Das Ende des Festes - Rolf Gregor Seyfried - E-Book

Das Ende des Festes E-Book

Rolf Gregor Seyfried

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Beschreibung

Was ist aus uns geworden? Was wird aus uns werden? Rolf Gregor Seyfried beschreibt in seinen Gedichten und Prosastücken die Wege und Abwege des Lebens. Allzu oft verschließen wir Menschen die Augen vor dem, was wir verursacht haben, aus Angst vor einem Neuanfang. Seine Texte lehren uns, der alten Welt den Rücken zuzukehren und den Blick nach vorne zu richten, denn aus unserer selbstverschuldeten Dunkelheit weist oft ein Pfad ins Licht – wir müssen nur mutig genug sein, ihn einzuschlagen. Zwanzig skurrile, fantastische und überaus bildreiche Geschichten und Gedichte begleiten uns durch den Band: von einem Flussgott, der seine Heimat verlor, einem Mann, der jeden Mittwoch in die Wohnung seines Nachbarn einbricht, bis hin zum innigen Dialog einer werdenden Mutter mit ihrem ungeborenen Kind, ehe sie bei der Geburt stirbt. Sie alle erzählen von längst vergessenen Erinnerungen, von Einsamkeit und Sehnsucht, von Natur und Urbanität, von Täuschung und Einsicht, von Hoffnung und Aufbruch. Eine Poesie, die der Gesellschaft den Spiegel vorhält und dazu anregt, in sich hineinzuhorchen.

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Rolf Gregor Seyfried

Das Ende des Festes

Prosastücke und Gedichte

ATHENA-Verlag

edition exemplum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

E-Book-Ausgabe 2022

Copyright der Printausgabe © 2021 by ATHENA-Verlag,

Copyright der E-Book-Ausgabe © 2022 by ATHENA-Verlag,

Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagabbildung: Rosario Rizzo, AdobeStock

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Print) 978-3-7455-1109-3 ISBN (ePUB) 978-3-7455-1123-9

Für S., V. und F.-A.

Behüte dein Herz mit allem Fleiß; denn daraus gehet das Leben.

Sprüche 4,23

Im Reich der Schlange

Ein Prolog

Der Boden war dünner, als wir dachten, er trug weniger, als wir glaubten, bis sich unter unseren Füßen ein Geäder von Rissen ausbreitete, erst haarfein, dann immer breiter.

Als wir hindurchblickten, merkten wir, daß sich nichts darunter befand, das uns Sicherheit gab, und wir auf einem Hohlraum lebten. Wir hatten geglaubt, wir stünden fest. Es war aber nur ein Schein gewesen, der uns von einem Abgrund trennte.

Wir erinnerten uns der Gewitztheit des Maklers, seiner leichtfüßigen Rhetorik, die keine Fragen geduldet hatte. Er hatte uns Grund auf doppeltem Boden verkauft.

Dann brachen wir ein, mit einem Ruck – und fielen ins Reich der Schlange.

Lange schon hatte jene auf den Tag ihrer Heraufkunft gewartet.

Als sie sich mit mächtiger Haube vor uns aufrichtete, verschlug es uns die Sprache.

Gelähmt von ihrem Blick sahen wir alle noch einmal in flackerndem Licht vorüberziehen:

die Blinden und die Träumer, die Schwätzer und die Stammler, die Wartenden und die Wiedergänger, die Seher und die Mondanbeter, die Wölfe und die Würdenträger.

Als endlich die Bilder verblaßten, die Bühnen erloschen und die Feste verklangen, stieg still ein Licht über uns empor, wuchs eine noch unbewohnte Heimat in unseren geprüften Herzen.

Wir lernten wieder zu sprechen.

(Wien im Lockdown, Dezember 2020)

Jeden Mittwoch breche ich in die Wohnung meines Nachbarn ein

Mittwoch, 18. März 2020, 19.43 Uhr

Jeden Mittwoch breche ich in die Wohnung meines Nachbarn ein. Dies geht sehr einfach, da er nie zusperrt, was mich außerordentlich wundert, aber natürlich auch sehr freut, wie Sie, liebes Tagebuch, sicher verstehen, weil das Eindringen in fremde Wohnungen nicht nur umständlich, sondern auch gefährlich sein kann. Denken Sie an die Spuren, die man hinterlassen, oder an die Werkzeuge, die man brauchen würde. Schraubenzieher, Brecheisen, Dietrich. Solche Dinge will man nicht wegschmeißen, nachdem man sie mit aller Sorgsamkeit gebraucht hat, und sie in der eigenen Wohnung zu verstecken, könnte im Falle einer Hausdurchsuchung zu Konflikten mit der Staatsgewalt führen.

Aber in diesem Dilemma befinde ich mich nicht. Die kornblumenblaue Tür, die in sein Reich führt, hat eine freundliche Klinke und keinen abweisenden Knopf. Ich brauche also nur anzudrücken, die Tür zu öffnen, und schon bin ich drinnen.

Sie müssen wissen, ich bin kein Dieb, ich habe es nicht auf Wertsachen, Computer oder Flachbildschirme abgesehen. Ich bin der Meinung, daß wir wieder zur Einfachheit zurückkehren sollten. Sie können also meiner Redlichkeit versichert sein, liebes Tagebuch, ich benehme mich in der Wohnung meines Nachbarn umsichtig und respektvoll. Ich ziehe mir sogar die Schuhe aus, wenn ich sein Wohnzimmer betrete, auch wenn dieses, nebenbei bemerkt, nicht sehr geschmackvoll eingerichtet ist. Ansonsten halte ich mich in der Küche auf, denn jeden Mittwoch öffne ich den Kühlschrank meines Nachbarn und nehme mir ein Erdbeerjoghurt.

Das ist ein Genuß.

Mit der einen Hand umklammere ich den Becher, mit der anderen löse ich langsam die Folie vom Becherrand. Man darf sich aber nicht vom wunderbaren Geruch überwältigen lassen und einfach anreißen. Ein zu heftiger Ruck könnte das Joghurt überschwappen lassen. Auch sollte man darauf bedacht sein, die Folie gleichmäßig abzuziehen, damit sie nicht zerreißt. Das erfordert innere und äußere Balance. Sonst kann man nicht, wie ich es gerne tue, die Joghurtsprengsel von der Unterseite der Folie abschlecken, ohne in der Gefahr zu schweben, die Zunge am Rißrand des Aluminiums zu verletzen. Mit den Fingern herumzuschmieren, ist eine schlechte Alternative, vor allem wenn man sich in einer fremden Wohnung befindet und alles schnell und sauber ablaufen soll. In Zeiten wie diesen ist Hygiene sehr wichtig. Nachdem ich das Erdbeerjoghurt aufgegessen habe, drücke ich die Folie, die ich selbstverständlich nie ganz vom Becher gelöst habe, auf den Rand zurück, bügle mit dem Zeigefinger die Fältchen aus, klappe die Lasche hinunter und stelle den leeren Becher wieder in den Kühlschrank. Den Teelöffel wasche und trockne ich ab und lege ihn in die Bestecklade.

Sie können sich vorstellen, welch diebische Freude es mir bereitet, am nächsten Tag, am Donnerstag also, meinen Nachbarn mit der unschuldigsten Miene zu grüßen, während er mit großer Ehrerbietung mir entgegentritt. Manchmal empfehlen wir uns schlicht mit einem »Grüß Gott«, manchmal nicken wir vornehm, wie es sich in feinen Häusern gehört, wenn man freundlich ist, ohne sich zu nahe kommen zu wollen. Ich muß zugeben, in den Nächten von Mittwoch auf Donnerstag, wenn ich im Bett liege und von Erdbeerjoghurt träume, freue ich mich schon auf meinen Nachbarn, wenn er, so wie ich, exakt um 11.37 Uhr das Haus verläßt.

Mittwoch, 25. März 2020, 17.42 Uhr

Seltsamerweise steht jeden Mittwoch ein frisches Erdbeerjoghurt im leeren Kühlschrank. Das fiel mir erst nach einigen Wochen auf. Als würde es der Nachbar für mich kaufen, aber das ist ein unsinniger Gedanke.

Was mich auch überrascht, ist seine unerschütterliche Gleichmut. Ich konnte bisher keinen Funken von Verstörung in seinem Gesicht lesen. Von Angst gar nicht zu reden. Mein Nachbar bewegt sich überaus sicher, ich möchte fast sagen heiter, durch den Hausflur. Auch sein äußerliches Auftreten ist das eines Mannes von Welt, wie man so sagt. Die Haare sind gekämmt, und seine Schuhe sind immer frisch geputzt. Wer frisch geputzte Schuhe hat, der lebt in einer Welt der Ordnung. Manchmal pfeift er ein Lied; und stellen Sie sich vor, liebes Tagebuch, ich kenne dieses Lied, ich habe es, scheint mir, schon als Kind gehört und selbst gepfiffen.

Lassen Sie es mich versuchen …

Nein, heute will es mir nicht gelingen.

Mein Nachbar würde mich jetzt verspotten, weil mir nicht gelingt, was er spielend schafft.

Aber er ist ja nicht hier.

Mittwoch, 1. April 2020, 19.54 Uhr

Wie Sie sicher meinen Worten entnehmen können, liebes Tagebuch, bin ich immer erleichtert gewesen, daß ich trotz der leeren Joghurtbecher, die ich im Kühlschrank meines Nachbarn hinterließ, seiner Arglosigkeit und weltmännischen Gelassenheit sicher sein konnte. Aber seit einigen Tagen, genau genommen seit vergangenem Donnerstag, bereitet mir gerade diese Arglosigkeit Kopfzerbrechen. Wer so lässig und auf eine fast arrogante Weise selbstsicher durchs Leben geht, muß sich durch eine besondere Macht unterstützt wissen, muß sich auf etwas oder jemanden verlassen können.

Wo geht er an den Donnerstagen um 11.37 Uhr hin – immer genau zu dem Zeitpunkt, zu dem auch ich das Haus verlasse?

Jeder normale Mensch beginnt um 8 Uhr mit seiner Arbeit. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß er in ein Büro geht.

Dafür ist er mir zu fröhlich.

derselbe Tag, 21.23 Uhr