Das Beschütz Mich - Hagen Twente - E-Book

Das Beschütz Mich E-Book

Hagen Twente

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Beschreibung

In Deutschland werden jährlich rund 40.000 Umgangsverfahren verhandelt, bei denen 80 Prozent der Väter um ihre Kinder kämpfen. Dieser einzigartige Roman beleuchtet nicht nur das komplexe und oft undurchsichtige Geflecht von Familiengerichtsprozessen, sondern bietet auch einen intimen Einblick in das Leben des Autors. Durch Reinhold Voss, einem Experten im Umgangsverfahren, gewinnt der Autor schließlich das Recht, Vater zu sein. Das Beschütz Mich zeigt, welche Schlüsselrollen verschiedene Verfahrensbeteiligte spielen und wie man das scheinbar Unmögliche erreichen kann: einen Gerichtsbeschluss, der den Kindern ihren Vater zurückgibt. Parallel dazu entfaltet sich eine berührende Erzählung über Kindheit, Jugend und die unzerbrechliche Liebe zu den eigenen Kindern. Ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rechte der Väter und eine emotionale Reise durch das Leben.

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Seitenzahl: 546

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In Deutschland werden jährlich rund 40.000 Umgangsverfahren verhandelt, bei denen 80 Prozent der Väter um ihre Kinder kämpfen. Dieser einzigartige Roman beleuchtet nicht nur das komplexe und oft undurchsichtige Geflecht von Familiengerichtsprozessen, sondern bietet auch einen intimen Einblick in das Leben des Autors. Durch Reinhold Voss, einem Experten im Umgangsverfahren, gewinnt der Autor schließlich das Recht, Vater zu sein. Das Beschütz Mich zeigt, welche Schlüsselrollen verschiedene Verfahrensbeteiligte spielen und wie man das scheinbar Unmögliche erreichen kann: einen Gerichtsbeschluss, der den Kindern ihren Vater zurückgibt. Parallel dazu entfaltet sich eine berührende Erzählung über Kindheit, Jugend und die unzerbrechliche Liebe zu den eigenen Kindern. Ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rechte der Väter und eine emotionale Reise durch das Leben.

Hagen Twente, der über drei Jahre unermüdlich für seine Kinder kämpfte, hält seine Erlebnisse in Das Beschütz Mich fest. Wohnhaft in Hamburg, präsentiert er dieses emotionale Werk als sein Debüt. Parallel dazu hat er auch ein Kinderbuch verfasst, Lukke und Lykka auf der Suche nach der Sonne. Beide Bücher zeigen Twentes vielseitiges Schreibtalent.

Für meine Kinder. Für Hartmut.

INHALTSVERZEICHNIS

Boom, voll ins Gesicht

Taj Mahal

ASD

Meine Vaterrolle – Teil I

Sven

Meine Vaterrolle – Teil II

Gerichtsverfahren Begleiteter Umgang

Sankt Pauli ist immer da

Psychowochen

Die Strafakte

Hauptsacheverfahren

James Brown is Dead

Papa Mama Opa Oma Sohn

Wiedersehen

SHG I

Die Ratte Kleinfeld

SHG II

Weihnachten

Das Gutachten

Die Kartoffelfrau

Lukke und Lykka auf der Suche nach der Sonne

Boxen

Isolation

Chemical Romances

Sprengkommando Voss

Auswärtsspiel

Das Beschütz Mich

Begleitete Umgänge

Die Zeitschleife

Mediation

Der Beschluss

Alles oder Nichts

Dead Man Walking

Runde 12

Epilog I

Epilog II

DAS BESCHÜTZ MICH ist ein Roman, kein Ratgeber und kein Sachbuch. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie bitte Ihren Arzt oder Ihre Anwältin.

Bei allen zitierten Schreiben, Gutachten und Beschlüssen handelt es sich um fiktive Texte.

BOOM, VOLL INS GESICHT

21.02.2013

Noch zehn Minuten und das Leben, das ich geliebt, für das ich alles gegeben habe; ein gelungenes, ein tolles Leben, wird unwiderruflich beendet sein. Es wird nicht mehr existieren.

Feierabend! Muckel muckel, in der Küche. Levke hat wieder mal Scheißlaune. Da kommt man nach getaner Arbeit nach Hause, öffnet das Gartentor, der Hund kommt angerannt, die Kinder auch. Alle streicheln, küssen, hochheben, hochwerfen (außer den Hund!), super. So soll es sein.

Wenn da nicht „Schlechte-Laune-Levke“ wäre, die neuerdings gar nicht mehr grüßt. Sehr witzig. Die schafft’s doch immer wieder, mir mit den einfachsten Mitteln die Laune zu versauen. Na ja, man gewöhnt sich ja an alles. Woran ich mich aber bestimmt nicht gewöhne, ist diese Mütze. Levke trägt seit Kurzem immer eine selbst gestrickte, kleine Mütze aufm Kopf. Also nicht nur auf der Straße, nee, auch zu Hause. Ich lebe mit dem Rabbi von Finkenwerder zusammen. Dabei hat Levke doch mit Religion nichts am Hut, beziehungsweise an der Mütze. Das soll mal wieder jemand verstehen. „Immer was Neues, nur nichts Gutes“ – würde meine Mutter sagen, Gott hab sie selig. Ich meine, was soll der Quatsch, ich trage schließlich auch keinen Turban. Würde auch kacke aussehen. Levkes Mützen-Look geht mir jedenfalls so richtig aufn Sack. Ich habe sie mal gefragt, ob sie damit irgendetwas ausdrücken will. Nö, will sie nicht. Sie fühlt sich so wohler. Ich würde mich auch wohler fühlen, wenn ich mittags ein, zwei Jägermeister trinken würde. Mache ich aber nicht. Levke macht das bestimmt nur, weil sie weiß, dass sie mich damit ärgern kann. Tja, und das schafft sie ja auch. Außerdem werden ihre wunderschönen, schwarzen Haare immer kürzer. Levke könnte mich ja mal mit einem Lack-und-Leder-Outfit überraschen, hier ist aber, wie so oft, der Wunsch der Vater des Gedankens. Vielleicht sollte ich mir wirklich mal mittags einen Jägermeister genehmigen.

Irgendwie und irgendwann hatten wir keine richtig schöne Beziehung mehr. Also nicht wie Bernhard und Bianca, die Mäusepolizei. Levke hasst übrigens die Polizei. Ich habe meiner Tochter den Schlachtruf: „Ich bin nichts, ich kann nichts, gebt mir eine Uniform!“ beigebracht. Den hat sie immer gerufen, wenn wir Bundespolizisten in ihrer Kampfmontur sahen. Lustig war das. Ein kleines Mädchen, das den Hero-Turtles lachend „Ich bin nichts, ich kann nichts, gebt mir eine Uniform“ ins Gesicht geschrien hat. Klasse! „So, Ida Marie, jetzt noch einmal ganz laut!!“ Ich glaube, dass sogar die Cops grinsten. Das hat sie sowieso nur bei den Robocops gerufen. Bei der normalen Schmiere hat sie immer nur gelacht, gewunken und freudig geschaut. Tolles Mädchen. Aber zurück zu Levke und mir. Dick und Doof? Nee, gelacht wird bei uns schon lange nicht mehr, Levke geht zum Lachen immer in den Keller und mir bleibt das Lachen neuerdings immer im Hals stecken. Levke hat ein Lachverbot für Erwachsene verhängt. Dabei haben wir früher so viel gelacht. Levke lachte viel über mich, aber irgendwann hat sie damit aufgehört. Vielleicht sind meine Witze schlechter geworden oder sie kannte schon alle. Allerdings sind die Witze von Fips Asmussen ja auch immer die gleichen, seit über 50 Jahren, aber immer noch lachen die Leute darüber.

Hatten wir vielleicht eine Beziehung wie Siegfried und Roy? Ja, das passt. Ich bin nämlich der, der sich in der Beziehung dermaßen verrenkt, um dem anderen zu gefallen, bis er dann im Rollstuhl sitzt. Oder wie war das? Roy hatte doch seinen Kopf in das Tigermaul gesteckt und happs, zapzarap, Nase ab. Wie doof muss man sein.

Selbst schuld. „Noch’n Arschvoll dazu“, hätte meine Mutter gesagt. Ehrlich gesagt, sind Levke und ich nur noch wegen der Kinder zusammen. Sigfried und Roy bestimmt auch nur wegen der Tiger. Kinder können die ja keine haben, also jedenfalls keine selbstgemachten. Wenn sie wirklich Kinder hätten haben wollen, hätten die beiden sich ja welche herzaubern können. Siegfried und Roy zaubern ja schließlich auch ausgewachsene Elefanten herbei. Da dürfte ein Drei-Kilo-Baby eigentlich kein Problem darstellen. Aber wahrscheinlich wollten Siegfried und Roy gar keine Kinder und vermutlich können sie gar nicht richtig zaubern. Wenn sie sich ein Baby herzaubern würden, würde irgendwo anders sicher eins fehlen. Ich glaube, das muss das Schlimmste für Eltern sein, wenn ihr Kind verschwindet. Beim Elefanten kann man mal ein Auge zudrücken, der findet sich leichter wieder an, weil er ja viel größer ist. Wenn einer von diesen Zauberern eines meiner Kinder wegzaubert hätte, würde ich dem, dem der Tiger den halben Kopf weggebissen hat, noch den restlichen Teil vom Kopf zu Brei schlagen und der Unversehrte könnte sich schon mal einen Platz in der Reha suchen. Levke können die meinetwegen gern wegzaubern, aber ehrlich, was sollen die beiden mit Levke? Die würden sie bestimmt ganz schnell wieder zurückbringen beziehungsweise zurückzaubern. Zaubern die beiden überhaupt noch? Oder hat sich das seit dem Tigerunfall ausgezaubert? In meiner Beziehung ist das jedenfalls leider so. Der Zauber ist vorbei, Aschermittwoch. Drauf geschissen! Dafür kann „Schlechte-Laune-Levke“ gut kochen und backen. Ich freue mich jetzt schon auf die nächste Donauwelle von Levke.

Heute Morgen bin ich, wie immer um sechs Uhr, nach der ersten Hunderunde aus dem Haus. Das mache ich immer so früh, damit ich Levke morgens nicht über den Weg laufe. Levke ist ein Morgenmuffel. Ganz, ganz schlimm und damit sie mich morgens nicht mit ihrer Muffeligkeit ansteckt, mache ich mich rechtzeitig vom Acker. Nach der Arbeit bin ich heute noch mit Sweety, unserem lustigen Mischling, zum Tierarzt. Der blöde – aber so süße! – Köter muss ständig zum Tierarzt. Levke wollte unbedingt wieder einen Hund und die Kinder natürlich auch. Und wer darf morgens die erste Runde mit dem Hund gehen? Und die letzte? Und zum Tierarzt? Ich! Das wäre ja eigentlich auch okay, wenn Levke nicht arbeitslos wäre. Also so richtig arbeitslos ist sie nicht. Sie hat vor einem halben Jahr ihren alten Job gekündigt und bereitet seither ihre Selbstständigkeit vor. Ja, wenn sie das denn mal täte. Eigentlich macht sie seit einem Jahr nichts anderes als ihr Engagement in der Bürgerinitiative „Finkenwerder gegen Windkraft“. Levke will unbedingt die geplanten Windkraftanlagen bei Finkenwerder verhindern. Was haben wir deswegen schon gestritten! Ich finde Windkraft wie Solarkraft toll. Was für eine tolle Technik, um Energie zu gewinnen. Energiegewinnung mit einem Rohstoff, der umsonst ist, was soll denn daran schlecht sein? Ein Atomkraftwerk oder eine Kohlemine will sie aber auch nicht im Garten haben. Der einzige Grund, warum Levke die Windräder verhindern will, ist doch, weil ihr Vater von einem dieser Windräder in den Tod gesprungen ist. Möllemann lässt grüßen. Levke hat es allerdings nie wahrhaben wollen, dass sich ihr Vater in den Tod gestürzt hat. Mein Vater hat sich an einer Heizung aufgehangen und weil ich das akzeptiert habe, kann ich auch in Häusern ohne Fußbodenheizungen wohnen. Ich denke, dass ein großes Problem in der heutigen Gesellschaft ist, dass niemand mehr etwas aushalten kann, keine Schmerzen, keine Entbehrungen, keinen Druck, immer gleich nur Mimimi.

Verhinderung von Windrädern, Turbolenzstörungen, Schallentwicklungen, Schattenwurf, Lichtreflexion, Mikroklima, Vogelkiller. Von morgens bis abends das gleiche Thema. Ich habe bereits einen schweren Tinnitus und Blumenkohlohren. Außerdem bekommen wir kaum noch Besuch, weil keiner das Geschwaller und Geschwurbel von dieser Bürgerinitiative mehr hören kann. Gruselig. Aber ich halte auch das aus. Bleibt mir ja auch nichts anders übrig, wenn ich hier wohnen bleiben will und das möchte ich eigentlich ganz gerne. Schon allein wegen der Kinder und unserer gemütlichen Bauernkate, in der wir leben. Dann ist da noch mein so schöner Arbeitsweg. Ich fahre immer mit dem Auto zum alten Elbtunnel und dann mit dem Rad unter der Elbe nach Sankt Pauli. Dieses Radeln durch den Elbtunnel, morgens und abends ist immer ein Highlight meines Tages. Irgendwann wird der Plan mit den Windrädern verworfen, wie Levke das will. Vorher wird Levke nämlich nicht damit aufhören und dann habe ich auch wieder meine Ruhe. Bestimmt bilden sich dann die Blumenkohlohren zurück. Allerdings wird es nicht lange dauern, bis Levke ein neues Thema hat, mit dem sie sich den ganzen Tag über beschäftigen kann. Mit etwas Glück ist es diesmal das Kamasutra, die indische Liebeskunst in der westlichen Welt. Aber auch da ist wohl eher der Wunsch der Vater des Gedankens. Kann ich gleich vergessen. Die Hoffnung stirbt zwar zuletzt, aber sie stirbt. Also muckel muckel, in der Küche.

Es klingelt an der Tür. Entweder Jan oder Birgitt. Bitte nicht Birgitt. Ökofeministin Birgitt ist die beste Freundin von Levke und trägt Oberlippenbart, wie Stalin. Birgitt wäre bestimmt gerne Stalin. Dann würde sie sofort alle Werbung mit nackter Frauenhaut verbieten und Frauen dürften ihre Beine nie mehr enthaaren. Deodorant gäbe es auch nicht mehr und Männer würde sie auch verbieten. Nee, da übertreibe ich. Männern wäre es jedenfalls verboten, jüngere Frauen zu vernaschen. Ihr Kerl ist nämlich mit einer Jüngeren durchgebrannt. Tja Birgitt, rate mal, warum. Sollte man Birgitt fragen, welche einflussreiche Person sie gerne wäre, würde sie mit Sicherheit sagen: „Rosa Luxemburg, Gandhi, Fidel Castro“ oder so einen Quatsch. Aber denken würde sie „Stalin“, wegen des Bartes und wegen der Macht. Ich wäre gerne Charlie Sheen, wegen der Frauen. Sagen würde ich allerdings Bruce Willis, einer der letzten Helden unserer Zeit. Dann würde Birgitt wieder nölen: „Bruce Willis ist doch nur eine Filmfigur, das passt ja mal wieder zu dir, Hagen!“ Ja eben, das passt zu mir und Stalin passt zu dir, wegen der Macht und des Bartes, du blöde Kuh.

Haben die alle kein Zuhause? Na, bestimmt nicht so ein Schönes. Jonny macht auf.

„Hagen, da sind zwei Menschen an der Tür!“

Oh, zwei Menschen, GEZ? Nein, die kommen immer allein. Warum geht Levke denn nicht hin? Die könnte doch die Menschen mit ihrer schlechten Laune vertreiben. Mittlerweile macht hier jeder, was er will. Also dem Sohn zu Hilfe eilen.

„Ja bitte, was ist hier los?“

Tatsächlich zwei Menschen, sehen nicht aus wie Jehovas oder wie heißen diese Kirchenburschen mit den netten Anzügen – Mormonen? Obwohl, die haben doch immer so weiße Anstecker am Revers und eine Bibel in der Hand. Sind auch nie Frauen dabei. Die beiden sehen auf jeden Fall nicht gefährlich aus. Die Frau sogar ganz flott.

„Kripo Hamburg, sind Sie Herr Twente?“

Dann zeigen beide ihre Plastikkarte. Ha, wie im Film.

„Ja, der bin ich?“

„Schlechte-Laune-Levke“ gesellt sich im Flur dazu. Ja, wenn es spannend wird, kommen sie alle. Ich sage zu Levke:

„Hab ich irgendwas verpasst?“

„Ich wollte dir das noch sagen.“

Boah, da stellt sich plötzlich ein ganz unangenehmes Gefühl ein. Da droht Gefahr. Der Mensch erkennt sowas. Ist ja auch nicht so schwer. Aus Langeweile kommt die Kripo Hamburg sicher nicht zum Abendbrot vorbei. Was wollen die von mir? Was wollte Levke mir noch sagen? Was will die Kripo hier? Was hat Levke damit zu tun? Levke hat bestimmt irgendjemanden angezeigt. Womöglich den Hamburger Umweltminister, damit er ins Gefängnis kommt und die Finkenwerder Windräder eingestampft werden. Aber was habe ich damit zu tun? Ich habe schließlich niemanden angezeigt. Ich habe die letzten Jahre auch nichts gemacht, was den Besuch der Kripo rechtfertigen könnte.

„Können wir Sie unter vier Augen sprechen?“, fragt der männliche Beamte. Bestimmt meint er unter sechs Augen oder darf die Frau, die er mitgebracht hat, nicht mitsprechen? Vielleicht muss sie ja die Tür sichern. Levke schnappt sich die Kinder und verschwindet im Wohnzimmer, will die Lütten vor dem Fernseher fixieren. Klappt immer. Die Kinder dürfen sehr wenig fernsehen. Fernsehen ist für beide etwas ganz Besonderes. Da verlieren meine Kinder sogar das Interesse an der Kripo Hamburg.

„Ja, gehen wir in die Küche.“

Wir drei also in die Küche. Der Mann stellt einen Alu-Koffer auf den Tisch und legt eine rosa Mappe darauf.

„Herr Twente, gegen Sie wurde Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs an Ihrer Tochter Ida Marie erstattet.“

Boom, voll ins Gesicht.

In meinem Kopf fängt es an zu rauschen. Ich merke, wie ich zusammensacke, bleibe zwar noch stehen, aber es fühlt sich so an, als ob ich zusammensacke. Mir wird schlecht und mein Herz donnert in meiner Brust.

„Oh, super!“ Das ist doch mal ein guter Spruch.

Die meinen das ernst.

„Wollen Sie sich zu dem Vorwurf äußern?“

„Nein.“ – In der Kürze liegt die Würze, wir sprechen nämlich nicht mit der Polizei.

Da fliegt die Tür auf, Levke stürmt rein.

„Wie hat er reagiert? Wie hat er reagiert?“

Gute Fragen darf man zweimal stellen, denke ich. Gar nicht hat er reagiert. Blöde Frage, wie hat die Fußgängergruppe reagiert, als der Wagen sie erfasste und alle tötete? Gar nicht haben die reagiert, grundsätzlich sind Fußgänger nämlich überfordert mit solch einer Situation. Ich bin auch überfordert. Sind hier alle verrückt geworden? Levke ist verrückt geworden. Jetzt habe ich den Salat.

„Levke, du bist krank! Wer steckt dahinter? Ich will den Namen wissen! Den Scheiß hast du dir nicht allein ausgedacht!“

Die flotte Kripobeamtin zieht mit der Hand ihre Jacke auf, damit ich ihre Waffe sehen kann. „Herr Twente, wenn Sie jetzt eine falsche Reaktion zeigen, nehmen wir Sie sofort in Haft.“

Oh, jetzt wird’s richtig lustig. Jetzt bloß keine falsche Reaktion zeigen.

„Nein, nein, nein, alles bestens, ich bleib ruhig, keine Gefahr.“

Was denken die denn, dass ich es auf eine Schießerei in meiner Küche ankommen lasse? Das ist mein Zuhause und ich werde gerade in meiner Küche mit einer Waffe bedroht.

„Levke, wer steckt dahinter? Was soll dieser Scheiß?“ – Keine Antwort, nur ein blödes Gesicht.

„Levke, du bist krank!“

Scheiße, scheiße, scheiße. Ich merke, wie ich zu zittern anfange. Meine Hände zittern richtig heftig. Da stehen wir vier nun in der Küche. Ich vorm Herd. Die Kripofrau mit der Wumme vor der Tür zum Garten und der dicke Kripomann daneben, Levke neben der Tür zum Flur. Ich soll meine Tochter missbraucht haben. Wer denkt sich denn so einen Scheiß aus? In meinem Kopf dreht sich alles. Jetzt wird mir auch noch schlecht … Das kann doch wohl nicht wahr sein.

„Herr Twente, wir können Sie nicht des Hauses verweisen, aber wir bitten Sie, das Haus freiwillig zu verlassen.“

Hmmm, und wenn nicht? Dann gehen sie wieder und dann gibt’s gleich Abendbrot? Nö, ich bleib hier! Levke kann doch gehen, ins Frauenhaus oder besser nach Ochsenzoll. Da gehört sie ja wohl hin.

Aber das kann ich nicht sagen, ich muss hier weg.

„Ja, ich muss mal telefonieren!“

Wen ruf ich denn jetzt an? Michael! Handy nehmen, mein Gott, zittere ich.

„Hi Michi, Hagen hier, kann ich bei dir schlafen? Levke hat mich angezeigt. Ich soll Ida Marie missbraucht haben! Du fährst gerade Pizza aus? Ich melde mich nochmal.“

Jan anrufen, Jan ist besser.

„Hi Jan, Hagen hier, kann ich bei dir schlafen, Levke hat mich angezeigt. Ich soll Ida missbraucht haben. Die Bullen sind hier und bin aufgefordert, die Wohnung zu verlassen – gut, dann komm ich gleich vorbei.“

Toll, wenn man Freunde hat, die keine blöden Fragen stellen. Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Ich möchte jetzt bitte erst mal eine Zigarette rauchen. Zigaretten schmecken ja am besten, wenn man Stress hat, wenn man sich ordentlich ärgert oder sich heftig erschrickt. Alle drei Anforderungen erfüllt. Aber nichts da. Ich drehe nämlich selbst. Doch meine Hände zittern so dolle, dass ich das nicht hinbekommen würde. Die Kripo oder Levke kann ich ja wohl schlecht fragen, ob sie mir eine drehen. Mein Gott, fühle ich mich elend.

„Warum hast du nicht mit mir geredet?“ Du Arschloch (nur gedacht, nicht gesagt).

Levke sagt nichts, guckt nur blöd.

„Wollen Sie ein paar Sachen einpacken?“, fragt die Kripofrau.

„Ja.“

Ich gehe aus der Küche an Levke vorbei. Vorbei am Wohnzimmer, hinter dessen Tür meine Kinder sitzen; Jonny, acht Jahre, Ida Marie, vier Jahre alt – Missbrauchsopfer. Ich stehe orientierungs- und, fas sungslos vorm Kleiderschrank, neben mir. Die Kripofrau ist mir gefolgt.

„Ich weiß gar nicht, wo ich was reinpacken soll“, sage ich verzweifelt. Zack, wie aus dem Nichts reicht mir Levke meine Sporttasche. Wo kommt die denn auf einmal her?

„Levke, ruf bitte deine Mutter an, sie wird stolz auf dich sein. Du bist ja noch kaputter als sie.“

Levke sagt wieder nichts. Ich packe sinnlos irgendwelche Sachen ein. Fertig. Die Tasche ist nicht mal halb voll. Ich schaue die Kripofrau an.

„Ich weiß gar nicht, was ich noch einpacken soll!“

„Zahnbürste und Rasierzeug?“

Super Idee. Gut, wenn man von Profis umgeben ist. Also wieder den Flur runter, diesmal steht Levke vorm Kinderzimmer.

„Levke, du hast alles zerstört, du hast alles kaputt gemacht!“

Wieder keine Antwort. Die redet nicht mehr mit mir.

„Scheiße.“

Zahnbürste, Rasierzeug und Deo ab in die Tasche. Ich öffne die Tür zum Wohnzimmer. Meine Kinder sitzen vor dem Fernseher.

„Ich muss nochmal zur Arbeit, Noteinsatz, wird bestimmt später, tschüss ihr zwei.“

„Tschüss, Hagen.“

In Begleitung der Kripo verlasse ich mein Zuhause. Die Cops gehen links, ich rechts die Straße runter. Alter, was war denn das? Ich schleiche die Deichstraße runter, die dunkel, kalt und nass ist. Nicht ansatzweise kapiere ich, was da gerade passiert ist. Was war das? Vielleicht wache ich ja gleich auf und es war alles nur geträumt. Das wäre das Beste. Scheint aber nicht so, scheint ganz und gar nicht so. Ich bekomme die Füße nicht mal richtig hoch und stolpere. Spätestens jetzt muss ich doch aufwachen. Kennt man doch, dieses Stolpern und Zucken, kurz nach dem ersten Einschlafen. Ich stolpere und schlag lang hin. Wieder aufrappeln. Jetzt rauscht es noch mehr in meinen Ohren. Hose dreckig, auch das noch. Das ist doch derzeit meine einzige Hose. Ich stolpere mich noch zu Tode. Ach, welch ein armseliger Anblick, welch ein armseliger Zustand. Mir wird schlecht. Mitte finden. Ich höre eigentlich nur noch Rauschen. Vielleicht ist das ja das Rauschen meines Lebens, das gerade den Bach runtergeht. Was sage ich denn, wenn mich jemand fragt, was ich vorhabe? „Ich geh zum Sport, ich schlaf heute Nacht mal bei Jan“, oder vielleicht: „Ich suche mir grad eine Brücke zum Runterspringen.“ Ganz hier in der Nähe ist die Köhlbrandbrücke, 53 Meter ist die hoch. Da springt öfters mal jemand runter. Wohl aufgrund der mangelnden Sprungalternativen in Hamburg. Vom Hochhaus springen ist scheiße. Klatsch, Spritz, Fleischknochenmatsch. Dem Matsch ist es zwar egal, der Tot macht einem ja keine Scherereien, aber irgendjemand muss das ja auch wieder wegmachen, wegwischen, womöglich noch wieder zusammenpuzzeln. Ich könnte das nicht. Ein Fleischmatschpuzzle. Gruselige Vorstellung. Allerdings könnte ich auch nicht von der Köhlbrandbrücke springen. Ich bin so was von nicht schwindelfrei. Diesem Stress würde ich mich nicht aussetzen. Da würde ich lieber weiterleben. Sterben sollte angenehm und überraschend sein. Gesprungen wird also heute nicht mehr. Gesprungen wird überhaupt gar nicht. Hoppala, schon wieder gestolpert, Sturzflug, ich stürze nicht, ich lande. Den Boden unter den Füßen verlieren, so fühlt sich das also an. Bevor ich mich hier zu Tode stolpere, setze ich mich lieber hin. Auf die Bank am Kinderspielplatz. Wie passend. Da sitzt er, das Schwein, und hält Ausschau nach neuen Opfern.

Erstmal sitzen und sich noch einen nassen Arsch holen. Auch egal. So, jetzt noch einmal versuchen, eine Zigarette zu drehen. Ich zittere immer noch wie Espenlaub, dazu auch noch Regen, aber ich will jetzt rauchen. Rauchen, rauchen! Ich habe ein Recht auf Rauchen. Ich werde jetzt sowieso mehr rauchen. So, Zigarette zusammenge dreht, gepresst und geklebt. Feuer frei und die Lunge fluten. Ein Zug, halbe Zigarette weg. Vielleicht sollte ich auf Zigarren umsteigen. Das ist doch unser Spielplatz. Mein Spielplatz, traurig, nass und kalt, wie ich. Unser Spielplatz, zwei Kinder habe ich hier aufgezogen. Ich habe unsere Kinder hier aufgezogen. Nicht Levke. Ich soll Ida sexuell missbraucht haben. Missbraucht, sexuell, aaaaaaaarghhhhhh. Nein, nein, nein. Wieso hat Levke das gemacht?

Seit einer Woche hat Ida Probleme beim Stuhlgang, die offizielle Darstellung. Platt gesagt, hat die Kleine Probleme beim Kacken. Wie aus heiterem Himmel konnte Ida nicht mehr normal kacken. Na, wer kann schon von sich behaupten, dass immer alles flutscht. Geht ja auch nichts über einen guten Teflonschiss. Wie dem auch sei, Ida jammerte halt seit Kurzem immer auf Toilette, wenn es um das große Geschäft ging. Levke hat da sofort ihre Chance gewittert. Oh Mann, kaum hat Ida „ich muss mal“ gesagt, schaltete Levke das Blaulicht ein und es ging los. Stuhlgang mit Eins-zu-eins-Betreuung. Ich habe das Ganze nicht so ernst genommen. Ich habe gedacht, aber mich nicht getraut zu sagen, dass Idas Stuhlgangproblem bestimmt mit dem ganzen mikrobiotischen Krams von glücklichen Pflanzen und Blumen zusammenhängt, den Levke seit Neuestem auftischt. Gott sei Dank gibt es wenigstens noch manchmal Fleisch, natürlich nur von Tieren, die mit einem Lächeln freiwillig zur Schlachtbank gehen. Aber es ist bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis das Fleisch halal oder koscher sein muss. Schlimmstenfalls muss ich dann kleine Lämmer in unserer Badewanne schächten. Gruselige Vorstellung. Mache ich auf gar keinen Fall. Ich kann ja Gott sei Dank während der Arbeit heimlich zu McDonalds gehen. Das Stuhlgangproblem von Ida war meiner Meinung nach nur ein temporäres Problem. Bei der Aufzucht von Kindern gibt es ständig temporäre Probleme. Das Kind beißt, das Kind hört auf einmal nicht mehr, das Kind kann nicht einschlafen oder nicht aufwachen, das Kind kann plötzlich nicht mehr pfeifen oder es pfeift nur noch, spricht dafür nicht mehr. Temporäre Probleme halt. Überalterte und unerfahrene Eltern suchen dann gleich einen Facharzt auf, verabreichen Globuli oder noch besser: Bachblüten. Wie ich Bachblüten hasse. Es gibt gefühlt über 3.000 Bachblüten gegen alle Beschwerden, die man auch noch kombinieren kann. Ich vermute, dass Levkes Mutter im Vorstand der Bachblüten AG ist, denn wir haben über ein Dutzend verschiedene Bachblüten zu Hause. Bachblüten helfen gegen alles, wirklich alles. Krebs, Aids, Grippe, Hornhaut, Leseschwäche, Pflaumensturz und Pimmelschnupfen. So ein Humbug, so ein Scheiß. Ich hasse Bachblüten, ich hasse auch Levkes Mutter – zu Recht. Die Bachblüten-Oma vertickt auch noch Traumfänger. Die helfen dann, wenn Bachblüten nicht mehr helfen können. Levke kann ihre Mutter auch nicht ab. Oh wonder why. Gisela, ihre Mutter, ist irgendwann hochkant zu Hause rausgeflogen. Hatte einen neuen Stecher und Papa hatte deswegen wohl keinen Bock mehr auf die alte Schreckschraube. Auf jeden Fall musste Gisela das eheliche Haus verlassen. Und was hat sie nicht mitgenommen? Ihre vier Kinder. Das muss man sich mal vorstellen. Eine Mutter hat vier Kinder, einen Jungen, drei Mädchen, sucht sich einen neuen Stecher und lässt die Kinder beim Vater, einem Windkraftanlagenmonteur, der überall auf der Welt Windkrafträder hinstellt und immer auf Montage ist. Das prägt die Kinder. Da wussten die Kinder dann, welchen Stellenwert sie im Leben ihrer Mutter hatten. Welche Mutter macht so etwas? Armseliger geht’s ja wohl kaum. Auf jeden Fall wollte die Bachblüten-Oma ein neues Leben mit einem neuen Stecher anfangen. Levke musste deswegen ihre Geschwister mit ihrer Oma aufziehen. Ihre Mutter hat dann eine Ausbildung zur Tischlerin gemacht. Warum eigentlich Tischlerin? Vielleicht hat sie sich gedacht, ach, wenn meine Kinder weg sind, lerne ich drechseln und drechsel mir einfach vier neue. Eigentlich eine gute Idee. Ich sollte auf Bäcker umschulen, dann könnte ich mir einfach zwei neue Kinder backen, aber auch wenn ich eine Tonne Zucker anrühren würde, nie könnten sie so süß werden wie Ida und Jonny.

Das Beste kommt allerdings zum Schluss. Gisela, ihr neuer Stecher und ein Haufen anderer Kaputter haben eine Religionsgemeinschaft gegründet. HKK e. V., Hannover Kreis-Kirche oder so. Könnte aber auch für Hannover Klapps-Kallis stehen. Würde auf jeden Fall besser passen. Mit Tischrücken, Geisterbeschwörung, Engelanrufen und so einen Scheiß. Immer ein halb volles Glas Wasser an jedes Fenster stellen, da kommen nämlich die bösen Geister nicht dran vorbei. Ich weiß allerdings nicht, ob die bösen Geister in die Gläser reinfallen oder ob sie davon trinken und dann tot umfallen. Ist mir aber auch latte. Der Anführer, der sogenannte Hohepriester, nannte sich Gundalf oder so. Die Glaubensgemeinschaft wurde allerdings irgendwann aufgelöst, weil die Bullen Gundalf erwischten, als er nackt, mit einer gehäuteten Katze um den Hals, bei Neumond eine 300 Jahre alte Eiche in Hannover fickte. Unglaublich? Aber so war das.

Religionen gehen mir eh aufn Sack. Ich kann diese ganzen Religionsspaggen nicht ab. Ich mache da keinen großen Unterschied zwischen den Katholiken und Muslimen oder sonst wem. Obwohl Islamisten, also die Straight Edge Muslime, die am liebsten wieder mit ihrer Karnevalsverschleierung im Mittelalter im Kalifat leben möchten, mir schon ein Dorn im Auge sind. Kopftuch, Hidschab – okay. Wer meint, das muss sein, meinetwegen. In der Lebensmittelproduktion müssen Arbeiter ja auch weiße Mützen tragen und in der Chirurgie ist eine grüne Kappe Pflicht. Allerdings tragen sie diese aus hygienischen Gründen. Niemand sollte ein Haar in der Suppe finden oder Schuppen in der Bauchhöhle. Das wäre jedenfalls eine nachvollziehbare Erklärung und würde bestimmt zu mehr Verständnis für die albernen Kostüme führen, die sie doch tragen, weil es die Männer so wollen und die Frauen irgendwann wollen, was sie sollen. Wenn ich an die katholische Kirche denke, sehe ich alte, aufgequollene Männer in lilafarbenen Kostümen, die den Kreuzzügen und der Inquisition nachtrauern. Alte Priester mit wässerigen Augen, die sich ihre fetten, roten Rubinringe von kleinen Jungs küssen lassen, bevor sie sie vergewaltigen. Das Highlight of Shit der Religionen sind für mich die Taliban. Gibt sicher noch beknacktere Glaubensfaschisten, aber die Taliban haben sich aufgrund ihrer Landung von Passagierflugzeugen in Hochhäusern doch einiges Gehör verschafft. Bis zu 9/11 wusste ich nicht mal, dass es die Taliban überhaupt gibt, geschweige denn, wo diese Taliban leben oder was sie den ganzen lieben Tag lang tun. Hat mich irgendwie auch nicht weiter interessiert. Männer, die Kindern ihr Spielzeug und ihre Musikinstrumente wegnehmen, die Mädchen die Schule und Lesen lernen verbieten, sind einfach nur riesige Arschlöcher. Die Taliban sehe ich als totale Spaßbremsen und somit sind sie für mich völlig inakzeptabel. Die Oberfrechheit bei diesen bewaffneten Sandalenträgern mit Bart und Turban ist die traditionelle Ausgehkleidung für die verehrten Damen. Die Burka. Meine Fresse. Die Burka erinnert mich immer an Heintje. Nicht an den Schlagersänger Heintje, sondern an den Kanarienvogel meiner Mutter. Dieser Heintje hat den ganzen Tag geträllert. Aber nicht nur den ganzen Tag, auch die ganze Nacht. Deswegen hat meine Mutter abends eine Decke über den Vogelkäfig gelegt. Dann war endlich Ruhe. Dieser Vogelkäfig, mit Decke drüber, sah aus wie eine Burka. Eine Burka ist sozusagen ein großer, abgedeckter Vogelkäfig, mit Löchern für die Beine. Da bekommt die Frau einfach eine Decke über den Kopf und dann ist Ruhe. Dann wird nicht mehr gesungen oder geträllert. Spaß verdorben. Die Kanarienvögel singen übrigens nicht, weil sie glücklich sind, sondern weil sie einsam sind. Wusste ich bis vor Kurzem auch nicht. Da habe ich über Jahrzehnte fälschlicherweise immer von mir auf die Kanarienvögel geschlossen. Levke würde mich bestimmt auch gerne in eine Burka stecken. Das würde sie glatt machen, Frechheit. Vollkommen inakzeptabel. Nicht mit mir. Das geht gar nicht, bei den Taliban-Frauen nicht und überhaupt auch ganz allgemein nicht. Grundsätzlich steckt man Menschen nicht in abgedeckte Vogelkäfige mit Löchern für die Beine. Das gehört sich nicht, das ist menschenverachtend. Aber wenn ich schon dabei bin, dann mache ich gleich mal den Sack zu, Ross und Reiter benennen – woher kommt denn diese Phrase schon wieder? Google ich später mal oder auch nicht. Religionen, was für eine gequirlte Scheiße, Mumpitz, Schwachfunk, absoluter Quatsch. Wir leben doch nicht mehr in Erdhöhlen und die Erde ist schon lange keine Scheibe mehr. Der Himmel ist uns nicht auf den Kopf gefallen, aber fast alle vom Religionsmob da draußen glauben das immer noch. Klopf, klopf, klopf, jemand zu Hause? Ich sehe Religionen als ein ganz einfaches, schlaues Geschäftsmodell, um nicht arbeiten zu müssen. Die feinsten Kleider, die größten Hütten, das beste Essen und was tun sie dafür? Nichts. Wie die Vögel – sie säen nicht, sie ernten nicht und der liebe Gott oder besser gesagt, der verarschte Rest der Welt, ernährt sie doch. Wie das auch anders geht, zeigt doch der Buddhismus. Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir fliegen morgen zum Mars, wir bauen Atomkraftwerke, haben Herzschrittmacher in der Brust und Smartphones in den Händen. Dennoch; irgendwelche Knalltüten glauben immer noch an Gott, Allah, Jehova, Baumgeister, Odin oder wen oder was weiß ich. Ich jedenfalls nicht.

Levke läuft jedenfalls bei jeder Krankheit immer zu großer Form auf. Das gestaltet sich folgendermaßen: Bei Durchfall wird im Tropeninstitut angerufen, um die aktuellen EHEC-Koordinaten zu bekommen, oder aber ich muss mit Jonny zum Orthopäden, weil sein Rücken angeblich schief ist. Was er aber nicht ist, was mir der Orthopäde auch bestätigte. Außerdem geht Ida zur Logopädin, weil sie mit vier Jahren noch nicht das Alphabet auf Tschechisch rückwärts aufsagen kann und so weiter und so fort. Wenn unsere Kinder nichts haben, dann lässt Levke sich halt in alle Körperöffnungen was reinstecken – also medizinische Geräte, um Vagina, Darm und Magen zu spiegeln, ansonsten wird da nichts reingesteckt – ha, schön wär’s. Wenn in den Weichteilen alles okay ist, dann halt der Rücken. CT, Röntgen, MRT. Ergebnis: schlimmer Scheuermann, tangential abdriftender Rücken; spongiöse, mit schweren linksorientierten Verschiebungen der K4, K5-Wirbel – was das heißt? Nichts heißt das. Rücken schmerzfrei, aber die Krankenkasse mit über 35.000 Euro im Soll. Bekommt halt ein Kind weniger eine Knochenmarkspende. Hauptsache, Levke kann sagen, was sie alles nicht hat.

Also auf zum Kinderarzt mit Ida. Und? Nichts, gar nichts. Keine Würmchen, kein nichts. Empfehlung der Kinderärztin: Po-Bad und Ibuprofen. „Schlechte-Laune-Levke“ war dann mal wieder auf einer Sitzung der Bürgerinitiative FGW – Finkenwerder gegen Windkraft. Ich kann es nicht mehr hören. Bachblüten, Scheuermann, Turbulenzstörungen, Schattenwurf, Infraschall, Mikrobiotik, 24/7 von morgens bis abends und jetzt auch noch Stuhlgangprobleme unserer Tochter. Jeder gesunde Mensch würde einen Tinnitus vom eigenen Gesabbel und Geseier bekommen, nicht Levke. Auf der Arbeit auch immer das gleiche Gefasel von Schimmel, Drecksmieter und zu Hause das Geschwurbel von Levke. Ich hätte einfach schon vor Jahren anfangen sollen, mir Heroin in die Venen zu donnern. Habe ich aber nicht – hätte, hätte Fahrradkette. Jetzt habe ich den Salat, Ermittlung wegen sexuellen Missbrauchs an der eigenen Tochter. Ich war halt der Meinung, dass Ida sich da, mit der tatkräftigen Unterstützung von „Schlechte-Laune-Levke“, reingesteigert hat und dass auch dieses temporäre Problem von allein vorbeigehen wird. Meine Mutter hat immer gesagt, wenn jemand aus der Familie krank war: „Ach, das ist von allein gekommen, das geht auch wieder von allein“ und dann kann man sich neuen temporären Problemen zuwenden. Wie zum Beispiel dem Haarzwirbeln von Jonny. Dafür bekomme ich jetzt bestimmt auch bald noch die Schuld.

Mist, ich muss ja irgendwie zum Elbtunnel kommen, der Autoschlüssel liegt ja zu Hause. Also wieder zurück. Unsere Bauernkate sieht in der Dunkelheit mit den beleuchteten Fenstern wunderschön aus. Ich schnapp mir Levkes Rad und radel zum Elbtunnel. Ich radel nicht, ich bewege mich taub durch die Nacht, mir ist übel, ich habe Angst. Endlich am Elbtunnel, Radwechsel. Ich erwische den letzten Fahrstuhl um 20:00 Uhr. Na ja, sonst hätte ich halt die Fähre genommen. Die Fahrt auf dem Rad durch den Elbtunnel ist schrecklich. Ich bekomme kaum Luft, habe Angst, dass die Elbe in den Tunnel brechen könnte. Ich will hier nur noch raus; dabei war diese Fahrt doch immer so ein Geschenk.

Bin ich froh, als ich auf der anderen Seite der Elbe wieder lebend rauskomme. Erstmal zum Kiosk, Bier kaufen. Schön warm und hell im Kiosk, ich bin klitschnass. Kinderschänder. Oh Gott, das muss ich ja auch noch jedem erzählen. Obwohl – das hat Levke bestimmt schon getan. Auf zu Jan. Jan kenne ich seit zehn Jahren. Jan ist unser Babysitter, die Kinder lieben Jan. Jan ist schwul und versucht seit zwanzig Jahren, Schauspieler zu werden, leider erfolglos. Zwanzig Jahre Ablehnung und Niederlagen, jetzt ist er 36 und hat nichts. Ich bin 45 und habe auch nichts mehr, also ich fühle mich, als wenn ich nichts mehr haben würde. Alles weg. Ich bin ein Häufchen Elend. Jan wohnt auf Sankt Pauli. Verranztes Ein-Zimmer-Apartmenthaus. Kaputte Eingangstür, stinkendes Treppenhaus, willkommen ganz unten. Aber das stört mich nicht, wenigstens kann ich irgendwo hin. Jan nimmt mich lange in den Arm. Torben, sein Ex-Freund, ist auch da. Torben arbeitet bei der Kripo. Toll, was ich für Leute kenne. Ich erzähle den beiden die ganze Geschichte ganz genau und ganz oft. Trinke Bier und kiffe, kommt jetzt auch nicht mehr drauf an. Wir drei können nicht verstehen, warum Levke mich wegen der Stuhlganggeschichte angezeigt hat. Irgendwann komme ich zu dem Schluss, dass heute der schlimmste Tag in meinem Leben ist. Torben erzählt eine Geschichte von den Simpsons. Bart steht nackt und gefesselt an einem Laternenpfahl und jammert. Dann kommt Homer vorbei und Bart jammert „Ohgottgottgott, das ist der schlimmste Tag in meinem Leben.“ Homer guckt Bart an und sagt: „Bis jetzt.“

Wir trinken und kiffen weiter. Irgendwann drückt mir Jan eine Tablette, SEROQUEL (kenne ich gar nicht) in die Hand, damit ich schlafen kann, dazu noch ein paar IBU, gegen die Kopfschmerzen. Ich schlafe betrunken und bekifft auf dem Sofa ein. Meine Mutter hat immer gesagt: „Lieber Gott, mach, dass es Nacht wird, Tag wird es von ganz allein.“

Mein Handywecker klingelt. Sieben Uhr. Kein Albtraum geträumt, aber ordentlich geschwitzt. Ich liege klatschnass auf dem Sofa, Torben und Jan liegen im Doppelbett. Na, das wäre ja auch zu schön gewesen, wenn das alles nur ein Albtraum gewesen wäre. Ich fühle mich wie in Watte gepackt, verquollene Augen, trockenen Mund. So, wie war das jetzt. Levke hat mich angezeigt, wegen sexuellen Missbrauchs an meiner Tochter. Torben, Jan und ich hatten gestern Abend besprochen, dass ich mich auf jeden Fall scheiden lassen will. Ja, ich will mich scheiden lassen. Wie geht das eigentlich, sich scheiden zu lassen? Bevor ich das rausfinde, muss ich erst mal eine Bleibe finden. Ich kann ja schlecht die nächste Zeit bei Jan auf dem Sofa schlafen. Pit! Pit muss mich aufnehmen. Pit hat eine kleine Zweizimmerwohnung in Eimsbüttel. Wohnküche, da sitzen wir immer, Schlafzimmer und ein leeres Zimmer für seine Tauchausrüstung. Das leere Zimmer wäre klasse. Kurz bei Pit angerufen und Pit bestätigt die Buchungsanfrage, ohne zu zögern. Toller Freund. Samstag ist der Umzug in meine neue Herren-WG. Herren-WG mit 45 Jahren, dass ich das noch erleben darf. Ich hatte doch mit meinen WG-Zeiten vor 20 Jahren abgeschlossen. Auf ein Comeback dieser Zeit hätte ich eigentlich gerne verzichtet. Tolle Wurst. Danke, Levke.

23.02.2013

Die Kinder und Levke sind im Reiterurlaub – zurück in unsere Kate, 6 Kartons gepackt

Einzug bei Pit

26.02.2013

1. Termin bei meiner zukünftigen Anwältin Jayanna Mandal

Arbeit geht weiter und jeden auf der Arbeit informiert, was passiert ist

Antrag auf Akteneinsicht und Begleiteten Umgang

Antrag auf Scheidung sofort, da ein Jahr Tisch und Bett getrennt

Ich will die Scheidung schnell und sauber hinter mich bringen

Ich wohne jetzt bei Pit

TAJ MAHAL

26.02.2013

Endlich mein erster Anwaltstermin. Ich kann jetzt schon nicht mehr. Mit der Bahn nach Steilshoop. Asi-Steilshoop. Schon in der Bahn fällt mir auf, dass ich ins Ausland fahre. Es dauert nur 30 Minuten Bahnfahrt vom Hamburg Hauptbahnhof bis Steilshoop. Aber es ist Ausland. Die Menschen in der Bahn sind schlechter gekleidet, schlechter gelaunt, haben schlechtere Haut. Grundsätzlich würde ich mal sagen, es steht schlecht um diese Menschen. Um mich steht es auch schlecht. Wenn man Hilfe braucht, sollte man sich von kompetenten, erfahrenen Menschen beraten lassen. Ich bin also auf dem richtigen Weg. Habichtstraße, Steilshoop, raus aus der Bahn und die Kanzlei suchen. Kleines Schild an einem Wohnhaus. Anwältin Jayanna Mandal.

Öffnungszeiten Mo.–Do. 9.00–12.00 und 15.00–18.00 Freitag 9.00–12.00 Donnerstag 9.00–14.00

Was für ein Kuddelmuddel und dann noch 14:00 Uhr am Donnerstag mit einem Aufkleber übergeklebt. Das geht gar nicht. Das Klingelschild ist die Visitenkarte eines Hauses. Einer der Leitsätze aus der Immobilienwirtschaft. Kann alles Kacke aussehen, aber das Klingeltableau ist immer schön einheitlich zu halten. Na, jetzt bin ich ja hier, der Weg nach vorn ist kürzer als der zurück. Die Kanzlei ist in einem ganz normalen Wohnhaus. Na super, mit einem Glaspalast hatte ich eh nicht gerechnet; hier wird wenigstens kein Geld verschleudert, aber dennoch. Tür auf, Schock der Nächste. Die Frontfrau hat tatsächlich einen roten Punkt auf der Stirn, einen Bindi. Ich glaube, das heißt, dass sie vergeben ist. Oh Gott, oh Gott, oh Gott, wo bin ich denn hier gelandet? Bollywood? Ich glaube es nicht.

„Schönen guten Tag, ich bin Hagen Twente und habe einen Termin bei Frau Mandal.“

„Schönen guten Tag, nehmen Sie bitte noch kurz Platz.“

Ich soll in einem 1,50 Meter breiten Flur Platz nehmen. In einem Flur, in dem schon drei indische Verbrecher sitzen. Müssen ja Verbrecher sein, sonst wären die ja nicht hier. Wahrscheinlich Internetbetrug oder Schwarzarbeit, bestenfalls Drogenhandel. Ich bin hier der einzige Deutsche, genauer gesagt der Einzige, angeklagte deutsche Kinderficker, der sich von seiner beknackten Frau scheiden lassen will. Am besten einfach gegen die Wand gucken und eine Zeitung schnappen, denke ich mir. Gibt leider keine Zeitschrift, nur das Steilo Wochenblatt. Ich fühle mich ausgeschlossen, fremd. Jetzt weiß ich mal, wie das ist. Ich schnappe mir das Wochenblatt. Was sehe ich da auf der ersten Seite? Eine kleine Vierfarbanzeige von Frau Jayanna Mandal, hübsch sieht sie ja aus. Aaaaaaarghhh Achim, ich bring dich um. Am besten gehe ich einfach wieder. Nein, tue ich nicht. Mein Freund Achim hat mir Frau Mandal empfohlen. Also muss sie gut sein.

Achim arbeitet im Jugendamt und ist Psychologe, also kennt er sich mit der Materie aus. Was hat Achim gesagt, zu der Anwältin, die ich mir aus dem Sankt Pauli Wochenblatt bei Jan rausgesucht habe? Wenn Anwälte es nötig haben, eine Anzeige zu schalten, dann können sie nicht gut sein. Aha! Aber bei Frau Mandal ist das wohl nicht so. Das war Absicht von Achim, Intergrationsachim, Inklusionsachim. Sehr witzig, hahaha. Achim kennt meine Vergangenheit. Ich war nämlich im Alter von 20 bis 25 Jahren Skinhead. Keiner von den ganz Bösen, eher einer von den lustigen Gewalttätern. Mitläufer, Quereinsteiger-Skinhead. Aber da bleibt natürlich immer was hängen. Es war eine gute Zeit. Viel saufi saufi und viel Spaß.

Ein bisschen Angst und Schrecken verbreiten gehörte natürlich auch dazu. Bergedorf und Lohbrügge waren damals harte Pflaster. Nachdem ich innerhalb von zwei Wochen zweimal von Bombern zusammengeschlagen und abgezogen wurde – „Was guckst du?“ –, habe ich mir die Haare abrasiert, mir bei CHAMEUSE Bomberjacke, rote Martens mit Stahlkappe, Hosenträger und ein Fred Perry gekauft und fertig war der Nachwuchsskinhead. Ich habe mich dann einfach zu den Glatzen im Grünen Zentrum gestellt und war sofort Teil vom LA, dem Lohbrügger Anhang. Meine neue Peer-Group hatte nichts mit den heutigen Ostglatzen, den Boneheads zu tun. Wir waren Oi-Skins, stolze Arbeiterklasse. Wir hörten natürlich Onkelz, Endstufe und Screwdriver, aber auch Reggae, Ska, Cock Sparrow, Madness, Ramones und Cockney Rejects.

Beim Lohbrügger Anhang waren auch Türken, Griechen, Rumänen und sogar Jungs mit richtig langen Haaren dabei. Eine bunte, laute, aber sehr, sehr schlagkräftige Truppe. Unsere Gegenspieler waren die blauen und grünen Bomber, alle, die auf dicke Hose machten, und die linken Punks. Ich fühlte mich sofort wohl und gut aufgehoben. Das Allerbeste war, dass ich bereits nach ein paar Wochen mit Dani zusammengekommen bin, einem Skinheadgirl wie aus dem Bilderbuch. Dani hatte einen Renee Haarschnitt, Netzstrumpfhose, Bomberjacke und sollte meine zweite große Liebe werden. Von diesem Zeitpunkt an hieß es „Doktorspiele sind vorbei, angesagt ist Keilerei.“

Gewalt erzeugt Gegengewalt, so einfach ist das, leider. Tja und der Herr Ex-Skinhead will sich jetzt von einer indischen Anwältin aus der bisher größten Krise seines Lebens raushauen lassen. Das nenne ich doch mal eine erfolgreiche Resozialisierung. Dafür müsste es doch eigentlich einen Preis geben. „Auszeichnung für gelungene Resozialisierung eines ehemals rechten Gewalttäters“ – 25.000 Euro Preisgeld, gestiftet vom Reiseveranstalter Taj Tours. Das Geld fließt natürlich über Frau Mandal direkt der indischen Gemeinde Steilshoop zu.

So, warten und guck die weiße Wand an. Das ist hier gar keine Kanzlei, sondern eine 2,5-Zimmer-Wohnung, die sich als Kanzlei verkleidet hat. Danke Achim, das hast du genau gewusst. Ein Inder nach dem anderen darf rein. Obwohl ich pünktlich war, warte ich locker eine Stunde. Die könnten mir ja wenigstens mal einen Chai Tee anbieten.

„Herr Twente, bitte, kommen Sie rein, ich bin Frau Mandal.“

Boah!!! Ist die schön, Gott sei Dank habe ich gerade andere Sachen im Kopf, sonst wäre ich jetzt schockverliebt.

Ich nehme Platz auf einem bequemen Ledersessel, sie hinter ihrem riesigen Schreibtisch.

„Was kann ich für Sie tun, Herr Twente?“

„Ich brauche Ihre Hilfe, Herr Achim Remmer hat Sie empfohlen. Meine Frau hat mich des sexuellen Missbrauchs an meiner Tochter Ida angezeigt. Ich habe das aber nicht gemacht und ich will mich deswegen scheiden lassen.“

Dann erzähle ich ihr die ganze Geschichte.

„Sie haben ein ernsthaftes Problem, Herr Twente, Sie brauchen tatsächlich eine Anwältin.“

Ach, darauf wäre ich gar nicht von allein gekommen, ich dachte, das regelt sich einfach so. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und frage sie: „Frau Mandal, ganz offen gefragt, haben Sie so etwas schon einmal gemacht, ich meine, ich lege jetzt mein Leben in Ihre Hände?“

Oh, das war eine gute Frage. Was soll sie denn antworten?

„Nö, habe ich noch nie gemacht, aber ich habe das schon mal auf YouTube gesehen.“

„Herr Twente, Straf- und Familienrecht ist mein Fachgebiet und ich würde sagen, ich bin eine der Besten.“

Na, das hat Achim auch gesagt und was anderes wollte ich ja auch gar nicht hören.

„Passen Sie auf, Herr Twente, ich werde Ihnen jetzt mal erklären, wie das läuft.“

Ja, das würde ich auch gerne mal wissen.

„Wir haben hier zwei Hauptverfahren: ein strafrechtliches Verfahren und ein Scheidungsverfahren. Für das Strafrechtsverfahren beantrage ich Akteneinsicht und wenn wir die haben, sehen wir weiter.“

„Wie lange dauert das?“

„Drei bis sechs Monate.“

„Na, dann.“

„Wir gehen davon aus, dass Sie die Tat nicht begangen haben und werden die Einstellung des Verfahrens nach § 170 II StPO verlangen.“

„Aha.“

„Das Scheidungsverfahren ist unterteilt in mehrere Unterverfahren.

Da hätten wir die Ehescheidung an sich, den Zugewinnausgleich, den Kindesunterhalt, den Ehegattenunterhalt und eventuell noch ein Umgangsverfahren. Für jedes Verfahren benötige ich eine Vollmacht und für jedes Verfahren werden Sie eine Honorarvereinbarung unterschreiben.“

Ah, jetzt kommt sie auf den Punkt, das geht ja hier zack zack.

„Was kostet mich denn das?“

„Also, in meiner Kanzlei arbeiten wir mit Festpreisen, da wissen sie am besten, woran sie sind. Für das Strafrechtsverfahren nehme ich 1.000 Euro.“

Das hört sich preiswert an.

„Für das Scheidungsverfahren 2.000 Euro.“

Okay, das geht ja noch.

„Für die Berechnung des Zugewinnausgleichs 4.000 Euro.“

Autsch, jetzt wird’s teuer – da nehme ich doch lieber noch einmal Strafrecht. Den Spruch mit dem indischen Basar spare ich mir jetzt mal, vielleicht später. 7.000 Euro – das schöne Geld.

„Für die Verfahren Kindesunterhalt und Ehegattenunterhalt 2.000 Euro, für das Umgangsverfahren erst einmal 2.000 Euro.“

Das sind dann ja erst einmal 11.000 Euro, woher soll ich die denn nehmen? Ich bin pleite.

„Wir sagen, dass Sie beide schon seit einem Jahr in der Wohnung getrennt gelebt haben. Somit kann die Scheidung sofort eingereicht werden, weil das Trennungsjahr bereits vollzogen ist.“

„Ach, sagen wir das?“

„Wenn Ihre Frau das bestätigt, fragt da kein Richter nach.“

Das Gespräch zog sich dann doch noch um einiges in die Länge und ich erhielt die ersten Infos, wie man Scheidung spielt. Zunächst ein Trennungsjahr, dann wird der Zugewinn in der Ehe berechnet, also wer was mit in die Ehe gebracht hat und was während der Ehe zusammen angehäuft wurde. Dann, wer später von wem wie viele Rentenpunkte bekommt. Bestimmt muss ich Levke welche von meinen hart erarbeiteten Rentenpunkten abgeben. Ich kann das alles nicht. Wir haben noch nicht mal angefangen, Scheidung zu spielen und ich kack schon ab. Levke war in unserer Ehe immer für jede Art von Papierkram zuständig. Ich hasse das und jetzt soll ich das alles allein machen, das bekomme ich nie allein, ohne Levke, hin. Ich kann ja nicht mal einen Brief gerade falten.

„Frau Mandal, wann sehe ich meine Kinder wieder?“

Schweigen, sie schaut nur mitleidig. Hunde können genau so gucken. Das liegt den Hunden im Blut. Für Anwälte gibt es da bestimmt ein Seminar, das Hundeblick-Seminar.

„Rechnen Sie mit zwölf Monaten, bestenfalls mit sechs Monaten.“

Wieder rauscht es in meinen Ohren. Sie hat nicht zwölf Monate gesagt. Nee, hat sie bestimmt nicht. Da habe ich mich sicherlich verhört. Also noch einmal: „Tschuldigung, Frau Mandal, wann sehe ich meine Kinder wieder?“

„Rechnen Sie mit einem Jahr.“

Sie hat tatsächlich zwölf Monate gesagt!

„Wie, ein Jahr? Ein Jahr? Zwölf Monate? 2014? Ich habe doch nichts gemacht.“

Hitzewallungen, ein Rauschen, Zittern, Tränen schießen mir in und aus den Augen.

„Ich hab doch nichts gemacht, gar nichts, rein gar nichts habe ich gemacht, nichts, gar nichts, nichts.“

„Ich werde ein Eilverfahren zum Begleiteten Umgang beantragen, Kostenpunkt 2.000 Euro.“

„Was ist ein Begleiteter Umgang?“

„Wenn unserem Antrag stattgegeben wird, dann können Sie Ihre Kinder ein, zweimal im Monat unter Aufsicht für ein paar Stunden sehen.“

Ich kann meine Kinder ein, zweimal im Monat unter Aufsicht für ein paar Stunden sehen. Was ist denn das für eine Scheiße.

„Ich kann bitte was?“

„Mehr ist nicht drin, Herr Twente, Sie haben eine Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs an Ihrer Tochter an der Backe. Herr Twente, stellen Sie sich auf eine sehr lange und sehr schwierige Zeit ein. Wenn wir Glück haben, knickt Ihre Frau nach einigen Wochen ein und sieht, was sie angerichtet hat. Leider ist es bittere Realität, dass Mütter ihre Ehemänner und Väter der gemeinsamen Kinder wegen sexuellen Missbrauchs im Zuge einer Scheidung anzeigen. Oft knicken diese Mütter jedoch ein und erkennen, dass sie einen schlimmen Fehler gemacht haben, weil sie das Leid der Kinder nicht mehr aushalten können. Es gibt allerdings Mütter, die sehr krank sind, und dann kann sich solch ein Verfahren über Jahre ziehen. Ich weiß jetzt noch nicht, welcher Typ Ihre Frau ist. Was meinen Sie?“

Mir schwant Böses, Levke knickt nicht ein. Ich sage nichts.

„Was ist nochmal ein Begleiteter Umgang?“

„Sie sehen Ihre Kinder in einer sozialen Einrichtung und ein Umgangspfleger ist dabei.“

Ein Umgangspfleger, was ist ein Umgangspfleger? Ist das ein Lehrberuf? Wie Altenpfleger oder Tierpfleger? Hätte ich vielleicht auch lieber lernen sollen. Dann säße ich jetzt nicht hier.

„Was ist denn das alles für eine verkackte Drecksscheiße?“, platzt es aus mir raus.

„Herr Twente, bitte mäßigen Sie sich, ich habe Ihnen Ihre Frau nicht ausgesucht.“

Na, da hat sie wohl recht. Vielleicht sollte ich mir in Zukunft lieber eine Frau zuteilen lassen. Dann habe ich später jemanden, den ich verklagen kann.

„Frau Mandal, ich muss Ihnen noch was sagen, ähmmmm, ich war in meiner Jugend Skinhead.“

„Ja, und? Wahrscheinlich haben Sie auch Drogen konsumiert, oder?“ „Ja, das ist richtig.“

„Das ist in diesem Fall egal, aber lassen Sie sich die Haare wachsen, sieht vor Gericht besser aus.“

Als ich wieder auf der Straße bin, geht’s mir noch schlechter als vorher. Kaum hat man Kontakt zu diesen Menschen, denen es schlecht geht, geht es einem genauso. Deswegen bleiben die auch meist unter sich. Ja, es nivelliert sich alles immer am unteren Ende der Fahnenstange ein. Jetzt bin ich auch einer von ihnen. Bloß nach Hause! Ach, ich habe ja gar kein Zuhause mehr. Schnell in die Küche in meiner neuen Herren-WG bei Pit. Set und Setting ändern. Bier trinken, kiffen und Haare wachsen lassen. Aber vorher soll ich ja noch zur Bank gehen und Geld für Frau Mandal besorgen. Also erst mal zur HASPA auf Sankt Pauli. Gott sei Dank steht mein Sachbearbeiter am Schalter.

„Moin Herr Meier, ich würde gerne die Hälfte von meinem, also dem Sparbuch von Levke und mir abheben.“ Darauf dürften so ungefähr 20.000 Euro sein, mit der Hälfte kann ich die ersten Scheidungsverfahren bei meiner Anwältin Frau Mandal bezahlen.

„Dafür brauche ich das Sparbuch.“

„Habe ich nicht, das hat Levke und wir lassen uns gerade scheiden.“

„Ohne Sparbuch kein Geld, tut mir leid.“

„Aber Sie kennen mich doch, bitte.“

„Ohne EC-Karte bekommen Sie auch kein Geld am EC-Automat, ohne Sparbuch bekommen Sie hier kein Geld, da kann ich wirklich nichts machen.“

Mir tut das auch alles sehr leid. Herr Meier tippt an seinem Computer. Na, vielleicht drückt er ja doch ein Auge zu.

„Herr Twente, ich darf Ihnen das eigentlich nicht sagen, aber … das Guthaben auf Ihrem Sparbuch beträgt genau einen Euro.“ Fuck, jetzt bin ich auch noch ausgeraubt worden, schlimmer geht immer.

„Kann ich meine Lebensversicherungen plattmachen oder sind die auch schon aufgelöst?“

„Die könnte ich Ihnen auszahlen, aber Herr Twente, überlegen Sie sich das nochmal. Das sind alte Lebensversicherungen, die sind goldwert, die werden steuerfrei ausgezahlt.“

„Auszahlen, platt machen, was hilft das Geld, wenn man’s behält?

Mein Leben ist eh vorbei, also her mit dem Zaster. Wann kann ich das Geld abholen und wie viel ist das?“

„Das dürften knapp 15.000 Euro sein und das dürfte eine Woche dauern.“

Klasse. Immer wenn man denkt, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Licht daher. Ist der eine Bus weg, kommt der nächste.

Ich bin wieder im Rennen.

03.03.2013

SMS an Levke und auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht für die Kinder hinterlassen

08.03.2013

Sorge mich um die Kinder, habe die Kinder seit zwei Wochen nicht gesehen, wer liest Ida denn jetzt was vor und wirft sie hoch?

Angst, dass Levke mir die Kinder wegnimmt oder mit den Kindern einfach wegzieht

Termin beim ASD

Info von Achim, dass Levke bei ihm war – Lage eskalierte, Levke drehte komplett durch, schrie ihn an, er würde einen Kinderschänder unterstützen und pöbelte vor seinem Haus, nachdem er ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte

ASD

Achim sagte mir, dass das Jugendamt bei hochstrittigen Familienangelegenheiten früher oder später immer federführend ist. Also, wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Auf zum zuständigen „Allgemeinen Sozialen Dienst“, dem ASD Altona. Eigentlich super, dass Problemstadtteile immer einen eigenen sozialen Dienst haben. In Steilshoop gibt es sicher vier soziale Dienste. Nord, Süd, Ost, West und Mitte, das wären dann sogar fünf.

Jetzt stehe ich vorm ASD-Gebäude und muss wieder jemandem erzählen, was passiert ist. Das ist das Schlimmste, immer wieder jemandem erzählen zu müssen, was passiert ist. Früher oder später merkt man, dass man eigentlich immer gleich verurteilt wird. Nach dem Motto: „Wo Rauch ist, ist auch Feuer.“

Keine Ehefrau zeigt ihren Mann einfach mal so wegen sexuellen Missbrauchs an der eigenen Tochter an, wenn da nichts wäre. Fast keine. Bis auf ein paar hart Durchgeknallte und dazu gehört ganz an der Spitze „Schlechte-Laune-Levke“. Auf der Arbeit gilt nämlich auch immer: „Bei einer Vielzahl von Möglichkeiten ist das Wahrscheinlichste das Wahrscheinlichste.“ Deshalb denke ich, dass das bei vielen Leuten hier genauso gilt. Wenn da nichts wäre, hätte Levke mich ja auch nicht angezeigt und die Stuhlgangprobleme könnten bei einer falschen Überinterpretation eventuell ein bisschen verdächtig sein. Ich denke, dass das bei den meisten Vätern, denen sexueller Missbrauch vorgeworfen wird, sogar stimmt, weil sie, wie die meisten angeklagten Mörder, ja auch welche sind. Nur, dass Mörder in der Gesellschaft wohl mehr Akzeptanz und Verständnis finden als Kinderschänder, selbst Kindermörder stehen noch über Kinderschändern. Zu Recht. Wer ein Kind missbraucht, ist eine Persona non grata.

Bei manchen Vätern mag das stimmen, aber nicht bei mir. Gott sei Dank muss ein Angeklagter wegen sexuellen Missbrauchs keinen silbernen Punkt auf der Stirn tragen. Obschon ich dieser Idee noch vor ein paar Tagen relativ offen gegenübergestanden wäre. Da kann ich ja froh sein, dass niemand mich nach meiner Meinung gefragt hat und ich in Deutschland nichts zu sagen habe. Ist wohl auch besser so. Sonst müsste ich jetzt mit gutem Beispiel und silbernem Punkt auf der Stirn vorangehen.

Na, dann mal rein in die Höhle des Löwen, beim ASD. Herr Kallert, Sozialarbeiter, nimmt mich in Empfang. Eigentlich eine lustige Erscheinung, groß, leicht öko, mit Oberlippenbart. Herr Kallert kann aber Oberlippenbart tragen, ohne albern damit auszusehen. Der Bart passt. Wahrscheinlich wurde Herr Kallert schon mit dem Oberlippenbart geboren. So etwas gibt es, kein Scherz! Wenn auch nur selten in unseren Kulturkreisen, eher in der Mongolei. Da genießen Neugeborene mit Oberlippenbart großes Ansehen. Ja, und die Mädchen erst mal! Da wäre die Birgitt ganz groß rausgekommen. Die wurde bestimmt auch schon mit Oberlippenbart geboren. Tja, Birgitt, Pech gehabt, leider kamst du nicht in der Mongolei zur Welt, sondern in irgendeinem Kaff im Sauerland. Herr Kallert kommt aber bestimmt auch nicht aus der Mongolei.

Endlich, Tag fünfzehn nach diesem Horrordonnerstag und ich habe meinen ersten Kontakt mit dem Jugendamt. Ich schildere mal wieder die Geschehnisse der letzten Tage und bitte ihn um Hilfe, damit ich meine Kinder bald wieder sehen kann. Nach meinen Ausführungen durchsucht er seine Akten und seinen Computer nach Informationen zu meinem Fall. Denn bei jeder Straftat mit Kindern informiert normalerweise die Polizei innerhalb von 24 Stunden das zuständige Jugendamt. Das wird auch bei häuslicher Gewalt oder Drogenkonsum der Eltern gemacht. Wenn also im häuslichen Bereich der Papa der Mama zum Beispiel eins auf die Fresse haut oder Mami beim Crack rauchen die Pfeife um die Ohren fliegt, der Notarzt mit der Polizei kommt und die Polizei dann feststellt, dass bei dieser Explosion beziehungsweise bei der Prügelei Kinder zugegen waren, heißt es: Bericht schreiben. Innerhalb von 24 Stunden soll der Bericht dann beim Jugendamt sein. Das ist eigentlich auch eine gute Regelung. Sonst könnte ja jeder machen, was er will und Herr Kallert wäre arbeitslos. Nicht so in meinem Fall. Da war nichts, kein Bericht und keine Information. Herr Kallert fand das sehr merkwürdig. Wo er mir das sagte, fand ich das natürlich auch. Na, wer hat denn da geschlurrt? Die Kollegen Stiller und Wagner wohl. Na ja, aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

„Haben Sie denn einen Anwalt, Herr Twente?“

Blöde Frage – nee, ich lass mich von einem ausgebildeten Gartenund Landschaftsgärtner beraten.

„Ja, klar, habe ich.“

„Es ist nicht selbstverständlich, dass Sie einen Anwalt haben, Sie brauchen ja grundsätzlich keinen Anwalt beim Familiengericht. Anwälte wollen doch eh nur Geld verdienen.“

Oha, oho, hört hört. Klar, dass die gute Frau Mandal nicht ganz billig ist, habe ich bereits gemerkt. Aber glaubt er wirklich, dass ich in meiner Situation auf eine Anwältin verzichten könnte? Wenn ich jetzt keinen Anwalt brauche, dann brauche ich wohl niemals einen. Sehr witzig, Herr Kallert.

„Was haben Sie denn getan, um eine außergerichtliche Einigung zu erlangen?“

Hahaha, Witzigkeit kennt keine Grenzen. Für eine außergerichtliche Einigung ist es jetzt wohl etwas zu spät. Ich könnte ja mal die Kollegen Stiller und Wagner fragen, was sie davon halten. Das meint der Kallert doch nicht ernst, sind hier alle verrückt geworden?

„Wissen Sie, Herr Twente, das Wohl des Kindes steht bei uns an erster Stelle, an allererster Stelle. Wir interessieren uns natürlich auch für die Eltern, aber das Kind steht im Vordergrund. Für mich ist es äußerst wichtig zu wissen, warum Sie der Meinung sind, dass Ihre Kinder Sie brauchen. Herr Twente, Sie haben Rechte und Pflichten im Umgang mit Ihren Kindern und auch Kinder haben Rechte. Für mich ist es äußerst wichtig zu wissen, warum Sie Ihre Kinder sehen möchten, warum die Kinder Sie sehen müssen. Ich möchte das ganz genau wissen, schriftlich, Ihre Vaterrolle. Ich kenne Sie ja gar nicht. Wäre auch möglich, dass Sie Abend für Abend nach Hause kommen, Frau und Kinder schlagen und dann eine Flasche Jägermeister vor dem Fernseher leeren.“ Ha, da war er wieder, der gute, alte Jägermeister, Dschungelmaggi, Kommodenlack.

„OK, mache ich, haben Sie nächste Woche auf Ihrem Tisch.“

Ja super, danke schön, Herr Kallert, danke schön, Jugendamt. Dann suchen Sie erst einmal meine Akte, die schon seit 15 mal 24 Stunden auf Ihrem Schreibtisch liegen sollte. Diese Schludrigkeit erklärt nämlich, warum ständig irgendwelche Chantals, Kevins und wie die Kinder sonst so heißen, verhungern oder verdursten. Ja, ich weiß, darüber macht man keine Witze. Aber wenn es zwei Wochen dauert, bis Informationen über ein halbverhungertes Kind im Kinderzimmer, mit leichten Verletzungen aufgrund der explodierten Crackpfeife von Mami, auf dem Schreibtisch des zuständigen Sachbearbeiters landen, dann könnte das rettende Glas Wasser oder der rettende Müsliriegel etwas zu spät kommen.

Tschüssli Müsli, und wieder raus. Jetzt die Straße runter zum Elbtunnel, durch den Elbtunnel radeln, in mein Auto setzen und ab nach Hause. Das Gartentor öffnen, der Hund kommt angerannt, Ida und Jonny lachend hinterher, ich nehme Ida hoch, werfe sie hoch und sie schreit:

„Nochmal Hagen, bis in die Wolken, nochmal, bitte, bitte, noch hundertmal, Hagen, bis in die Wolken!“

Diesmal würde ich sie hundertmal hochwerfen; ich würde nie wieder aufhören, sie hochzuwerfen. Immer noch einmal, bis in die Wolken, und Ida würde vor Glück und Freude juchzen. Danach wäre Jonny dran, durchkitzeln, rangeln und Fangen spielen. Aber ich stehe hier vor dem Jugendamt, mir ist kalt, es regnet und ich weine, bis meine Nase verstopft. Ich bin so schrecklich traurig und allein. Hoffe, dass mich niemand sieht, der mich kennt. Ich würde mich am liebsten auf den nassen Boden fallen lassen, mich einrollen, liegen bleiben und weinen. Ich denke an die Obdachlosen, die ganz in der Nähe von hier auf dem Lüftungsschacht vorm REWE schlafen, dort eingerollt und vollgepisst liegen. So schnell kann das gehen. Ob diese Gefallenen wohl noch vor Kurzem beim Herrn Kallert waren? Ich werde hier jetzt nicht zu Boden gehen und liegen bleiben. Ich beiße die Zähne zusammen, schließe mein Fahrrad los, lasse meinen Tränen freien Lauf. Gott, wie ich heule. Tonnenschwer schiebe ich mich weg, weg von diesem Ort. Weg von der Elbe, die ich so liebe, weg von meinen Kindern, die ich so sehr vermisse, von meiner Frau, mit der ich alt werden wollte; raus, allein, in die kalte, nasse Dunkelheit.

MEINE VATERROLLE – TEIL I

Einen Tag später sitze ich an meinem Arbeitsplatz. Wie immer, wenn ich etwas zu unserer Scheidung und meiner jetzigen Situation schreibe. Levke hat unsere drei Laptops, okay, einer ist kaputt und einen PC mit Monitor und Drucker. Ich habe eine scheiß Kladde und alles, was ich für Frau Mandal schreibe, muss ich in der Firma machen. Wer sich scheiden lassen will, sollte auf jeden Fall Internet, Drucker und Laptop haben. Dieses Equipment entstresst die Sache ungemein.

Samstagmittag im Büro. Meine Vaterrolle. Ja, wie war das denn damals? Wie fing alles an?