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Lina Atfahs Gedichte gleichen einem traumwandlerischen Tanz auf einer Rasierklinge: Hier Verse, die in präziser Bildhaftigkeit wie Schnappschüsse ihren Fokus auf die zerrissene Heimat Syrien richten, auf Flucht, Vertreibung und Verbrechen. Dort sinnliche Gedichte, die vollgesogen sind von allerlei arabischen Mythen und Geschichten. Und über alldem: eine junge poetische Stimme, die in ihrem Anspielungsreichtum ihresgleichen sucht. Übersetzt von Dorothea Grünzweig, Mahmoud Hassanein, Brigitte Oleschinski, Hellmuth Opitz, Christoph Peters, Annika Reich, Joachim Sartorius, Mustafa Slaiman, Suleman Tau q, Julia Trompeter, Jan Wagner, Kerstin Wilch, Osman Yousufi. Nino Haratischwili über Lina Atfah »Lina findet Worte für die, die sie verloren haben. Sie sucht nach einer Sprache inmitten der Sprachlosigkeit. Sie macht für mich etwas greifbar, was in seiner ganzen Grausamkeit zur Abstraktion verkommen ist. Sie erzählt Geschichten von ihrer Welt, die zum Abschuss freigegeben worden ist.«
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Seitenzahl: 108
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Lina Atfah • Das Buch von der fehlenden Ankunft
Lina Atfah
Das Buch von der fehlenden Ankunft
Gedichte aus Syrien
Mit einem Nachwortvon Nino Haratischwili
Aus dem Arabischen übersetzt und nachgedichtet von:
Dorothea Grünzweig, Mahmoud Hassanein,
Brigitte Oleschinski, Hellmuth Opitz,
Christoph Peters, Annika Reich,
Joachim Sartorius, Suleman Taufiq,
Julia Trompeter, Jan Wagner,
Kerstin Wilsch, Osman Yousufi
PENDRAGON
Lina Atfah wurde 1989 in Salamiyah in Syrien geboren und studierte in Damaskus arabische Literatur. 2006 wurde sie beschuldigt, Gotteslästerung begangen und den Staat beleidigt zu haben. Nach mehreren Drohungen der Sicherheitsbehörden erhielt sie 2014 die Erlaubnis, das Land zu verlassen und kam über den Libanon nach Deutschland. Heute lebt sie in Herne in Nordrhein-Westfalen.
Die Herausgabe des Bandes wurde von derHertha-Koenig-Gesellschaft e.V. gefördert.
Originalausgabe
Veröffentlicht im Pendragon Verlag
Günther Butkus, Bielefeld 2019
© by Pendragon Verlag Bielefeld 2019
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Günther Butkus
Herstellung: Uta Zeißler, Bielefeld
Umschlag: Uta Zeißler unter Verwendung
einer Grafik von Yuliya_Art / Shutterstock
Satz: Pendragon Verlag auf Macintosh
ISBN 978-3-86532-641-6
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
Inhalt
Vorwort von Nino Haratischwili
Das Navi
جي بي إس
Am Rande der Rettung
على هامشِ النجاة
Die Katze der Propheten
هرّةُ الأنبياء
Das Buch von der fehlenden Ankunft
سفر الوصول المفقود
Im Atelier von Youssef Abdelke I
Im Atelier von Youssef Abdelke II
في مرسم يوسف عبدلكي
Für deinen Namen
لِاسمك
Lin und Leila und der Wolf I
Lin und Leila und der II
لين وليلى والذئب
Ennui
Verdruss
ضجر
Ode an die Stecknadeln I
Ode an die Stecknadeln II
طلليّة الدبّوس
Der Tod betrübt mich nicht
Der Tod stimmt mich nicht traurig
لا يحزنني الموت
Obst auf Stoff
فاكهة على قماش
Ein gemeinsames Gedicht von einer Seite
قصيدة مشتركة من طرف واحد
Nach der Asche
بعَد التُّراب
In meiner Hand erblühte
تفتّحَتْ في يدي
Die letzte Ode (Fatima schritt ins Wasser)
المعلَّقةُ الأخيرة (فاطمةٌ خاضتِ الماءَ)
Federn
ريش
Ein Zitat
اقتباس
Der Friedhofsweg
طريق المقبرة
Die letzte Nacht des Dorfes
لیلُ القرية الأخبر
Als ich mit der Schminke meiner Mutter spielte
حينَ عبثتُ بزينةِ أمّي
Eine Burg außerhalb der Mauer
قلعة خارج السور
Zwei Bilder im Text der Geschichte
صورتان في متنِ الحكاية
Die Grüße
التحيّات
Folgende Gedichte sind bereits in Anthologien erschienen:
Am Rande der Rettung
in: »Weg sein – hier sein«
Secession Verlag, 2016
Die Katze der Propheten
Das Buch der fehlenden Ankunft
in: »Mit anderen Worten.«
Frauenkulturbüro NRW e.V., 2017
Im Atelier von Youssef Abdelke
Ode an die Stecknadeln
Ennui / Verdruss
Der Tod betrübt mich nicht
Lin und Leila und der Wolf
Für deinen Namen
in: »Deine Angst – Dein Paradies, Gedichte aus Syrien«
Wunderhorn Verlag, 2018
In meiner Hand erblühte
in: »Das Herz verlässt keinen Ort an dem es hängt«
Weiter Schreiben – Literarische Begegnungen«
Ullstein, 2018
Die Gedichte Nach der Asche und In meiner Hand erblühte sind im Rahmen des Projekts »Weiter Schreiben« entstanden.
»Weiter Schreiben« ist ein Projekt von WIR MACHEN DAS in Kooperation mit dem Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung und wurde durch den Hauptstadtkulturfonds, die Schering-Stiftung und das Goethe-Institut gefördert.
Die Gedichte aus »Deine Angst – Dein Paradies, Gedichte aus Syrien« entstanden in der Übersetzerwerkstatt »Poesie der Nachbar – Dichter übersetzen Dichter: Syrien 2017« im Künstlerhaus Edenkoben und wurden von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert.
Vorwort
Ich hatte gleich zu Beginn meiner Korrespondenz mit Lina das Gefühl, sie zu kennen. Ich maße mir nicht an, dass dieses Gefühl einigen Parallelen in unseren Biografien geschuldet ist. Dass wir beide Kinder der Achtziger sind, dass wir beide weggegangen sind aus dem Land unserer Kindheit, dass wir beide in der Literatur eine Heimat gefunden haben, dass wir beide haben unsere Sprachen wechseln, sie neu finden müssen, dass wir beide diesen etwas geheimnisvoll-nervigen Stempel »exotisch« umgehen müssen, um jenseits der Klischees unsere Geschichten erzählen zu können, dass Deutschland uns zu einem zweiten, oder besser gesagt, zu einem anderen Zuhause geworden ist. Genauso wenig mag ich irgendwelche Parallelen in den Geschichten unserer Herkunftsländer suchen, die beide einen Reigen aus Krieg und Gewalt getanzt haben oder noch tanzen.
Es wäre falsch zu behaupten unsere Erfahrungen oder Erinnerungen wären ähnlich oder gar gleich, denn das wäre leicht zu widerlegen, würden wir Nachforschungen anstellen und die Fotoalben in unseren Köpfen durchblättern. Ich glaube auch nicht, dass es sinnvoll ist, irgendwelche Überschneidungen des Leids zu suchen, denn das Land, aus dem ich komme, lebt heute – trotz der von Russland okkupierten Territorien – in Frieden. Das Land, aus dem Lina kommt, ist mittlerweile zum Sinnbild einer modernen Menschheitstragödie und allem voran des menschlichen Versagens geworden. Ich finde es falsch, eine künstliche Nähe zu behaupten, um eine plausible Erklärung dafür zu finden, was mich zu Lina oder viel mehr zu ihren Gedichten gebracht und in deren schaurig-schönen Bann gezogen hat.
Denn simpel gesagt verdanke ich Linas Entdeckung Annika Reich, einer Kollegin von mir, die unsere vorerst virtuelle Bekanntschaft ermöglicht hat. Sie fragte mich für »Weiter Schreiben« an, ein wunderbares Projekt, das sie mit initiiert hatte und das es Autoren und Autorinnen aus Krisengebieten ermöglichen sollte, mit den Kollegen aus Deutschland in Verbindung zu treten bzw. ein Netzwerk aufzubauen. Lina und ich wurden einander zugewiesen, ohne viel voneinander zu wissen. Wir begannen mit dem Austausch von E-Mails. Ich hatte mir keine großen Gedanken darüber gemacht was daraus entstehen sollte oder könnte. Ich weiß noch, dass ich mich etwas unsicher gefühlt habe. Was könnte ich Lina anbieten, wie könnte ich ihr helfen, im literarischen Deutschland besser anzukommen? Ich wusste, dass sie seit einigen Jahren in Deutschland lebte, die Sprache lernte und Lyrik schrieb – die in ihrer Heimat nicht veröffentlicht werden durfte und die in Deutschland noch kein richtiges Zuhause gefunden hatte.
Ich bin mit Lyrik großgeworden. Hauptsächlich mit Russischer, Georgischer und Deutscher. Meine Großmutter konnte seitenweise Achmatowa und Jessenin rezitieren und stets glühten ihre Augen dabei, immerzu betonte sie die Schönheit der Sprache und wies mich auf die Feinheiten einzelner Wortkombinationen hin. Sie war in den 1930ern geboren, zur Zeit der Stalinistischen Repressionen, und wie jeder Sowjetmensch, war auch für sie die Lyrik eine Art Urgewalt, eine mächtige Waffe gegen das System, eine codierte, geheime Sprache, in der sich Millionen in einer Diktatur lebende Menschen verstehen und austauschen konnten. Man sprach gar vom poetischen Widerstand und von der »zweiten Kultur«.
Ich konnte diese Begeisterung, diese Aufruhr, mit der sie mir die Verse vortrug, nur bedingt nachvollziehen – die Zensur hatte in den 1980ern natürlich nachgelassen, auch war ich zu jung, um das ganze Ausmaß an politischer Dimension, die sich in diesen Zeilen verbargen, nachvollziehen zu können, aber mit der Zeit, als ich mich schon Jahre später auf die Spuren des russischen Symbolismus begab, begriff ich, was sie so entflammen ließ – es war die Möglichkeit das Unsagbare, das Verbotene, das Unterdrückte, das Schmerzliche einer ganzen Nation und somit auch eines jeden Einzelnen in Worte zu fassen. Vom Fabrikarbeiter bis hin zum Arzt – sie alle waren vereint in einem System aus Angst und Unterdrückung und sie alle waren auf eine Art gleich wortlos. Sicherlich besaßen manche mehr und manche weniger Privilegien, aber allen wurden die Flügel gleichermaßen beschnitten, alle waren gleichermaßen Gefangene in ihrem eigenen Land. Und einzelne Menschen, in dem Fall die Dichter, die ihre Zeilen nicht selten mit unsagbarem Leid oder gar mit dem Tod bezahlten, sprachen für all diese Sprachlosen. Sie fanden Worte dafür, wofür die anderen keine hatten. Sie fanden Umschreibungen und Übersetzungen für all die Gefühle, die die Menschen in diesem riesigen Reich in sich trugen und doch niemals offen zeigen durften.
Als ich Linas erstes Gedicht las, musste ich merkwürdigerweise an meine Großmutter und ihre glühenden Augen denken, wie sie die Zeilen verschiedener Dichter vortrug, als wolle sie mir mit ihrem Blick noch so viel mehr verraten als die Worte, die sie aufsagte, als verberge sich hinter ihnen noch ein viel tiefer gehender Sinn und ein doppelter, wenn nicht gar dreifacher Boden. Ich konnte diese Böden nicht alle erfassen, aber ich ahnte, ich spürte sie. Trotz der Gegenwärtigkeit dieses Anblicks, den ich sofort vor Augen habe, wenn ich an meine Großmutter denke, erschien mir dieses Glühen, dieses Geheimnis, das sie mit so vielen aus ihrer Generation teilte und das mir nie ganz zugänglich war, als etwas sehr weit Zurückliegendes, wie ein Relikt aus einer vergangenen Epoche. Denn für mich, als eine in den letzten Atemzügen der Sowjetunion Geborene, war diese Art von Zensur und Angst nicht wirklich greifbar und vorstellbar. Als ich meine ersten literarischen Schritte unternahm, lebte ich zwar in einem bürgerkriegszerrüteten Land, in dem das tägliche Überleben einem Kreuzzug durch den Dschungel glich, aber dennoch war es bereits ein freies Land und niemand interessierte sich dafür, was ich da aufs Papier brachte. Die Menschen hatten damals ganz andere Sorgen. Später, nach meinem Umzug nach Deutschland und nach dem Wechsel der Sprache, war ich umso freier, als hätte mir die erlernte deutsche Sprache eine Distanz ermöglicht, die ich benötigte, um bestimmte Dinge aufs Papier zu bringen, die ich vielleicht in meiner Muttersprache nicht zu schreiben vermocht hätte. So oder so war für mich das Schreiben zwar immer eine Art Grenzüberschreitung, ein Zustand, als würde man durch ein Mikroskop auf das Leben schauen, aber es war niemals etwas, das ich mir erkämpfen musste, es war niemals etwas, was mich auch nur ansatzweise in so etwas wie Lebensgefahr brachte, niemals etwas, was einer Art codierter Geheimsprache glich – wie im Falle der Generation meiner Großeltern.
Lina aber, die 1989 in der syrischen Stadt Salamiyah zur Welt kam und im Kreis einer großen Familie aufwuchs, schreibt seit ihrer Kindheit Gedichte. Sie nahm an vielen Lesungen und verschiedenen literarischen Veranstaltungen teil, bis sie, damals 17-jährig, ein Gedicht vortrug, das sie wegen seines politischen und sozialen Inhalts mit dem Regime in Konflikt brachte. Sie wurde der Gotteslästerung und Staatsbeleidigung beschuldigt. Und das war nicht 1937, sondern 2006. Den Lyrikband »Am Rande der Rettung«, den sie danach veröffentlichte, konnte sie nur außerhalb von Syrien verlegen. 2013 musste ihr Mann Syrien verlassen, während Lina ein Jahr in der Ungewissheit und unter dem ständig wachsenden Druck des Staates lebte. Sie wurde immer wieder zu verschiedenen Befragungen und Untersuchungen in Damaskus vorgeladen – »ich überlebte, aber mein Herz blieb dort«, schrieb sie mir.
2014 gelang auch ihr die Ausreise. Als ein neuer Osman und als eine neue Lina seien sie sich nach diesem Jahr der Trennung in Deutschland wiederbegegnet.
Die Erfahrung aus der Heimat fliehen zu müssen ist, so denke ich, in jeder menschlichen Biografie ein harter Schnitt, eine Zäsur, ein Teilen in Davor und Danach, aber für einen Autor ist es eine doppelte Entwurzelung, ein Verlust der Sprache und somit ein Sprung in die Unerträglichkeit des Ungewissen. Bei Lina hat es acht Jahre gedauert, bis sie in Deutschland, ihrer Wahlheimat, ihre Sprache wiederfand. Erst 2015 bekam sie die Möglichkeit in Köln an einer Lesung teilzunehmen. Eine Art Türöffner – denn sie erhielt daraufhin ein Angebot mit einem übersetzten Text von ihr in einer Anthologie publiziert zu werden. Ich denke, ein großer Schritt für jemanden, den Verbote, Flucht und eine fremde Sprache für acht Jahre zum Schweigen verdammt hatten. Auch schrieb sie mir, dass sie 2015 zum ersten Mal wieder eine Hoffnung hatte, als Autorin gehört und gelesen zu werden, eine Chance für sich. Sie nahm an einem Übersetzerworkshop teil, sie wurde Teil des Weiter-Schreiben-Projekts und ihre Gedichte wurden ins Deutsche übersetzt.
Kurz nachdem Lina und ich mit unserer Korrespondenz begonnen hatten, erhielt ich eine E-Mail: ihr Vater war verhaftet worden und es war ungewiss, ob und wenn ja, wann er wieder freikommen würde. Mittlerweile war Linas Familie, bis auf ihren Vater, ihr nach Deutschland gefolgt. Ohnmächtige, wütende, fassungslose E-Mails vom gesamten Weiter-Schreiben-Team wurden ausgetauscht, auch ich fühlte mich zutiefst betroffen und zugleich nutzlos. Man wollte Lina Trost spenden, ihr Hoffnung machen, aber man wusste, es waren doch nur Worte. Auf einmal war das ganze menschliche Drama des fast sieben Jahre andauernden syrischen Kriegs, den man über Fernseher- und Computerbildschirme verfolgte, von dem man in den Nachrichten las, personifiziert, auf einmal wirkte er nicht mehr so fern, sondern schien aus den Bildschirmen in unsere Realität zu kriechen. Ich fühlte mich ins Jahr 2008 zurückversetzt, als ich mich inmitten meines georgischen Urlaubs, von einem Tag auf den anderen, im Kriegsgeschehen zwischen Russland und Georgien wiederfand und wie verrückt E-Mails an Freunde schrieb – da sie durch mich auf einmal jemanden kannten, der Teil dieser Nachrichten war, mit denen sie überflutet wurden, und die, wie mittlerweile auch ich selbst, bei der Nachricht von Linas Vater, nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten.
Da habe ich begriffen, warum ich bei den Zeilen von Lina an die glühenden Augen meiner Großmutter denken musste. Ich begriff, dass diese Vergangenheit, von der ich immer annahm, dass sie zu meiner Großmutter gehört, aber nicht zu mir, niemals vergangen ist. Dass sie genauso zu meiner Gegenwart gehört wie der Glaube, ein freier Mensch zu sein. Dass diese Gegenwart, auch hier, im sicheren Deutschland, Bestand hat.
Lina ist jetzt. Lina macht das Dort zum Hier. Lina ist diejenige, die schreibt:
Sie kommen auf dem Land-, dem See- oder dem Luftweg