchen ins Bett stieg. War sie nüchtern genug? Willig genug? Körperlich gesund? Es war wichtig, unsere Erwartungen im Vorfeld aufeinander abzustimmen.
»Dessen bin ich mir bewusst.« Amanda setzte sich ganz aufrecht hin und reckte das Kinn vor. »Ich versichere Ihnen, dass es sich hierbei weder um einen Schnellschuss noch um ein Machtspiel handelt, um einem ehemaligen Arbeitgeber eins auszuwischen. Ich will diese Sache durchziehen, Mr Miller. Und ich habe jede Menge Beweise.«
Dreieinhalb verrechenbare Stunden und zwei abgesagte Meetings später hatte ich genug über Amanda Gispens Fall erfahren, um zu wissen, dass unsere Chancen gut standen. Es gab haufenweise Zeitstempel und Anrufprotokolle, dazu Zeugen wie die Flugbegleiterin oder eine Empfangsdame, die Anfang des Jahres entlassen worden war, und außerdem belastende Textnachrichten, die einem Pornostar die Schamesröte ins Gesicht treiben würden.
»Wie geht es jetzt weiter?«, wollte Amanda wissen.
In Anbetracht der unzähligen ethischen Grundsätze, gegen die ich demnächst verstoßen werde, auf direktem Weg in die Hölle.
»Ich schicke Ihnen eine Mandatsvereinbarung. Claire wird Ihnen dabei helfen, sämtliche relevanten Informationen zusammenzutragen, und eine Beschwerde an das EEOC vorbereiten.«
Amanda krallte die Finger in den Saum ihres Rocks. »Ich bin nervös.«
Ich überreichte ihr den Stressball, als wäre er ein glänzender Apfel. »Das ist normal, aber komplett unnötig.«
Sie nahm den Ball entgegen und drückte ihn zögerlich. »Es ist nur … Ich weiß nicht, was auf mich zukommt, sobald wir den Strafantrag gestellt haben.«
»Dafür haben Sie ja mich. Und denken Sie daran, dass eine Klage wegen sexueller Belästigung jederzeit außergerichtlich beigelegt werden kann. Vor Prozessbeginn und sogar noch während des Verfahrens.«
»Einen Vergleich ziehe ich momentan eigentlich nicht in Betracht. Das Geld interessiert mich nicht. Ich will ihn leiden sehen.«
Damit sind wir schon zwei.
Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne und knabberte darauf herum. »Sie glauben mir doch, oder?«
Wie seltsam der Mensch doch gestrickt ist, ging es mir durch den Kopf. Meine Mandanten stellten mir diese Frage häufig. Die ehrliche Antwort darauf lautete, dass es keine Rolle spielte, weil ich bedingungslos auf ihrer Seite stand, doch in Amandas Fall konnte ich sie gleichzeitig beruhigen und bei der Wahrheit bleiben.
»Selbstverständlich.«
Es gab nichts, das ich Conrad Roth nicht zutraute. Zu sexuellem Fehlverhalten schien er mir durchaus fähig.
Sie gab mir den Ball zurück und holte tief Luft. Ich schüttelte den Kopf. »Behalten Sie ihn.«
»Danke vielmals, Mr Miller. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie tun würde.«
Ich stand auf und knöpfte mein Jackett zu. »Nächstes Mal sprechen wir über Ihre Aussichten, und ich werde auf Grundlage der Beweise eine Empfehlung abgeben.«
Amanda Gispen erhob sich nun ebenfalls und streckte mir zum Abschied die Hand hin, während sie mit der anderen die Perlenkette um ihren Hals umklammerte.
»Ich will, dass dieser Mann für das, was er mir angetan hat, in der Hölle schmort. Er hätte mich vergewaltigen können. Und mit Sicherheit wäre das auch passiert, hätte die Flugbegleiterin nicht eingegriffen. Er soll wissen, dass er nie wieder in der Lage sein wird, eine Frau zu nötigen.«
»Sie können auf mich zählen, Ms Gispen. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Conrad Roth zu vernichten.«
Damals
Weil alles zum Sterben verdammt war, begann unsere Beziehung passenderweise auf dem Friedhof.
Dort begegnete ich Arya Roth zum ersten Mal. Es war der fünfte oder vielleicht auch schon sechste Tag, an dem meine Mutter mich während der Sommerferien mit in die Park Avenue schleifte. Das Jugendamt hatte letzten Winter Razzien in einigen Wohnungen in Hunts Point durchgeführt und vernachlässigte Kinder aus dem elterlichen Haushalt entfernt, nachdem zuvor Keith Olsen, ein Junge aus meiner Straße, im Schlaf an Unterkühlung gestorben war. Jeder wusste, dass Keiths Vater die Lebensmittelmarken der Familie gegen Zigaretten und Sex eintauschte, trotzdem hatte niemand geahnt, wie schlecht es den Olsens wirklich ging.
Meine Mom wusste, dass mit dem Jugendamt nicht zu spaßen war. Sie wollte mich behalten, konnte sich aber dennoch nicht überwinden, Conrad und Beatrice Roth zu fragen, ob ich mich in ihrer Wohnung aufhalten dürfe, während sie dort arbeitete. Was dazu führte, dass sie mich sechs Tage die Woche von acht bis fünf vor dem Gebäude herumlungern ließ, derweil sie putzte, kochte, die Wäsche machte und den Hund ausführte.
Meine Mutter und ich entwickelten eine Routine. Jeden Morgen stiegen wir zusammen in den Bus, ich sog noch halb schlafend durch das Fenster die Stadt in mir auf, während Mom Pullover strickte, die sie später für Kleckerbeträge an einen Secondhandladen verkaufte. Von der Haltestelle aus begleitete ich sie zu dem Haus, in dem die Roths wohnten und dessen bogenförmiges, von weißem Stein eingefasstes Eingangsportal so hoch war, dass ich mir den Hals verrenken musste, um es in seiner ganzen Pracht sehen zu können. Ehe sie im Foyer verschwand, beugte meine Mutter sich in ihrer Uniform – kurzärmliges gelbes Poloshirt mit dem Logo der Firma, für die sie arbeitete, blaue Schürze und sandfarbene Hose – zu mir herunter, fasste meine Schulter und händigte mir einen zerknitterten Fünf-Dollar-Schein aus. Bevor sie ihn endlich losließ, ermahnte sie mich streng: Das hier ist für dein Frühstück, dein Mittagessen und kleine Snacks. Geld wächst nicht auf Bäumen, Nicholai. Darum überleg dir gut, wofür du es ausgibst.
In Wahrheit gab ich nie auch nur einen Cent davon aus. Stattdessen klaute ich Essen aus einer Tapasbar, bis mich der Kassierer eines Tages erwischte. Er sagte, ich dürfe mich gern an den abgelaufenen Sachen in der Vorratskammer bedienen, solange ich niemandem davon erzählte.
Die Fleisch- und Milchprodukte waren ein Reinfall, die Tortillachips labberig, aber noch genießbar.
Wie ich darüber hinaus meinen Tag gestaltete, blieb mir selbst überlassen. Anfangs lümmelte ich in Parks herum und beobachtete die Leute, um die Zeit totzuschlagen. Bis ich merkte, wie wütend es mich machte, anderen Kindern dabei zuzusehen, wie sie sich mit ihren Geschwistern, Nannys und manchmal sogar ihren Eltern