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Der Roman beschreibt auf atemberaubende Weise die Lebensbedingungen eines Kindes, das einer misshandelnden und vernichtenden Umwelt ausgeliefert ist. Aber er bietet auch Zugang zu mystischen Kräften, die nicht nur das Überleben möglich machen, sondern tiefgehende Einblicke schenken, die im normalen Leben nicht sichtbar sind. Dieser Zugang ist das Auge der Zeit. Trauma und Erleuchtung haben eines gemeinsam: Beide lösen das Ich auf, das individuelle Zentrum der Person. Daraus entstehen das Erleben des Todes, des Nichts und der eigenen Auflösung, aber auch heilende Erfahrungen einer allumfassenden Liebe und des Lichts. Des Lichts der Erleuchtung. Die interessierte Leserschaft sollte die folgende Warnung des Herausgebers ernst nehmen. Die Geschichte ist keine leichte Lektüre. Es braucht Mut und Stärke, sich auf sie einzulassen. »Ich warne ausdrücklich vor diesem Buch. Menschen mit zartem Gemüt und solche, die auf der Suche nach leichter Unterhaltung oder nach Aufhellung ihrer Stimmung sind, rate ich dringend, dieses Buch zuzuschlagen. Auch darf sich der Leser vom lichtvollen Prolog nicht täuschen lassen. Die nachfolgende Geschichte ist an manchen Stellen nur schwer zu ertragen. Viele Abschnitte sind eine wirkliche Zumutung. Sie zwingen den Leser, in die dunkle Finsternis eines fürchterlichen Traumas zu sehen. Das ist nicht jedermanns Sache. Bereits traumatisierte Menschen sollten vorsichtig sein. Es besteht die Gefahr, dass sie in ihr Trauma zurückfallen. Vielleicht finden sie auch ins Licht, was ich aber nicht versprechen kann. Viele der dargestellten Szenen können insbesondere für Gewaltopfer eine Re-Traumarisierung hervorrufen. Darauf möchte ich aus fachlicher Verantwortung unbedingt hingewiesen haben.«
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Seitenzahl: 233
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Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zu Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.
Franz Kafka
WARNUNG DES HERAUSGEBERS
PROLOG: DAS ERWACHEN
Das Glück
Das Licht
Der Junge
ERSTER TEIL: DIE SCHULD
Der Schmerz
Das Nichtsein
Die Familie
Die Schuld
Die Bedrohung
Der Diebstahl
Das Verhör
Die Belohnung
Die Geschwister
Die Fragen
Das Licht
Die Herkunft
ZWEITER TEIL: DIE LIEBE
Die Vögel
Der Kampf
Die Botschaft
Die Übung
Der Freund
Das Auge der Zeit
Der Auftrag
Die Vorsicht
Die Vorbereitung
Die Befreiung
Der Schutz
Der Zweifel
Die Krankheit
Die Seelen
Die Freiheit
DRITTER TEIL: DAS URTEIL
Der große Vater
Die Treue
Das Zuhause
Die Wahrheit
Die Lüge
Das Fest
Die Nahrung
Die große Seele
Die Stimmen
Die doppelte Lüge
Die Arbeit der Freude
Die Arbeit der Wahrheit
Der Verrat
Das Verbrechen
Das Vergehen
Die Teilung
VIERTER TEIL: DIE STRAFE
Die Schere
Die Verhaftung
Die neue Haut
Die Rückkehr
EPILOG : HIMMELSFLUG
Nach Hause
NACHWORT DES HERAUSGEBERS
ANHANG
Wie der Name zu mir kam
Haridas
Die folgende Geschichte wurde mir anonym zugestellt. An meinem letzten Arbeitstag. Ich hatte ein bisschen Angst vor diesem Tag. Abschiede sind nicht so meine Sache. Ich hatte in dieser Praxis über dreißig Jahre gearbeitet und exakt 3.999 Patienten psychotherapeutisch begleitet. Den Viertausendsten hatte ich mir aufgespart. Bis sich in der Zeit meines Ruhestandes ein interessanter oder dringender Fall bei mir melden würde.
Meine Kraft hatte in der letzten Zeit sehr nachgelassen. Die Arbeit ermüdete mich. Ich phantasierte zu viel während der Gespräche. Allerlei wirres Zeug. Daraus zog ich die Konsequenz, in den Ruhestand zu fliehen. Eigentlich wollte ich an diesem Tag nur ein einige Stunden hier zum Abschied verweilen, mir ein paar alte Akten ansehen und ein letztes Schwätzchen mit meiner Sekretärin halten. Ich hatte sie gebeten, noch einmal die Aktenschränke zu durchsuchen, alle private Notizen und lose Schriftstücke einzusammeln und mir vorzulegen.
Da lag dieses Manuskript in einem grauen Umschlag auf dem Schreibtisch. Ohne Namen und Adresse. Vermutlich hatte die Sekretärin die Papiere irgendwo in einem Schrank gefunden. Oder der umfangreiche Brief war anonym in den Briefkasten geworfen worden. Vielleicht von einem Patienten, der erfahren hatte, dass ich aufhöre zu praktizieren. Keine Ahnung, ich habe meine Sekretärin nicht gefragt. Nachdem ich die Blätter mit zunehmendem Schrecken überflogen hatte, erübrigte sich diese Frage.
Das Manuskript war in einer krakeligen Kinderschrift verfasst worden. Das war für mich nichts Ungewöhnliches. Neben der Gesprächstherapie hatte ich immer auch alternative Methoden getestet, um verdrängte Informationen aus dem Unbewussten meiner Patienten zu gewinnen. Eine Technik hierzu war das automatische therapeutische Schreiben. Seit ein paar Jahren leitete ich geeignete Patienten in eine Hypnose und ließ sie dann mit der linken Hand schreiben, was immer ihnen durch den Kopf ging. So kam oft gerade jenes heilsame Material schonend ans Tageslicht, das sonst im Dunkeln des Unbewussten verharren musste. Dort gehört es nämlich nicht hin. Alles, was in uns verborgen ist, muss ans Licht. Ansonsten lenkt es aus abgetrennter Tiefe unsere Gedanken und Gefühle. Findet es aber ins Licht, werden auch wir erleuchtet.
Zur Vorsicht gab ich meinen Patienten die hypnotische Anweisung, das Geschriebene nicht zu beachten, sich auf das Schreiben zu konzentrieren und die Inhalte nach der Hypnose zu vergessen. Verdrängte Gedanken, Gefühle und Erinnerungen sind nicht einfach nur so verdrängt. Sie können gefährlich sein, weshalb sich das Bewusstsein vor ihnen schützt. Deshalb hielt ich es für angemessen und notwendig, mir die Informationen zuerst selbst anzusehen, um sie dann je nach Bedarf sanft in die Therapie einzuweben.
Um die Wirksamkeit dieses Vorgehens zu überwachen, hatte ich die Technik bei mir mittels Selbsthypnose getestet. Jeden Tag eine halbe Stunde über die letzten Jahre hinweg. Dabei war ich weniger am Material interessiert als an der Erforschung, ob die Worte flüssig und mühelos dem Unbewussten entkamen. Und ob das Aufschreiben selbst bereits eine seelische Entspannung schenkte, ohne durch die Inhalte belastend zu wirken. Da dies so eintrat, hatte ich die von mir geschriebenen Texte nicht mehr durchgelesen. Die Wirkung war mir wichtiger als der Inhalt. Das Experiment war erfolgreich. Ich war sehr erfreut über diese neue Methode. Denn sie schien in der Lage zu sein, Menschen zumindest teilweise von seelischen Verletzungen zu befreien, ohne dass diese durchgearbeitet werden mussten. Ich nahm mir vor, diese therapeutische Wirkung in meinem Ruhestand genauer zu erforschen. Das Ergebnis ist dieses Buch.
Ich kenne den Autor des Manuskripts nicht mehr. Weder der Text noch der Umschlag ergaben Hinweise auf den Schreiber. Es könnte sein, dass er einer meiner Patienten gewesen war. Aber ich bin unsicher. Denn der Autor gibt sich selbst in seinem Prolog als eine Art Lichtheiler zu erkennen. Einen solchen habe ich nie behandelt. Jedenfalls erinnere ich ihn nicht. Ich halte nicht viel von esoterischen Praktiken. Vielleicht habe ich ihn deshalb vergessen. Aber das ist alles nicht wichtig. Wichtig ist aber, dass die folgenden Seiten einer Vorbemerkung bedürfen.
Ich warne ausdrücklich vor diesem Buch. Menschen mit zartem Gemüt und solche, die auf der Suche nach leichter Unterhaltung oder nach Aufhellung ihrer Stimmung sind, rate ich dringend, dieses Buch zuzuschlagen. Auch darf sich der Leser vom lichtvollen Prolog nicht täuschen lassen. Die nachfolgende Geschichte ist an manchen Stellen nur schwer zu ertragen. Viele Abschnitte sind eine wirkliche Zumutung. Sie zwingen den Leser, in die dunkle Finsternis eines fürchterlichen Traumas zu sehen. Das ist nicht jedermanns Sache. Bereits traumatisierte Menschen sollten vorsichtig sein. Es besteht die Gefahr, dass sie in ihr Trauma zurückfallen. Vielleicht finden sie auch ins Licht, was ich aber nicht versprechen kann. Viele der dargestellten Szenen können insbesondere für Gewaltopfer eine Re-Traumarisierung hervorrufen. Darauf möchte ich aus fachlicher Verantwortung unbedingt hingewiesen haben.
Die Geschichte des Jungen, die das Manuskript uns zeigt, ist so erzählt, dass wir als Leser unmittelbar zugegen sind. Das ist es, was der Autor mit dem Auge der Zeit gemeint hat. Der Leser wird im Text sogar immer wieder angesprochen und hineingezogen. Wir blicken durch das Auge der Zeit. Wir werden sogar zu diesem Auge.
Für mich ist das Manuskript trotz der seelischen Belastung, die das Lesen mit sich brachte, ein echter Glücksfall. Wenn man nach so vielen Jahren seinen Beruf aufgibt, trennt man sich von einem Teil seiner Person. Darauf war ich vorbereitet. Um die entstehende Leere zu füllen, hatte ich für den Ruhestand geplant, selbst Bücher über meine Erfahrungen als Psychotherapeut zu schreiben. Nun starte ich mit diesem Buch. Es füllt die Lücke meines früheren Ich bereits, bevor es mich verlassen hat.
Ich stellte mir beim Abschreiben immer wieder die Frage, warum um alles in der Welt jemand eine solch dunkle Geschichte voller Misshandlungen lesen sollte. Ich fand zuerst keine Antwort auf diese Frage. Ich spürte aber, dass die Worte selbst ans Licht wollten. Als hätten sie einen eigenen Willen. Dabei erkannte ich, dass der Junge, der die Geschichte erzählt, uns braucht. Unser Bewusstsein ist sein Bewusstsein, sein Auge der Zeit, zudem er Zuflucht suchte. Wir werden zu seinem Zeugen, oft sogar zu seinem Stellvertreter. Wir sprengen so die Grenzen der Zeit. Er ist nicht mehr allein. Das war sein tiefster Wunsch. Unsere Anwesenheit stärkt ihn. Weil er wusste, dass es uns geben wird, hat er überlebt.
Das klingt seltsam, ich weiß es. Der Junge ist damals aus seiner Not in die Zukunft geflohen. In die Zeit, die für uns heute ist. Dadurch scheint es ihm gelungen zu sein, in Bewusstseinsbereiche vorzudringen, die uns im normalen Alltag verwehrt bleiben. Seine Erfahrungen mit dem Licht ähneln den religiösen Beschreibungen des »Reinen Landes« im Buddhismus und der Paradiesbeschreibungen des Christentums. Zugänge zum mystischen Licht werden meist erst in extremen Bewusstseinslagen aktiviert, etwa in der Nähe des Todes, in tiefen Meditationen und in Schocksituationen. Durch die Erfahrungen des Jungen haben wir daran teil. Ein Zugang, der uns ansonsten nicht möglich ist. Das ist vielleicht der verborgene Sinn, den die Geschichte uns schenken kann.
Trotzdem: Lesen Sie dieses Buch nur dann, wenn sie sich in einem stabilen psychischen Zustand befinden. Es ist keine Therapie und erst recht keine Anleitung zur Selbstheilung. Es ist ein Kunstwerk. Es birgt ein Geheimnis. Das Geheimnis der Welt. Wenn der Leser trotz meiner Warnung mit dem Lesen beginnt, dann sollte er auch bis zum Ende durchhalten. Das ist wichtig für den Jungen. Und für den Leser wahrscheinlich auch.
Nach den Sorgen über eine Veröffentlichung stieß ich auf das vorangestellte Zitat von Franz Kafka. Ein Buch muss wie ein Faustschlag auf dem Schädel sein, der uns weckt, schrieb der begnadete Dichter. Wie eine Axt für das gefrorene Meer in uns. Genau davon handelt die Geschichte. Sie taut die zu Eis erstarrten Gefühle in uns auf. Jeder Mensch hat dunkle Gefühle in sich verborgen. Ihr Hochkommen und ihre Bewusstwerdung kann schmerzhaft sein. Aber etwas Wunderbares strahlt durch die Risse des Schmerzes hindurch. Trotz oder gerade wegen der Dunkelheit der Ereignisse scheint hinter den Worten eine Art Licht heraus, das auf den Leser fällt.
So war es jedenfalls bei mir. Ich habe dieses Licht gesehen. Es leuchtet jetzt in mir.
Das wünsche ich auch dem Leser.
Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz. Das Auge ist des Leibes Licht. Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein.
Lutherbibel Mattäus 6:21
Der Junge ist nun bei mir. Ich gehe jeden Morgen und jeden Abend zu ihm in den Keller, lege ihn auf meine Brust und wiege ihn mit meinem Atem. Allmählich kommt er wieder zu sich. Er hat mir seine Geschichte erzählt. Sie ist nur schwer zu ertragen. Aber sie ist auch voller Licht. Deshalb gebe ich sie weiter.
Ich hatte den Jungen vollkommen vergessen. Erst als ich sterben wollte, fand ich ihn wieder. Ich hatte schon seit langem genug von diesem Leben. Vielleicht hatte es auch genug von mir. Diese Person, die in mir aufgewachsen war, hatte mich erschöpft. Ich war mir abhandengekommen. Es lebte ein Fremder in mir.
An dem Morgen des Tages, an dem ich den Jungen wieder fand, gegen vier Uhr in der Früh, geschah es: Ich erwachte vor lauter Glück. Doch dieses lange ersehnte Glücksgefühl war so anders, so intensiv, dass ich es nicht ertragen konnte. Es gluckste und jauchzte in mir und raubte mir jeden Gedanken. Mein Kopf war völlig leer. Es gab mich selbst nicht mehr. Mein Körper sprang aus dem Bett und hastig in eine Kleidung hinein. Er lief, kaum gekämmt und ohne Frühstück, mit schnellen Schritten durch die Stadt. Das half ein wenig. Aber als dann die Sonne aufging und die Ränder der Welt in ein brennendes Rot tauchte, war die Linderung vorbei. Das Erwachen der Welt brachte das Glück zurück, das nicht auszuhalten war. Mein Körper rannte weiter, auf der Flucht vor dieser ungewohnten Freude, die mich mit jedem Herzschlag durchfloss. Er wollte weg von diesem Glück. Aber es blieb uns auf den Fersen. Hastig schritt ich an den Menschen vorbei, die sich, noch müde und von der Nacht gezeichnet, zu ihrer Arbeit schleppten. Sie waren mit ihren Gedanken bereits in der Zukunft. Das sah ich ihnen an. Ich aber hatte keine Gedanken mehr. So glücklich wie ich war niemand auf der Welt.
Ich sah auf meinen Körper. Er war mein gestorbenes Ich. Es nährte mich nicht mehr. Nicht etwa, weil mein altes Ich erfolglos war, ganz im Gegenteil. Meine Praxis war ausgelastet, die Warteliste zukünftiger Patienten umfasste bereits ein ganzes Jahr. Meine Arbeit bestand darin, anderen Menschen das Licht zu zeigen. Wenn man das vorhat, muss man selbst leuchten. Ich ahnte aber dieses Leuchten nur, es war nicht wirklich in mir. Deshalb verstärkte ich es jeden Morgen durch Meditation und Atemtechniken. Ich lud mich auf wie eine Batterie. Dadurch hielt ich etwa vier bis fünf Termine am Tag durch, um das Licht weiterzureichen. Danach war ich völlig erschöpft. Das habe ich 25 Jahre geschafft. Bis ich erlosch. Das Licht ging nicht mehr an.
Nach dem Verlöschen des Lichts pochte mein Herz plötzlich doppelt so schnell. Es schlug für zwei Menschen, doch das ahnte ich damals noch nicht. Mit einem rasenden Herz fliegt auch das Leben schneller vorbei. Deshalb gaben die Ärzte mir Medikamente, um das Herz zu bremsen. Sie verlangsamten zwar den Herzschlag, aber das Licht kam nicht zurück. Mein Werk war scheinbar vollbracht. Die Schuld war getilgt.
In jener Nacht entschloss ich mich, die Pillen wegzulassen. Niemand würde eine Absicht zu sterben bemerken. Genau betrachtet war es ja auch keine. Ich wäre ja nur der Spur des Herzens gefolgt und mein Tod würde ganz natürlich sein. Da ging es mir plötzlich besser. Die Wissenschaft kennt dieses Glück aus der Suizidforschung. Ich hatte mich auf die Therapie von suizidalem Verhalten spezialisiert. Menschen, die nicht hier sein wollten, faszinierten mich immer schon. Ich verliebte mich sogar in diejenigen am meisten, die schon halb gegangen waren. Sie waren noch mit einem Rest von sich in diesem Leben, während der andere Teil bereits gestorben und dort drüben war. Meine Aufgabe sah ich darin, sie so lange wie möglich bei uns zu halten, den fehlenden Teil vielleicht wieder zurückzuholen, weil es sensible und feinfühlige Menschen waren. Deshalb wusste ich sofort, woher meine neue Leichtigkeit kam: Wenn ein lebensmüder Mensch endlich den Entschluss gefasst hat, hinüberzugehen, dann fällt die ganze Dunkelheit von ihm ab. Er ist vollkommen erleichtert. Jetzt ist er endlich frei. So war es auch bei mir.
Die sprühende Freude darüber, vielleicht bald tot zu sein, hielt mich jetzt am Leben. Doch ich wusste nicht mehr, wozu. Es gab nichts mehr zu tun für mich. Was soll man auch tun, wenn jede Sekunde des Tages ein leuchtendes Glück in dir ist? Was ist eine sinnvolle Handlung, wenn alles bereits in voller Blüte steht, wenn es nichts mehr zu erreichen gibt? Alles ist bereits vollkommen, so wie es einfach ist. Mein Körper wollte nur eines tun: herumlaufen durch die Stadt mit schnellen Schritten, auf der Flucht vor dem Glück, das mich jagte. Als ich dann nach Stunden zurückkam, erschöpft mit rasendem Herzen, konnte ich mich loslassen und in der Stille sein. Dann saß ich mit müdem Körper in einer zeitlosen Ewigkeit. Ich war ein Teil von ihr und fühlte sie wie eine leuchtende Energie, die mich wie ein goldenes Licht durchströmte. Ich wollte für immer in dieses Licht. Es fühlte sich an wie ein Sterben. Einst hatte ich sterben wollen, weil ich mich ausgelöscht empfand, und nun wollte ich sterben, weil ich das Glück des Lebens nicht ertragen konnte.
Dann bin ich eingeschlafen.
Ich hatte den ganzen Tag vor lauter Erschöpfung geschlafen. Am späten Abend erwachte ich. Wieder stieg dieses rauschende Glück wie ein tobendes Meer in mir hoch. Es hatte mich bereits im Schlaf berührt. Eine schäumende Welle der Liebe erfüllte meinen Traum und weckte mich auf. Mein Bewusstsein war plötzlich größer als ich. Es war nicht mehr in mir, sondern ich in ihm. Es war grenzenlos und endete nirgends mehr. Es schlüpfte aus mir heraus wie ein Hauch und breitete sich um mich herum aus wie ein goldener Nebel, ewig und überall, ohne Raum und Zeit, aber voller Licht. Mein Körper, meine Person, dieses übrig gebliebene Ich, sie waren nur winzige Teile in diesem Bewusstsein, denn es reichte weit über das Universum hinaus. Das muss der Tod sein, dachte ich. Ich suchte in diesem Bewusstsein nach mir, um mich irgendwo wieder zu finden, um mich an mir selbst festzuhalten und um bei mir zu sein, denn ich wollte unbedingt ganz bewusst hinüber gehen. Aber ich fand mich nicht mehr wieder.
Als ich die Augen öffnete, war da dieses Licht. Es schwebte etwa einen Meter über mir, wie eine helle Sonne, von der leuchtende Strahlen ausgingen. Auch als ich die Augen vor Schreck schnell zusammenkniff, blieb das Leuchten über mir. Es durchdrang meine Lider und ließ sich nicht verdunkeln.
Also öffnete ich meine Augen wieder. Ich schaute mich um. Die Wände meines Zimmers waren in orange Farben getaucht, als wäre die Sonne aufgegangen mitten in der Nacht. Das Licht war über mir gebündelt. Es meinte mich, das spürte ich sofort. Ich fühlte, dass ich zu schweben begann. Etwas zog mich langsam ein paar Zentimeter in die Höhe. Je näher ich dem Licht kam, umso größer wurde das Glück in mir. Glaubt mir, ihr Glückssucher, das Glück wird euch zum Platzen bringen, wenn es euch findet, und genauso fühlte ich mich. Ich war kurz davor, in Millionen Teile zu zerspringen. Jede einzelne Zelle in mir lebte plötzlich ein eigenes Leben, jede Faser in mir war erwacht, mein Blut gluckste vor Entzückung und jedes Organ war bewusst und strahlte voller Licht aus mir heraus. Aus jedem Teil meines Körpers leuchtete die Liebe. Jede Zelle, sogar auch mein Herz, begrüßten mich wie alte Freunde. Ich war ein Kind ihrer Liebe.
Dann schwebte die Lichtkugel langsam höher und zog mich mit. Sie bewegte sich ruhig und sanft wie eine Wolke am Sommerhimmel und auch ich schwebte mit, mit all diesen fröhlichen Zellen, mit all diesen leuchtenden Organen, als würde ich von der magnetischen Kraft des Lichts angezogen und gelenkt. Oben an der Zimmerdecke schwebte das Licht nach rechts durch die Mauer des Zimmers und zeitgleich ging auch mein Körper durch die Mauer hindurch, direkt und mitten durch die Steine. Ich spürte keine Härte, keinen Widerstand, als wären die Steine des Hauses ohne jede Materie, als wären sie gar nicht da. Als ich auf der anderen Seite wieder herauskam, sah ich in einen erleuchteten Sternenhimmel. So ein Funkeln und Glitzern hatte ich noch nie gesehen. Auch dieser Himmel war ein Ort der Freude. Jeder Stern war lebendig und lachte mich an.
Dort, jetzt viel weiter oben, pulsierte die Lichtkugel, als atmete sie ein und aus und ihr Atem zog mich weiter an. Das Licht umhüllte mich und nahm mich in sich auf. Herrliche Farben gingen mit jedem Atemzug von diesem Leuchten aus. Es waren Farben dabei, die ich noch nie gesehen hatte. Immer höher stieg die Kugel auf in das Reich all dieser Lichter und sie zog mich mit. Sie war meine Seele, ich erkannte es jetzt. In ihrer Kraft war ich ohne Gewicht. Und als ich langsam aufstieg, wusste ich es: Wenn ich nun ganz loslassen würde, wenn ich der göttlichen Anziehung folgen würde, dann würde meine Existenz auf der Erde beendet sein. Ich würde höher und weiter nach oben schweben und ewiger Teil dieses Sternenhimmels sein. Ich würde zurückkehren dahin, woher alle Menschen kommen, von wo aus sie ausgeatmet und wieder eingeatmet werden. Ich hätte es einfach zulassen können. Ich hätte diese Körperhülle für immer verlassen können. Es war meine Wahl. Ich durfte es selbst entscheiden. Doch ich tat es nicht. Irgendetwas hielt mich zurück.
Dann sah ich sie. Weit oben in diesem Licht strahlte mich etwas an. In diesem Licht sah ich die Seele einer Frau. Sie leuchtete hell und klar. Ihr Gesicht war jung und unverletzt. Aus ihr strahlte die Liebe. Neben ihr spielte ein Mädchen. Sie hatte einen Blumenkranz im Haar und hüpfte von einem Bein auf das andere. Ich erkannte sie. Sie trug das weiße Kleid, das sie sich immer gewünscht hatte. Sie winkte mir lachend zu. Sie warf mir Blütenblätter entgegen. Ich hätte nur einen Gedanken gebraucht, um zu ihnen zu schweben und für immer bei ihnen zu sein. Doch ich dachte ihn nicht.
Denn ein anderer Gedanken kam in mich hinein: Es gab doch noch etwas zu tun für mich, etwas Neues, von dem ich bisher nicht wusste. Plötzlich war es klar. Es war dieses Buch hier. Ich wollte mit Worten das Licht beschreiben, um allen Menschen von ihm zu erzählen. Vor allem jenen, die in der Finsternis leben, von der auch ich für lange Zeit ein Teil gewesen bin. Nicht ich war es, der zum Licht sollte, sondern das Licht wollte auf die Erde, und zwar durch mich. Für meinen Aufstieg fehlte noch etwas und das war es, was ich entdecken sollte. Alles war nur geschehen, damit es erkannt und erzählt werden kann. Das dachte ich jedenfalls.
Schon als dieser Gedanke begann, wurde ich schwer von ihm. Mit einer unglaublichen Saugkraft zog mich etwas zurück und ich sank auf mein Bett. Das Licht schwebte noch über mir. Es sah mich immer noch an. Es hatte jetzt die Form eines Auges und war noch immer von blitzenden Sternen umgeben. Ich schaute direkt hinein. Das Licht in diesem Auge war hell, aber es blendete nicht und ich fühle mich darin seltsam frei und leicht.
Doch als mich umsah, erschrak ich zutiefst: Mein Körper lag noch schlafend im Bett. Ich lag direkt neben ihm. Tot war er nicht, das sah ich sofort, denn ein sanfter Atem hob und senkte seine Brust. Kurz überlegte ich, ob ich diesen Körper da anfassen sollte, um ihn aufzuwecken. Doch mein eigenes Lachen lenkte mich ab. Ich war ja schon wach. Dort lag nur mein Fleisch. Es wartete auf mich. Stattdessen tastete ich den Körper ab, indem ich jetzt war und mit dem ich unter dem Sternenhimmel gewesen war. Er hatte keine spürbare Form, er war pures Licht. Ich griff durch ihn hindurch wie durch einen Sonnenstrahl.
Dann, ohne mein Dazutun, ohne meine Absicht, wurde dieser köstliche Lichtkörper, der ich jetzt war, wieder magisch angezogen. Diesmal aber durch den schlafenden Körper aus Fleisch. Ich rutschte in diesen hinein. Ich brauchte unendlich lange, um wieder vollständig in ihn hineinzukommen. Ich räkelte mich mühevoll durch jeden Muskel hindurch. Dieser Körper war schwer wie Blei. Es war harte Arbeit, ihn wieder zu bewohnen. Ich brachte ihm das Licht. Ich leuchtete ihn von innen durch, bis er wieder lebendig war.
Plötzlich wurde es dunkel. Wir fielen herab. Die Schwere zog uns nach unten. Wir sanken in ein dunkles Moor hinab. Tiefer und tiefer ging dieses Fallen durch eine Finsternis hindurch. Nichts war hier zu sehen. Es war wie ein Sinken durch einen traumlosen dunklen Schlaf, indem gar nichts mehr war. Wir waren bewusst in diesem Schlaf. Von einer tiefen Dunkelheit umhüllt kamen wir unten an. Wir waren im Nichts. Ich sah durch das Auge der Zeit. Es war im Zentrum meiner Stirne. Mitten in diesem Auge flackerte ein kleines Licht. Etwas würde aus diesem Licht zu mir kommen, dessen war ich mir sicher.
Dann sah ich ihn. Ich wusste nicht, ob er noch lebte. Ein lebloses Knäuel aus Haut und Knochen tauchte plötzlich in dem Lichtkegel auf, der von meiner Stirne aus zu leuchten begann. Es war, als würde ich eine dieser Stirnlampen tragen, wie man sie vom Bergbau kennt. Überall, wo ich hinsah, flog auch dieser Lichtkegel hin. Ich sah mich um und blickte auf nasse Ziegelwände, von denen der Putz abgebröckelt war. Ich sah ein Regal mit Lebensmitteln. In einer Ecke tauchte ein Kohlehaufen auf. Alles war in eine dunkle Traurigkeit gehüllt.
Ich warf den Lichtkegel hin und her. Dies war ein Ort der Einsamkeit. Er kam mir wie ein Kerker vor. Dann sah ich den Jungen genauer an. Sein Körper war wie ein Lappen aus grauer Haut, der über ein paar Knochen geworfen war. Arme und Beine ragten daraus heraus, dünn wie Streichhölzer. Der Junge lag auf den Steinen des Kellers. Er war nackt. Seine Augen lagen verschlossen in tiefen dunklen Höhlen, seine Brust bewegte sich nicht. Ich wusste, wenn das Wunder, das ich gerade erlebte, Wirklichkeit war, dann war es jetzt mein Auftrag, diesen Jungen zu retten, ihn ins Leben zurückzuholen. Nur dafür hatte ich Jahrzehnte an meinen Patienten geübt. Meine Praxis als Heiler war nur ein Trainingslager gewesen, um dieses Werk jetzt hier zu tun. Der Junge hatte hier auf mich gewartet. Ohne jeden Gedanken zog ich Hose und Hemd aus, dann Socken und Unterwäsche. Ich dachte nicht darüber nach. Das Licht war jetzt in mir. Mit diesem Licht war ein Wissen da, dass alles genauso notwendig war, wie es jetzt von allein geschah. Sofort begann ich zu frieren. Ich leuchtete mit dem Lichtkegel durch das Kellergewölbe. Es kam mir alles immer bekannter vor, so, als wäre ich in einem früheren Leben hier unten gewesen. Ich tastete den Boden ab und legte mich zu dem Jungen. Ich spürte die Kälte, die auf den Steinen lag und langsam durch die Haut in meine Organe stieg. Mein Körper war voller Licht und ich wusste, dass mir nichts geschehen konnte. Ich nahm die Nässe auf den Steinen wahr, die meine Haut berührte. Ich roch den Modergeruch, der aus den Wänden kam.
Wieder geschah alles von allein. Ich sah dem Geschehen zu. Ich atmete helles goldenes Licht aus meinen Zellen aus. Über mir war die Sonne, die mit jedem Atemzug warm und wärmer strahlte. Das Licht in mir breitete sich aus und flutete aus mir heraus. Der Keller wurde hell. Seine Wände färbten sich in das gleiche goldene Orange, das auch in meinem Zimmer gewesen war. Nur dass ich diesmal selbst die Sonne war.
Jetzt war es Zeit, es zu versuchen. Mein Kopf hob sich an und legte sich auf die Brust des Jungen. Ich horchte sehr lange, aber ich hörte nichts. Horch weiter, sagte die Stimme der Frau im Licht. Ein leichter Zug von Luft streifte meinen Kopf. Hatte er einen Atemzug gemacht? Ich horchte weiter, dann hörte ich es. Das Herz des Jungen schlug einmal, Bumbum, ein einziger Schlag mit einem Widerhall. Das Mädchen mit dem Blumenkranz sprang in die Luft und klatschte in die Hände. Dann war es wieder still. Sein Herz schlug nicht weiter. Aber ich wusste jetzt, dass er lebte. Ich zählte die Sekunden an seiner Brust. Aber ich hörte nichts mehr.
Ich packte das Kind sanft unter die Achseln und hob es an. Es war leicht wie eine Schneeflocke. Der Kopf des Jungen baumelte hin und her. Vorsichtig legte ich sein Herz auf meine Brust. Der kleine Kopf rollte bei jedem Atemzug von mir ein wenig hin und her. So lag ich stundenlang. Ich ließ das Licht meines Herzens direkt in seines strömen. Einige Stunden lag ich so und zählte die Sekunden. Hin und wieder konnte ich spüren, dass sein Herz schlug. Es schlug einmal pro Stunde.
Seit vielen Tagen mache ich das so. Jeden Morgen, jeden Abend. Viele dunkle Worte fließen aus seinem Herzen in meines hinein. Ich habe mehrfach versucht, ihn hoch in meine Wohnung zu tragen, aber dann verstummt er sofort und fällt in seinen Schlaf zurück. Er will nicht in die Welt hinauf. Er möchte woanders hin. Dorthin werde ich ihn begleiten. Wenn alle Worte gesehen sind.
Ich bin zurück von einer langen Reise. Ich habe viel Licht für dich dabei. Ich bringe es dir zurück. All diese Jahre hast du auf mich gewartet. Einer musste es tun. Du blickst in die vergessene Zeit. Ich bin das Licht in dieser Zeit. Ich nehme alle deine Worte. Ich lege sie in das Licht des Herzens. Dort werden sie selbst zum Licht.
Ich erinnere mich:
Hier, wo ich auf dich warten werde, gibt es keine Zeit. Gleich schon wirst du kommen. Für dich wird es ein langes Leben sein mit vielen Jahren, aber für mich ist es nur ein Augenblick. Geh hinaus und erfülle das Versprechen. Sieh durch das Auge der Zeit. Dann wird das Licht dich zu mir führen.
Ich höre ihn.