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Inspiriert von der wahren Geschichte der letzten Zarentochter, erzählt Mary Higgins Clark das unglaubliche Leben der Judith Chase, einer erfolgreichen Schriftstellerin, die mit dem britischen Premierminister verlobt ist. Als Judith sich von einem Psychiater mittels Hypnose in ihre Kindheit zurückversetzen lässt, taucht sie in ein Meer namenloser Schrecken ein. Die Dämonen ihrer Vergangenheit verfolgen sie von nun an erbarmungslos.
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Seitenzahl: 224
Das Buch
Die bekannte amerikanische Historikerin Judith Chase ist eigentlich nur für ihr neues Buch über die Zeit Karls I. nach London gekommen. Doch sie fühlt sich hier wie zu Hause. Das britische Blut in ihren Adern – Judith wurde während des Krieges als Zweijährige von einem amerikanischen Ehepaar adoptiert – meldet sich offensichtlich zu Wort. Doch daß sie hier mit 46 Jahren nun auch noch ihren Traummann kennengelernt hat, ist für sie ein kaum zu fassendes Geschenk von Fortuna. Sir Stephen Hallett, britischer Innenminister und aussichtsreichster Kandidat für das demnächst neu zu besetzende Amt des Premierministers, ist ein außergewöhnlich charmanter und attraktiver Mann. Judith ist überglücklich. Doch gleichzeitig spürt sie immer mehr, wie sehr sie das Rätsel ihrer englischen Herkunft belastet. Sie vertraut sich deshalb dem Tiefenpsychologen Dr. Reza Patel an, der mit seiner Theorie des Anastasia-Syndroms berühmt wurde. Doch Patel sieht in Judith Chase die ideale Patientin, um den letzten Beweis für seine Theorie zu erbringen. Bei dem riskanten Experiment, Judith mittels Hypnose in ihre früheste Kindheit zurückzuversetzen, unterläuft ihm ein fataler Fehler: Judith lebt fortan als gespaltene Persönlichkeit. Von ihr hat die im Jahr 1660 enthauptete Königsmörderin Lady Margret Carew Besitz ergriffen, und bald darauf ereignen sich entsetzliche Terroranschläge...
Die Autorin
Mary Higgins Clark wurde 1928 geboren. Mit ihren Spannungsromanen hat sie weltweit Millionen von Lesern gewonnen, und mit jedem neuen Roman erobert sie die Bestsellerlisten. Beinamen wie »Königin der Spannung« und »Meisterin des sanften Schreckens« zeugen von ihrer großen Popularität. Die Autorin lebt in Saddle River, New Jersey.
Und Mund um Mund verging vor Gier Und klaffte warnend, weit und bang — Da fuhr ich auf und fand mich hier Auf dem kalten Hang.
Und darum harr ich hier noch aus Und hink allein und bleich umher, Sank auch das Schilf am See und singt Kein Vogel mehr.
Aus dem Gedicht ›La Belle Dame sans Merci‹ von John Keats
Teils zögernd, teils erleichtert klappte Judith das Buch zu, das sie studiert hatte, und legte den Füller auf ihr dickes Notizbuch. Sie hatte stundenlang ohne Unterbrechung gearbeitet, und als sie jetzt den altmodischen Drehstuhl zurückschob und vom Schreibtisch aufstand, spürte sie ihren völlig verkrampften Rücken. Der Himmel war trübe und bewölkt, so daß sie schon vor einer ganzen Weile die starke Schreibtischlampe eingeschaltet hatte, eine Neuerwerbung anstelle der viktorianischen mit den kunstvollen Fransen, die zu dieser möblierten Mietwohnung in der Gegend von Knightsbridge gehörte.
Judith dehnte und streckte sich, während sie zum Fenster ging und auf die Montpelier Street hinunterblickte. An diesem grauen Januartag kündigte sich bereits um 15 Uhr 30 die nahende Dämmerung an, und die leicht vibrierenden Fensterscheiben zeugten von dem nach wie vor scharfen Wind.
Sie mußte unwillkürlich lächeln, als sie an den Brief dachte, den sie auf ihre Anfrage wegen dieser Wohnung erhalten hatte:
»Liebe Judith Case,
die Wohnung ist vom 1. September bis 1. Mai verfügbar. Ihre Referenzen sind überaus zufriedenstellend, und es ist mir ein tröstlicher Gedanke, daß Sie an Ihrem neuen Buch schreiben werden. Der Bürgerkrieg im England des 17. Jahrhunderts hat sich für romantische Fabulierer als nahezu unerschöpfliche Quelle erwiesen, und es ist erfreulich, daß eine seriöse Autorin historischer Werke von Ihrem Rang dieses Thema gewählt hat. Die Wohnung ist bescheiden, aber geräumig; ich nehme an, sie wird Ihnen entsprechen. Der Lift ist häufig außer Betrieb; immerhin sind drei Treppen ja durchaus zu meistern, meinen Sie nicht? Ich selber gehe am liebsten zu Fuß hoch.«
Der Brief trug die Unterschrift Beatrice Ardsley in deutlichen, hauchdünnen Buchstaben. Durch gemeinsame Freunde wußte Judith, daß Lady Ardsley dreiundachtzig war.
Als sie das Fensterbrett mit den Fingerspitzen berührte, spürte sie den naßkalten Luftstrom, der durch den Holzrahmen drang. Wenn sie sich beeilte, bliebe ihr gerade noch Zeit für ein heißes Bad, überlegte sie fröstelnd. Die Straße draußen war nahezu leer. Ein paar Passanten eilten vorbei, mit eingezogenem Kopf und hochgeschlagenem Mantelkragen. Als sie sich abwandte, sah sie ein Kleinkind, das direkt unter ihrem Fenster die Straße entlanglief. Entsetzt beobachtete Judith, wie das kleine Mädchen stolperte und auf die Fahrbahn fiel. Wenn ein Auto um die Ecke bog, würde der Fahrer sie nicht rechtzeitig bemerken. Etwas weiter unten näherte sich ein älterer Mann. Sie zerrte am Fenster, um ihn zu Hilfe zu rufen, aber da tauchte eine junge Frau aus dem Nichts auf, hastete auf die Fahrbahn, ergriff das Kind und barg es in den Armen.
»Mami, Mami«, hörte Judith es schreien.
Sie schloß die Augen und vergrub das Gesicht in den Händen, als sie sich selber laut jammern hörte: »Mami, Mami.« Großer Gott. Nicht schon wieder!
Sie zwang sich, die Augen zu öffnen. Die Frau und das kleine Mädchen waren verschwunden, wie sie erwartet hatte. Nur der alte Mann tappte vorsichtig den Bürgersteig entlang.
Das Telefon klingelte, als sie eine Diamantnadel an der Jacke ihres Cocktailkostüms aus Ripsseide befestigte. Stephen.
»Wie ging’s heute mit dem Schreiben, Darling?« fragte er.
»Sehr gut, denke ich.« Judith spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Sechsundvierzig, und beim Klang von Stephens Stimme bekam sie Herzklopfen wie ein Schulmädchen.
»Judith, das Kabinett ist zu einer Dringlichkeitssitzung einberufen worden, und die wird sich hinziehen. Bist du sehr böse, wenn wir uns erst bei Fiona treffen? Ich schicke dir den Wagen.«
»Tu das nicht. Mit dem Taxi geht’s schneller. Wenn du zu spät kommst, haben dich Staatsgeschäfte aufgehalten. Mir würde man es nur als schlechtes Benehmen ankreiden.«
Stephen lachte. »Du machst mir das Leben wahrhaftig leicht!« Er senkte die Stimme. »Ich bin vernarrt in dich, Judith. Laß uns nur so lange auf der Party bleiben, wie wir unbedingt müssen, und dann irgendwo in Ruhe zu Abend essen.«
»Ausgezeichnet. Auf Wiedersehen, Stephen. Ich liebe dich.«
Judith legte den Hörer auf, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Vor zwei Monaten hatte sie bei einer Abendgesellschaft Sir Stephen Hallett als Tischnachbarn gehabt. »Einfach das Nonplusultra in England«, vertraute ihr Fiona Collins, die Gastgeberin, an. »Sieht phantastisch aus. Charmant. Hochintelligent. Innenminister. Er wird der nächste Premierminister, das ist allgemein bekannt. Und der Clou, Judith, mein Schatz, er ist zu haben.«
»Ich bin Stephen Hallett vor Jahren ein- oder zweimal in Washington begegnet«, erwiderte Judith. »Kenneth und ich hatten ihn sehr gern. Aber ich bin nach England gekommen, um ein Buch zu schreiben, nicht, um mich mit einem wenn auch noch so charmanten Mann einzulassen.«
»Ach, Unsinn«, fuhr Fiona sie an. »Du bist seit zehn Jahren Witwe, das reicht. Du hast dir als Schriftstellerin einen Namen gemacht. Es ist wirklich angenehm, Schätzchen, einen Mann im Haus zu haben, besonders wenn die Adresse Downing Street 10 lautet. Meine Nase sagt mir — ihr beide wärt ein ideales Paar. Du bist eine schöne Frau, Judith, aber du signalisierst ständig ›Bleibt mir vom Halse, ich bin nicht interessiert‹. Bitte spar dir das heute abend.«
Sie hatte nicht signalisiert. Und an jenem Abend hatte Stephen sie nach Hause begleitet und war auf einen Drink mit heraufgekommen. Sie hatten sich bis zum Anbruch der Dämmerung unterhalten. Zum Abschied hatte er sie leicht auf den Mund geküßt. »Ich kann mich nicht erinnern, je im Leben einen so anregenden Abend verbracht zu haben«, hatte er geflüstert.
Es war nicht ganz so einfach, ein Taxi zu finden, wie sie angenommen hatte. Judith wartete zehn Minuten in der Kälte, bis endlich eines vorbeikam. Als sie am Bordstein stand, versuchte sie, den Blick auf die Fahrbahn zu vermeiden. Dies war genau die Stelle, wo sie vom Fenster aus die Kleine fallen gesehen hatte. Oder es sich einbildete. . .
Fiona bewohnte eine Regency-Villa in Belgravia. Als Unterhausabgeordnete bereitete es ihr Vergnügen, mit der scharfzüngigen Lady Astor verglichen zu werden. Ihr Ehemann Desmond gehörte als Präsident eines weltweiten Verlagsimperiums zur Machtelite Englands.
Judith ließ ihren Mantel in der Garderobe und ging dann nach nebenan in die Damentoilette. Nervös tupfte sie sich etwas Glanz auf die Lippen und strich sich die vom Wind zerzausten Haare aus dem Gesicht. Sie hatte noch ihre natürliche dunkelbraune Haarfarbe und deshalb die paar Silbersträhnen bisher nicht tönen lassen. Ein Interviewer hatte ihre Augen einmal als saphirblau bezeichnet und ihren porzellanzarten Teint als Hinweis auf ihre vermeintliche englische Abstammung.
Es wurde Zeit, in den Empfangsraum zu gehen und sich von Fiona herumreichen zu lassen. Sie verzichtete dabei nie auf einen Kommentar, der sich wie der Werbetext für den Schlußverkauf anhörte: »Meine sehr liebe Freundin Judith Chase. Eine der angesehensten Schriftstellerinnen in Amerika. Pulitzer-Preis. American Book Award. Warum sich dieses bewundernswerte Wesen auf Revolutionen spezialisiert, wo ich ihr jede Menge köstlichen Klatsch liefern könnte, werde ich nie verstehen. Trotzdem sind ihre Bücher über die Französische und die Amerikanische Revolution einfach hervorragend und lesen sich dabei wie Romane. Jetzt schreibt sie über unseren Bürgerkrieg, Karl I. und Cromwell. Das Thema absorbiert sie restlos. Ich befürchte stark, daß sie einige finstere Geheimnisse herausfindet, die manche von uns lieber nicht über unsere Vorfahren wissen möchten.«
Fiona stoppte ihren Redefluß erst, wenn sie ganz sicher war, daß sie jeden Anwesenden über die Persönlichkeit Judiths aufgeklärt hatte; sobald dann Stephen erschien, machte sie eilends die Runde, um überall flüsternd zu verbreiten, der Innenminister und Judith seien hier, in diesem Hause, Tischnachbarn gewesen, und jetzt . . . Augenrollen und vielsagendes Schweigen.
Am Eingang zum Empfangsraum hielt Judith kurz inne, um das Bild in sich aufzunehmen. Fünfzig bis sechzig Personen, schätzte sie rasch, zumindest die Hälfte davon vertraute Gesichter: führende Parlamentarier, ihre englischen Verleger, Fionas adlige Freunde, ein berühmter Dramatiker . . . Sooft sie diesen Raum betrat, schoß es ihr durch den Kopf, war sie immer wieder hingerissen von der erlesenen Schlichtheit der in gedämpften Farbtönen bezogenen antiken Sofas, den museumsreifen Gemälden, den zauberhaft dezent drapierten schmalen Vorhängen, von denen die Glastüren zum Garten eingerahmt wurden.
»Miss Chase, das stimmt doch?«
»Ja.« Judith nahm ein Glas Champagner von einem Kellner entgegen, während sie Harley Hutchinson, Fernsehstar und Englands führender Klatschkolumnist, mit einem unverbindlichen Lächeln bedachte. Anfang Vierzig, lang und dürr, neugierige haselnußbraune Augen, glattes braunes Haar, das ihm in die Stirn fiel.
»Ich darf Ihnen doch sagen, daß Sie heute bezaubernd aussehen?«
»Vielen Dank.« Judith lächelte kurz und wollte weitergehen.
»Es ist immer ein Genuß, wenn eine schöne Frau auch noch einen untrüglichen Sinn für Mode besitzt. Eine Kombination, die man bei der Oberschicht hierzulande selten antrifft. Wie läuft’s mit Ihrem Buch? Finden Sie unsere kleinen Querelen zu Cromwells Zeit ebenso interessant, wie über die französischen Bauern und die amerikanischen Kolonisten zu schreiben?«
»Nun, ich denke, Ihre kleinen Querelen können es mit den anderen durchaus aufnehmen.« Judith spürte, wie die durch ihre Halluzination von dem kleinen Mädchen hervorgerufene Angst zu schwinden begann. Der kaum verhüllte Sarkasmus, den Hutchinson als Waffe benutzte, brachte sie wieder ins Gleichgewicht.
»Eine Frage, Miß Chase. Halten Sie Ihr Manuskript bis zur Fertigstellung unter Verschluß, oder lassen Sie andere an dem Schreibprozeß teilhaben? Manche Schriftsteller sprechen gern über ihr Tagewerk. Wieviel weiß beispielsweise Sir Stephen über Ihr neues Buch?«
Judith fand es an der Zeit, ihn zu ignorieren. »Entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe Fiona noch nicht begrüßt.« Sie durchquerte den Raum, ohne Hutchinsons Antwort abzuwarten. Fiona drehte ihr den Rücken zu. Als Judith sie ansprach, wandte sie sich um, küßte sie rasch auf die Wange und murmelte: »Gleich, Schätzchen. Endlich habe ich Dr. Patel erwischt und möchte unbedingt hören, was er zu sagen hat.«
Dr. Reza Patel, der weltbekannte Psychiater und Neurobiologe. Judith musterte ihn eingehend. Um die Fünfzig. Feurige schwarze Augen unter buschigen Brauen. Häufiges Stirnrunkeln, wenn er redete. Dichtes dunkles Haar, das sein ebenmäßiges braunes Gesicht umrahmte. Gutgeschnittener grauer Nadelstreifenanzug. Außer Fiona umdrängten ihn noch vier bis fünf andere und lauschten ihm — von skeptisch bis andächtig. Judith wußte, daß Patels Fähigkeit, Patienten unter Hypnose in die Frühkindheit zurückzuversetzen und sie traumatische Erfahrungen genau schildern zu lassen, als größter Durchbruch in der Psychoanalyse innerhalb einer Generation galt. Sie wußte auch, daß seine neue Theorie, die er das Anastasia-Syndrom nannte, die wissenschaftliche Welt schockiert und beunruhigt hatte.
»Ich rechne nicht damit, den Beweis für meine Theorie in absehbarer Zeit antreten zu können«, sagte Patel. »Aber immerhin haben noch vor zehn Jahren viele über mich gespottet, weil ich die Auffassung vertrat, eine Kombination von leichter Meditation und Hypnose könne die von der Psyche als Selbstschutz errichteten Blockierungen lösen. Heute ist diese Theorie akzeptiert und wird allgemein angewendet. Wozu muß sich ein Mensch einer jahrlangen Analyse unterziehen, um die Ursachen seines speziellen Problems herauszufinden, wenn sich das gleiche Resultat in ein paar kurzen Sitzungen erzielen läßt?«
»Aber beim Anastasia-Syndrom verhält es sich doch sicher ganz anders?« wandte Fiona ein.
»Anders ja, und trotzdem verblüffend ähnlich.« Patel machte eine Handbewegung. »Sehen Sie sich die Leute in diesem Raum an. Typische Vertreter der britischen Elite. Intelligent. Informiert. Bewährte Führungskräfte. Jeder von ihnen könnte sich als Vehikel eignen, die großen säkularen Führer zurückzubringen. Überlegen Sie nur, wieviel besser es um die Welt bestellt wäre, wenn uns heute beispielsweise der Rat von Sokrates zur Verfügung stünde. Sehen Sie, dort steht Sir Stephen Hallett. Meiner Meinung nach wird er einen vorzüglichen Premier abgeben, aber wäre es nicht eine zusätzliche Beruhigung, wenn man wüßte, daß Disraeli oder Gladstone als Ratgeber bereitstehen? Daß sie buchstäblich Teil seines Wesens sind?«
Stephen! Judith drehte sich rasch um, hielt dann inne, als Fiona losstürzte, um ihn zu begrüßen. Da sie merkte, daß Hutchinson sie beobachtete, blieb sie mit Vorbedacht bei Dr. Patel, als der Kreis um ihn sich auflöste. »Wenn ich Ihre Theorie richtig verstehe, Doktor, wurde diese Anna Anderson, die behauptete, Anastasia zu sein, wegen eines Nervenzusammenbruchs behandelt. Sie glauben nun, daß sie während einer Sitzung — unter Hypnose und Medikamenten — versehentlich in jenen Keller in Rußland zurückversetzt wurde, und zwar genau in dem Augenblick, in dem die Großfürstin Anastasia zusammen mit der übrigen Zarenfamilie ermordet wurde.«
Patel nickte. »Das ist exakt meine Theorie. Die Seele der Großfürstin ist nach dem Verlassen ihres Körpers nicht ins Jenseits, sondern in den von Anna Anderson eingegangen. Die beiden Persönlichkeiten wurden eins. Anna Anderson wurde in Wahrheit zur lebenden Verkörperung Anastasias — mit ihren Erinnerungen, ihren Gefühlen, ihrer Intelligenz.«
»Und was geschah mit Anna Andersons Persönlichkeit?« fragte Judith.
»Da gab es anscheinend keinerlei Konflikt. Sie war eine hochintelligente Frau, stellte sich aber bereitwillig der neuen Situation als überlebende Thronerbin Rußlands.«
»Aber warum Anastasia? Warum nicht ihre Mutter, die Zarin, oder eine ihrer Schwestern?«
Patel zog die Stirn hoch. »Eine sehr scharfsinnige Frage, Miß Chase. Damit haben Sie genau auf das einzige Problem beim Anastasia-Syndrom hingewiesen. Aus der Geschichte wissen wir, daß Anastasia unter den weiblichen Familienmitgliedern bei weiten die willensstärkste war. Vielleicht haben die anderen ihren Tod ergeben hingenommen und den Weg ins Jenseits angetreten. Sie war nicht bereit zu gehen, kämpfte um den Verbleib in dieser Zeitzone und nahm die zufällige Gegenwart von Anna Anderson wahr, um sich ans Leben festzuklammern.«
»Damit sagen Sie also, die einzigen Menschen, die Sie theoretisch zurückbringen könnten, wären diejenigen, die gegen ihren Willen starben, die verzweifelt weiterleben wollten?«
»Genau. Eben deshalb erwähne ich Sokrates, der gezwungen wurde, den Schierlingsbecher zu leeren, im Gegensatz zu Aristoteles, der eines natürlichen Todes starb. Aus dem gleichen Grund war es in der Tat leichtfertig dahingeredet, als ich meinte, Sir Stephen könnte ein geeignetes Medium sein, das Essentielle von Disraeli in sich aufzunehmen. Disraeli starb friedlich, aber eines Tages werde ich auch die Kenntnisse besitzen, um die in Frieden Ruhenden zurückzurufen, deren moralische Führungsqualitäten wieder benötigt werden. Und jetzt ist Sir Stephen auf dem Weg zu Ihnen.« Patel lächelte. »Ich darf mir die Bemerkung erlauben, daß ich höchste Bewunderung für Ihre Bücher empfinde. Es macht Freude, einem derart fundierten Wissen zu begegnen.«
»Vielen Dank.« Sie mußte ihm diese Frage stellen, die sie nun heraussprudelte: »Sie konnten doch Menschen dazu verhelfen, Dr. Patel, sich frühkindliche Erinnerungen wieder ins Gedächtnis zu rufen, nicht wahr?«
»Ja.« Er betrachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit. »Das ist doch keine müßige Frage.«
»Nein.«
Patel griff in die Tasche und reichte ihr seine Karte. »Falls Sie mich zu sprechen wünschen, rufen Sie bitte an.«
Judith spürte eine Hand auf ihrem Arm und blickte hoch in Stephens Gesicht. Sie bemühte sich um einen neutralen Tonfall. »Stephen, schön, dich zu sehen. Kennst du Dr. Patel?«
Stephen nickte Patel kurz zu, hakte sie unter und steuerte sie zum anderen Ende des Raumes. »Darling«, murmelte er, »warum um Himmels willen verschwendest du auch nur ein Wort an diesen Scharlatan?«
»Er ist kein . . .« Judith hielt inne. Von Stephen Hallett konnte man wohl am allerwenigsten erwarten, daß er Dr. Patels Theorien beipflichtete. Die Zeitungen hatten bereits über Patels These berichtet, daß Stephen ein geeigneter Kandidat wäre, Disraelis Geist zu rezipieren. Sie lächelte ihm zu, ohne sich in diesem Augenblick darum zu kümmern, daß fast sämtliche Anwesenden sie beobachteten.
Die Szene geriet in Bewegung, als die Premierministerin von der Gastgeberin an der Tür begrüßt wurde. »Oft lasse ich mich nicht auf diesen Cocktailparties sehen, aber Ihnen zuliebe . . .« sagte sie zu Fiona.
Stephen legte den Arm um Judith. »Es wird allmählich Zeit, daß du die Premierministerin kennenlernst, Darling.«
Sie aßen in Brown’s Hotel zu Abend. Bei Salat und Seezunge Veronique berichtete ihr Stephen von seinem Tagesablauf. »Vielleicht der frustrierendste seit mindestens einer Woche. Zum Kuckuck, Judith, die Premierministerin muß die Denkpause schleunigst beenden. Die Stimmung im Land verlangt Neuwahlen. Wir brauchen ein Mandat, und das weiß sie auch. Labour weiß es, und wir sind an einem toten Punkt angelangt. Und trotzdem verstehe ich’s. Falls sie nicht für die Wiederwahl kandidiert, dann ist der Fall damit natürlich erledigt. Wenn meine Zeit gekommen ist, wird es mir sehr schwerfallen, mich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen.«
Judith stocherte in ihrem Salat herum. »Das öffentliche Leben ist dein ein und alles, stimmt’s, Stephen?«
»In all den Jahren von Janes Krankheit war es meine Rettung. Es nahm mich zeitlich, geistig und kräftemäßig voll in Anspruch. Ich kann dir gar nicht schildern, mit wie vielen Frauen ich in den drei Jahren seit ihrem Tod bekanntgemacht wurde. Mit einigen bin ich ausgegangen und merkte dann, daß ihre Namen und Gesichter alle ineinander verschmolzen. Soll ich dir einen interessanten Test für Frauen verraten? Wenn sie eine gemeinsame Unternehmung geplant hat und er aus zwingenden Gründen zu spät kommt, zeigt sie da ihren Ärger? An einem
Frank »Tuffy« Reevesin Liebe gewidmet
2. Teil der Originalausgabe THE ANASTASIA SYNDROME AND OTHER STORIES Aus dem Amerikanischen übersetzt von Liselotte Julius
Der 1. Band erschien unter dem Titel »Doppelschatten«
19. Auflage
Copyright © 1989 by Mary Higgins Clark Copyright © der deutschen Ausgabe 1990
by Wilhelm Heyne Verlag , München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Der Auszug aus dem Gedicht »La Bella Dame sans Merci« von John Kents wurde von Heinz Piontek ins Deutsche übertragen. Umschlagillustration: photonica/Kamil Vojnar,Hamburg Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München
eISBN 978-3-641-10046-9
www.randomhouse.de
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