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Das entschwundene Land, von dem Astrid Lindgren erzählt, ist das glückliche Land ihrer Kindheit. Zwischen Mägden und Knechten, Armenhäuslern und Landstreichern wuchsen sie und ihre Geschwister auf einem Hof nahe der schwedischen Kleinstadt Vimmerby in Småland auf. Dort, wo irgendwann im Jahr 1888 die Liebesgeschichte ihrer Eltern begann und ein Leben lang dauerte.
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Das entschwundene Land, von dem Astrid Lindgren erzählt, ist das glückliche Land ihrer Kindheit. Sie erinnert sich an die Kinderspiele und daran, wie sie mit ihren Eltern und Geschwistern auf dem Hof nahe der schwedischen Kleinstadt Vimmerby in Småland aufwuchs. Sie schreibt von Mägden und Knechten, von Armenhäuslern und Landstreichern – und von der Liebesgeschichte ihrer Eltern, die irgendwann im Jahr 1888 begann und ein ganzes Leben lang dauerte …
Jetzt will ich eine Liebesgeschichte erzählen, keine, die ich gelesen oder mir ausgedacht, sondern nur eine, die ich gehört habe. Oft gehört habe. Darin ist mehr Liebe als in allen, die ich in Büchern fand, und für mich ist sie rührend und schön. Aber das liegt vielleicht daran, dass sie von zwei Menschen handelt, die meine Eltern werden sollten.
Ein ganzes Leben lang dauerte sie, diese Liebesgeschichte, und sie begann irgendwann im Jahre 1888, als der 13-jährige Samuel August von Sevedstorp im Gemeindehaus von Pelarne, wo die Kinder des Kirchspiels unterrichtet wurden, während der Repetitionsprüfung seine Blicke auf einem Mädchen ruhen ließ, das dicht neben dem eisernen Ofen saß. Es war die mit den Stirnfransen, die alle Fragen so gut beantworten konnte. Hanna hieß sie, neun Jahre war sie alt und stammte aus Hult. Hanna in Hult, in sie verguckte sich Samuel August. Sicherlich hatte er sie auch schon früher gesehen. Aber nicht so wie jetzt.
»Ich sah dich, und seit diesem Tage ich einzig dich auf Erden seh«, in der Art konnte sich Samuel August nicht äußern, denn er war ja nur ein småländischer Bauernjunge und kannte keine Gedichte. Sonst aber war es genau so.
Für Samuel August hatte die Schule mit dieser Prüfung ein Ende. Und ein Ende hatte es auch damit, das Mädchen mit den Stirnfransen anzugucken. Von nun an hieß es, sich daheim auf Sevedstorp und den kleinen, steinigen Äckern abrackern. So lange, bis er achtzehn war und fort musste, um sich als Knecht zu verdingen. Musste, jawohl, denn daheim gab es eine ganze Schar von Jungen, und das kleine Anwesen war nicht groß genug, sie alle zu ernähren.
Zu seinem Onkel Per Otto auf Vennebjörke kam der junge Knecht. Sechzig Kronen hatte er an Jahreslohn, war aber während der Wintermonate frei. Da besuchte er einen Kursus an der Volkshochschule in Södra Vi, und was ihm dort geboten wurde, war die gesamte Bücherweisheit, die ihm im Leben zuteilwurde. Danach musste er wohl oder übel wieder Knecht sein. Es war eine stumpfsinnige Plackerei, und es waren lange, trostlose Tage, die sich alle glichen. Außer einem. Einem ganz besonderen Tag. Ihn bewahrte Samuel August in seinem Gedächtnis, solange er lebte.
Es war ein Samstag im August 1894. An diesem Tag machte sich Samuel August auf eine Wanderung, die über sein Leben entscheiden sollte. Und doch ging er nur heim nach Sevedstorp. Bis dorthin waren es zwanzig Kilometer, und er konnte sich erst auf den Weg machen, nachdem auf Vennebjörke das Tagewerk beendet war. Es wurde Abend und sogar Nacht, ehe er zu Hause ankam. Und wund lief er sich obendrein, sodass er den einen Schuh ausziehen und mit einem bloßen Fuß marschieren musste. »Und so sehr hab ich mir ’n Rad gewünscht, dass es reineweg wunderlich war, dass keins aus dem Erdboden auftauchte«, sagte er später immer, wenn er davon erzählte.
Aber kein Fahrrad tauchte aus dem Erdboden auf. So gut es ging, musste er weiterhumpeln, und als er endlich zu Hause in die Tür trat, war es Mitternacht geworden. Da lag seine Mutter auf den Knien und scheuerte die Küchendielen, aber Ida von Sevedstorp war lange Arbeitstage gewohnt, also war daran wohl nichts Besonderes. Ein wenig verwundert mag sie schon gewesen sein, als sie ihren Sohn so unverhofft in der Tür stehen sah, und noch mehr staunte sie, als sie hörte, warum er gekommen war. Ja, er habe nämlich von dem Onkel Per Otto erfahren, dass ab Frühjahr der Pfarrhof Näs bei Vimmerby zu pachten sei, und Onkel Otto habe auch gesagt: »Da weiß ich kein einen, der dafür besser passen tät als Schwager Samuel von Sevedstorp mit all seinen Jungs.«
Was hielt Mutter von diesem Vorschlag, fragte Samuel August voll Eifer. Diesen Vorschlag hielt Mutter für schlechthin verrückt. Wo in aller Welt sollten Vater und sie denn das Geld für den Bestand an Vieh und Geräten hernehmen, den so eine große Landwirtschaft erforderte? Nein, daran war gar nicht zu denken!
Da wurde Samuel August sehr betrübt.
»Ihr, Mutter, Ihr wisst nicht, wie es tut, anderswo zu dienen«, sagte er bitter, denn nun musste er ja alle Hoffnung fahren lassen, dem Knechtsdasein zu entrinnen und für das eigene Säckel zu arbeiten – soweit bei einer Pacht von einem eigenen Säckel überhaupt die Rede sein konnte.
»Was der Jung da gesagt hat, das ging mir durch und durch«, sagte Ida von Sevedstorp, meine Großmutter, später immer, wenn sie von diesem denkwürdigen Samstagabend erzählte. Und nachdem Samuel Augusts Vater am Sonntagmorgen aufgewacht war, berichtete sie ihm von dem abenteuerlichen Vorschlag, mit dem der Sohn gekommen war. Gemeinsam beschlossen sie, dass Ida ihren Vater, Anders Petter Ingström auf Tjurstorp, aufsuchen solle, um sich mit ihm zu beraten. Er war weit und breit als tüchtiger und unternehmungslustiger Bauer bekannt. Aber ein strenger Vater war er gewesen, wenn es darum ging, seine vielen Kinder zur Arbeit anzuhalten. »Drisch du man, Mädchen, bist ja kräftig genug«, sagte er zu Ida, als sie mit sechzehn Jahren auf der Tenne stand und den Dreschflegel schwang. »Das schaffst du schon«, sagte er, wenn er sie auf die Äcker schickte, wo sie die Steine wegzuschleppen und zur Einfriedung aufzustapeln hatte, sodass sie abends nach getaner Arbeit auf dem Heimweg nur so wankte und sich stützen musste. Nicht zuletzt, um dieser erbarmungslosen Schinderei daheim zu entgehen, hatte sie schon mit achtzehn Jahren geheiratet. Ein leichtes Leben tauschte sie freilich nicht dafür ein, sieben Kinder musste sie gebären und aufziehen und die meisten Stunden des Tages hatte sie genauso viel zu schuften wie zuvor. Dass sie an diesem Samstag mitten in der Nacht auf den Knien lag und die Küchendielen scheuerte, war wahrhaftig nichts Besonderes.
»Wenn der Jung es will, dass ihr Näs nehmt, dann tut das nur«, sagte Anders Petter, als seine Tochter ihn um Rat fragte.
Nun war es keineswegs so einfach, »Näs zu nehmen«. Da gab es viele, die das wollten. Probst Blidberg konnte sich seinen Pächter aussuchen. Glücklicherweise aber musste er als Pfarrer von Vimmerby hin und wieder auch in Pelarne, seiner Tochtergemeinde, predigen, und so kam es, dass er eines Sonntags nach dem Gottesdienst auf dem Kirchplatz in Pelarne stand und mit seinen Pfarrkindern plauderte. Und da ergriff Probst Blidberg die Gelegenheit, sich zu erkundigen, was dieser Samuel Johan Eriksson von Sevedstorp eigentlich für ein Mensch sei, dieser Häusler, der sich unter vielen anderen um die Pfarrhofspacht beworben hatte. Der Hauptlehrer erklärte sofort, nein, das ginge niemals gut! Samuel von Sevedstorp sei viel zu weich und gutmütig, um ein Gesinde so anzupacken, wie es nötig sei, wolle man Näs bewirtschaften. Aber neben dem Hauptlehrer stand der Kirchenälteste Jonas Petter Jonsson von Hult, der Vater des Mädchens mit den Stirnfransen, der selber ein sanfter und freundlicher Mann war, und er legte jetzt für Samuel Eriksson von Sevedstorp ein gutes Wort ein – »Solchen, die ihre Leute gut behandeln, glückt’s drum nicht schlechter«, sagte er.
Diese Worte, die mein Großvater mütterlicherseits damals sprach, um meinem Großvater väterlicherseits den Rücken zu stärken, taten ihre Wirkung. Probst Blidberg wünschte sich offenbar einen freundlichen und gutmütigen Pächter. Er entschied sich für Samuel Johan Eriksson.
Und am 30. April 1895 zogen zwei Ochsenkarren von Sevedstorp los, beladen mit allem, was die Sevedshäusler in dieser Welt besaßen, viel war es nicht. Der Tag war unnatürlich warm, die Ochsen keuchten in der Hitze, doch gegen Abend wurde es kühler und da war man in Näs angelangt.
Samuel August, der Zwanzigjährige, war vielleicht von allen der Froheste. Schließlich war er es ja gewesen, der dies mit seiner Barfußhumpelei zustande gebracht hatte. Jetzt hatte er den Platz auf Erden erreicht, wo er leben und sterben sollte – aber das wusste er natürlich noch nicht.
Ja, Samuel August war nach Näs gekommen.
»So will ich denn zunächst mit einigen wenigen Strichen die auf dem Lande gelegene Pfarrei skizzieren, deren rot getünchtes Wohnhaus so friedlich unter den von freundlicher Hand rings um den Hof gepflanzten Kastanien, Ulmen und Linden lag, der auf drei Seiten von Obst- und Küchengärten umgeben war. Das Haus war niedrig und enthielt nur die drei Kammern sowie Wohnstube nebst Küche, die Pastoren dazumal zugebilligt wurden. Die Stuben waren niedrig und dunkel, aber Liebe und Friede weilten darinnen, und die frohen Gesichter vier glücklicher Kinder vermögen es gewiss, Sonnenschein in dunklere Kammern als diese zu bringen.«
Diese Schilderung stammt von einem, der lange vor Samuel August Anfang des 19. Jahrhunderts auf dem Pfarrhof Näs gelebt hat. Das Haus, von dem hier die Rede ist, wurde etwa ein Jahrhundert später die Pächterwohnung, und dorthin holte Samuel August von Sevedstorp, als die Zeit dafür gekommen war, Hanna in Hult – auf dass die frohen Gesichter vier glücklicher Kinder so nach und nach neuen Sonnenschein in das alte rot getünchte Wohnhaus brachten, in dem auch fortan Liebe und Friede weilten.
Noch aber war es nicht so weit. Noch schrieb man erst 1895 und Samuel August war zwanzig Jahre alt. Das Mädchen mit den Stirnfransen, dachte er noch an sie? Ein wenig mochte ihr Bild wohl verblasst sein, so selten, wie er sie während der letzten Jahre zu sehen bekommen hatte, und jetzt wohnten sie sogar in verschiedenen Kirchspielen, was der Liebe ja nicht gerade förderlich sein konnte. Doch zum Glück war es noch immer so, dass der Pfarrer von Vimmerby hin und wieder auch in Pelarne zu predigen hatte, und zu den Pflichten des Pächters gehörte es, ihn dorthin zu kutschieren. Gewöhnlich musste dies der mittlere Sohn des Pächters, Samuel August, tun, und somit ergab es sich zwangsläufig, dass er Hanna in Hult ab und zu wiedersah und vielleicht auch ein paar Worte mit ihr wechselte. Und mehr war auch nicht nötig – »ich einzig dich auf Erden seh« –, nun stimmte es für Zeit und Ewigkeit.