Dark Elements 4 - Glühende Gefühle - Jennifer L. Armentrout - E-Book

Dark Elements 4 - Glühende Gefühle E-Book

Jennifer L. Armentrout

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Beschreibung

Zayne hat viel durchgemacht: Der attraktive Gargoyle-Wächter mit den eisblauen Augen hat seine große Liebe Layla an den Dämonenprinzen Roth verloren, und sein Vater ist im Kampf gefallen. Doch Zayne kann sich nicht länger in seinem Schmerz vergraben, denn ein unbekanntes Wesen macht Jagd auf die Wächter. Um diese Bedrohung aufzuhalten, wendet er sich an einen anderen Gargoyle-Clan. Zu seiner Überraschung lebt dort eine Sterbliche – Trinity, bei der sein Herz wieder etwas fühlt. Aber sie umgibt ein Geheimnis. Hängt es womöglich mit den Angriffen auf die Gargoyles zusammen? »Jennifer L. Armentrouts packendes, neues Fantasywerk ist bisher ihr bestes.« New-York-Times-Bestsellerautorin Gena Showalter

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Seitenzahl: 704

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Zum Buch

Der Gargoyle-Clan ist das einzige Zuhause, das Trinity kennt. Obwohl sie nie eine Wächterin werden wird, trainiert sie ebenso hart wie die anderen. Denn dass sie mit Geistern kommunizieren kann, ist nicht ihre außergewöhnlichste Fähigkeit. Nur ihre engsten Vertrauten kennen die Wahrheit – wie Misha, der zu ihrem Beschützer auserkoren wurde, und mit dem sie ein übersinnliches Band vereint. Als der gut aussehende Zayne ihren Clan aufsucht, weiß Trinity, dass sie sich im Verborgenen halten sollte, damit ihr Geheimnis gewahrt bleibt. Doch schon am ersten Tag kommt es zu einer verhängnisvollen Begegnung …

Zur Autorin

Ihre ersten Geschichten verfasste Jennifer L. Armentrout im Mathematikunterricht. Heute ist der bekennende Zombie-Fan eine internationale Bestseller­autorin und schreibt Fantasy- und Liebesromane für Jugendliche und Erwachsene – und denkt nicht mehr an die schlechten Mathenoten von damals.

Lieferbare Titel

Dark Elements – Steinerne Schwingen Dark Elements – Eiskalte Sehnsucht Dark Elements – Sehnsuchtsvolle Berührung Dark Elements – Goldene Wut Dark Elements – Funkelnde Gnade

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem TitelStorm and Fury bei Inkyard Press, Toronto.

© 2019 by Jennifer L. Armentrout Ungekürzte Ausgabe im Mira Taschenbuch © 2019 für die deutschsprachige Ausgabe by bei HarperCollins YA! in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. / SARL Covergestaltung von Formlabor, Hamburg Coverabbildung von nutriaaa /shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783745703283www.harpercollins.de

Für meine Leserinnen und Leser

Für meine Leserinnen und Leser. Und an die Sterne, die ich noch sehen kann.

1

»Nur einen Kuss?«

Erregung schoss durch meine Adern, als ich den Blick vom Fernseher losriss und Clay Armstrong anschaute. Ich brauchte einen Moment, um sein Gesicht erkennen zu können. Er war nur ein paar Monate älter als ich, wahnsinnig süß und hatte hellbraunes Haar, das ihm immer in die Stirn fiel und darum zu bitten schien, dass ich es ihm aus dem Gesicht strich.

Andererseits war ich auch noch nie einem unattraktiven Wächter begegnet. Ich verfügte allerdings auch nicht über die mentale Fähigkeit, dahinterzukommen, wie sie es schafften, menschlich und zugleich wie ein Wächter auszusehen.

Clay hockte im Wohnzimmer seiner Eltern neben mir auf der Couch. Wir waren allein, und ich war mir nicht ganz sicher, welche Entscheidungen in meinem Leben dazu geführt hatten, dass ich jetzt neben ihm saß und sich unsere Oberschenkel berührten. Wie alle Wächter war er so unglaublich viel größer als ich, obwohl ich selbst einen Meter dreiundsiebzig maß und mich normalerweise niemand für ein kleines Mädchen halten würde …

Clay war schon immer freundlicher zu mir gewesen als die meisten Wächter. Manchmal flirtete er sogar ein bisschen, was mir gefiel. Er schenkte mir die Art von Aufmerksamkeit, die ich zwischen anderen schon beobachtet, selbst aber noch nie gekriegt hatte. Keiner aus der Wächter-Siedlung – außer meiner Freundin Jada und natürlich Misha – schenkte mir überhaupt besondere Aufmerksamkeit, und keiner wollte mich küssen.

Aber Clay war immer nett und machte mir sogar dann Komplimente, wenn ich total fertig aussah. In den letzten Wochen war er oft mit mir zusammen gewesen, und das gefiel mir.

Und daran gab es, verdammt noch mal, auch nicht das Geringste auszusetzen.

Als er sich mir bei der Grube genähert hatte, was einfach nur eine große Feuerstelle war, um die die jüngeren Wächter sich abends versammelten und abhingen, und gefragt hatte, ob ich Lust hätte, mit zu ihm nach Hause zu kommen, um einen Film anzusehen, ließ ich mich nicht zweimal bitten.

Und jetzt wollte Clay mich küssen.

Ich wollte geküsst werden.

»Trinity?«, sagte er, und ich zuckte zusammen, als seine Finger plötzlich mein Gesicht berührten, während er mir eine Haarsträhne hinters Ohr strich. »Du tust es schon wieder.«

»Was denn?«

»Irgendwohin verschwinden«, erklärte er. Richtig, das war eine Angewohnheit von mir. »Wo warst du gerade?«

Ich lächelte. »Nirgends. Ich bin doch hier.«

Sein Blick aus diesen strahlend himmelblauen Wächter-Augen bohrte sich in meinen. »Gut.«

Mein Lächeln wurde breiter.

»Nur einen Kuss?«, wiederholte er.

Meine Erregung wuchs, und ich atmete langsam aus. »Nur einen Kuss.«

Er grinste, während er sich zu mir herüberbeugte und den Kopf so neigte, dass sich unsere Lippen auf gleicher Höhe befanden. Meine öffneten sich erwartungsvoll. Ich war schon mal geküsst worden. Einmal. Nun ja, damals war die Initiative von mir ausgegangen. Mit sechzehn hatte ich Misha geküsst, und er hatte den Kuss erwidert. Aber danach war es richtig seltsam gewesen, weil er für mich so eine Art Bruder war und keiner von uns daran etwas ändern wollte.

Außerdem sollte, weil er war, wer er war, zwischen Misha und mir auch gar nichts sein.

Auch weil ich war, wer ich nun mal war.

Clays Lippen berührten meine. Sie waren warm und … trocken. Ich war überrascht. Irgendwie hatte ich sie mir, keine Ahnung, feuchter vorgestellt. Doch es war … schön, vor allem als er beim Küssen mit seinen Lippen meine auseinanderschob. Dann passierte noch mehr. Er bewegte seinen Mund auf meinem, und ich erwiderte den Kuss.

Ich wollte nicht, dass er aufhörte, als er die Hand von meinem Nacken den Rücken hinunter bis zu meiner Hüfte gleiten ließ. Auch das fühlte sich gut an, und sowie er mich sanft nach hinten drückte, gab ich nach, legte die Hände auf seine Schultern, während er sich mit einem Arm abstützte, damit sein Gewicht nicht auf mir lastete.

Die Körpertemperatur von Wächtern ist hoch – höher als die von Menschen, höher als meine, aber er wirkte noch heißer, so als würde er gleich verbrennen.

Dagegen fühlte ich mich … lauwarm.

Wir küssten und küssten uns, und die Küsse waren nicht mehr trocken. Mir gefiel auch, dass sein Unterkörper jetzt auf meinem lag und sich bewegte. In einem geheimnisvollen Rhythmus, der genauso war, wie er sein sollte, und aus dem mehr werden konnte, wenn ich es wollte.

Auch das war … schön.

Schön, dass er meine Hand gehalten hatte, während wir zu ihm gegangen waren. Wie die Kerze, die er angezündet hatte und die nach Wassermelone und Limonade duftete. Das hatte was Romantisches, genau wie seine Hand, mit der er meine Hüfte streichelte. Mir wurde warm und wohlig. Nicht so, dass ich mir vor Verlangen die Kleider hätte vom Leib reißen wollen, aber es … es war wirklich schön.

Dann glitt er mit der Hand unter mein Shirt und legte sie auf meine Brust.

Moment mal.

Ich griff nach unten, umfasste seine Hand und löste meine Lippen von seinen. »Hey.«

»Was?« Er hielt die Augen weiter geschlossen, seine Hand ruhte noch immer auf meiner Brust, und er bewegte sogar die Hüften weiter.

»Ich sagte, nur einen Kuss«, erinnerte ich ihn. »Das ist schon mehr als ein Kuss.«

»Gefällt es dir etwa nicht?«

Tat es das? Das hatte es, doch hatte war das Schlüsselwort. »Jetzt nicht mehr.«

Keine Ahnung, wie man jetzt nicht mehr als Küss mich weiter interpretieren konnte, aber genau das tat Clay. Er presste seinen Mund auf meinen, und das fühlte sich nicht mehr schön an. Es schmerzte schon beinahe.

Wut flammte in mir auf, als hätte sich in meinem Inneren ein Streichholz entzündet. Ich umklammerte seine Hand fester und zog sie unter meinem Shirt hervor. Dann verpasste ich ihm einen Hieb gegen die Brust und beendete den Kuss.

Aufgebracht funkelte ich ihn an. »Geh runter von mir.«

»Wollte ich gerade machen«, brummelte er, aber das ging mir nach dieser fiesen Bemerkung nicht annähernd schnell genug.

Also stieß ich ihn weg – ziemlich heftig, sodass Clay von mir runter und zur Seite ins Leere stürzte. Als er auf dem Fußboden landete, brachte der Aufprall den Fernseher zum Wackeln und die Kerzenflamme zum Flackern.

»Was, zum Teufel, sollte das?«, fragte Clay, während er sich aufsetzte. Dabei wirkte er total perplex darüber, dass ich es geschafft hatte, ihn wegzustoßen.

»Ich habe dir doch gesagt, dass es mir nicht mehr gefallen hat.« Schwungvoll nahm ich die Beine von der Couch und stand auf. »Aber du hast nicht aufgehört.«

Clay schaute zu mir hoch und blinzelte langsam wie unter Schock. So als hätte er mich gar nicht gehört. »Du hast mich von dir runtergeschubst.«

»Ja, hab ich, weil du widerlich bist.« Ich stieg über seine Beine hinweg und marschierte am Fenster vorbei Richtung Haustür.

Nun erhob er sich auch. »Als du mich angebettelt hast, dich zu küssen, schienst du mich aber nicht widerlich zu finden.«

»Was? Okay, das sind ja mal richtige Fake News hier«, stieß ich fauchend hervor. »Ich hab dich nicht angebettelt. Du hast gefragt, ob du mich küssen darfst, und da habe ich gesagt, nur einen Kuss. Verdreh jetzt bloß nicht die Tatsachen.«

»Ist ja auch egal. Weißt du, ich fand es noch nicht mal besonders toll.«

Während ich mit den Augen rollte, setzte ich meinen Weg zur Tür fort. »Klar, das hat man dir auch angemerkt.«

»Nur weil du das einzige weibliche Wesen hier bist, das nicht erwartet, dass ich mich gleich mit ihm paare.«

Paaren bedeutete unter Wächtern kein einmaliges sexuelles Abenteuer. Es bedeutete, zu heiraten und eine riesige Schar kleiner Wächter-Babys zu produzieren. Ich war zu dem Zeitpunkt schon zutiefst gekränkt. Nicht nur, weil es total fies war, so was zu sagen, sondern vor allem, weil Clay der Wahrheit damit ziemlich nahekam.

Es gab hier wirklich niemanden für mich, keine Beziehung, aus der je etwas Ernstes werden könnte. Wächter vermischten ihre Gene nicht mit Menschen.

Nicht mal mit Wesen wie mir.

»Ich bin hier sicher nicht das einzige weibliche Wesen, das sich nicht mit dir paaren will, du Drecksack.«

Clay bewegte sich mit der für Wächter üblichen Geschwindigkeit. Eben war er noch neben der Couch, und im nächsten Moment stand er schon vor mir. »Du musst nicht gleich so eine …«

»Pass bloß auf, was du sagst, Kumpel.« Meine Wut nahm zu, und ich versuchte, mich selbst zu beruhigen, denn … wenn ich richtig wütend wurde, passierten schlimme Dinge.

Dann floss meist Blut.

An seinem Kinn zuckte ein Muskel, und er holte tief Luft, bevor sein hübsches Gesicht sich wieder entspannte. »Weißt du, was? Fangen wir doch noch mal von vorn an.« Seine Hand verschwand aus meinem Gesichtsfeld und landete auf meiner Schulter. Erschrocken zuckte ich zusammen.

Ganz falsch von ihm, denn solche Überraschungen schätzte ich gar nicht.

Ich umfasste seinen Arm. »Kannst du mir sagen, wie weh es tut, wenn du auf den Boden knallst?«

»Was?« Clays Mund stand vor Staunen ein Stückchen offen.

»Weil du gleich richtig heftig hinknallen wirst.« Ich verdrehte ihm den Arm und sah in sein verschrecktes Gesicht. Er war ein Wächter in Ausbildung und bereitete sich darauf vor, ein Krieger zu werden, wie die Welt es von Wächtern erwartete. Jetzt begriff er nicht, wie ich so rasch die Oberhand hatte gewinnen können.

Und dann begriff er überhaupt nichts mehr.

Ich wirbelte ihn herum und verlagerte mein Gewicht nach hinten aufs rechte Bein. Mit dem linken trat ich zu und hielt mich nicht zurück, als mein Fuß ihn perfekt in der Mitte des Rückens traf. Unglaublich stolz auf mich, wartete ich darauf, dass er auf den Fußboden sackte.

Bloß passierte das nicht.

Clay flog quer durchs Zimmer und gegen das Fenster. Glas splitterte, und schon segelte er nach draußen in den Garten. Ich hörte, wie er auf der Erde aufschlug. Klang wie ein kleines Erdbeben.

»Ups«, flüsterte ich und presste die Hände an meine Wangen. So stand ich etwa eine halbe Minute da, bevor ich zur Haustür rannte. »Oh nein, nein, nein.«

Zum Glück brannte auf der Veranda Licht, und es war hell genug, sodass ich Clay sehen konnte.

Er war in einem Rosenbusch gelandet.

»Oh, Mann.« Ich sprang die Stufen hinunter, während Clay stöhnend aus dem Busch und auf die Seite rollte. Er schien am Leben zu sein. Immerhin ein gutes Zeichen.

»Was, zur Hölle …?«

Ich zuckte bei den Worten zusammen und schaute hoch, hatte die Stimme aber bereits erkannt. Misha. Er trat aus dem Schatten und blieb im Schein der Verandalampe stehen. Das war zu weit weg, um ihn genauer zu betrachten, aber ich musste seine Miene auch gar nicht sehen, um zu wissen, was für ein Gesicht er zog. Vermutlich spiegelte sich auf diesem eine Mischung aus Enttäuschung und Unglauben wider.

Misha drehte sich von Clay zu mir, dann zum Fenster und wieder zurück zu mir. »Will ich überhaupt wissen, was hier los ist?«

Es verwunderte mich nicht im Geringsten, Misha zu sehen. Ich hatte gewusst, es war nur eine Frage der Zeit, wann er bemerken würde, dass ich mich von der Grube davongeschlichen hatte und hier gelandet war.

Wir beide waren zusammen aufgewachsen, und sobald wir laufen konnten, hatten wir die gleiche Ausbildung erhalten. So war Misha dabei gewesen, als ich mir zum ersten Mal bei dem Versuch, mit ihm mitzuhalten, mein Knie aufgeschrammt hatte, und hatte mich dafür ausgelacht. Er war auch da gewesen, als mein Leben das erste Mal in die Brüche gegangen war.

Misha war von einem goldigen, sommersprossigen, rothaarigen Blödmann zu einem ziemlich süßen Kerl herangewachsen. Mit sechzehn war ich ungefähr zwei Stunden lang in ihn verknallt gewesen. Das war, als ich ihn küsste.

Ich hatte schon eine Menge solcher Kurzzeit-Schwärmereien erlebt.

Aber Misha war eher mein Kumpel, mein bester Freund der Welt. Er war mein Beschützer, mit mir verbunden, seit ich ein kleines Mädchen war, und diese Bindung war stark.

Wenn ich beispielsweise sterben würde, dann würde auch er sterben, doch wenn es ihn zuerst erwischte, würde die Bindung gekappt, und ein anderer Wächter nähme seine Stelle ein. Ich hatte das immer als unfair empfunden, aber die Bindung war nicht vollkommen einseitig. Was in mir steckte, was mich ausmachte, trieb ihn an, und seine Wächter-Kräfte glichen oft meine menschlichen Anteile aus.

In gewisser Weise waren wir zwei Seiten derselben Medaille. Und als ich ihn küsste, verletzte ich quasi ein himmlisches Gesetz. Gemäß meinem Vater durften sich Beschützer und ihre Protegés niemals unanständig benehmen oder ausgelassen miteinander sein. Das hatte wohl irgendwas mit der Bindung zu tun, aber ich wusste nicht, was es wirklich bedeutete. Denn was sollte es ihrer Bindung denn schon schaden? Ich hatte meinen Vater danach gefragt, doch er hatte damals nur betreten nach unten geblickt, so als hätte ich ihn gebeten, mir zu erklären, wie Babys gemacht wurden.

Aber nichts davon trug dazu bei, dass ich mich in diesem Moment weniger ärgerte. »Ich hab alles im Griff.« Ich deutete auf Clay, der am Boden lag und stöhnte. In seinem Gesicht waren dunkle Flecken zu erkennen. Dornen? Na hoffentlich. »Wie man sieht.«

»Warst du das?« Misha starrte mich an.

»Ja.« Ich verschränkte die Arme, während sich Clay langsam hochrappelte. »Und ich habe nicht im Geringsten ein schlechtes Gewissen. Er wollte einfach nicht kapieren, was ›nur ein Kuss‹ bedeutet.«

Misha wandte sich an Clay. »Stimmt das?«

»Absolut«, sagte ich.

Leise knurrend marschierte Misha auf Clay zu, der inzwischen immerhin schon kniete. Gleich würde er Hilfe beim Aufstehen bekommen. Misha packte ihn am Kragen seines Shirts und drehte ihn mit dem Gesicht zu sich. Als er ihn losließ, taumelte der kleinere Wächter einen Schritt rückwärts.

»Hat sie Nein gesagt, und hast du nicht auf sie gehört?«, fragte Misha.

Clay hob den Kopf. »Sie hat es nicht so gemeint …«

Blitzschnell holte Misha aus und schlug seine Faust mitten in Clays dämliche Visage. Zum dritten Mal an diesem Tag ging der Junge zu Boden.

Ich grinste.

»So wie ich das gerade nicht gemeint habe?«, fragte Misha und kauerte sich neben ihn. »Wenn jemand Nein sagt, dann heißt das auch Nein.«

»Heilige Scheiße«, jammerte Clay und hielt sich die Hand vors Gesicht. »Ich glaube, du hast mir die Nase gebrochen.«

»Ist mir egal.«

»Verdammt.« Clay wollte sich aufrichten, fiel aber wieder auf den Hintern.

»Du entschuldigst dich jetzt bei Trinity«, befahl Misha.

»Wie du willst, Mann.« Clay kam mühsam auf die Beine, drehte sich zu mir um und nuschelte: »Tut mir leid, Trinity.«

Ich hob die Hand und zeigte ihm den ausgestreckten Mittelfinger.

Aber Misha war noch nicht fertig mit ihm. »Du sprichst sie nicht mehr an, schaust sie nicht mal mehr an oder atmest in ihre Richtung. Wenn doch, dann schmeiß ich dich noch mal durchs Fenster und tu dir was viel Schlimmeres an.«

Clay ließ die Hand sinken, und ich sah, wie ihm dunkles Blut übers Gesicht lief. »Du hast mich nicht durchs Fenster …«

»Du checkst es anscheinend nicht«, stieß Misha zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich habe dich durchs Fensters geworfen und werde dir das nächste Mal noch weit Schlimmeres antun. Hast du das verstanden?«

»Yeah.« Clay wischte sich mit der Hand über den Mund. »Verstanden.«

»Dann geh mir jetzt verdammt noch mal aus den Augen.«

Blitzschnell verschwand Clay nach drinnen und knallte die Tür hinter sich zu.

»Du musst zurück zum Haus«, sagte Misha schroff, nahm meine Hand und dirigierte mich durch den Garten in die Dunkelheit.

Ich ließ mich von ihm führen, weil ich außerhalb des Lampenlichts praktisch nichts sah.

»Thierry muss von dieser Sache erfahren«, meinte ich, als wir den Weg erreicht hatten, über den wir zurück ins Haupthaus gelangen würden.

»Oh ja, verdammt, ich werde es Thierry sagen. Er muss es wissen, und Clay braucht mehr als eine epische Tracht Prügel.«

»Einverstanden.« Ich spürte das große Verlangen, zurückzulaufen und Clay mit einem Tritt durch ein anderes Fenster zu kicken, aber ich würde die Sache jetzt Thierry überlassen. Obwohl das ein sehr peinliches Gespräch mit dem Mann, der für mich wie ein zweiter Vater war, mit sich bringen würde.

Doch Thierry war nun mal der Einzige, der aufgrund seiner Stellung mehr tun konnte. Er war hier der Boss, und zwar nicht nur ein Clan-Oberhaupt, sondern ein Herzog, der über all die anderen Clans und die vielen Außenposten in der Mittelatlantik-Region und im Ohio Valley herrschte. Letztendlich war er für die Ausbildung all der neuen Krieger verantwortlich und sorgte dafür, dass die Gemeinschaft sicher und relativ unbemerkt leben konnte.

Er würde dafür sorgen, dass Clay lernte, so etwas nie, nie wieder zu machen.

Sobald wir weit genug von Clays Haus entfernt waren, blieb Misha stehen. »Wir müssen reden.«

Ich seufzte. »Bitte. Ich brauche jetzt wirklich keine Standpauke. Ich weiß ja, dass du es nur gut meinst, aber …«

»Wie hast du es geschafft, ihn aus dem Fenster zu werfen?«, unterbrach er mich.

Ich verzog den Mund und starrte in Mishas Gesicht, das im Schatten lag. »Ich habe ihn weggestoßen und dann … tja, dann habe ich ihm einen Tritt verpasst.«

Er ließ meine Hand los und legte mir seine auf die Schultern. »Wie hast du es nur geschafft, ihn aus dem Fenster zu kicken, Trin?«

»Tja, ich habe mit dem Bein ausgeholt, wie man es mir beigebracht hat …«

»Das meine ich nicht, du kleine Klugscheißerin«, fiel Misha mir ins Wort. »Du wirst stärker. Bedeutend stärker.«

Ein Schauer lief mir über den Rücken und schien auf meiner Haut zu tanzen. Ich wurde tatsächlich stärker, doch irgendwie hatte ich mir vorgestellt, dass das mit uns beiden mit jedem Jahr, das verging, geschehen würde, bis …

Bis was?

Aus irgendeinem Grund hatte ich immer geglaubt, wenn ich achtzehn würde, dann würde sich etwas ändern. Aber inzwischen lag mein Geburtstag schon mehr als einen Monat zurück, und wir waren immer noch hier. Gut verborgen und versteckt, warteten wir auf den Zeitpunkt, an dem mein Vater mich in den Kampf schicken würde.

Ich lebte noch nicht.

Misha genauso wenig.

Das nur zu vertraute Gefühl der Unzufriedenheit umfing mich wie eine schwere Decke, doch ich schob es beiseite.

Jetzt war nicht der Zeitpunkt, um an irgendwas Derartiges zu denken, denn es stimmte ja, dass ich nun schon seit einer Weile immer stärker wurde. Auch schneller, aber wenn ich mit Misha trainierte, schaffte ich es mich zurückzuhalten.

Heute Abend hatte ich einfach die Beherrschung verloren.

Das hätte allerdings auch deutlich schlimmer ausgehen können.

»Ich hatte nicht wirklich vor, ihn aus dem Fenster zu kicken, aber ich bin froh, dass ich’s getan habe«, sagte ich und senkte den Blick auf den dunklen Pulli, den ich trug. »Er wirkte … entsetzt darüber, wie stark ich bin.«

»Na klar war er das, Trin, weil dich ja fast alle einfach für ein menschliches Wesen halten.«

Aber das war ich nicht.

Genauso wenig, wie ich zum Teil Wächterin war. Die Wächter waren so eine Art Superhelden im echten Leben, die Bösewichter jagten. Falls man Gargoyles als Superhelden bezeichnen wollte.

Bis vor etwas mehr als zehn Jahren hatte man die garstig aussehenden Figuren, die auf Kirchen und anderen Bauten thronten, nur als architektonische Kunstwerke betrachtet, dann jedoch offenbarten sie sich der Öffentlichkeit und verrieten der Welt, dass viele dieser vermeintlichen Statuen tatsächlich lebende, atmende Wesen waren.

Nach dem anfänglichen Schock realisierten die Leute, dass Wächter einfach eine weitere Spezies waren, und akzeptierten sie. Oder besser: Die meisten Menschen taten das. Daneben gab es allerdings auch Fanatiker wie die Angehörigen der Kirche der Kinder Gottes, die Wächter für ein Anzeichen des bevorstehenden Weltuntergangs hielten oder sonst irgendwas wenig Überzeugendes. Aber die meisten Leute kamen mit Wächtern klar. Manchmal halfen diese sogar der Polizei, wenn sie zufällig mitkriegten, wie ein Mensch ein Verbrechen beging, aber hauptsächlich waren die Wächter hinter schlimmeren Bösewichten her.

Dämonen.

Die allgemeine Öffentlichkeit hatte keine Ahnung davon, dass Dämonen wirklich existierten, wie sie aussahen oder wie viele verschiedene Spezies es davon überhaupt gab. Sie hatten, verdammt noch mal, keinen Schimmer davon, wie viele Dämonen sich so geschickt anpassten, dass einige sogar in Regierungsämter gewählt worden waren, wo sie große Macht und viel Einfluss hatten.

Die Mehrheit der Bevölkerung hielt Dämonen für mythische biblische Wesen, da offenbar irgendeine himmlische Vorschrift verlangte, die Menschheit hinsichtlich Dämonen im Dunkeln zu lassen. Das hatte was mit der unanfechtbaren Vorstellung von blindem Glauben zu tun.

Der Mensch muss an Gott und den Himmel glauben, und sein Glaube muss von einem reinen Ort herrühren, nicht aus der Furcht vor himmlischen Folgen. Sollte die Menschheit je rauskriegen, dass es die Hölle wirklich gibt, würde es für jeden, einschließlich der Wächter, rasch ein böses Ende nehmen.

Darum war es Aufgabe der Wächter, die Dämonen zu erledigen und die Menschheit darüber im Dunkeln zu lassen, damit die Leute nach ihrem freien Willen und dem ganzen Tamtam leben und gedeihen konnten.

Zumindest erzählte man uns das, und wir glaubten es.

Als ich noch jünger gewesen war, hatte ich es nicht verstanden. Denn wüsste die Menschheit von der Existenz der Dämonen, könnte sie sich vor ihnen schützen. Wüsste sie, dass jemand, der einen anderen umbringt, damit zugleich ein One-Way-Ticket in die Hölle löst, würden die Leute sich vielleicht von vornherein richtig benehmen. Doch dieses Handeln wäre dann nicht mehr vom freien Willen bestimmt. So hatte Thierry mir das irgendwann erklärt.

Die Menschheit muss immer in der Lage sein, ohne Furcht vor den Folgen ihrem freien Willen zu folgen.

Aber die Wächter der Potomac Highlands, dem uralten Machtzentrum der Clans aus dem mittelatlantischen Raum und dem Ohio Valley, wo die Krieger ausgebildet wurden, um die Städte der Menschen zu schützen und gegen die ständig wachsende Zahl der Dämonen zu kämpfen, diese Wächter hatten noch eine weitere Aufgabe.

Sie versteckten mich.

Die meisten aus unserer Siedlung wussten nichts davon, so auch Clay mit seiner bescheuerten strubbeligen Frisur. Er wusste nicht mal, dass ich Geister und Seelen sehen konnte, und ja, zwischen beiden gab es himmelweite Unterschiede. Diejenigen, die Bescheid wussten, konnte ich an einer Hand abzählen. Misha. Thierry und sein Ehemann Matthew. Jada. Sonst niemand.

Und daran würde sich auch nie etwas ändern.

Die meisten Wächter hielten mich für ein Menschen-Waisenkind, das Thierry und Matthew aus Mitleid aufgenommen hatten. Dabei war ich weit davon entfernt, einfach nur ein Mensch zu sein.

Das Menschliche an mir hatte ich von meiner Mutter. Jedes Mal wenn ich in den Spiegel schaute, blickte sie mich daraus an. Das dunkle Haar und die braunen Augen verdankte ich genauso wie den olivfarbenen Hautton ihren sizilianischen Wurzeln. Ich hatte auch ihre Gesichtszüge, die großen Augen. Die waren vielleicht ein bisschen zu groß. Schließlich konnte ich damit ziemlich genervt aussehen, ohne mich wirklich anzustrengen. Ich hatte dieselben hohen Wangenknochen, die kleine Nase, deren Spitze leicht zur Seite gebogen war. Und auch ihren breiten, ausdrucksstarken Mund.

Das war aber noch nicht alles, was ich von mütterlicher Seite mitbekommen hatte, sondern auch die dämlichen Gene ihrer Familie.

Meine nicht-menschliche Seite … Na ja, ich ähnelte meinem Vater definitiv nicht.

Kein bisschen.

»Ein Mensch kann einen Wächter nicht schubsen oder treten, keinen Zentimeter«, sagte Misha, was ja sowieso klar war. »Ich will ja nicht behaupten, du hättest nicht tun sollen, was du gemacht hast, aber du musst vorsichtig sein, Trin.«

»Ich weiß.«

»Wirklich?«, fragte er leise.

Ich holte tief Luft und schloss kurz die Augen. Klar wusste ich das. Mein Gott, was denn sonst? Clay hatte bekommen, was er verdiente, und eigentlich verdiente er sogar noch mehr, aber ich musste tatsächlich vorsichtig sein.

Einerseits sollte Thierry erfahren, was mit Clay vorgefallen war, denn wenn der sich mir gegenüber so benahm, dann war ich höchstwahrscheinlich nicht die Einzige, aber andererseits hatte Thierry auch so schon genug um die Ohren.

Seit der Anführer des Wächter-Clans in D. C. im Januar gestorben war, herrschte hier eine angespannte Stimmung. Es hatte eine Menge Besprechungen hinter verschlossenen Türen gegeben, noch mehr als sonst, und ich hatte zufällig gehört – na gut, eher erlauscht –, wie Thierry über eskalierende Angriffe gesprochen hatte. Und zwar nicht nur auf Außenposten, sondern auf Siedlungen, die fast so groß waren wie unsere. Das war schon etwas Seltenes.

Erst vor ein paar Wochen waren Dämonen bis dicht an unsere Mauern gekommen. Jene Nacht … Jene Nacht war schlimm gewesen.

»Glaubst du, dass Clay irgendwas ausplaudern wird?«, fragte ich.

»Wenn er über nur zwei funktionierende Gehirnzellen verfügt, wird er das bleiben lassen.« Misha schlang mir einen Arm um die Schultern und zog mich an sich. Ich knallte gegen seine Brust. »Wahrscheinlich hat er zu viel Schiss, um überhaupt was zu sagen.«

»Vor mir«, meinte ich grinsend.

Misha lachte nicht, wie ich vermutet hatte. Stattdessen legte er sein Kinn auf meinen Kopf und schwieg für einen langen Moment. »Die meisten Wächter hier haben keine Ahnung, was sie verstecken. Sie dürfen nicht erfahren, wer du bist.« Das wusste ich und hatte es schon immer gewusst. »Sie dürfen es niemals erfahren.«

Ruckartig und nach Luft schnappend, setzte ich mich im Bett auf. Vor den Mauern unserer Siedlung befanden sich Dämonen.

Man hörte keine Sirenen, die die Bewohner warnten, damit sie Schutz suchten, was normalerweise passierte, wenn sich Dämonen der Mauer näherten. Still wie ein Friedhof lag das Anwesen da, aber ich war mir sicher, dass Dämonen in der Nähe waren. Das meldete mir so eine Art innerer Dämonen-Radar.

Der sanfte Schein der selbst leuchtenden Sterne, die an meine Zimmerdecke geklebt waren, verblasste, als ich die Nachttischlampe anmachte und mich aus dem Bett schwang.

Rasch schlüpfte ich in eine schwarze Jogginghose und ein Tanktop, denn rauszulaufen und die Lage in Unterwäsche zu erkunden, wenn in riesigen Buchstaben MITTWOCH auf meinem Hintern stand, war bestimmt nicht die beste Idee. Da rauszugehen war vermutlich an sich schon eine schlechte Idee, aber ich erlaubte mir erst gar nicht, weiter darüber nachzudenken.

Schnell zog ich noch meine Laufschuhe an und schnappte mir von der Kommode die Dolche, die Jada mir zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Schließlich trat ich leise auf den hell erleuchteten Flur hinaus. Alle Lichter im Haus waren für mich angelassen worden, nur für den Fall, dass ich mitten in der Nacht Heißhunger bekäme. Niemand wollte, dass ich wegen meiner fehlenden Tiefenwahrnehmung stolperte und mir den Hals brach, weil ich die Treppe runterfiel. Darum wirkte das Gebäude von außen wie ein verdammter Leuchtturm.

Ich konnte mir nicht mal vorstellen, wie hoch die Stromrechnung war.

Das kühle Metall der Dolche erwärmte sich rasch in meiner Handfläche, während ich geschickt vom zweiten Stock ins Erdgeschoss lief – schnell, bevor irgendwer, insbesondere aber mein allgegenwärtiger Schatten, bemerkte, dass ich bereits auf den Beinen war.

Misha würde ausflippen, sollte er mich erwischen, vor allem nach dem, was erst am Abend zuvor mit Clay passiert war.

Genauso würde Thierry reagieren.

Aber das war nun schon das zweite Mal innerhalb eines Monats, dass Dämonen nah an die Mauern gekommen waren. Beim letzten Mal hatte ich getan, was man von mir erwartete. Ich hatte sicher versteckt in den festungsartigen Mauern von Thierrys Haus ausgeharrt, bewacht nicht nur von Misha, sondern von einem ganzen Clan Wächter, die bereit gewesen waren, ihr Leben für mich zu lassen, obwohl sie das nicht einmal wussten.

Zwei von ihnen waren in jener Nacht gestorben, ausgeweidet von den rasiermesserscharfen Klauen eines Hohedämons. Der hatte sie derart schrecklich zerfetzt, dass kaum noch etwas übrig gewesen war, das man hätte begraben oder gar den Angehörigen zeigen können.

Auf keinen Fall durfte so etwas noch einmal passieren.

Das zu tun, was man mir sagte, was man von mir erwartete, endete fast immer damit, dass jemand anders den Preis für meine Untätigkeit bezahlte.

Für meine Sicherheit.

Sogar meine Mutter hatte dafür bezahlt.

Ich schlich zur Hintertür hinaus und in die Gebirgsluft, die jetzt, Anfang Juni, noch sehr kühl war. Dann joggte ich zum linken Ausläufer der Mauer, da er nicht so streng bewacht wurde wie der vordere Teil. Der schwache Schein der Straßenlaternen und Solarlichter verblasste, bis das Gelände in völliger Dunkelheit vor mir lag. Meine Augen gewöhnten sich nicht daran. Das machten sie nachts nie. Doch ich kannte diesen Weg so gut wie meine Westentasche, nachdem ich im Laufe der Jahre jeden Zentimeter der einige Kilometer langen und breiten Anlage erkundet hatte. Ich brauchte meine miesen Augen nicht, um zwischen den dichten Bäumen hindurchzufinden, während ich meine Schritte beschleunigte. Der Wind wehte mir einzelne lange Haarsträhnen ins Gesicht. Als ich die letzte der uralten Ulmen hinter mir gelassen hatte, wusste ich genau, wie viele Schritte noch zwischen mir und der Mauer lagen, obwohl ich sie im Dunkeln nicht sehen konnte.

Dreißig.

Die Mauer selbst war von beeindruckender Größe, so hoch wie ein sechsstöckiges Gebäude. Als ich zum ersten Mal versucht hatte hinaufzuspringen, war ich an ihr abgeprallt wie ein Insekt von einer Windschutzscheibe.

Das hatte wehgetan.

Tatsächlich hatte ich ein paar Dutzend Versuche gebraucht, bevor ich die Mauer überspringen konnte, und noch mal doppelt so viele, bis es mir ein paarmal hintereinander gelang.

Ich stemmte die Füße gegen den Boden, als eine Salve aus Energie und Kraft in mir explodierte. Ich nahm die Dolche in eine Hand und holte mit den Armen Schwung, sowie ich noch zwölf Schritte von der Mauer entfernt war, dann sprang ich.

Es war wie Fliegen.

Die rauschende Luft, die Schwerelosigkeit und nichts als Dunkelheit und schwach blinkende Lichter am Himmel. Einige kostbare Sekunden lang war ich frei.

Doch schon krachte ich kurz unterhalb der Krone gegen die Mauer. Meine Handfläche schlug auf den glatten Beton ganz oben, und ich hielt mich mit dieser freien Hand fest, damit ich nicht runterfiel. Die Muskeln in diesem Arm schienen vor Schmerz zu schreien, als ich einige gefährliche Sekunden so dahing, schließlich machte ich mich klein und schwang mich auf die Mauerkrone.

Schwer atmend schüttelte ich das Brennen aus meinem linken Arm und nahm wieder in jede Hand einen Dolch, während ich angestrengt in die Dunkelheit horchte. Ich lauschte auf Anzeichen dafür, wo etwas passierte.

Da.

Ich drehte den Kopf nach rechts und hörte leise Männerstimmen in der Nähe des Eingangs. Wächter. Obwohl ihnen ihre geschärften Sinne die Gegenwart von Dämonen verraten würden, bemerkten sie mich nicht. Meine Sinne waren einfach noch feiner, und ich wusste, es war nur eine Frage von Minuten, bevor die Wächter die Dämonen erspüren würden.

Ich hatte die Wahl.

Entweder Alarm schlagen und die Wachen in die bewaldeten Hügel ausschicken, die unsere Siedlung umgaben. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass dabei jemand verletzt, vielleicht sogar getötet würde, aber genau das würde Thierry von mir verlangen. Und es war Mishas Bestimmung, dafür zu sorgen.

Eben das hatte ich schon viele Male getan, in verschiedenen Situationen, die alle gleich geendet hatten.

Ich hatte nicht mal einen Kratzer davongetragen, aber jemand anders war tot.

Oder ich konnte den Ausgang verändern und mich um die Dämonen kümmern, bevor die überhaupt wussten, wie ihnen geschah.

Eigentlich war meine Entscheidung schon gefallen, sobald ich das Haus verlassen hatte.

Wenn ich von der Mauer sprang, würde ich mir einen oder zwei Knochen brechen, das hatten frühere Versuche schon erwiesen. Daher arbeitete ich mich vorsichtig auf der schmalen Mauerkrone bis zu der Stelle vor, von der ich mir sicher war, dass ein naher Baum dort mit seinen Ästen bis an die Mauer reichte, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte. Nachdem ich mich zehn Schritte nach links bewegt hatte, holte ich tief Luft, sprach stumm ein kurzes Gebet und kauerte mich zusammen. Meine Beinmuskeln waren angespannt, die Hände umklammerten die Dolche.

Eins. Zwei. Drei.

Ich sprang ins Leere und reckte die Dolche in die Höhe, während ich die Knie bis an meinen Bauch zog. Als die ersten Blätter mich ganz zart streiften, streckte ich ruckartig die Beine aus und riss die Dolche nach unten. Die höllisch scharfen Klingen drangen in die Rinde des Stammes ein und rissen sie kräftig auf, als ich den Baum hinabglitt, bis meine Füße einen dicken Ast berührten.

Tief atmete ich aus, befreite die Dolche aus dem Holz und kauerte mich hin, damit meine Hände mich führen sollten. Mit geschlossenen Augen vertraute ich mich meinem Instinkt an. So rutschte ich schließlich von dem Ast, landete geduckt und wartete reglos einen Herzschlag ab, bevor ich mich aufrichtete. Dann bewegte ich mich nach links, tiefer in den Wald hinein, wobei der zunehmende Druck, den ich im Nacken spürte, mir den Weg wies. Nach vielleicht fünfzig Schritten blieb ich auf einer Lichtung stehen, die ein kleiner Bach teilte und die vom silbernen Mondschein schwach erleuchtet wurde. Ich sog den Duft fruchtbarer Erde ein, während ich mich umschaute. Als der Druck auf meine Schultern immer mehr zunahm, beschleunigte sich mein Puls.

Immer wieder öffnete und schloss ich meine Finger um die Griffe der Dolche. Ich ließ den Blick über die dichten Schatten der Stämme gleiten, die zu pulsieren schienen. Ich kniff die Augen ein wenig zusammen und spürte den Drang, nach vorn zu stürmen, doch ich wusste, dass ich meinen Augen nicht trauen durfte. So blieb ich völlig reglos stehen und wartete …

Knack.

Hinter mir war ein Zweig gebrochen. Ich wirbelte herum und schwang dabei in hohem Bogen einen Dolch.

»Meine Güte«, stieß jemand hervor, bevor mich eine kräftige, warme Hand am Arm packte. »Du hättest mir beinahe den Kopf abgesäbelt, Trin.«

Misha.

Ich blinzelte, konnte sein Gesicht in der Dunkelheit jedoch nicht erkennen. »Was treibst du hier draußen?«

»Hast du mir diese Frage gerade ernsthaft gestellt?« Er hielt meinen Arm weiter fest. Dann bückte Misha sich, und ich konnte lediglich seine lebhaften strahlend blauen Wächter-Augen erkennen. »Was treibst du denn mitten in der Nacht außerhalb der Mauern? Noch dazu mit deinen Dolchen?«

Lügen wäre sinnlos. »Hier sind Dämonen.«

»Was? Ich spüre keine.«

»Das bedeutet nicht, dass keine hier sind. Ich kann sie spüren«, erklärte ich ihm und zog an meinem Arm. Sofort ließ er mich los. »Sie sind nah, selbst wenn du sie noch nicht bemerkt hast.«

Misha schwieg kurz. »Das ist erst recht ein Grund für dich, überall zu sein, nur nicht hier.« Aus seiner Stimme klang Verärgerung. »Du weißt es doch wirklich besser, Trinity.«

Ich fühlte die Gereiztheit wie ein Prickeln auf meiner Haut, drehte mich von Misha weg und starrte ziemlich sinnlos in die Schatten, als könnte ich meine Augen auf magische Weise dazu bringen, besser zu funktionieren. »Ich habe es satt, es besser zu wissen, Misha. Diese Besserwisserei kostet andere Leute das Leben.«

»Diese Besserwisserei sorgt dafür, dass du am Leben bleibst, und das ist das Einzige, was zählt.«

»Das ist so falsch. Es kann einfach nicht das Einzige sein, was zählt.« Fast hätte ich mit dem Fuß aufgestampft, aber irgendwie gelang es mir doch, ruhig stehen zu bleiben. »Ich kann kämpfen. Besser als jeder andere von euch.«

»Pass lieber auf, dass du nicht zu übermütig wirst, Trin«, erwiderte er staubtrocken.

Das ignorierte ich. »Irgendwas geht da vor sich, Misha. Es ist schon das zweite Mal in einem Monat, dass Dämonen so nah an die Mauer kommen. Und wie viele Siedlungen wurden im letzten halben Jahr angegriffen? Ich habe aufgehört mitzuzählen, als es in den zweistelligen Bereich ging, aber man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass jede Siedlung noch näher an dieser liegt als die vorige. Und jedes Mal ist es ihnen gelungen, die Mauern der anderen zu durchbrechen. Offensichtlich suchen sie irgendwas. Sie machen Razzien.«

»Woher weißt du das? Hast du Thierry wieder belauscht?«

Ich grinste flüchtig. »Ist doch egal, woher. Irgendwas geht da vor sich, Misha. Und das weißt du auch. Dämonen haben es vielleicht auf die kleineren Anlagen in den Städten abgesehen, aber sie sind nicht so bescheuert, einen Ort wie diesen zu überfallen – wie sie es schon mit einigen der anderen Siedlungen getan haben.«

Erneut schwieg er kurz. »Denkst du … die wissen von dir? Und sie suchen dich?«, fragte er. Mir lief ein kleiner Schauer über den Rücken. »Das ist unmöglich. Es kann nicht sein, dass sie von deiner Existenz wissen.«

Unbehagen breitete sich in meinem Magen aus. »Nichts ist unmöglich«, erinnerte ich ihn. »Dafür bin ich der lebende Beweis.«

»Aber noch mal: Wenn das stimmt, dann ist der letzte Ort, wo du jetzt sein solltest, hier draußen.«

Ich verdrehte die Augen.

»Das hab ich gesehen«, meinte er.

»Unmöglich.« Ich schaute über meine Schulter ungefähr in die Richtung, wo er sich befand. »Du stehst doch hinter mir.«

»Hast du nicht gerade erst gesagt, nichts ist unmöglich?«

»Ach, egal«, murmelte ich.

Mishas Seufzen hätte eigentlich die Bäume rundherum zum Erzittern bringen müssen. »Wenn dein Vater wüsste, dass du hier bist …«

Ich grunzte wie ein Ferkelchen. »Als ob der sich auch nur im Geringsten um mich kümmern würde.«

»Das kannst du nicht wissen«, erwiderte Misha. »Er könnte uns genau in diesem Moment beobachten. Verdammt, er könnte dich sogar gestern Abend mit Clay gesehen haben …«

»Iih, hör auf. Sag so was nicht.«

»Ich bin einfach nur …« Er verstummte.

Jetzt spürte Misha es auch.

Das wusste ich, weil er leise fluchte und der Druck auf meinen Nacken einem heftigen Stechen zwischen den Schulterblättern wich.

Die Dämonen waren hier.

»Wenn ich dir sage, du sollst zurück zur Mauer gehen, wirst du dann auf mich hören?«, fragte Misha, während er ins Mondlicht trat. Der silbrige Schein fiel auf schiefergraue Haut und große Schwingen. Zwei Hörner traten aus seinem Schädel und teilten die kastanienbraunen Locken.

Ich lachte leise. »Was glaubst du?«

»Lass dich nicht umlegen, denn ich würde gern noch weiterleben.« Misha seufzte.

»Lass du dich lieber nicht umlegen«, erwiderte ich und ließ die ständig wachsenden Schatten nicht aus den Augen. »Weil ich echt keine Lust habe, dann mit irgendeinem Fremden verbunden zu werden.«

»Yeah, das wäre total blöd für dich«, murmelte er und reckte die Schultern, während sich seine Gestalt ausdehnte. »Ich dagegen wäre einfach nur tot.«

»Tja, wenn du tot bist, macht dir sowieso nichts mehr was aus«, argumentierte ich. »Denn weißt du, dann wärst du ja tot …«

Misha hob eine große klauenförmige Hand und brachte mich zum Schweigen. »Hörst du das?«

Zuerst vernahm ich nichts anderes als den fernen Ruf eines Vogels oder vielleicht eines Chupacabras. Wir befanden uns in den Bergen von West Virginia, da war alles möglich. Aber dann hörte ich es – ein Rascheln der Sträucher und das Brechen von Zweigen, mehrfaches Klicken und Tuscheln. Ich kriegte Gänsehaut an den Armen.

Ich glaubte nicht, dass ein Chupacabra ein solches Geräusch machte.

Oben auf der Mauer gingen Scheinwerfer an und tauchten den Wald in grelles bläulich weißes Licht. Das signalisierte, dass die Wächter auf der Mauer die Dämonen nun auch erspürt hatten.

Höchstwahrscheinlich würde man mich hier draußen entdecken, und ich bekäme richtig, richtig Ärger.

Aber nun war es zu spät.

Das Rascheln wurde lauter, und die Schatten zwischen den Bäumen schienen sich zu winden und auszubreiten. Jeder Muskel meines Körpers spannte sich an. Plötzlich stürzten sie aus dem Gebüsch und über die Lichtung. Dutzende von ihnen.

Raver-Dämonen.

2

Ich hatte noch nie einen Raver-Dämon gesehen. In der Schule hatte ich mal etwas über sie gelesen und andere Wächter über sie sprechen hören. Doch keine der Beschreibungen wurde diesen Kreaturen gerecht.

Sie glichen Ratten, riesigen kahlen Ratten, die aufrecht auf zwei Beinen liefen, hatten Zähne, um die sie selbst ein Weißer Hai beneidet hätte, und Krallen, die sogar die steinharte Haut der Wächter durchtrennen konnten.

»Das ist ein einziger Albtraum«, murmelte ich.

Schnaubend lachte Misha auf.

Raver waren Schmarotzer, Aasfresser-Dämonen, die auf schwache Menschen hofften und auf Tierkadaver und, na ja, alles Tote. Wächter-Siedlungen wagten sie eigentlich nicht anzugreifen.

»Hier stimmt was nicht«, flüsterte Misha, denn er kam offensichtlich zu derselben Schlussfolgerung. »Aber das ist jetzt egal.«

Nein.

War es nicht.

Mindestens sechs von denen gingen direkt auf Misha los, obwohl sie sahen und spürten, dass er ein Wächter war. Und mich? Mich beachteten sie kaum, wahrscheinlich weil ich wie ein guter alter Mensch roch.

Das war ihr erster und gleichzeitig ihr letzter Fehler.

Nahkampf lag mir nicht so besonders, jedenfalls nicht, wenn mein Blickfeld nur einem schmalen Tunnel glich, also musste ich vorsichtig sein, klug handeln und möglichst Abstand halten.

In diesem Moment schoss Misha nach vorn und drehte sich in einem weiten Kreis. Einer seiner Flügel traf den nächstbesten Raver-Dämon und schleuderte die Kreatur mehrere Meter zurück, während er die Hand mitten in die Brust eines anderen Ravers krallte.

Das knackende, schmatzende Geräusch drehte mir den Magen um.

Währenddessen stieß sich ein anderer Raver mit seinen kräftigen Beinen vom Boden ab und wollte sich auf Mishas Rücken stürzen.

Ich ließ meinen geschärften Instinkt übernehmen. Darum riss ich den Arm zurück und ließ den Dolch fliegen.

Er verfehlte sein Ziel nicht und landete direkt in der Brust des Ravers, der kreischte, da er noch im Sprung getroffen wurde. Doch als der Dämon mit der Seite auf den Boden aufschlug, war er bereits tot.

Verblüfft wirbelte Misha zu mir herum. »Wie machst du das nur?«

»Ich bin eben etwas Besonderes.« Ich nahm den zweiten Dolch in meine rechte Hand. »Und hinter dir ist noch einer von denen.«

Schnell drehte Misha sich um, fing ihn ab und rammte den Trottel ungespitzt in den harten Boden.

Mein Messerwurf hatte nun offenbar doch die Aufmerksamkeit der Raver erregt. Einer brach aus der Gruppe aus, und während das Getuschel der anderen näher kam, griff er mich an. Er schwang den Arm nach mir, doch ich duckte mich rechtzeitig und spürte, wie der Luftzug seiner kraftvollen Bewegung durch mein Haar strich. Ruckartig tauchte ich hinter der Kreatur wieder auf und trat ihr in den Rücken. Der Raver rollte bäuchlings über den Boden, aber ich ließ ihm keine Zeit, sich zu erholen, sondern holte mit dem eisernen Dolch aus und schnitt ihm die Kehle durch.

Daraufhin drehte ich mich rasch um, sah aber den Schwanz eines weiteren Ravers erst, als er mich am Bein erwischte. Ich quietschte auf, sprang zurück und spürte das dicke, gummiartige Körperteil auf meiner schweißnassen Haut.

»Oh, Gott, du hast einen Schwanz«, stieß ich hervor und erschauderte. »Ihr habt alle Schwänze. Ich muss mich gleich übergeben.«

»Kannst du mal einen Moment damit aufhören?«, fragte Misha von irgendwo hinter mir.

»Das kann ich nicht versprechen.« Schauer liefen mir über den Rücken, aber ich sprang zur Seite, kreiste rasch um die eigene Achse und stieß den Dolch in das Herz eines weiteren Ravers. Ein heißer Strahl Dämonen-Blut spritzte auf meine Brust. »Oh, Mann, jetzt muss ich auch noch duschen.«

»Gott, du bist vielleicht eine Heulsuse.«

Grinsend wich ich nach rechts aus und beugte mich über den zusammengesackten Körper des Ravers, den ich mit dem ersten Dolch fertiggemacht hatte. Mein Herz klopfte wild, als ich die Klinge aus seiner Brust zog und mich auf der Lichtung umsah. Sechs Dämonen waren noch übrig. Ich machte einen Schritt nach vorn.

»Neben dir!«, rief Misha.

Ein Panikschrei drang aus meiner Lunge, während ich mich gleichzeitig in der Taille drehte. Ich machte einen Satz zurück und konnte gerade noch diesen Klauen ausweichen. Das wäre übel gewesen – sehr übel.

Würde mein Blut vergossen und käme zum Vorschein, könnten sie spüren, was ich war.

Das würde sie in einen wahren Rausch versetzen – einen Fressrausch.

Mit weit geöffnetem Maul wurde ich erneut angegriffen. Ranziger Atem schlug mir entgegen, als ich den Dolch in die Brust des Ravers stieß. »Was, zur Hölle, hast du denn gefressen?«

»Darauf willst du nicht wirklich eine Antwort«, antwortete Misha.

Richtig.

Erneut wirbelte ich herum und entdeckte gleich einen weiteren Raver, der auf mich zukam. Während mir das Adrenalin durch die Venen pumpte, bewegte sich mein Mundwinkel nach oben. Dieses Gefühl war so viel besser als Küssen. Ich drehte die Griffe der Dolche in den Händen und zog eine richtige Show ab, als ich einen Schritt vorwärts machte.

Ein riesiges, massiges Etwas landete vor mir auf der Erde und erschütterte den Boden der Lichtung.

Zunächst wirkte es, als handelte es sich bloß um eine Menge unbändiger Wut, die so mächtig war, dass sie dort im Wald beinahe zu einem greifbaren Wesen wurde. Dann wurden direkt vor mir fast zwei Meter breite Flügel gespreizt und blockierten meinen Blick auf nahezu alles.

Ich konzentrierte mich, sah schulterlange rote Haare, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Matthew.

Er war nicht nur Thierrys Mann, sondern auch der stellvertretende Kommandant hier auf dem Stammsitz, der Thierry über alles Bericht erstattete.

Über die Schulter schaute er zu mir. Seine Gesichtszüge waren verschwommen, aber sein wütender Tonfall war unüberhörbar. »Bitte sag, dass ich halluziniere und du nicht wirklich hier draußen bist.«

Ich sah mich um. »Na ja …«

»Bringt sie zurück zum Haus«, donnerte Matthew, während weitere Wächter bei uns landeten und so ein kleines Erdbeben verursachten. »Wenn du der Ansicht bist, dass du das vielleicht tatsächlich hinkriegst, Misha.«

Oje.

Sofort ließ Misha den Raver fallen, um den er sich gerade kümmerte, und schien sich dann einfach in Luft aufzulösen.

Ich öffnete den Mund, weil ich Misha verteidigen und auch darauf hinweisen wollte, dass ich nicht begleitet werden musste, aber ausnahmsweise war ich so klug, einmal im Leben die Klappe zu halten.

Daraufhin sagte Matthew, der für mich wie ein dritter Vater war: »Wie kannst du nur so dumm sein, Trinity?!«

Und da öffnete ich dann doch den Mund: »Ich hatte die Lage im Griff. Wie man sehen kann.«

Matthew wandte sich nun vollends zu mir um, und ich sah, wie seine blauen Augen vor kaum gebändigter Wut loderten. »Du hast so ein Glück, dass ich hier bin und nicht Thierry.«

Das stimmte wahrscheinlich.

Plötzlich war Misha an meiner Seite, und ich hatte keine große Wahl mehr. Er legte den Arm um meine Taille und kauerte sich dann hin. Was auch immer ich noch sagen wollte, verlor sich im Rauschen kühler Luft und im nächtlichen Himmel.

Ich steckte in so verdammt vielen Schwierigkeiten.

Misha sprach nicht mehr mit mir.

Er lag im Wohnzimmer auf der Couch, die langen Beine gegen die Lehne gestemmt, und hatte die Hände auf der Brust gefaltet. Sein langer Körper reichte über alle drei Polster. Gerade sah er sich einen Werbespot für eine Art magische Bratpfanne an, als wäre das das Interessanteste, das je über den Bildschirm geflimmert wäre.

Ich wanderte hinter der Couch auf und ab und war das reinste Nervenbündel. Zwar hätte ich mich in meinem Zimmer verstecken und so tun können, als würde ich schlafen, wollte aber nicht wie ein Feigling wirken. Außerdem war es sinnlos, die große Standpauke, die mir bevorstand, weiter hinauszuzögern.

Auf einmal bemerkte ich eine Bewegung vor dem Fernseher. Misha reagierte nicht darauf, also strengte ich die Augen an. War das etwa Peanut, mein nicht gerade lebendiger Freund? Ich hatte den Punk den ganzen Tag und den ganzen Abend noch nicht gesehen. Nur Gott allein wusste, was er heute getrieben hatte.

Irgendwo im riesigen Haus öffnete sich geräuschvoll eine Tür und schlug ein paar Sekunden später zu. Ich hörte auf, hin und her zu laufen. Erst da sah Misha zu mir und hob gespannt die Augenbrauen.

Schwere Schritte hallten durch den Flur vorm Wohnzimmer, und ich wandte mich der gewölbten Türöffnung zu. Thierry trat herein, während er gerade ein frisches Shirt über den kahlen Kopf zog. Er war noch zu weit weg von mir, um den Ausdruck auf seinem dunkelbraunen Gesicht zu deuten. Dicht auf den Fersen folgte ihm Matthew. Er war etwas kleiner und weniger breit als Thierry. Ich verschränkte die Hände vor dem Bauch.

»Okay, ich habe einige Dinge zu sagen, aber zuerst will ich etwas wissen«, dröhnte Thierrys tiefe Stimme zu mir herüber. »Was, zur Hölle, hatte sie außerhalb dieser Mauern verloren?«

Ich öffnete schon den Mund.

»Keine Ahnung.« Misha nahm die Beine von der Couch, setzte sich aufrecht hin und drehte sich ein Stück, damit er Thierry ansehen konnte. »Ich habe friedlich geschlafen, während sie sich davongeschlichen hat.«

Ich klappte den Mund wieder zu und fragte mich, woher, um alles in der Welt, Misha wusste, dass ich mich außerhalb der Mauern befunden hatte, wenn er doch tief und fest geschlafen hatte. Unsere Verbindung hätte ihn darauf nicht aufmerksam gemacht. So funktionierte das nicht.

»Es liegt in deiner Verantwortung, jederzeit zu wissen, wo sie ist«, antwortete Thierry. »Selbst wenn du schläfst.«

»Ja, aber das scheint mir wenig plausibel«, unterbrach ich ihn. »Außerdem bin ich diejenige, die über die Mauer gesprungen ist, also weiß ich nicht, weshalb du ihn fragst, warum ich das getan habe.«

Langsam drehte Thierry sich zu mir um, und jetzt, da er mir näher war, konnte ich die harten Umrisse seines Kiefers und seine schmalen Augen sehen. Ups! Vermutlich hätte ich besser den Mund gehalten.

»Er ist dein Beschützer und sollte immer wissen, wo du dich aufhältst.«

Ohne Misha auch nur anzusehen, spürte ich, wie er mich mit den Augen geradezu erdolchte. »Er kann nicht für mich verantwortlich sein, solange …«

»Ich bin mir nicht sicher, ob du seine Rolle wirklich verstehst, denn ja, er ist immer für dich verantwortlich. Gleichgültig ob im Schlaf oder wach«, fuhr Thierry dazwischen, während Matthew sich an die Rückseite der Couch lehnte. »Warum warst du außerhalb der Mauern, Trinity?«

Zum gefühlt tausendsten Mal heute Abend erklärte ich mein Verhalten. »Ich bin aufgewacht und wusste plötzlich, dass Dämonen in der Nähe waren. Ich habe sie gespürt …«

»Während du geschlafen hast?«, fragte Matthew und zog argwöhnisch die rötlichen Brauen zusammen. Ich nickte, und er blickte Thierry an. »Das ist neu.«

»Nicht ganz«, hielt ich dagegen. »Als sie das letzte Mal kamen, spürte ich sie auch mitten in der Nacht. Und das hat mich aufgeweckt.«

»Aber in der Nacht hast du getan, was du bekanntlich tun sollst«, entgegnete Thierry. »Du bist drinnen geblieben, wo …«

»Wo es sicher ist. Ja, das weiß ich.« Ich wurde immer frustrierter. »Und in dieser Nacht starben zwei Wächter.«

»Es spielt keine Rolle, wie viele gestorben sind.« Thierry machte einen Schritt auf mich zu. »Deine Sicherheit hat oberste Priorität.«

Ich holte tief Luft. »Ich kann kämpfen. Sogar besser als die meisten Wächter! Dafür wurde ich trainiert, seit ich laufen kann, aber von mir wird erwartet, immer nur rumzusitzen und Däumchen zu drehen, während andere sterben? Und sag nicht, dass ihr Leben unbedeutend ist. Ich bin es leid, das zu hören.« Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Mishas Leben ist bedeutend. Matthews Leben zählt. Dein Leben ist wichtig! Jeder hier ist wichtig.« Außer Clay, aber das wäre Haarspalterei gewesen. »Ich bin es leid, hier rumzusitzen und nichts zu tun, während andere sterben müssen. Es besser zu wissen bringt nur Menschen um. Das hat auch meine Mutter getötet …« Wieder holte ich scharf Luft.

Es war so still, dass man eine Grille hätten niesen hören können.

Doch plötzlich veränderte sich die Atmosphäre im Wohnzimmer. Misha erhob sich, als wolle er auf mich zukommen, aber ich wich einen Schritt zurück. Ich wollte nicht, dass er mich anfasste, wollte kein Mitleid.

Ich wollte nichts anderes als das, warum ich auf diese Welt gekommen war. Kämpfen.

Alles an Thierry wirkte nun entspannter und sanfter, sogar seine Stimme. »Du trägst nicht die Verantwortung für den Tod deiner Mutter.«

Ja, das war seine Meinung, aber keine Tatsache.

»Ich weiß, dass du da rausgehen und helfen willst«, fuhr er fort. »Und mir ist klar, du bist trainiert und gut, aber Trinity … bei deiner Sehfähigkeit musst du vorsichtig sein, besonders nachts.«

Ich streckte den Rücken durch. »Ich weiß, wie schlecht ich sehe, aber das hat mich nicht davon abgehalten, in ein paar Dämonen-Ärsche zu treten. Und wird es auch nie.«

Alle im Raum wussten, das war eine glatte Lüge, denn irgendwann würde mich mein schwindendes Augenlicht doch aufhalten.

Es würde mich sehr wohl davon abhalten, eine Reihe von Dingen zu tun, was das ganze Superbesondere an mir schließlich zunichtemachte.

Aber das war weder heute noch morgen schon der Fall.

Selbstbewusst reckte ich das Kinn, während Matthew und Thierry ratlose Blicke tauschten. »Irgendwann wird mich mein Vater rufen, und ich bezweifle, dass der Kampf, in den er mich verwickeln will, ausschließlich tagsüber stattfinden wird, und selbst dann nützt mir meine Sehfähigkeit rein gar nichts. Und das wird sich auch nicht ändern. Deshalb trainiere ich acht Stunden am Tag und übe die ganze Zeit. Ich sollte viel mehr da draußen sein und echte Erfahrungen sammeln, bevor er mich ruft.«

Thierry wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Kopf. Daher entschloss Misha sich, das Wort zu ergreifen. »Sie hatte überhaupt keine Probleme«, sagte er, und das war zu neunundneunzig Prozent wahr. Diesen einen Raver hatte ich erst viel zu spät gesehen. »Sie hat sich wirklich gut geschlagen.«

Strahlend lächelte ich ihn an.

Er warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Und vermutlich sollten wir wirklich im wahren Leben Erfahrungen sammeln.«

Matthew beobachtete seinen Ehemann genau. Er seufzte und verschränkte die Arme. »Es ist ein bisschen zu spät am Abend, um diese Diskussion zu führen.«

Mir war durchaus danach, diese Diskussion zu führen, aber mehr noch wollte ich über etwas viel Wichtigeres sprechen. »Ist es nicht superseltsam, dass sich da draußen Raver haben blicken lassen? Ich habe sie zum ersten Mal gesehen, und, wow, die sind wirklich gruselig, aber ich dachte, sie wären Aasfresser-Dämonen. Eine viel niedrigere Spezies.«

»Stimmt«, antwortete Thierry und schaute zu Matthew. »Eigentlich sollten sie sich nicht hier oben zeigen. Denn sie passen sich nicht im Entferntesten an.«

Aufgrund der gleichen kosmischen Regel, die es verbot, den Menschen zu vermitteln, dass Dämonen echt sind, durften nur Dämonen nach oben, die sich an Menschen anpassten. Einige wirkten auf den ersten Blick perfekt menschlich. Riesige, herumwandernde Ratten gehörten allerdings nicht dazu.

»Und nicht nur das. Raver sind für gewöhnlich auch ein Zeichen für ein viel größeres Problem«, fügte Matthew hinzu. »Wo Raver auftauchen, befinden sich fast immer auch Hohedämonen.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Dieser kleine Leckerbissen an Information wurde einem wahrscheinlich schon in der Schule beigebracht, aber ich hatte es glatt vergessen. Ich blickte zu Misha, und er machte einen genauso unbehaglichen Eindruck, wie ich mich fühlte.

Hohedämonen waren das Big Bad, das ganz große Unheil.

Denn sie verfügten über das gesamte Spektrum von Fähigkeiten. Manche konnten den menschlichen Verstand beeinflussen, um wirklich üble, üble Dinge anzurichten. Andere konnten Feuer und Schwefelregen herbeirufen, in null Komma nichts ihr Aussehen verändern, in einem Moment noch menschlich wirken und im nächsten die Gestalt eines Tieres annehmen. Viele hatten ein biblisches Alter. Und alle konnten Wächter ausschalten.

Wenn die Raver also ein Zeichen dafür waren, dass sich hier ein Hohedämon aufhielt, war das eine große Sache.

Erneut verschränkte ich die Arme und zögerte, zu fragen, was ich sowieso vermutete. »Glaubst du, ein Hohedämon weiß von mir?«

Thierry wartete einen Moment mit seiner Antwort. »Jede und jeder deiner Art wurden bereits abgeschlachtet, Trinity. Wenn ein Hohedämon wüsste, dass du hier bist, wären diese Mauern bereits in Schutt und Asche gelegt. Nichts könnte verhindern, dass er dich erwischt.«

In der Einfahrt befand sich ein Geist.

Schon wieder.

Könnte schlimmer sein, dachte ich. Der Raver-Angriff lag zwei Tage zurück, und unsere Mauern waren nicht von einem Hohedämon durchbrochen worden, der nur darauf aus war, mich zu verschlingen.

Also wortwörtlich.

Sogar mit meinen schlechten Augen erkannte ich, dass die Gestalt, die vor den Hecken entlang der breiten Einfahrt schwebte, supertot war. Vor allem weil der Körper immer wieder aufflackerte und erlosch – ähnlich einem schlechten Empfang bei einem alten Fernseher.

Der hier war definitiv keine Seele, denn selbst ich hatte in meinen achtzehn Jahren genug von beidem gesehen, um den Unterschied zu erkennen. Der Mann im goldfarbenen Hemd da unten war noch nicht ins Jenseits übergetreten.

Seelen waren Verstorbene, die das Licht gesehen hatten – und es gab fast immer ein Licht. Sie waren darauf zugelaufen und dann aus dem einen oder anderen Grund doch wieder zurückgekehrt. Normalerweise um eine Nachricht zu überbringen oder einfach um nach ihren Lieben zu sehen.

Auf dem Außensims der Großen Halle kniend, hielt ich mich mit einer Hand an der rauen Kante des Dachs fest und legte meine andere auf den geschwungenen Rand des steinernen Gargoyle neben mir. Seine Temperatur wärmte meine Handfläche. Durch meine Sonnenbrille hindurch blinzelte ich und lehnte mich möglichst weit vor, ohne kopfüber vom Dach zu fallen. Die Große Halle war fast so hoch wie die Mauer und mindestens zwei Stockwerke höher als Thierrys Haus.

Während ich beobachtete, wie der offensichtlich verwirrte Geist hin und her lief, fragte ich mich, wie er wohl hergekommen war. Die Siedlung war nicht gerade leicht zu erreichen. Sie lag umgeben von Bergen eingebettet in die Hügellandschaft und war nur über Nebenstraßen zu finden – kurvenreiche, enge Nebenstraßen.

Vermutlich ein Autounfall.

Schon so mancher müde, ahnungslose Reisende war diesen tückischen Straßen mit ihren scharfen Kurven und plötzlich steilen Böschungen zum Opfer gefallen.

Der arme Kerl hatte wahrscheinlich die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und war tot aufgewacht, bevor er hierhergewandert war, wie es viele Geister taten. Letzte Woche war es eine Frau gewesen, die sich beim Wandern auf dem Berg verirrt hatte und in den Tod gestürzt war. Vor zwei Wochen hatte es eine Fahrt unter Alkoholeinfluss gegeben – ein älterer Mann, der auf einer dieser Nebenstraßen gestorben war, weil er nicht bemerkt hatte, wie er sein Leben riskierte, und selbst wenn, wäre keine Hilfe gekommen. Vergangenen Monat hatte es ein Mädchen erwischt, und sein Tod war der schlimmste, den ich seit Langem gesehen hatte. Sie hatte sich während eines Campingausflugs von ihrer Familie entfernt, und ihr Weg hatte sich mit etwas Bösem gekreuzt, das allzu menschlich war.

Die Erinnerung daran, die Schreie des Mädchens nach seiner Mutter, lastete immer noch schwer auf meiner Brust. Ihr Übergang ins Jenseits war nicht einfach gewesen, und es verging kein Tag, an dem ich nicht an ihr Weinen dachte.

Doch nun schüttelte ich diese Gedanken ab und konzentrierte mich auf den neuesten Geist dort unten. Autounfälle kamen unerwartet und waren zwar oft traumatisch, aber nichts glich Mordopfern oder jenen, die im Zorn starben. Bei ihm hier würde es nicht schwerfallen, ihm den Übergang zu ermöglichen.

Zuletzt hatte ich keine Seelen mehr gesehen, weil ich seit über einem Jahr nicht außerhalb der Siedlung gewesen war. Die wenigen Male, die ich es geschafft hatte, mich davonzuschleichen, war ich nicht weit genug gekommen, um einer Seele zu begegnen.

Unruhe überkam mich und drang dann tief in mich. Das Gefühl, gefangen zu sein, nagte an mir und bahnte sich einen Weg an die Oberfläche. Wie lange wollte man mich hier festhalten? Für immer? Verzweiflung meldete sich, und gleich darauf bekam ich ein schlechtes Gewissen.

Thierry und Matthew waren immer noch sauer auf mich, und mir gefiel nicht, dass sie wütend waren, dass sie nicht verstanden, warum ich nicht länger einfach nur zuschauen wollte.

Plötzlich beschlich mich ein merkwürdiges Gefühl, und ich blickte auf die Statue neben mir. Ich war nah genug, um alle Details zu erkennen. Den glatten Stein und die beiden wilden, breiten Hörner, die selbst das härteste Metall durchbohren konnten. Die tödlichen Krallen, die Beton aufreißen konnten, waren derzeit entspannt. Das Gesicht, so beängstigend es auch sein mochte, mit der flachen Nase und dem breiten Mund, der von bösartigen Reißzähnen geteilt war, wirkte friedlich. Ruhend. Schlafend.

Seit der Nacht mit den Ravern hatte Misha mich nicht mehr aus den Augen gelassen. Es überraschte mich beinahe, dass er in den vergangenen zwei Nächten nicht versucht hatte, vor meinem Bett auf dem Boden zu schlafen.

Ich bin nicht gefangen.