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So witzig und abgeklärt wie Camila Fabbri hat noch niemand von der Orientierungslosigkeit der Millennials erzählt
Paulina wacht blutend und verwirrt in einem demolierten Auto auf, neben sich ein Mädchen, das sie nicht kennt. Hat sie einen Unfall gebaut? Nur langsam erinnert sie sich: an ihr Leben in Buenos Aires mit ihrem langweiligen Exfreund Felipe, an ihre exaltierte Kollegin Maite, die sie auf einen Roadtrip mitnahm, und an Lara, das junge Mädchen neben ihr, das Paulinas Leben vielleicht in neue Bahnen lenken kann.
Camila Fabbri erzählt lakonisch und rotzig vom Leben und den Sorgen junger Frauen in einer Gesellschaft, die sie mit einem Ablaufdatum versieht. In ihrem Schwanken zwischen Fragilität und Selbstbewusstsein, Desillusioniertheit und Hoffnung verkörpert Paulina das Lebensgefühl der Millennials.
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Seitenzahl: 187
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Paulina wacht blutend und verwirrt in einem demolierten Auto auf, neben sich ein Mädchen, das sie nicht kennt. Hat sie einen Unfall gebaut? Nur langsam erinnert sie sich: an ihr Leben in Buenos Aires mit ihrem langweiligen Exfreund Felipe, an ihre exaltierte Kollegin Maite, die sie auf einen Roadtrip mitnahm, und an Lara, das junge Mädchen neben ihr, das Paulinas Leben vielleicht in neue Bahnen lenken kann.Camila Fabbri erzählt lakonisch und rotzig vom Leben und den Sorgen junger Frauen in einer Gesellschaft, die sie mit einem Ablaufdatum versieht. In ihrem Schwanken zwischen Fragilität und Selbstbewusstsein, Desillusioniertheit und Hoffnung verkörpert Paulina das Lebensgefühl der Millennials.
Camila Fabbri
Dancing Queen
Roman
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Hanser
Friday night and the lights are low
Looking out for the place to go
Where they play the right music, getting in the swing
You come in to look for a king
Anybody could be that guy
Night is young and the music’s high
With a bit of rock music, everything is fine
You’re in the mood for a dance
And when you get the chance
You are the Dancing Queen, young and sweet.
Abba
Letzten Abend waren wir tanzen, und ich brach dir das Bein.
Verzeih. Ich war ungeschickt,
ich wollte dich bei mir in der Klinik, ich bin der Arzt!
Kenneth Koch
1.
»Psst, Paulina. Bist du bei uns?«
Ich bekomme das rechte Auge kaum auf und spüre etwas Dünnes, Spitzes, das sich in meinen Augapfel frisst. Könnte der Schnabel einer Ringeltaube sein. Mir scheint, die Hornhaut blutet, vielleicht auch die Pupille. Ich weiß nicht, bin mir nicht sicher. Mein Wortschatz in Sachen Sehvermögen ist begrenzt. Dem Licht nach würde ich sagen, es ist Nacht, da steigen rot-gelbe Lichter hinter den Gebäuden auf, aber auch das weiß ich nicht genau. Ich sehe gerade mal den dürren Zweig eines Baums über der Motorhaube. Mit dem Gehirn sende ich ein Signal, aber mein Rumpf gehorcht nicht, der Hals dagegen schon. Ich löse den Nacken vom Fahrersitz, eine Glaskaskade rieselt nieder und sammelt sich um meinen Hintern wie um ein Lagerfeuer. Ein paar Splitter bohren sich mir in die Pospalte. Der Schmerz ist echt. Was ich für einen Vogel gehalten hatte, der mir ins Auge pickt, ist in Wirklichkeit Glas, das Verbundglas, das ich letztes Jahr in zwölf zinslosen Monatsraten abbezahlt habe. Diese Handlungen, die sich als kleine Heldentaten aufspielen.
Der Rumpf gehorcht immer noch nicht, klebt weiter am Kunstleder und unter dem Sicherheitsgurt, als wäre ich ein Dummy, wie sie ihn bei Crashtests benutzen. Das Autoradio ist auf einen Sender eingestellt, den es gar nicht geben kann. Abertausend Stimmen von Frauen, Männern, Kindern sind zu hören. Dazwischen Werbung. Ab und an blitzt ein klares Wort auf wie »Inflation«, »Dollar«, manchmal sind es auch mehrere hintereinander wie »Rua-Supermarkt«, »Fuku-Seife«, »Immer noch mit Sorge wird die Zunahme von«.
Meine Brust brennt, ich höre das Herz kaum schlagen. Ein allzu zaghaftes Pochen. Wie kurz vor dem Verschwinden.
»Psst, hörst du mich? Nicht totstellen, Paulina.«
Die Stille hat wohl mit der Uhrzeit zu tun, da draußen ist es allzu ruhig. Ich werde warten müssen, dass mich jemand holt. Jetzt fließt mir eine warme Flüssigkeit aus dem Ohr. Das kann vieles bedeuten, nichts Gutes, nichts Gesundes. Mir ist kalt, die Kinnlade zittert. Ich habe einmal von der Kälte gehört, die man vor dem Sterben spürt, aber ich könnte schwören, was ich hier mache, ist lebendig sein. Ich weiß nicht, wohin ich unterwegs war oder woher ich komme. Weiß rein gar nichts.
Ich möchte schreien, Felipe!, bringe aber keinen Ton heraus. Nicht nur die Brust brennt, auch die Kehle fühlt sich heiß an, und mein BH scheint ein Spatzennest zu sein. Als wären da nur Federn drinnen. Seit ich die Augen geöffnet habe, überfallen mich Vogelimpressionen. Von irgendwas im Auto wird mir schlecht, oder ist das eine allergische Reaktion?
Eins sehe ich jetzt deutlich. Auf der Windschutzscheibe ist eine Art Ölfleck oder so ein Muster, als hätte jemand in eine Wasserpfütze geschlagen, die Wellen wirft und dann wie gemalt wirkt. Da, am unteren Rand, ganz winzig, bemerke ich einen Fleck, zwischen Kaffeebraun und Bordeauxrot. Das Blut ist von mir. Auch wenn es sich kein bisschen von all dem fremden Blut unterscheidet, das mir bisher untergekommen ist, ich weiß, es stammt von mir. Ich sehe ihm seine DNA von Weitem an. Wie ramponiert ist das Auto! Jetzt ist es beliebiger Schrott und war eben noch ein geliebtes Objekt, zumindest ein geschätztes. Wer erbarmt sich der zerbeulten Autos? Das Herz zersplittert mir, wenn ich es so sehe.
Stille.
Ich erkenne weiße, unversehrte Turnschuhe an mir, die ich zum hysterischen Lachen zweier Radiomoderatorinnen angezogen hatte. Die Jeans, die mir zu groß ist, und die grauen Tabakpäckchen. So schlecht steht es also doch nicht um mein Gedächtnis, nein, nein. Kein Alzheimer, kein geschädigtes Gehirngewebe. Ich habe etwas anderes. Die Zweige da vor mir könnten auch Neuronen sein und der Sprung in der Windschutzscheibe eine Endloskette von Synapsen. Wie gut bin ich im Hervorbringen von Symptomen. Wie geschärft ist mein Gehör für Beschwerden, egal welche, für alle zusammen. Das Auge tut höllisch weh, nur einen Hauch bin ich davon entfernt, die Sehkraft zu verlieren.
Ich bewege minimal den Hals, und das Panorama wird gelb. Nur hören kann ich klar, und was da kommt, ist das Fjumm der ersten Böe an diesem Tag. Ein Hund läuft um das Auto herum und stützt die Vorderpfoten an mein Fenster. Er sieht mich an und hechelt; aus seinem Mund tropft der typische Säugetiergeifer. Er macht mir das Auto ganz dreckig. Sicher weiß er, dass da drinnen eine sterbende Kreatur ist, oder der Geruch des Blutes lockt ihn an. Natürlich, Tiere. Ob Hai oder Hund, ganz egal. Weg da, Miststück, würde ich ihm am liebsten sagen. Du Köter aus dem Slum. Los, leck an was schön Dreckigem. Glotz mich nicht so solidarisch an, du willst mir doch bloß das Blut vom Auge schlecken, als wäre es Wassereis. Wärst du mein Hund, ich würde dich im Dunkeln in der Küche einsperren. Ah, wie wenig Phantasie habe ich für das Böse. Immer noch sehe ich gelb. Hinter mir höre ich es ganz leise atmen. Ich kann den Hals nicht drehen. Vermutlich ist er gebrochen, und in dem Fall äschern sie mich ein oder versenken mich in der Erde, in einer Holzkiste mit einem silbrigen Christus drauf. Ich blicke hoch, so weit ich kann, so weit meine Position es zulässt, dieser rettende Gurt, dieser Zustand des Vegetierens. Ich sehe kaum, aber ich sehe. Da ist — schlafend oder ohnmächtig, tot wohl nicht — ein Mädchen um die fünfzehn. Sie trägt ein geblümtes Kleid und weiße Turnschuhe wie meine. Ich weiß nicht, wer sie ist, aber sie hockt da in meinem Auto und bewegt sich ebenfalls nicht. Was sie da wohl tut, es quält mich entsetzlich, dass ich in keiner Windung meines Kopfes ein Fädchen finde, an dem ich ziehen und herausbekommen könnte, wer diese Dünne mit den glatten Haaren ist, dieses verunglückte Wesen voller Leben. O Gott. Ich glaube nicht an Gott, sage aber ständig, O Gott oder Herrgott noch mal.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen sein mag. Wir sind zwei Frauen, allein, die darauf warten, dass jemand kommt und ihnen Halskrausen anlegt. Wer ich bin, weiß ich, aber nicht, wer sie ist; mit meinem Gedächtnis ist es also doch nicht so weit her. Tief aus dem Magen kommt jetzt ein bitterer Geschmack hoch. Ich kotze über das Lenkrad. Ach, was habe ich für ein hübsches Auto. So neu und grau, Sitzbezüge vom Feinsten. Mit Airbag für alle Fälle, der nicht aufgegangen ist, mit Aschenbecher, Beifahrergriffen, Getränkehaltern, einem Player für CDs, DVDs, mp3, WiFi, Videos. Offensichtlich habe ich Geld, verdiene gut. Dann holt mich also ein privatärztlicher Notdienst. Es riecht intensiv nach Kotze. Ich versuche, die Herkunft der Duftwolke auszumachen, doch es gelingt mir nicht. Wieder der Bluthund, der die Scheibe durchbrechen möchte, um uns abzulecken. Widerlicher Blutsauger, wenn ich dich erwische, gibt’s eins mit dem Knüppel.
»Paulina.« Die Fünfzehnjährige spricht. Sie wiederholt: »Paulina, Paulina, sind wir im Himmel?«
Ich kann mich nicht bewegen, weiß nicht, ob ich sitze, liege, sterbe. Paulina nennt sie mich. Ich erinnere mich nicht, dass ich je so genannt worden bin.
»Paulina, geht es dir gut? Geht es uns gut?«
Sie lacht. Sagt das mit dem Himmel und findet es wohl furchtbar witzig. Ich kann nicht antworten. Meine Stimme ist ein blutverklebtes Fädchen, als wäre ich eine Schildkröte, deren Inneres geplatzt ist. Diese Hausschildkröten, die vom Balkon fallen und Stunden später sterben, weil sich ihre Organe aufgelöst haben.
»Paulina. Bitte. Mein Kopf tut weh.«
Kein Wunder, Süße. Wir hatten gerade einen Unfall, und ich weiß nicht recht, warum. Ringsum sehe ich explodierende Lichter, wie auf einer Bühne, doch noch immer kommt uns niemand holen.
»Paulina, ich habe Angst, mich zu bewegen.«
Aber natürlich, Herzchen. Ich kann dir bloß nicht antworten, denn bei der kleinsten Anstrengung platzt mir eine Ader im Gehirn. Ich höre, wie die Fünfzehnjährige sich das geblümte Kleid zurechtzieht. Niemand soll ihren Hintern sehen. Fein, nicht mal im verbeulten Zustand soll sich jemand auf diesen Teil ihres Körpers kaprizieren. Ich kann mich immer weniger bewegen, aber der Kopf hält nicht inne, er rauscht weiter, als weihte er eine Achterbahn ein. Auf und ab, die Fahrgäste sollen oben auf dem Gipfel die Erfahrung ihres Lebens machen und dann in Höchstgeschwindigkeit hinabsausen, das Herz-Kreislauf-System kann sehen, wie es mit solchen Mätzchen zurechtkommt.
»Paulina, ich steige aus. Gallardo ist draußen.«
Gallardo? Zu wem gehört jetzt dieser Name? Zum Hund? Ob das der verflixte Hund ist? Das Biest, das sich ein Unglück auf der Straße zunutze macht. Diese verwilderte Mischung aus Deutschem Schäferhund und Foxterrier. Soll den endlich jemand abmurksen.
Stille. Zu viel Stille.
Der Zweig, den ich sehen kann, schwingt nun hin und her. Wenn Wind aufgekommen ist, muss ihn etwas angetrieben haben. Wahrscheinlich geht der Tag zu Ende. Ich höre, wie die hintere Tür aufgeht. Jetzt schließt sie sich. Ein Hund springt vor Glück an einer Fünfzehnjährigen hoch, deren Haar endlos lang ist. Sehen kann ich sie nicht, nur hören, also stelle ich sie mir vor. Jetzt wird es dunkel vor meinen Augen, zwischen grau und schwarz. Ich klammere mich ans Grau, denn von der Farbe Schwarz in so einer Lage habe ich Schlechtes gehört. Vor einer Weile schon hätte ich mich verabschieden können, aber da bin ich noch. Mitsamt der Kälte. In meinem Peugeot mit Kotzegeruch und mit einer überlebenden Fünfzehnjährigen ohne Kratzer. Ich sehe, wie mir eine Haarsträhne auf das rechte Bein fällt. Dünn, aber doch ein ordentliches Büschel Haar. Das muss posttraumatischer Stress sein. Wieder wird mir übel. So leid es mir tut, ich bin noch da. Der Kopf nagt an mir wie ein Tierchen, von dem niemand recht weiß, was es ist. Mittelgroß, graubraun, mit steifen Flügelchen. Etwas zwischen Grille, Fliege und Stechmücke. Das Insekt redet unablässig auf mich ein, oder bin das etwa ich? Die Fünfzehnjährige schafft es, meine Tür zu öffnen, und blickt mir in die Augen. Untröstlich fängt sie zu heulen an, ihr Gesicht ist ein Matsch aus Rotz, Tränen und ihren Spuren. Ich betrachte sie, versuche wirklich, sie wiederzuerkennen, doch vergebens. Nicht die geringste Ahnung, wer dieses Wesen mit der Panikattacke ist. Sie versucht, meinen Sicherheitsgurt zu öffnen, und da wird mir klar, dass nichts an meinem Körper reagieren wird.
»Paulina!«
Die Unbekannte schreit auf, sagt meinen Namen, und gleich darauf ist der Wagen umringt von Männern und Frauen in Bürokleidung, die vielleicht gerade von der Arbeit kommen. Erst ein kahler Mann mit kräftigem Gebiss, dann eine Frau mit breiten Augenbrauen. Sie betrachten mich voll Ekel und Mitleid. Ich begreife nicht, warum niemand etwas tut. Unablässig sendet mein Gehirn Befehle aus, doch vergebens. Nichts wird reagieren. Das junge Mädchen und die Frau mit den Augenbrauen beraten sich und sind schon mit einem Notruf beschäftigt. Der kahle Mann stellt mir Fragen, auf die ich nicht antworten kann. Ich kann kaum den Mund bewegen. Mein Rücken brennt, auch die Brüste. Der Mann blickt mir in den Ausschnitt und presst die Kiefer zusammen. Auch das muss ich noch über mich ergehen lassen.
2.
Felipe schließt die Augen, weil er mich nicht sehen will. Er ist gleich so weit, das weiß ich, weil seine Lippen sich runzeln wie der Nabel einer Orange. Kräftig packt er mich beim Nacken, und ich sage, er soll das lassen, mir nicht die Haare ausreißen, Herrgott noch mal. Und er lacht. Felipe kommt auf meinem Bauch.
»Ich hole ein Handtuch«, sagt er.
Immer wenn er in schnellem Schritt hinausgeht, betrachte ich seinen unteren Rücken und den Hintern. Dabei muss ich an Statuen denken, die Gott weiß wen darstellen, in Parks, um die sich niemand schert. Er kommt mit einem Badetuch zurück, das ich am Morgen frisch aufgehängt hatte, das mit der Superheldin drauf. Er wischt oberflächlich herum, doch vergebens, der ölige Samen wird stundenlang dort kleben. Dann legt er sich noch einmal aufs Bett, damit sein Blutdruck sich wieder einpendelt, und umarmt mich dabei.
»Ich will nicht in dir kommen. Entschuldige.«
Schon in Ordnung, sage ich und denke an Kühe in einem Schlachthof. Felipe weiß nicht, wie er mir verständlich machen soll, dass er mich nicht mehr liebt, aber hin und wieder zu vögeln, tut uns gut. Wir sind ein dicker Haarknoten, der sich gerade auflöst.
»Habe ich dir schon erzählt?«
Nein, hat er nicht.
»Vom Nachbarn im sechsten Stock, dem Riesen mit dem Pekinesen. Weißt du, wen ich meine?«
Ja, weiß ich.
»Gestern hatte er einen Aussetzer. Psychotischer Schub nennt man das. Stundenlang hat er mit dem Hund geredet, ihn dann gebadet. Anschließend hat er klare Schnäpse mit Fernet, Cola und Bier gemixt, mit allem, was er im Kühlschrank hatte, und sich aufs Bett geworfen. Genau auf den Hund. Der wurde böse gequetscht. Letzten Donnerstag musste der Tierschutz kommen und den Hund mitnehmen.«
Ich frage, ob er das gesehen habe.
Nein, hat er nicht.
»Heute Morgen hat er einen neuen Welpen angeschleppt. Gleiche Rasse, gleiche Farbe. Weißt du, welchen Namen er ihm gegeben hat?«
Nein, weiß ich nicht.
»Comeback.«
Felipe steht vom Bett auf und lacht. Ich finde das nicht witzig. Mein nackter Körper verlockt ihn nicht mehr im Geringsten. Ich komme mir vor wie eine zerrissene Knetgummipuppe. Er umarmt mich, als gratulierte er mir zu einer Medaille bei einem Schulturnier. Dann eilt er davon, damit er nicht zu spät zu seinem Fußballspiel kommt. Ich höre den Nachbarn mit dem Welpen sprechen. Mit dieser Stimme bleibe ich besser nicht allein. Ich schalte den Fernseher an. Bei einem Wettbewerb soll ein Apfel halbiert werden, und zwar exakt. Keiner der Teilnehmenden, ob aus der Hauptstadt oder der Provinz, schafft es. Die Exaktheit ist ein Wahn.
Die Augen wollen mir zufallen, aber ich ignoriere sie. Noch will ich nicht schlafen. Ich streichele Gallardo, der heute Abend unruhig ist, immer wieder flackert sein Bellen auf, stört mich aber nicht. Draußen fahren zu viele Krankenwagen vorbei, und das macht ihn nervös. Ich gehe auf den Balkon und sehe nach, was da passiert sein kann. Gallardo kommt mit. Wie groß dieser Hund ist. Ich liebe ihn und könnte ihn dennoch an einen Pfosten vor dem Asia-Supermarkt binden und seinem Schicksal überlassen. Das werde ich nicht tun, aber ich könnte. Soll Gallardo zusehen, wie ich weggehe, soll er springen und jaulen, sich den Fellnacken an der Pfostenkette aufscheuern. Soll er traurige Stunden dort verbringen, bis sich jemand seiner erbarmt. Ein so großes Geschöpf in einer halb leeren Wohnung zu halten, ist nicht gerade handelsüblich. Aber nein, nein, nein, lieber Gallardito, das würde ich dir nie antun. Ich werde dich weiterhin ausführen, deine Haufen mit Plastikbeuteln aufsammeln und wasche dich zweimal im Monat in der Badewanne, denn der Hundesalon ist irre teuer. Aber bei mir schlafen darfst du nicht, denn ich gehöre nicht zu denen, die ihre Laken gern mit Hundehaaren tapezieren.
Gallardo und ich blicken durch das Balkongitter. Da unten versucht Felipe immer noch, in sein Auto zu steigen, schafft es aber nicht. Ich höre ihn fluchen. Der arme Enddreißiger ist und bleibt ein Achtjähriger mit Brille. Auch wenn er auf meinem Bauch kommt und böswillige Gleichgültigkeit verbreitet, ist er ein Knirps, der nicht weiß, was er tun soll, wenn er einen Schlüssel nicht findet. Über ihm oder weiter vorn, an der Ecke beim gemeinnützigen Krankenhaus: ein umgestürztes Fahrrad mitten auf der Kreuzung und ein Mädchen mit Helm, das die Beine leicht bewegt, wie ein halb zertretener Käfer. Sie lebt, natürlich lebt sie, um sie herum Krankenwagen. Gallardo bellt, weil er Felipe sieht, doch Felipe hat den Autoschlüssel inzwischen gefunden und macht sich aus dem Staub. Er hat alles entladen, was er in sich hatte, und kann jetzt Tore schießen oder sich bei einem angetäuschten Dribbling Richtung Tor das Knie brechen. Das Mädchen macht diese Arm- und Beinbewegungen, und drei Nonnen aus dem katholischen Krankenhaus an der Ecke kommen ihr zur Hilfe. Ja. Sie tragen weiße Nonnenkleider und helfen einem atheistischen Mädchen. Gallardo bellt weiter, ich sage, er soll still sein. Jetzt stört es mich doch. Ich befehle es ihm grob. Lächerlicher Hund. Das Mädchen setzt sich in einen Rollstuhl, und die drei Nonnen lassen ihre Hauben flattern, denn da wehen schon Herbstwinde. Jetzt beobachte nur noch ich den Fortgang des Unfalls. Sie wird sich etwas gebrochen haben, trägt morgen einen Gips und ihre Familie oder ihr Freund werden sie besuchen. Zum Glück hat sie einen Helm getragen, armes verlassenes Geißlein. Ich habe ein Auge für Unglücksfälle. Von allen erfahre ich, bin das beste Publikum für Szenen, die von Krankenwagen umgeben sind. Immer bin ich da, merke mir die Einzelheiten, sodass ich sie später erzählen kann.
Gallardo kringelt sich am Bettrand ein. Ich schmiere mir Aloe Vera auf die Lippen, damit sie nicht faltig werden. Fünfunddreißig bin ich schon, also muss ich so was tun. Ab einem bestimmten Punkt im Leben wird bei manchen der Kampf gegen ein Knittergesicht zur Hauptbeschäftigung.
»Gallardo, jetzt liebe ich dich, aber das wird nicht immer so sein.«
Der Hund wedelt mit dem Schwanz, und ich lösche das Licht. Denke an Comeback, den lächerlichen Welpen des Nachbarn mit den Schüben. Die Hunde schlafen, wir verlieren den Verstand.
Gute Nacht.
3.
Wenn ich mir um halb eins nichts in den Mund schieben kann, überkommt mich Mordlust. Die Zeit des Mittagessens ist mir heilig. Jeden Wochentag rufe ich um zehn nach eins Maite in der Buchhaltung an und sage Bescheid, dass ich unten an der Tür auf sie warte. Ich nutze die Mittagssonne, um die Welt von einem Pflanzkübel aus zu betrachten. Kurz darauf gehen wir gemeinsam durch überfüllte Straßen und fragen uns, wer wir einmal waren, was wir so alles gegessen haben, warum wir hier sind.
Maite ist ängstlich. Schon in früher Kindheit hatte sie jemand, vermutlich ihre Mutter, davon überzeugt, dass vor dem Überqueren der Straße ein Warten unterhalb der Bordsteinkante zwangsläufig dazu führe, von nahenden Objekten aller Art überfahren zu werden. Dass der Tod nichts anderes sei als das, was beim Hinabsteigen dieser Zementstufe passiere. Maite nimmt einen langen Schluck von ihrer Ingwerlimonade oder sonst einem Biozeug, das sie so mag. Fast immer trägt sie blasse Farben, die sie aussehen lassen, als leide sie unter Vitaminmangel. Ihr Kopf ist voll winziger Locken, die ein Webmuster bilden, das schwindlig macht, wenn man zu lange hinsieht. Sie ist siebenunddreißig, doch das glaubt ihr niemand, jeder zieht mindestens zehn Jahre ab. »Warum sollte ich mich älter machen, als ich bin?«, fragt sie mich fast jedes Mal, und ich finde keine Antwort darauf. Sie sieht aus wie ein trübsinniger Teenager. Nichts zu machen. Sie geht langsam, als hätte sie ständig Angst, eines Tages aus heiterem Himmel das Gleichgewicht zu verlieren, zu zerbrechen und sich nicht mehr rühren zu können, einfach so.
Sie fixiert mich mit diesem urtragischen Ausdruck, der ihr auf der Stirn geschrieben steht. Ein Sonnenstrahl hat es auf sie abgesehen. Irgendein nicht ganz so hoher Baum vor dem Lokal. Ich kann es nicht leugnen, dieses kleine Licht steht ihr gut, aber das sage ich ihr natürlich nicht. Diese rosige Empathie, die sich auf ihren Backenknochen sammelt, wenn sie etwas bewegt, würde ich nicht ertragen. Sie wartet darauf, dass ich meine Meinung zu dem Mann abgebe, der sie verlassen hat.
»Wahrscheinlich hast du irgendwas gesagt und gefällst ihm deshalb nicht mehr. Du redest ziemlich viel. Vielleicht hat sich sein Kopf verstopft, wie ein Abflussrohr am Klo«, sage ich und lache.
Mein Lachen schwillt langsam an wie ein Akkord. Hätte nicht gedacht, dass ich zur Mittagszeit so viel Sinn für Humor aufbringe. Aber Tatsache. Ich lache immer lauter. Öffne den Mund, lasse meine grünen Zähne blitzen, voller Brokkoli. Fast spucke ich das Essen wieder aus und lache immer noch. Maite sieht mich an. Sie ist ernst. Vier Frauen am Nebentisch, ganz ähnlich gekleidet wie wir, blicken ebenfalls herüber. Sie halten ihre Gabeln, als wären sie Modeschmuck. Ich hasse es, Aufmerksamkeit zu erregen, also kehre ich zum konsequenten Schweigen zurück. Dieses Schweigen, das nur ich mir aneignen kann. Maite verquirlt die Limonade zu weißer Grundierung und senkt den Blick. Sie weiß sehr wohl, dass ich nicht leichthin Ratschläge verteile, dass ich ihr immer Kontra geben werde, ihr und all ihren Männergeschichten. Sie weiß sehr wohl, dass wir Menschen meiner Ansicht nach keiner Analyse standhalten, und trotzdem isst sie täglich mit mir zu Mittag. Wir sind Kolleginnen und die ideale Option füreinander, nicht allein zu sein. Eine Art Angebot der Woche. Fünf zinslose Raten günstiger Begleitung. Wäre ich nicht da, ihre Selbstgespräche würden im Innern ihres Kopfes bleiben wie eine Flipperkugel, und das könnte zu einer Blutstauung führen. Ich passe ihr gut in den Kram, aber gut tue ich ihr nicht; das passiert, sobald sich Vertrautheit einstellt.
Jetzt trinken wir schweigend Cola light. Wir rülpsen, lächeln und sehen dem Schwanken dieser dürren, niedrigen Bäume zu, die die Mittagssonne nicht verdecken. Ein Angestellter, als Angestellter verkleidet, fegt den Boden dieser Resto-Bar. Mit dem Besen schiebt er Kronkorken, lange Haare, Münzen, Kaugummi vor sich hin. Zwischen all dem Dreck mache ich eine tote Libelle aus. Das Insekt bewegt sich nicht mehr, doch im Sonnenschein glänzen die Flügel. Ich frage:
»Entschuldige, stört es dich, wenn ich die nehme?«
Der Angestellte, kaum über zwanzig, sieht mich überrascht an und verneint. Maite schämt sich für mich. Das weiß ich.
»Sei nicht so widerlich. Das Ding ist doch tot«, sagt sie.