Das bin doch ich - Thomas Glavinic - E-Book

Das bin doch ich E-Book

Thomas Glavinic

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Beschreibung

Ein Mann schreibt einen Roman. Der Mann heißt Thomas Glavinic und er will das, was alle wollen: Erfolg. Er will einen Verlag, einen Preis, Geld. Was er hat, ist ein Manuskript, eine Literaturagentin, Kopfschmerzen und leider zumeist unerträgliche Mitmenschen. Mit aberwitziger Komik spielt Thomas Glavinic ein Spiel mit der Wirklichkeit und ihrer Verdopplung. »So ein Buch gehört sich eigentlich nicht. Ein Roman über den Literaturbetrieb, der sich und seine Leser in den lakonischen Irrwitz treibt. Wer es liest, hat über Stunden hin zu lachen.« Ursula März, Die Zeit

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Seitenzahl: 276

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Thomas Glavinic

Das bin doch ich

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ein Mann schreibt einen Roman. Der Mann heißt Thomas Glavinic und er will das, was alle wollen: Erfolg. Er will einen Verlag, einen Preis, Geld. Was er hat, ist ein Manuskript, eine Literaturagentin, Kopfschmerzen und leider zumeist unerträgliche Mitmenschen. Mit aberwitziger Komik spielt Thomas Glavinic ein Spiel mit der Wirklichkeit und ihrer Verdopplung.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Motto

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

»Hell is empty,

And all the devils are here.«

 

Shakespeare, The Tempest

Eins

Ich gehe ins Bad. Bevor ich die Unterhose ausziehe, wende ich mich vom Spiegel ab. Den Kopf starr geradehaltend, damit mein Blick nicht doch noch auf mein Geschlechtsteil fällt, steige ich in die Duschkabine. Unter den üblichen Verrenkungen dusche ich. Beim Rausgehen, als ich den Blick in den Spiegel nicht vermeiden kann, kneife ich die Augen zusammen. Ich recke den Hals und trockne mich ab. Die Verkrampfung löst sich erst, als ich wieder angezogen bin.

So geht das schon lange. Ich bin Hypochonder, und seit ich vor eineinhalb Jahren gelesen habe, eines der Anzeichen für Hodenkrebs sei ein leicht geschwollener Hodensack, vermeide ich es, meine Hoden anzusehen, beim Duschen, beim Umziehen, beim Schlafengehen sowie bei bestimmten Gelegenheiten, bei denen man eigentlich nicht anders kann, als hinzusehen. Ich kenne mich. Wenn ich meine Hoden ansehe, bilde ich mir bestimmt ein, etwas habe sich verändert. Manchmal träume ich sogar davon, ich träume von wahren Ballonhoden. Ich will das nicht, ich will nichts von Hodenkrebs hören, ich will an überhaupt keine schweren Krankheiten denken, ich ertrage das nicht, generell nicht und derzeit schon gar nicht.

Ich setze mich an den Computer, keine Emails. Nicht überraschend, wenn man bedenkt, daß ich erst vor einer Viertelstunde nachgeschaut habe. Enttäuscht bin ich trotzdem. Ich warte auf nichts Bestimmtes, aber ich hätte nichts dagegen, wenn mir jemand schreibt. Vor einer Woche habe ich meinen fünften Roman beendet. Die Arbeit der Nacht ist die Geschichte von Jonas, der eines Tages erwacht und feststellt, daß alle anderen Menschen verschwunden sind. Meine Agentin hat das Manuskript an verschiedene Verlage geschickt, und nun heißt es warten. Ich bin schlecht im Warten, deswegen mache ich schon am Nachmittag eine Flasche Wein auf.

Mir fehlt die tägliche Beschäftigung am Schreibtisch. Ich schleiche durch die Wohnung, rufe fünfmal in der Stunde Mails ab, suche nach Ablenkung. Else sagt, ich habe einen Dachschaden, ich soll mit Stanislaus spazierengehen. Sie sagt es oft, sie sagt es auch jetzt. Eigentlich hat sie recht. Sie zieht ihn an, ich ziehe mich an, und wir gehen.

Stanislaus ist zwanzig Monate alt. Ich schiebe ihn im Kinderwagen um den Block. Spannend finde ich das nicht, deshalb überlege ich, wen ich anrufen könnte. Die Finkin fällt mir ein, wir wollen sie ohnehin nächste Woche besuchen. Ich rufe an, sie klingt verschlafen.

»Habe ich dich aufgeweckt?«

»Ja.«

Ich schaue auf die Uhr, es ist vier Uhr nachmittags. Eine Weile reden wir Belangloses, daneben weist mich Stanislaus auf Kräne und Bagger hin. Ich bitte die Finkin, in Villach für Else und mich ein Hotelzimmer zu reservieren.

Ich habe den Spazierweg unbedacht gewählt, und so kommen wir am Spielplatz vorbei. Stanislaus beginnt Theater zu machen, er will hinein. »Da! Da!« zeigt er. Er tut mir leid, aber ich muß ihn vorbeischieben, Else soll nachher mit ihm gehen. Ich kann nicht mit ihm auf den Spielplatz, denn ich habe Angst, gegenüber irgendeinem Kind, das zu meinem Sohn böse ist, tätlich zu werden. Überhaupt sind die meisten Kinder so verwünschte Bestien, daß ich nicht einmal in die Nähe des Spielplatzes kommen will. Mir reicht schon der Anblick herumlungernder Vierzehnjähriger mit Kampfhund und Zigarette, ich könnte sie alle schlachten und ausweiden und ihre Teile in die Müllcontainer stopfen. Nicht zuletzt, wer weiß, ich bin zwar fast einsneunzig groß, aber nicht besonders kräftig, außerdem kann man in der heutigen Zeit nicht ausschließen, daß die Kids stärker sind als man selbst, und wer will schon von Kindern verdroschen werden.

»Ooo-haa!«

Ich schaue Stanislaus an.

»Ooo-haaa!«

Da war wirklich etwas.

»Oooo-haaa!«

Ich assoziiere Telefon, ich kontrolliere, ob in der Ablage des Kinderwagens das Spielzeugtelefon liegt. Es liegt nicht dort.

»Thooo-maaas!«

Ich erschrecke heftig. Es ist die Stimme der Finkin. Aber die Finkin ist in Villach, sie kann mich nicht hier in Wien auf der Straße rufen. Das bedeutet, die Stimme ist in meinem Kopf. Ich habe dreimal in meinem Leben Stimmen in meinem Kopf gehört, und es war jedesmal so furchtbar, daß ich nun kurz vor einer Panikattacke bin.

»Thooo-maaas! Reeede mit miiiir!«

In meiner Jackentasche. Die Finkin sitzt in meiner Jackentasche und spricht. Mit mir ist bald alles vorbei. Ich spinne.

… ach so, jetzt verstehe ich, schnell hole ich mein Mobiltelefon aus der Tasche, und um Geistesgegenwart zu beweisen, sage ich: »Habe ich dich aufgeweckt?«

»Thomas, bist du betrunken?«

»Nein, ich – «

»Du weißt aber schon, daß du gerade bei mir ein Hotel bestellt hast?«

»Ja sicher!«

»Weiß Else, daß du mit Stanislaus unterwegs bist?«

Ich versuche ihr die Sache mit der Tastatursperre zu erklären, aber so recht überzeugt klingt sie nicht. Wir machen uns auf den Rückweg.

Zu Hause spiele ich mit Stanislaus, dann wird es Zeit, und ich ziehe mich um. An der Tür bittet mich Else, nicht zu spät nach Hause zu kommen. Ich verspreche es. Sie erinnert mich daran, daß Thomas Maurer die Lesung von Jonathan Safran Foer moderieren wird. Ich schaue sie fragend an.

»Na, weil es immer spät wird, wenn du Thomas triffst.«

»Diesmal nicht.«

»Das sagst du jedesmal.«

»Aber diesmal sicher nicht.«

»Das sagst du auch jedesmal.«

Im Rabenhof-Theater setze ich mich in eine der leeren hinteren Reihen. 150 Besucher. Für eine Literaturveranstaltung in Wien sehr viel, vor allem bei 15 Euro Eintritt. Das Weinglas muß ich unter dem Sitz verstecken, da Gläser und Flaschen im Saal nicht erlaubt sind. Ich lege die Beine über die Lehne des Stuhls vor mir. Die Kante schneidet mir in die Waden.

Drei Personen sitzen auf der Bühne: Der Moderator Thomas Maurer, der Schauspieler Nicholas Ofczarek, und der Autor selbst, Jonathan Safran Foer. Maurer stellt dem Autor Fragen. Na bravo, denke ich, ein englischer Abend, und das mit meinen miserablen Sprachkenntnissen. Aber was habe ich erwartet? Deutsch wird der Mann nicht können, und außer mir spricht sowieso jeder unter Vierzig perfekt Englisch. Und so ist es auch, der Autor macht einen Scherz, und alle im Saal lachen laut, denn sie müssen ja zeigen, daß sie den Witz verstanden haben, besonders zu Anfang. Ich habe ihn nicht kapiert.

Foer liest aus seinem Buch vor. Die Leute sind amüsiert und lachen und nicken. Jesusmaria, Lesungen sind ja schon auf Deutsch heikle Veranstaltungen, wo bin ich hier? Ist das ganze Land in der Lage, die Feinheiten des hier vorgetragenen Werks zu erfassen? Waren die alle als Austauschkinder in Ohio? Ich schleiche hinaus und hole mir noch Wein.

Der Autor liest auf Englisch, der Schauspieler liest auf Deutsch, dann darf das Publikum Fragen stellen. Foer antwortet mit freundlicher Gelassenheit. Der Mann ist der weltweit bestbezahlte Autor unter Dreißig, schreiben Journalisten, weil Journalisten so etwas gern schreiben. Diese Gelassenheit kann aber durchaus mit Erfolg zu tun haben, wenn auch nicht zwingend mit finanziellem. Ich beneide ihn um sie, denn in mir tobt ständig etwas, und ich frage mich, was mich eigentlich zusammenhält. Nein, ich frage mich das nicht, ich weiß es ja, es ist das Schreiben, und deswegen muß ich etwas unternehmen, ich kann nicht einfach einen Roman zu Ende bringen und eine Weile nichts tun.

Nach der Veranstaltung sitze ich in einem der roten, bequemen Fauteuils im Foyer. Maurer fragt, ob ich noch mitgehe. Ich weiß nicht, ob ich Lust habe. Ich gratuliere ihm, er hat einen ganzen Abend mit englischer Moderation durchgestanden. Er freut sich. Nicht über mein Lob, sondern weil er selbst weiß, daß er gut war.

Ein SMS von Daniel: Bin auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

Ich schreibe zurück: Und du wirst den Preis auch kriegen.

Daniel hat gerade ein Buch veröffentlicht, das Die Vermessung der Welt heißt. Ich habe ihm prophezeit, er werde davon 80000 Exemplare oder mehr verkaufen. Er sagt, ich spinne. Ich spinne nicht, das heißt, ich spinne schon manchmal, aber hier nicht. Und den Deutschen Buchpreis, den Preis für den besten Roman des Jahres, wird er wohl auch gewinnen. Erst gab es die Longlist: die besten 20 Titel, von einer Jury gewählt. Jetzt sind es noch 6, die Shortlist. Bei der Buchmesse in Frankfurt wird der Gewinner bekanntgegeben werden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es jemand anderer sein wird als er.

Es ist ein bißchen seltsam für mich, zuzusehen, wie Ruhm und Erfolg meines Freundes von Woche zu Woche größer werden. Vor einigen Jahren war ich für kurze Zeit der etwas weniger Unbekannte und Erfolglose. Jetzt hat er schon 25000 Exemplare seines neuen Buches verkauft, und ich stehe ohne Verlag da.

Thomas Gratzer, der Rabenhof-Chef, sagt, ich soll noch mitkommen. Er drängt, ich sage okay. Wir gehen zu seinem Auto. Jemand ruft ihn zurück, er soll gleich den Autor mitnehmen. Und so kommt, was ich befürchtet habe: Ich muß Englisch sprechen.

Vorne am Steuer Gratzer, im Fond Foer und ich. Weil ja irgend etwas geredet werden muß, erzähle ich meine Londoner Lieblingsgeschichte. Als ich dort die Übersetzung meines ersten Romans präsentierte, bat ich die Anwesenden um Entschuldigung dafür, auf Deutsch zu ihnen zu sprechen, mein Übersetzer werde gewiß so freundlich sein, meine Worte zu dolmetschen. Ich redete also über mein Buch, dann nickte ich meinem Übersetzer zu. Er entschuldigte sich, er könne nicht. Sein Sprechdeutsch sei leider schlechter als sein Lesedeutsch.

Foer will es nicht glauben. Aber die Geschichte ist wahr, und ich erzähle noch, wie sie weiterging. Ich mußte also den ganzen Abend vor ein paar Dutzend Journalisten auf Englisch bestreiten. Tage später las ich in einem Zeitungsartikel über die Veranstaltung den Satz: »In his reasonable but not perfect English Mr. Glavinic said …« Foer lacht wieder, winkt ab: »No no, it’s more than reasonable.« Ich Trottel freue mich auch noch.

Er ist vor einem Jahr schon einmal in Wien gewesen. Hat Werner Schlager interviewt, ob ich ihn kenne. Moment, du hast Werner Schlager in Wien interviewt? Ja, ob Schlager hierzulande berühmt ist. Ein großartiger Spieler. Und so unterhalten wir uns über Werner Schlager, den auch ich beeindruckend finde, während vorne Gratzer verzweifelt einen Parkplatz sucht und vermutlich nicht weiß, daß Werner Schlager Tischtennis-Weltmeister war. Er findet keine Lücke, so läßt er uns vor der Tür des Gasthauses Wild aussteigen.

Foer und ich sitzen nebeneinander. Er bestellt Fisch und Wasser, ich ein Glas Wein. Er fragt mich, ob dies eine typisch österreichische Gastwirtschaft ist. Bedauernd schüttele ich den Kopf: »It’s a bit too clean and the waiter is too polite.«

Verstohlen betrachte ich die Berühmtheit neben mir. Foer wirkt besonnen, klug, geistreich. Er hat das, was Karl May ein »feines, durchgeistigtes Gesicht« nennt, und das erinnert mich nicht ganz leidlos daran, daß ich das nicht habe, daß man meinem Gesicht nicht Bildung abliest oder Geistestiefe oder Scharfsinnigkeit oder die Lektüre von Tausenden Büchern, sondern – naja, irgend etwas anderes.

Maurer stößt zu uns, nun sitzen am Tisch etwa zehn Personen – Buchhändler, Verlagsleute, Mitarbeiter des Rabenhofs. Mit mir geht es schon bergab, ich beginne mich aufzuspielen. Die nette Pressefrau vom Kiepenheuer-Verlag, die den Autor betreut, bitte ich, ihren Chef, den ich einmal flüchtig kennengelernt habe, von mir zu grüßen. Sie nickt, aber gern. Von wem sie ihn grüßen lassen soll, will sie nicht wissen, aber das fällt mir erst später auf.

Maurer, der Connaisseur, sucht den Weißwein aus. Foer sagt, er bevorzugt Rotwein, will aber keine Flasche bestellen. Wir überreden ihn zu einem Glas Veltliner, er sagt, es schmeckt ihm, aber er nippt nur daran. Was ist denn das für ein Kerl, ich rede auf ihn ein wie ein russischer Bauer, er soll sich ordentlich einen ansaufen, und er lächelt und hält die Hand über das Glas. Wenigstens haben wir ihm das Erlebnis eines Nationalgetränks verschafft. Maurer ist sehr durstig (oder bin ich auch durstig?), und es kommt die nächste Flasche. Ich trinke, höre dem Gast zu, bewundere nebenbei neidvoll sein dichtes Haar und bemühe mich, nicht herumzuschreien oder andere Dinge zu tun, die einen gebildeten, wohlerzogenen jungen Mann aus den Vereinigten Staaten schockieren könnten. Was bedeutet es wohl für einen erfolgreichen amerikanischen Schriftsteller, den Coetzee und Rushdie ein Wunderkind nennen, in Wien im Gasthaus Wild zu sitzen und Wiener Literaturinteressierten beim Trinken zuzusehen?

Gegen Mitternacht, als die sechste Flasche kommt, verabschiedet er sich, er muß am nächsten Morgen nach München fliegen. A pleasure to meet you. Ich hatte auch mal eine Lesung in München, es kamen zwölf Leute.

Es wird allmählich dunkler um mich, die Gedanken werden langsamer.

Ein SMS von Else. Die chinesische Alkoholikerin aus dem Keller ist durchgedreht und läutet bei uns Sturm. Ich versuche aufzustehen, komme nicht hoch, ich schreibe zurück: Stell die Klingel ab. Sie: Wann kommst du? Ich: Bald.

Wieder verabschiedet sich jemand. Händeschütteln, hinsetzen, weitertrinken. Ich höre zu. Das Thema lautet Literaturveranstaltungen in Wien. Ich weiß überhaupt nicht, mit wem ich da rede. Ohne es selbst zu merken, ziehe ich mich aus dem Gespräch zurück. Es wird immer dunkler. Gegen zwei schaue ich auf. Gratzer sitzt da und spricht, Maurer sitzt da und spricht. Da kann auch ich nicht weit sein. Ich bin nämlich immer der letzte, der geht.

Im Taxi – irgendwie ist es mir gelungen, das Lokal zu verlassen – zieht es. Ich bitte den Fahrer, sein Fenster zuzumachen, er ist Ausländer und versteht mich nicht. Ich klopfe gegen meine Scheibe, will ihm damit sagen, er soll seine hochkurbeln, darauf senkt er mit einem fröhlichen Ausruf per Knopfdruck auch noch meine Scheibe. Ich gebe es auf.

Ohne mir bewußt zu machen, wie spät es ist, schreibe ich meiner Agentin ein SMS: Was Neues?

Zwei

Bis zwei Uhr früh spiele ich Civilization, dann gehe ich zu Bett. Es wird halb drei, es wird drei, und ich wälze mich noch immer herum. Es ist zu dunkel im Zimmer, und mir geht eine Geräuschquelle ab, ein Radio, ein Fernseher. Wäre ich allein, würde ich mich vor Gespenstern fürchten. Wäre ich allein, könnte ich auch das Licht einschalten, um mich nicht mehr zu fürchten. Aber dann würde Else neben mir aufwachen, und zwei Menschen würden sich von einer Seite auf die andere werfen.

Finde ich einen guten Verlag? Wird mein Buch der Erfolg, den ich mir wünsche? Komme ich auf die Buchpreisliste?

Mir wird bewußt, daß derartige Gedanken den Schlaf nicht befördern. Ich rufe bestimmte, seit Jahren für diesen Zweck gespeicherte surreale Bilder ab. Nützt nichts.

Gegen halb vier beginnt Stanislaus zu weinen. Gerade war ich eingeschlafen, jetzt bin ich munter und ahne, nun wird es keinen Schlaf mehr geben.

Else taumelt nach nebenan. Stanislaus läßt sich nicht beruhigen. Ich gehe hinüber. Sie drückt ihn mir in die Arme. Ihr ist übel, sie muß sich sofort wieder hinlegen. Am Abend zuvor war sie mit ihrer Freundin Linda aus, böhmisches Essen, einen Schnaps hinterher, dazu zwei Bier, das kann für eine Magenverstimmung schon mal reichen.

Stanislaus grinst mich an. »Auto!« »Haus!« »Mama!« »Papa!« Er ist hellwach. Eine jener Nächte, in denen er Nähe braucht.

Damit Else schlafen kann, verständigen wir uns darauf, daß sie sich ins Gästezimmer legt. Den Jungen nehme ich zu mir. Das bedeutet, mir stehen ein paar wüste Stunden bevor, aber ich muß ja morgen nicht arbeiten. Dabei würde ich gern. An einem Roman schreiben. Aber er ist fertig, und kein neuer in Sicht.

Ich kann kaum die Augen offenhalten. Stanislaus liegt auf mir. Bohrt mir seine Schulter in den Kehlkopf. Küßt mich ungeschickt. Rutscht von meiner Brust, schmiegt sich an meine Seite. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergeht, bis er schläft. Eine Stunde, vielleicht mehr. Wahrscheinlich ist es schon nach fünf. Na, egal. Wie ich ihn so umarme, spüre ich die Energie dieses kleinen Körpers, auch im Schlaf liegt er kaum eine Sekunde wirklich still, immer ist ein Teil in Bewegung.

Um elf fährt Else mit Stanislaus zu ihrer Mutter nach Graz. Ich setze mich an den Computer. Etwas kneift mich im Schritt. Ich würde gern nachsehen, aber ich traue mich nicht. Das Kneifen wird immer schlimmer. Ich gehe duschen, blind wie immer, ich habe Glück, nach dem Duschen ist das Kneifen weg.

Zwölf Uhr. Ich habe Zeit. Um vier treffe ich eine Kinderärztin, die sich auf meinen Artikel im Standard gemeldet hat. Eigentlich handelte er von Hochstaplern, aber ich erwähnte darin meine Iatrophobie und Hypochondrie, und daß ich es bedauere, keine Ärzte zu Freunden zu haben. Ein Freund hat mir diesen Tip gegeben, gegen Hypochondrie helfe so etwas. Also habe ich vor einiger Zeit begonnen, in Nebensätzen diverser Artikel nach Freundschaften zu rufen. Dr. Thallner hat als erste geantwortet.

Ich spiele wieder Civilization. Civ I habe ich 1995 gekauft, seit 2001 gibt es Civ III. Manchmal vergehen Monate, ohne daß ich die CD einlege, dann wieder verbringe ich zwei Wochen lang die Abende am Computer. Ich spiele, wenn ich deprimiert bin, wenn ich auf etwas warte, oder wenn ich gerade ein Buch fertiggeschrieben habe und das nächste noch nicht mehr als eine Ahnung ist.

Um halb drei löse ich mich von meinem Konflikt mit den Deutschen, deren Panzer mir zu schaffen machen. Ich stecke das Buch ein, das ich gerade lese, und gehe zum Naschmarkt.

Im Indian Pavillon esse ich. Es ist das dritte Mal in dieser Woche, und wir haben Mittwoch. Als es mir auffällt, ärgere ich mich. Ich bin wie ein Kind, alles muß seinen Gang gehen. Das Essen ist ausgezeichnet dort, aber jeden Tag? Ja, denn woanders könnte es ja schlecht schmecken und dann wäre ich verärgert usw. Thomas Glavinic ist ein Achtjähriger, und ich muß mit ihm leben.

Während des Essens lese ich in Der Hauptmann und sein Frauenbataillon. Mein Gewissen humpelt vorbei. So nenne ich einen Mann, der täglich auf dem Naschmarkt bettelt. Sein Alter kann ich nicht schätzen. Mit Drogen hatte oder hat er vermutlich zu tun, er sieht ziemlich ramponiert aus. Lücken im Gebiß, schleppende Sprache, zudem hat er einen kleinen Buckel und hinkt. Vermutlich hat ihn jeder, der regelmäßig den Naschmarkt aufsucht, schon gesehen, er ist der einzige der Naschmarktbettler, dem ich etwas gebe. Im Grunde ist er überhaupt Adresse all meiner Wohlfahrtshandlungen. Ich spende ab und zu fürs Rote Kreuz, und wenn es irgendwo Hochwasser gibt, hole ich mir einen Überweisungsschein. Aber regelmäßig gebe ich nur dem Buckligen. Ohne daß ich mehr von ihm und seinem Leben wissen möchte. Einmal wollte er mir Bücher verkaufen. »Satiren«, sagte er, »schau mal.« Ich schüttelte den Kopf. »Du bist wohl eher kein Leser?« fragte er verständnisvoll, und ich nickte.

Der Bucklige sieht mich fragend an. Ich zeige auf meinen Teller. Er schlägt sich gegen die Stirn, entschuldigt sich. Ihm ist eingefallen, daß er von mir immer etwas bekommen kann, aber nicht, während ich esse, meine Regel. Seine Entschuldigung ist mir unangenehm, ich spüre seine Angst, mich zu verärgern. Jetzt fühle ich mich schlecht. In Hinkunft muß ich ihm auch beim Essen etwas geben. Er merkt es sich nicht, und ich will ihn nicht demütigen.

 

Daniel ruft an. Er liegt bei 35000 Verkauften. Mir bleibt die Luft weg, der Mann hat schon 75000 Euro verdient. Ich gratuliere und verspreche ihm, später zurückzurufen, eine Verabredung.

Ich bestelle noch eine Tasse Kaffee. Das Amacord ist mir fremd, ich kenne es nur, weil mein niederländischer Übersetzer hier gern herkommt. Um diese Zeit sind nicht viele Leute da. Am Nebentisch sitzt eine Frau mit einer Freundin, in der Ecke ein Junge mit einem Laptop. Mir gegenüber trinkt eine Frau mittleren Alters mit derber Körpersprache Cola, raucht Zigaretten und liest in der Wirtschaftswoche. Beim Eintreten hat sie sich nicht umgesehen, schenkt mir auch weiterhin keine Beachtung. Die ist es nicht. Sieht auch nicht gerade wie eine Ärztin aus. Eher wie jemand, der viel und vorwiegend mit den Händen arbeitet.

Viertel nach vier. Wir hätten doch unsere Handynummern austauschen sollen. Ich lese weiter. Mehrmals muß ich so laut lachen, daß sich Leute nach mir umdrehen. Nur die Frau gegenüber starrt in ihre Zeitung. Wenn jemand hereinkommt, schaue ich auf. Keine Frau ohne Begleitung, zweimal ein Mann, einmal ein Paar.

Hat sich da jemand einen Scherz erlaubt? Mein Artikel handelte immerhin von Hochstaplern. Ist jemand auf die Idee gekommen, mich auf diese nicht unelegante Weise an der Nase herumzuführen? Eine Ärztin zu erfinden, die mir bei meinen eingebildeten und realen Krankheiten mit Rat und Tat zur Seite stehen wolle?

Der Gedanke packt mich, und ich beginne den an der Theke stehenden Männern böse Blicke zuzuwerfen. Vielleicht ist einer davon der Unhold, wegen dem ich hier sitze. Ich forsche in den Gesichtern. Niemand, den ich kenne. Keine Fotohandys, kein verstohlenes Grinsen. Ich beruhige mich wieder. So viel Aufwand wird niemand wegen mir treiben. Außer Daniel, aber der ist gerade in Berlin.

Die Frau gegenüber hat ausgetrunken und gezahlt, trotzdem bleibt sie sitzen. Sie sieht auf die Uhr, ich ebenfalls. Es ist halb fünf vorbei. In diesem Augenblick begreife ich. Sie ist es. Und mir wird klar, warum ich sie nicht angesprochen habe. Es ist ihre Ausstrahlung. Sie wirkt so in sich zerrissen und unterschwellig aggressiv, daß ich keine Lust habe, mit ihr zu reden. Egozentrisch, nervös, unglücklich, enttäuscht. Und enttäuscht nicht erst, seit sie sich von ihrem Blind date versetzt fühlt, sie ist schon so gekommen.

Nachdem sie gegangen ist, bleibe ich aus Pflichtbewußtsein noch bis fünf sitzen. Ich könnte mich auch getäuscht haben. Außerdem fesselt mich das Buch.

 

Es regnet. Ich überlege: Zu essen habe ich nichts zu Hause, später werde ich Hunger bekommen. Ich laufe noch einmal zum Inder. Zugleich ärgere ich mich wieder über mich. Aber es ist, als weigerte sich ein Teil meines Gehirns, über Alternativen auch nur nachzudenken.

Auf dem Heimweg höre ich plötzlich in der Nähe wildes Gebrüll. Ich schaue auf und sehe einen glatzköpfigen Riesen, sein Oberkörper ist nackt, er hat eine Tarnhose an und trägt Springerstiefel. Er hält Autos auf und schreit die Fahrer an. Einem läuft er nach, er hämmert auf das Autodach, der Fahrer rast in Panik davon. Der Irre kommt zurück, sieht mich an, und ich falle beinahe um, solcher Wahnsinn leuchtet aus diesem Blick.

Keine zehn Meter von mir entfernt steht ein Kerl, der den Stahlkörper eines Söldners hat, mitten in einer hochaggressiven Psychose steckt und mich böse ansieht.

Er macht einen Schritt auf mich zu. Ich stehe da wie gelähmt. Ein Auto hupt ihn an, er zuckt zusammen, dann geht er auf das Auto los, und es stört ihn nicht, daß es zufällig ein Lkw ist. Ich laufe davon. Auf der Straße bildet sich ein enormer Stau, der Irre blockiert den gesamten Verkehr auf der Wienzeile. Ich bin unschlüssig, was macht man in so einem Fall? Zum ersten Mal seit längerer Zeit bin ich froh, als ich einen Polizisten sehe.

»Guten Tag, ich wollte Ihnen nur sagen …«

»… daß da vorne viele Schwarzafrikaner sind, die dealen. Nicht wahr? Das wollten Sie sagen. Ja? Nicht wahr?«

Posteingang (1)

Ingrid Thallner

Angst?

2k

nun, schade. seltsame sache. wieso sind sie nicht aufgetaucht?

so viel angst kann man vor ärzten gar nicht haben dass man einfach nicht zu einem treffen ins cafe geht.

nun, sie werden schon ihre gründe gehabt haben. müssen es auch nicht sagen.

schönen tag noch,

ingrid thallner

Liebe Ingrid Thallner,

waren Sie etwa die Dame, die die Wirtschaftswoche gelesen, geraucht und Cola getrunken hat? Nicht nur, weil ich zumindest zwei dieser drei Handlungen als arztuntypisch qualifiziert habe, sondern weil Sie mir nie einen Blick zugeworfen haben, kam ich nicht auf den Gedanken, Sie anzusprechen. Ich saß ja als einziger Mann im Lokal und war überzeugt, Sie würden mich schon nicht übersehen.

Wirklich schade! Es tut mir sehr leid. In den nächsten Tagen habe

ich viel zu tun – vielleicht ergibt sich in einer oder zwei Wochen wieder Gelegenheit für eine Zusammenkunft.

Liebe Grüße

TG

Ich spiele zwei Stunden Civilization, dann steige ich wieder ins Netz ein.

Posteingang (4)

Gier. Adrenalin. Wer? Meine Agentin? Jemand, der mich zu einer Lesung einladen will? Eine Studentin mit einer Anfrage für ihre Dissertation?

Ingrid Thallner

Re: Re: Angst?

16k

Ingrid Thallner

noch was

2k

Ingrid Thallner

2k

Ingrid Thallner

2k

da hört sich doch alles auf.

da sitzt ein mann im cafe, der mich nicht beachtet, in sein buch vertieft ist, kaffee trinkt und ab und zu telefoniert.

die kerle an der theke mustern mich mit geilem grinsen – hm. der junge mit dem laptop macht auch nicht den eindruck eines journalisten, der auf jemanden wartet.

habe mehrfach nachgedacht ob einer der anwesenden der journalist sein könnte und bin nur auf sie gekommen, aber sie haben in ihrem buch gelesen, gekichert und mit dem gesicht gezuckt sodass ich sicher war, sie seien es nicht.

ausserdem habe ich nicht den nerv, alleinsitzende (alleinstehende?) männer in cafes anzustarren.

nun. es scheint, als hätten wir beide eine schüchterne ader. nein, sie als journalist wahrscheinlich nicht, ich sehr wohl. bei ihnen nennt man das sicher einfach taktvoll.

rauchen … wirtschaftswoche … cola … was davon machen ärzte denn nicht? ich glaube eher, dass sie etwas an meinem äußeren an meinem arztsein zweifeln hat lassen, nicht wahr? was war es denn? meine figur? dass ich nicht hohe schuhe trug? die wirtschaftswoche allein kann’s doch nicht gewesen sein, oder? habe mich zu Hause geärgert, dass ich nicht bis fünf gewartet habe, denn ich weiss ja, sie haben einen sohn, und mit kindern kann es bald mal verspätung geben.

aber wir wären vermutlich bis 6 so dagesessen.

ich hätte sie nie angesprochen. dafür bin ich einfach zu feige. und ich hätte es mir nie verziehen, wenn sie es nicht gewesen wären.

der fehler war, wir hätten unsere telefonnummern austauschen sollen. Meine ist 0650/ … .

irgendwie ist die sache ja zum lachen. dennoch tut es mir sehr sehr leid dass es so gekommen ist.

ganz liebe grüße

ingrid thallner

Das zweite Email.

ach ja, das hatte ich vergessen: ich habe sogar eigens meinen

»kurier«-regenschirm zu Hause gelassen und eine regenjacke angezogen, um sie nicht zu verunsichern!

… weil Sie ja beim »Standard« arbeiten, Herr Glavinic, ergänze ich. Die weiß überhaupt nicht, daß ich Schriftsteller bin, die hält mich wirklich für einen Journalisten! Ich hole mir Kaffee. Das Telefon läutet, ich zucke zusammen. In akutem Verfolgungswahn fürchte ich, es könnte die Verrückte sein, die irgendwie meine Nummer herausbekommen hat. Es ist jedoch Karin Graf, meine Agentin. Für Die Arbeit der Nacht sieht es gut aus. Das Gespräch heitert mich auf, trotzdem muß ich ständig daran denken, was wohl in den zwei übrigen Mails steht.

… und wahrscheinlich habe ich mein bösestes gesicht gemacht (weil ja verunsichert und natürlich von minute zu minute mehr sauer), und deswegen wollten sie mich nicht ansprechen … (klingt sehr logisch, ich hätte mich ja auch nicht angesprochen!)

Und das vierte:

… aber nicht, dass sie glauben ich wäre zu schüchtern ein handy zu bedienen. die nummer haben sie jetzt ja. ich hätte auch heute noch zeit, bis spät abends. wenn sie wollen, können sie auch gern zu mir kommen. fürchten brauche ich mich ja nicht, oder? J ich lege mich jetzt in die wanne, nehme aber das handy mit ins bad.

seien sie herzlich gegrüßt von ihrer

ingrid thallner

Drei

Am Nachmittag gehe ich essen (indisch). Dann zu Fuß zur U1 in die Taubstummengasse, ein für meine Verhältnisse gar nicht so kurzer Spaziergang, weil ich mir einbilde, die U1 hält am Kardinal-Nagl-Platz. Es ist aber die U3. Ich muß am Stephansplatz umsteigen.

Es ist gräßlich warm, die Anzeige in der Station steht auf 22°C. Weil ich wie üblich Angst habe zu frieren, halte ich zwei Sweatshirts in der Hand. Mir fällt auf, wie blöd das ist, und ich verstehe, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen ständiger Nahrungsaufnahme im indischen Restaurant am Naschmarkt und der Furcht, zu wenige Schichten anzuziehen. Immerhin merke ich es langsam selbst.

Am Kardinal-Nagl-Platz ausgestiegen, ein paar Schritte zum Rabenhof-Theater. Dort liest an diesem Abend der größte Starautor der westlichen Welt.

Thomas Gratzer, der Chef, und Roman Freigaßner, der Dramaturg des Hauses, begrüßen mich mit jener grölenden Herzlichkeit, die sie für den gebräuchlichen Umgang unter Künstlerkollegen halten. Roman springt um mich herum, schreit, schlägt mir gegen die Schulter, erzählt mir eine Geschichte, ich weiche zurück, er drängt mir nach, bis ich an der Wand stehe, mit seiner Selbstgedrehten durchlöchert er mir beinahe das Sakko. So geht das immer, mich beglückt diese Vorstellung nicht, aber ich mag ihn und bringe es nicht fertig, ihm zu sagen, daß ich normal reden will mit den Leuten, also auch mit ihm.

Der größte Starautor der westlichen Welt ist noch nicht da, dafür treffe ich in der Garderobe Daniel, der mit seinem Kumpel Marco gekommen ist, sowie die FAZ-Kritikerin, die die Einführung halten wird. Sie ist elegant und attraktiv und auch sehr klug. Mir gefällt ihr Gesicht. Schon wieder so eines, dem man ansieht, daß seine Besitzerin denkt. Wahrscheinlich fällt mir das deswegen auf, weil ich zuvor meines im Spiegel gesehen habe.

Mit Daniel und Marco setze ich mich ins Foyer. Der Wein an der Bar ist nicht ganz mein Fall, aber ohne Alkohol halte ich solche Veranstaltungen nicht aus, also trinke ich Gespritzten (Weißweinschorle). Marco trinkt Heineken, Daniel Apfelsaft.

Eine Frau grüßt mich freundlich. Ich grüße zurück, ohne mich zu erinnern. Nach einer Weile fällt es mir ein. Sie war auch in der Foer-Runde im Gasthaus Wild. Romans Freundin, Nora. Sie ist sauber und frisch wie ein Apfel. Mich fesseln solche Frauen, ohne daß ich mich für sie interessieren würde: Sie wirken, als würden sie täglich zweimal je zwei Stunden lang baden, natürlich in einer Wanne, in der ein ph-neutrales Zitrus-Joghurt-Gemisch schäumt. Sie treiben Sport, trinken nur Mineralwasser, putzen sich fünfmal am Tag die Zähne und haben perfekt manikürte Fingernägel. Dazwischen oder parallel dazu lernen sie Spanisch oder lesen medizinische Fachbücher. Noch dazu sind sie wirklich nett. Jedenfalls haben sie Mütter, die auf sie stolz sein können. Solche Frauen faszinieren mich auf eine unkörperliche Art. Das klingt ironisch, ist aber nicht so gemeint.

Daniel begrüßt seine Lektorin, die auch die des größten Starautors der westlichen Welt ist. Wir werden einander vorgestellt, sie setzt sich kurz zu uns. Was soll ich sagen, sie hat Die Arbeit der Nacht kommentarlos abgelehnt, und obwohl sie mir sympathisch ist, werde ich mich wohl nicht lange mit ihr unterhalten, denn wer meine Bücher ablehnt, ist des Teufels.

Die Lesung beginnt, wir setzen uns in die letzte Reihe, wo mehr Platz ist. Ich nehme zur Kenntnis, daß ich schon betrunken bin. Vier Gläser, mehr waren es nicht. Das ärgert mich, und ich gehe schnell hinaus, um mir noch eines zu holen.

Zu meinem Erstaunen spricht der größte Starautor der westlichen Welt Deutsch, und zwar ein gutes. Daniel und Marco neben mir frohlocken dennoch immer, wenn Englisch gesprochen oder gelesen wird, es ist vergleichbar mit dem Verhalten von Menschen früherer Generationen, wenn im Fernsehen Mr. Spock auftrat. Mir ist das alles schon egal, ich hole mir noch Wein. Eine innere Stimme raunt mir zu, daß ich mich auf einen Abgrund zubewege, aber ich kümmere mich nicht darum.

Nach der Lesung finde ich mich auf einem Barhocker wieder. Neben mir sitzt Klaus Nüchtern, der Redakteur der Stadtzeitung Falter. Der Kulturstadtrat, Mailath-Pokorny, steht auch herum, er ist zwei Meter groß und sieht aus wie ein Kasuar. Der größte Starautor der westlichen Welt, der ein Karl-Kraus-Kenner ist, begrüßt ihn mit dem Ausruf: »Servus, Pokorny!« Der Stadtrat versteht die Anspielung nicht und ist irritiert. Hinter mir schütten Gratzer und Freigaßner Wein in sich hinein, allerhand ausgeflipptes Volk ist da, es wird gesoffen und gebrüllt. In Ermangelung irgendeiner anderen sinnvollen Tätigkeit greife ich an Nüchterns Hinterteil, er fährt herum, als hätte ich ihn mit einem Messer gestochen. Er schimpft, ich lache.

Im Neu-Wien setze ich mich so, daß ich niemanden bitten muß aufzustehen, wenn ich zur Toilette will. Mir gegenüber sitzen Daniel und der größte Starautor der westlichen Welt. Neben dem größten Starautor der westlichen Welt sitzt der Stadtrat, dem sein Leibfotograf hin und wieder Anweisung gibt, näher nach links oder nach vorne zu rücken. Links vom Stadtrat sitzt die FAZ-Kritikerin, eine ungünstige Position, um am Tischgespräch teilzunehmen. Die deutsche Lektorin sitzt rechts von Daniel, links draußen schreien Herr Gratzer und Herr Freigaßner herum, und neben mir sitzen der Schauspieler Maertens (rechts) und Klaus Nüchtern (links).

Ich nehme mir vor, es nun ruhiger anzugehen, zumal ich das Gefühl habe, im Raum leuchte allenfalls eine 20-Watt-Birne. Ich habe das Gefühl zu schielen. Erst mal ein Glas, denke ich und will Wein, aber der Stadtrat hat das Aussuchen übernommen und läßt sich Zeit. Gratzer schreit: »Glavinic! Der Glavinic soll den Wein aussuchen!« Ich werde nervös. Ich gehe zur Toilette und bestelle auf dem Rückweg einen Gespritzten. Die Biertrinker haben bereits ihre Gläser, und der Stadtrat studiert noch immer die Karte.