Das ausgesetzte Kind - Christel Oostendorp - E-Book

Das ausgesetzte Kind E-Book

Christel Oostendorp

0,0

Beschreibung

Inspiriert durch eine wahre Lebensgeschichte eines Jungen aus Italien, der direkt nach der Geburt ausgesetzt wurde und viele Schicksalsschläge hinnehmen musste. Sein ganzes Leben lang war er auf der Suche nach Liebe. Hatte er doch nie richtige Mutterliebe erfahren oder eine väterliche Schulter, an die er sich anlehnen durfte. Namen und Orte geändert.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 67

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



(Bild von Aleksandra Gonet-Vollmer)

Das Leben eines Kindes in der Sackgasse

Der Platz vor dem Campanile del Duomo di Messina ist zu dieser Uhrzeit menschenleer. Es ist dunkel und die Nacht sehr kalt für sizilianische Verhältnisse. Der Dom ist noch immer nicht wieder ganz hergestellt, nachdem er bei einem Bombenangriff der Deutschen sehr gelitten hat. Es ist der 29. Dezember 1946 - 3.05 Uhr morgens. Gina hält ein Bündel im Arm. Sie hat den Auftrag, den neugeborenen Jungen ihrer jüngeren Schwester Lucia vor den Dom zu legen. Er ist angezogen und in eine warme Decke gepackt. Gina trägt ihn in einem Weidenkorb fest unter ihrem Umhang. Der Arm schmerzt schon, weil sie den Weidenkorb fest an ihren Körper presste. Sie traute sich nicht einen Wechsel vorzunehmen, um den Jungen nicht aufzuwecken. Ein kleiner Zettel liegt in dem Weidenkorb mit der Aufschrift: Ich heiße Adriano und bin am 29.12.46 um 0.12 Uhr geboren. Vor einer Stunde wurde er noch von seiner Mutter gestillt und mit Weihwasser auf den Namen Adriano getauft und jetzt soll er dort vor dem Dom auf einen der Mönche warten, der um 4.00 Uhr als Erster den Dom betritt, um für die Morgenandacht der Mönche des nahegelegenen Klosters alles vorzubereiten. In der Nähe des Domes befindet sich auch das Nonnenkloster der Don Bosco Schwestern, die das Waisenhaus in Messina betreuen. Dort wäre Gina eventuell entdeckt worden, wenn sie Adriano vor das Tor gelegt hätte und deshalb wählte sie den Dom für die Ablage des Kleinen. Das Nonnenkloster liegt auf einem kleinen Hügel und man kann von dort aus weit in die Stadt hineinschauen.

Gina schaut sich nach allen Seiten um, sie darf auf keinen Fall gesehen werden, damit das seit Monaten gehütete Geheimnis der Familie, nicht durch Unachtsamkeit aufgedeckt wird. Es ist still, kein Mensch und kein Tier sind zu sehen. Sie stellt den Weidenkorb auf einen der Felsblöcke neben dem Eingang zum Dom ab. Tränen laufen ihr über die Wangen, als sie sich schnell davonmacht wie eine Diebin. Sie bekreuzigt sich mehrfach und nimmt den kürzesten Weg nach Hause. Eine gute halbe Stunde muss sie laufen, bis sie wieder zuhause ankommt. Ihre Schwester liegt noch wach in ihrem Wochenbett und weint. Als Gina ihr erzählt, dass sie den Jungen vor den Dom abgelegt hat und sie nicht dabei beobachtet wurde, atmete Lucia mehrfach tief, damit sie nicht einen Schrei ausstieß vor Schmerz. Lucias Mutter Carmilla, die bei der Geburt Hilfestellung geben musste, weil eine Hebamme nicht ins Vertrauen gezogen werden durfte, hatte sich schon zurückgezogen und Lucia in ihrem Schmerz allein gelassen. Die letzten Monate durfte Lucia das Haus nicht mehr verlassen. Sie wurde von der Familie versteckt gehalten. Man erzählte den Nachbarn, dass Lucia zur Tante nach Palermo gefahren sei, um in der Familie auszuhelfen. Die Geburt fand im Keller des Hauses statt, damit kein Laut des Kindes in der Nachbarschaft vernommen werden konnte. Die Wehen kamen erst sehr langsam und nach mehr als 10 Stunden hatten sie den Zenit erreicht. Noch nie in ihrem Leben hatte Lucia solche Schmerzen erleiden müssen. Sie dachte darüber nach, ob Gott sie mit diesen Schmerzen bestrafen wolle oder ob alle Frauen solche Schmerzen erleiden mussten. Bis der kleine Junge sein Köpfchen zeigte, vergingen noch einige Stunden. Lucia verlor viel Blut und Carmilla hatte große Angst doch noch eine Hebamme oder einen Arzt rufen zu müssen. Lucias Mutter dachte auch immer wieder an die Schmach, die ihre Tochter in die Familie gebracht hatte und verfluchte den Bastard, der ihr das angetan und sich dann auch noch aus dem Staub gemacht hatte. Carmilla hatte vor Wochen schon Weihwasser für die Nottaufe aus der Kirche geholt und schüttete es dem kleinen Jungen über sein Köpfchen. Lucia, Gina und die Mutter sprachen ein kurzes Gebet und tauften den kleinen Jungen auf den Namen seines Vaters. Das war das Einzige, was Lucia durchsetzen konnte. Sie wollte dem Kind, wenn es ein Junge werden würde, den Namen seines Vaters geben. Ein Mädchen hätte sie Adriana genannt. Immer noch verstand Lucia nicht, dass sie für Adriano nur ein Zeitvertreib war. Er war so lang von Zuhause fort, dass er Trost in ihren Armen suchte und auch fand. Da Lucia das Haus nicht mehr verlassen durfte, konnte sie Adriano auch nicht intensiver suchen. Jetzt nach der Taufe drängte die Mutter darauf, dass Adriano schnellstmöglich aus dem Haus gebracht wurde. Das Elend sollte ein Ende haben. Lucia blieb nichts anderes übrig als sich zu fügen, sollte es auch noch so schmerzlich sein. Später sollte sie erfahren, dass die Geburtswehen, die Trennung von ihrem Geliebten und die Trennung von ihrem Sohn, nicht die schlimmsten Schmerzen waren. Die Seele konnte viel schlimmer und dauerhafter schmerzen. Wie ein ständiger Tropfen auf einem Stein ein Loch in den Stein bohrt, so konnte die Sehnsucht nach ihrem verlorenen Sohn ein Loch in ihre Seele bohren.

Der Vater der Mädchen Lucia und Gina hatte, seit er von der Schwangerschaft seiner Tochter Lucia erfahren hatte, kaum noch ein Wort gesprochen. War er doch schon so geplagt durch den Verlust seiner beiden Söhne, die im Krieg gegen die Deutschen gefallen waren. Und jetzt noch diese Schmach, dass Lucia sein jüngstes Kind sich mit kaum 18 Jahren von einem Dahergelaufenen schwängern lässt. Zuerst wollte sie dem Vater nicht den Namen des Kindsvaters bekanntgeben, aber Bernadetto setze sie zu sehr unter Druck und behandelte sie in den letzten Monaten wie eine Aussätzige. Lucia hatte sich in einen Italiener aus dem Norden, der als Soldat in Messina war, verliebt. Sie nahm an, dass er immer zu ihr stehen würde und hätte nicht im Traum daran gedacht, dass er im Norden schon eine Familie gegründet hatte und ihr einen falschen Nachnamen und Wohnort angab. Lucia konnte Adriano in den ihr verbleibenden Wochen, bis ihre Schwangerschaft sichtbar wurde, nicht finden und wenn ihr Vater tätig geworden wäre, wäre in Messina ein Gerücht aufgekommen, was auf jeden Fall vermieden werden musste. Eine ledige Mutter in Sizilien bringt den Ruf der ganzen Familie zu Fall. Lucia musste sich den Forderungen ihres Vaters beugen, ihre Schwangerschaft geheim halten und sich sofort nach der Geburt von dem Kind trennen. Das waren Bernadettos Forderungen. Bernadetto hatte schon genug erlebt und fühlte alte Wunden aufbrechen. Der Tod seiner Söhne im Krieg und vor 38 Jahren, als er seine Eltern bei einem Erbeben verloren hat und als kleiner Junge als zusätzlich zu stopfendes Maul zu seinem Onkel in die Familie musste, hatte tiefe Spuren auf seiner Seele hinterlassen. Am Morgen des 28. Dezember 1908 erschütterte ein schweres Beben die Straßen von Messina. Eine bis zu sechs Meter hohe Tsunami-Welle folgte. Mehr als 100.000 Menschen starben. Viele Kinder kamen in das provisorisch errichtete Waisenhaus der Stadt. Der Kelch ist an ihm vorübergegangen, aber trotzdem hatte er keine leichte Kindheit. Seinen Töchtern hat er immer ein schönes Leben geboten, was er nun so gedankt bekam.

Vier Monate war Lucia in dem Haus gefangen. Was nun werden wird, wenn sie sich wieder in der Nachbarschaft sehen lassen darf, das wusste sie nicht. Der Vater hatte ihr angedroht, sie auf eine Olivenplantage zum Arbeiten zu bringen, wenn sie sich nicht fügt. Der Gutsherr Bercasso suchte eine weitere Hausangestellte, wenn seine Frau das 5. Kind in einigen Monaten zur Welt gebracht hat. Bernadetto hätte den Jungen auch ohne ihr Einverständnis abgegeben. Sein Ruf war ihm wichtiger als sein Enkel, den er nicht als Enkel anerkannte. Er hatte auch nur noch eine Tochter, die andere warf er aus seinem Herzen. Nach Sizilianischer Tradition muss zuerst die älteste Tochter verheiratet werden, erst dann dürfen alle weiteren Töchter in den Stand der Ehe treten. Sogar das hatte Lucia missachtet.