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Fionas Eltern wünschen sich, dass sie die Leitung des Familien-Weingutes an der Mosel übernimmt. Während Fiona noch mit der Entscheidung hadert, trifft sie auf den charmanten Tristan, dessen Familie einen international erfolgreichen Weinhandel betreibt. Bei einem Rundgang über das Weingut und die dazugehörigen Ländereien zieht ein schweres Gewitter auf und die beiden suchen Schutz in einer alten Kapelle. Dort entdecken sie einen alten Liebesbrief - adressiert an Fionas Urgroßmutter Luise. Doch wer hat ihn geschrieben?
Mit Tristans Hilfe macht Fiona sich auf die Suche nach dem Ursprung des Briefes. Hat ihre Urahnin ein dunkles Geheimnis gehütet, das niemals ans Licht kommen sollte? Was Fiona über die Vergangenheit herausfindet, erschüttert alles, was sie je über ihre Familie zu wissen glaubte - und es stellt auch ihre für Tristan erwachenden Gefühle auf eine ernste Probe ...
Eine junge Frau auf den Spuren ihrer Urgroßmutter, ein junger Mann auf der Suche nach Antworten und tief vergrabene Geheimnisse, die das Schicksal der beiden auf ungeahnte Weise miteinander verbinden. Ein mitreißender Familiengeheimnis-Roman für Fans von Carolin Rath und Kate Morton.
Alle Romane der Familiengeheimnis-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 397
Cover
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Über dieses Buch
Titel
WIDMUNG
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
DANKSAGUNG
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
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Fionas Eltern wünschen sich, dass sie die Leitung des Familien-Weingutes an der Mosel übernimmt. Während Fiona noch mit der Entscheidung hadert, trifft sie auf den charmanten Tristan, dessen Familie einen international erfolgreichen Weinhandel betreibt. Bei einem Rundgang über das Weingut und die dazugehörigen Ländereien zieht ein schweres Gewitter auf und die beiden suchen Schutz in einer alten Kapelle. Dort entdecken sie einen alten Liebesbrief – adressiert an Fionas Urgroßmutter Luise. Doch wer hat ihn geschrieben?
Mit Tristans Hilfe macht Fiona sich auf die Suche nach dem Ursprung des Briefes. Hat ihre Urahnin ein dunkles Geheimnis gehütet, das niemals ans Licht kommen sollte? Was Fiona über die Vergangenheit herausfindet, erschüttert alles, was sie je über ihre Familie zu wissen glaubte – und es stellt auch ihre für Tristan erwachenden Gefühle auf eine ernste Probe ...
Sarah Sommerhäuser
Das Flüstern der Weinberge
Für meine drei Zaubersterne.
Ich starre auf den Grabstein vor mir und ignoriere den leichten Nieselregen, der mir sanft, aber unaufhörlich in den Nacken rinnt.
Luise Lorenz geb. Müller
1921 – 2001
Der schlichte Stein ist aus dunkelgrauem Granit und strahlt eine eigentümliche Ruhe aus.
Obwohl ich noch ein Kind war, habe ich die Beerdigung meiner Urgroßmutter noch gut vor Augen. Die besondere Stimmung, die ich nicht richtig verstanden, aber dennoch umso deutlicher gespürt habe. Vor allem aber erinnere ich mich an die Leere, die sie zurückgelassen hat. Was eigentlich kurios war, denn meine Uroma war immer eine leise Frau, doch ihre Präsenz haftet noch heute an allem. Ich habe mich immer mit Luise verbunden gefühlt, auch wenn ich das als Kind nicht in Worte hatte fassen können. Noch immer denke ich häufig an sie, und die Erinnerung an ihre unerschütterliche Ruhe schenkt mir immer eine innere Gelassenheit, wenn sie sonst fehlt.
Der Regen hört auf, und erste Sonnenstrahlen brechen durch die Wolkendecke. Lächelnd recke ich den Kopf in die Höhe. Als ich wieder zum Grab schaue, wächst eine Sonnenblume aus der Erde. Kurz darauf entfaltet sie ihre Blütenblätter und leuchtet mit der Sonne um die Wette.
Ich schrecke hoch und versuche mich im Raum zu orientieren. Die helle Kommode, daneben der schmale Schrank, in den nur leidlich meine vollständige Garderobe passt. Dazwischen der wellenförmige Spiegel. Okay, mein Schlafzimmer, ich bin zu Hause. Die letzten Traumfetzen vernebeln mir noch meinen Gedanken, und ich reibe über meine Stirn. Ich drehe mich um und schaue auf die roten Ziffern meines Weckers. Sofort bin ich hellwach. Schon so spät! Mist, das ist mir schon lange nicht mehr passiert.
Hastig schäle ich mich aus meinem Bett. In der Küche treffe ich auf Zoe, die leicht irritiert auf die Uhr schaut. »Du bist noch hier? Ich dachte, du wärst lang weg.«
»Verschlafen.«
Nachdem ich den Wasserkocher angestellt habe, nehme ich mir einen To-Go-Becher aus dem Schrank und öffne unsere hölzerne Teekiste. Da wir beide absolute Fans sind, haben wir wirklich eine beachtliche Auswahl an verschiedenen Teesorten. Sie alle sind fein säuberlich sortiert in der kleinen Kiste, die ich Zoe vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt habe. Hmmm, heute ist mir nach Sternenleuchten zumute. Vielleicht bringt er ja etwas Helligkeit in diesen verregneten Montag. Erwartungsvoll schnupper ich an dem Beutel und hänge ihn dann in den Becher. In dem Moment kocht das Wasser. Zügig gieße ich das heiße Wasser über den Tee. Sofort erfüllt der Duft nach Himbeere mit einer feinen Vanillenote meine Nase. Ich atme tief durch.
Während der Tee zieht, flitze ich ins Bad und unterziehe mich einer Katzenwäsche. Dann werfe ich mich in eine schwarze Jeans und meine helle Bluse, die eigentlich nicht gut sitzt. Aber auf die Schnelle finde ich nichts anderes, und meiner Chefin ist es wichtig, dass wir ordentlich gekleidet im Laden erscheinen. Auch wenn wir dort ein Firmenhemd tragen.
Zurück in der Küche nehme ich den Beutel aus dem Becher und drehe den Deckel zu. Aus dem Brotkorb schnappe ich mir noch einen Bagel. Zoe belächelt mich ein wenig für meinen Bagel-Spleen, aber ich liebe dieses Gebäck. Es gibt kein besseres Frühstück als einen Tee und dazu einen Bagel.
»Was hast du denn heute vor?«, frage ich Zoe, die mit ihrer Tasse am Tisch sitzt und mich aufmerksam mustert.
»Ich gehe zur Uni, im Gegensatz zu dir.«
Mitten in der Bewegung halte ich inne. »Was willst du damit sagen?«
»Wenn du mich fragst, solltest du dich da auch mal wieder blicken lassen.« Ihre Stimme klingt unverbindlich, doch ich weiß es besser und kann ein leises Aufstöhnen nicht unterdrücken. »Ach komm schon, Fiona. Du bist doch im Prinzip fast fertig.«
Ich verdrehe die Augen. »Ich brauche eben mehr Zeit als du. Kann ja nicht jeder so ein superschlauer Überflieger sein.«
»Das hat doch damit nichts zu tun. Du läufst weg, das ist was anderes.«
»So ein Blödsinn! Ich laufe doch nicht weg.« Missmutig verschränke ich die Arme. Wie oft haben wir diese Diskussion schon geführt?
Zoe zieht nur eine Augenbraue hoch und stellt ihre Teetasse in die Spüle. »Ach ja, wie lange warst du nicht mehr in der Uni?«
»Keine Ahnung. Ist doch egal, ich bin fast fertig, hast du selber gesagt.«
»Du willst doch nicht für immer in diesem dämlichen Laden versauern?«
»Hey, das ist eine super Adresse für hervorragenden Wein.«
»Komm schon. Dir würden alle Türen aufstehen.«
Ich zucke die Achseln. Nie würde ich es zugeben, aber sie hat recht: Ich lasse mein Studium schleifen und es gibt eigentlich keinen Grund dazu. Es hat mir immer Spaß gemacht, und meine Noten waren auch immer ganz gut. Trotzdem. Seit ... ja, seit ...
»Egal, ich muss los. Außerdem habe ich dich nicht gefragt.«
Ihre Antwort höre ich nicht mehr. Na toll, jetzt habe ich mich auch noch mit meiner Freundin gestritten wegen diesem bescheuerten Studium.
Die Vinothek, in der ich arbeite, ist mit dem Fahrrad in zehn Minuten zu erreichen. Heute schaffe ich es dank einer grünen Welle in neun. Erschöpft, aber pünktlich komme ich am Geschäft an und schließe mit schwitzigen Fingern die Tür auf. Der Bagel, den ich hastig während der Fahrt hinuntergeschlungen habe, liegt mir nun schwer im Magen. Daran kann auch der Tee nichts ändern, den ich obendrauf kippe.
Seufzend schalte ich die Deckenbeleuchtung ein und fühle mich sofort ruhiger. Das sanfte Licht zaubert dank der warmen Brauntöne der Holzregale eine angenehme Stimmung in den Raum. Nicht aufdringlich, aber hell genug, dass alle Weinsorten erkannt werden können. Im vorderen Bereich des Verkaufsraumes stehen drei längliche halbhohe Holzkonstruktionen, auf denen Weine aus Deutschland, sortiert nach Anbaugebiet, liegen.
Dahinter finden sich zwei weitere Regale, die im rechten Winkel zu den vorderen aufgestellt wurden. An der Wand stehen Regale, in denen besondere Weine ausgestellt sind. Im hinteren Bereich lagern Weine aus anderen Ländern, Sekt und Spirituosen. Auch wenn dies nur eine Zwischenstation ist – und ich mache mir da nichts vor, genau das ist mein Job hier – arbeite ich wirklich gerne in der Vinothek. Hier habe ich schon viele interessante Menschen kennengelernt und aufschlussreiche Gespräche geführt. Außerdem ist das Team der Mitarbeiter toll. Ich bin noch an keinem Tag mit Bauchschmerzen hier gewesen.
Mit meinem Teebecher in der Hand gehe ich in den Personalraum und stelle ihn dort auf der grauen Tischplatte ab. Dann tausche ich die enge Bluse gegen das weinrote Hemd mit dem Schriftzug des Ladens und binde mir die Haare neu. Jetzt bin ich bereit für den Tag.
Heute ist nicht viel los. Ein Paar war da und hat eine Weinverkostung vereinbart, da sie für ihre anstehende Hochzeit den richtigen Wein aussuchen möchten. Ansonsten kam noch ein älterer Herr, der wirklich jede Woche auftaucht und die gleichen vier Weinflaschen kauft. Dabei hat er mir von seinen Kindern und Enkeln erzählt. Ich hege den Verdacht, dass es ihm bei seinen Besuchen mehr um die Gespräche geht als den Wein.
Aber die meiste Zeit sitze ich nur herum und bearbeite die Bestelllisten. Immer wieder kreisen meine Gedanken um den Traum.
Es ist schon eine Weile her, dass ich an meine Uroma gedacht habe. Früher war ich häufig an ihrem Grab, aber mittlerweile ist es eben kein Spaziergang von zehn Minuten mehr, sondern eine Autofahrt von fast zwei Stunden. Trotzdem kriecht das schlechte Gewissen sauer in mir hinauf. Und dann diese Sonnenblume. Das waren ihre Lieblingsblumen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich ihr versprochen habe, immer eine ans Grab zu bringen, damit sie sich daran freuen kann. Das war im Krankenhaus gewesen, als klar geworden ist, dass es nicht mehr lange dauern würde. Vor mir sehe ich meine Kinderhand, die von ihren schmalen, knochigen Fingern mit den vielen Altersflecken umfasst werden. Das Brennen in meiner Brust wird noch stärker. Ich war einfach schon zu lange nicht mehr dort. Auch wenn ich nur ein Kind war, ich habe ein Versprechen gegeben.
Seufzend schließe ich das Computerfenster, in dem ich gerade gearbeitet habe, und stehe auf. Der Verkaufsraum liegt ruhig vor mir. Also beginne ich den Bestand zu sichten, neu zu sortieren und die Flaschen zu drehen. Nicht alle meine Kollegen nehmen das Einräumen so genau. Mir ist es wichtig, dass die Flaschen alle akkurat neben- und hintereinander aufgereiht sind, mit dem Etikett nach vorne. Es macht mich kribbelig, wenn eine von ihnen schief steht.
Die Uhr zeigt kurz vor halb drei, also müsste meine Chefin jeden Moment kommen. Noch einmal kontrolliere ich die Regale auf Vollständigkeit. Meine Chefin Carolin ist schwanger und soll keine Weinkisten mehr schleppen, obwohl sie das natürlich trotzdem macht. Daher versuche ich so gut es geht ihre Schicht so vorzubereiten, damit sie eben keine Regale mehr auffüllen muss.
Das Regal mit einem 2018er Riesling aus Oestrich ist beinahe leer. Sicher haben wir noch ausreichend Kisten im Keller stehen. Bei dem Gedanken wird mir sofort flau im Magen. Ich mag den Keller nicht besonders. Geschlossene Räume behagen mir gar nicht, und der Weinkeller hat nicht einmal ein Fenster, durch das ein wenig Tageslicht fallen und eine Illusion von Weite und Sicherheit erzeugen könnte. Besser, ich bringe das sofort hinter mich, bevor der Knoten in meinem Bauch nur noch größer wird. Der Zugang hat auch noch eine von diesen schweren Sicherheitstüren, die immer mit einem dumpfen Klong zufallen. Deshalb klemme ich mit klopfendem Herzen ein Holzstück unter die Tür, bevor ich die Stufen hinuntergehe.
Der Keller besteht aus zwei verschiedenen Räumen, die als Lager genutzt werden. Nach einem akribischen System sortiert, stehen hier unsere Weine und warten darauf, nach oben zu dürfen. Da ich im letzten Jahr geholfen habe, die Sorten neu zu ordnen, finde ich schnell, wonach in suche. Immerhin spendet die Deckenlampe ausreichend Licht, das aber immer mal wieder flackert. Dabei komme ich mir manchmal wie in einem der Horrorfilme vor, die Zoe so gerne guckt. Gänsehaut breitet sich auf meinem Nacken aus. Manchmal bin ich nicht schnell genug aus dem Zimmer und lasse mich von der beängstigenden Atmosphäre einfangen. Danach brauche ich immer einen beruhigenden Tee und einen Kinderfilm.
Ich bin froh, als ich mit der Kiste in den Armen die Stufen hochsteige.
Als ich hochsehe, beginnt jedoch mein Herz heftig zu pumpen. Langsam, ganz langsam, wie in Zeitlupe rutscht die Tür. Das dämliche Holzstück war offensichtlich nicht fest genug eingekeilt, denn die Tür schiebt es mit ihrem Gewicht einfach weg.
Man könnte meinen, ich wäre in der Lage, einfach nach vorne zu sprinten und die Tür aufzuhalten. Doch ich bin wie erstarrt und fixiere den schmalen Streifen Tageslicht, der immer kleiner wird und schließlich mit jenem dumpfen Klong verschwindet.
Ein Zittern befällt meine Arme und lässt die Flaschen klirrend aneinanderstoßen. Ich sollte die Kiste abstellen, aber ich kann mich noch immer nicht bewegen. Mein Blick geht zurück in den Keller und mir entfährt ein Keuchen. Die Wände kommen immer näher. Sie rücken aufeinander zu, drohen mich einzukesseln und zu erdrücken. Kalter Schweiß perlt auf meiner Stirn, und ich kann mich schwer atmen hören. Ich fühle mich wie ein Reh im Scheinwerferlicht, im Auge des Todes, aber unfähig etwas zu ändern. Irgendetwas zu tun.
Ein Schrei zerreißt die Luft, und ich brauche einen Moment, bis mir klar wird, dass ich ihn ausgestoßen habe.
Plötzlich wird die Tür hinter mir mit einem Ruck aufgezogen und rettendes Tageslicht flutet die Treppe.
»Fiona?« Carolin steht am Treppenabsatz und schaut mich kreidebleich an. »Geht es dir gut?«
Ich schüttle langsam den Kopf und starre meine Chefin einen Augenblick an. Sie ist noch nicht umgezogen und trägt ein Blumenkleid, das ihren runden Bauch betont. Das Licht bescheint sie von hinten und lässt ihre dunkelblonden Haare leuchten. Wie ein Engel.
»Komm schon.« Sie eilt zu mir und nimmt mir die Weinkiste ab. Flink bringt sie die nach oben und kehrt wieder zurück. Sanft nimmt sei meinen Arm und bugsiert mich in den Laden, wo ich sofort auf den Boden sinke. Mein Herzschlag beruhigt sich langsam wieder, und Scham kriecht mir heiß in die Wangen.
»Es tut mir leid«, stammle ich.
»Was denn? Dafür musst du dich doch nicht entschuldigen. Ich hab dir doch gesagt, du musst nicht alleine in den Keller gehen. Die Kiste hätte ich auch selber holen können.«
»Ach was, es geht schon wieder.« Noch etwas wackelig komme ich wieder auf die Beine.
Mit besorgten braunen Augen sieht Carolin mich noch einen Moment zweifelnd an. »War heute viel los?«
»Nein, es war sehr ruhig. Ich habe schon die Bestellungen für nächste Woche vorbereitet.«
»Ja? Ach, super. Du bist ein Schatz.«
Ich lächele ihr zu. Natürlich weiß ich, dass sie meine Arbeit schätzt, aber ein Lob aus ihrem Mund zu hören, tut dennoch gut.
»Dann wünsche ich dir noch einen schönen Nachmittag.«
»Danke.« Ich ziehe mich um und verlasse winkend die Vinothek.
Mein Blick geht zu meiner Armbanduhr. Es ist noch nicht spät. Ob ich bei der Uni vorbeischauen sollte? Einfach nur so, ganz unverbindlich?
*
Am Abend sitze ich mit einem Glas Wein vor dem Fernseher. Natürlich bin ich nicht zur Uni gegangen, sondern nach Hause. Seitdem sitze ich hier. Es fällt mir schwer das einzugestehen, aber möglicherweise könnte Zoe recht haben. Ich vergeude wirklich meine Zeit.
Das Telefonklingeln reißt mich aus meiner Grübelei.
»Hallo?«
»Fiona? Hallo!« Die fröhliche Stimme meiner Mutter lacht mir entgegen.
Überrascht setze ich mich gerader hin. »Hallo, Mama, alles in Ordnung?«
Es ist jetzt nicht total ungewöhnlich, dass sie anruft, aber unser Kontakt hatte sich in der letzten Zeit doch mehr auf Textnachrichten beschränkt.
»Natürlich. Hör mal, kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Äh, ja, klar.«
»Super. Du kennst dich mit diesem Internet-Kram ja deutlich besser aus als ich.«
Ich nicke, auch wenn sie das nicht sehen kann, und habe keinen Schimmer, auf was sie hinauswill.
»In der Rhein-Zeitung ist ein Artikel über uns erschienen. Kannst du dir das vorstellen? Weingut Lorenz auf einer ganzen Seite? Ich fände es toll, wenn der auch auf unserer Homepage stehen würde.«
»Auf der Homepage?« Irritiert rutsche ich auf dem Sofa herum. Meine Eltern haben schon eine ganze Weile eine Website, aber bisher hat sich immer mein Bruder darum gekümmert. »Ich weiß nicht, ob ich da helfen kann, wenn Jochen das nicht hinkriegt. Er hat davon mehr Ahnung als ich.«
Das stimmt nicht so richtig, ich betreue schon seit einer Weile die Website der Vinothek, aber ich möchte Jochen da ungern ins Handwerk fuschen. Gerade herrscht eine Art Waffenstillstand, und den möchte ich nicht brechen.
Meine Mutter räuspert sich. »Im Moment hat Jochen keine Zeit. Außerdem ist er gar nicht da. Dein Bruder ist in Frankreich und hospitiert an verschiedenen Weingütern.«
»Aha.« Innerlich verdrehe ich die Augen. Das ist wieder so typisch für ihn. Ja, in Frankreich gibt es ganz ausgezeichnete Weinregionen, doch bei uns an der Mosel herrschen nun mal andere Bedingungen. Keine Ahnung, was er dort zu finden hofft. Wahrscheinlich noch mehr Weinsorten, die er dann alle ausprobieren kann. Je mehr desto besser ist sein Motto. »Okay, ich setze euch den Artikel rein. Am einfachsten ist es, wenn Papa ihn einscannt und mir schickt, ja?«
»Natürlich. Danke.«
»Um was geht es denn in dem Artikel?«
»Die Kapelle wird abgerissen.«
»Wie bitte?« Irritiert schaue ich kurz auf den Hörer. Habe ich mich verhört? Hat sie das echt gesagt?
»Ja, ich weiß, dass du immer gerne dorthin gegangen bist. Aber es ist zu gefährlich. Stell dir vor, Kinder gehen zum Spielen dorthin und es passiert etwas.«
»Aber es geht nie jemand dorthin.« Das weiß ich, immerhin war ich wirklich oft dort und habe nie jemanden getroffen. Dieser Ort erdet mich auf eine ganz spezielle Weise, und die Vorstellung, er würde verschwinden, versetzt mir einen Stich.
»Darauf können wir uns nicht verlassen. Das Gebäude ist einsturzgefährdet.«
»Kann sie nicht saniert werden? Sie ist doch ein Teil unserer Familiengeschichte.«
»Das ist im Moment nicht möglich. Tut mir leid.« Damit ist die Diskussion für sie beendet.
»Wenn ihr meint. Sobald Papa den Artikel schickt, füg ich ihn in die Seite ein.«
»Danke schön, Fiona.«
»Sicher.«
»Wie läuft denn das Studium?«
Mit dieser Frage erwischt sie mich kalt. Da mich die Sache mit der Kapelle bereits aus dem Konzept gebracht hat, muss ich mich nun etwas zusammenreißen, bevor ich ein »Alles gut. Prima« hervorpresse.
Dennoch bin ich überrascht wie gut mir dieser Satz inzwischen über die Lippen geht. Ist es nicht so, dass man eine Lüge irgendwann selber glaubt, wenn man sie nur oft genug wiederholt?
»Wunderbar.« Ich kann hören, dass sie mir nicht glaubt. Meine Mutter hatte schon immer die Gabe, zwischen den Zeilen zu lesen. Beziehungsweise, zwischen den Wörtern zu hören. Manchmal praktisch, manchmal eher nicht.
Schon zu Beginn des Studiums habe ich angefangen in der Vinothek zu arbeiten. Mit der Zeit wurde es dann immer mehr, sodass ich teilweise Vorlesungen nicht besucht habe, weil sie mit meinen Schichten kollidierten. Und dann, als meine Träume plötzlich geplatzt sind, ist es noch mehr geworden. In diesem Semester habe ich mir dann gar keine Seminare mehr gesucht. Irgendwie zieht es mich gerade nicht zur Uni, denn zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einfach keine Ahnung, was ich mit diesem Abschluss überhaupt machen soll. Als ich anfing, war ich überzeugt, später mit in den Familienbetrieb einzusteigen. So einfach. Seit ich klein war, habe ich mir das gewünscht und mir auch nie irgendetwas anderes vorstellen können. Im Grunde kann ich das immer noch nicht. Mein Weg wird anders aussehen, ich muss mir nur noch überlegen, wie. Bis ich das weiß, bleibe ich wo ich bin.
»Ich würde mich freuen, wenn du uns mal wieder besuchen kommen würdest.«
Ein Kloß bildet sich in meinen Hals. Ich würde sie auch gern wiedersehen. Allerdings habe ich Angst vor ihren wissenden Augen und den Fragen, die sie stellen könnte. Zum Studium und meiner Zukunft. Fragen, auf die ich keine Antwort weiß und denen ich mich im Moment nicht stellen möchte.
»Sicher. Ich komme, sobald ich Zeit habe.«
»In Ordnung. Vielen Dank noch mal und schönen Abend noch.«
»Mach‘s gut.«
Sie legt auf und ich starre erst auf die Fernbedienung, dann auf den Wein in meiner Hand.
Ein Ping auf meiner Smart-Watch zeigt an, dass ich bereits eine E-Mail erhalten habe. Ich brauche nicht nachzusehen, um zu wissen, dass sie von meinem Vater kommt. Vermutlich saß er neben meiner Mutter und hat den Artikel sofort geschickt.
Seufzend stelle ich den Wein ab und gehe zum Laptop, der auf dem Küchentisch steht. Besser ich bringe es gleich hinter mich.
*
»Na, wie war dein Abend?« Belustigt beobachte ich Zoe, die gerade in die Küche gewankt kommt.
»Shhh, nicht so laut.« Zoe presst sich die Hände an die Ohren und verzieht das Gesicht. Man sollte nicht meinen, dass es in der Mathe-Fachschaft so wild hergeht, aber die Partys dort sind legendär. »Tee«, brummt sie. Es ist faszinierend zu beobachten, wie sie mit geschlossenen Augen und zerknautschtem Gesicht den Wasserkocher anwirft. Gleichzeitig wühlt sie mit der anderen Hand in der Teekiste und holt den Earl Grey heraus.
»Wie ist es mit Carsten gelaufen?«
Das Telefon klingelt und erspart ihr die Antwort. Mein Blick schweift suchend durch den Raum und wird auf der Fensterbank fündig. Mit zwei Schritten bin ich da und drücke auf die grüne Taste. »Hallo?«
»Hallo, Liebes.« Meine Mutter. Seit ihrem letzten Anruf vor zwei Wochen haben wir es geschafft häufiger miteinander zu sprechen, aber ein Anruf früh am Morgen ist doch überraschend. Sie klingt ganz schön aufgekratzt.
»Guten Morgen. Geht es allen gut?«
»Ja sicher, alles super. Stell dir mal vor: Es hat jemand angerufen!«
Okay, offenbar stehe ich auf dem Schlauch. Warum ist es so toll, dass jemand angerufen hat? Ist ja nicht so, als würde sie mich da ständig drüber in Kenntnis setzen.
»Es ist ein internationaler Weinhandel. Sie wollen ihr Angebot erweitern und haben die Moselregion ins Auge gefasst. Auf der Suche sind sie dann auf unsere Website gestoßen.«
»Das ist doch gut.«
»Ein junger Mann kommt nach Deutschland, um die passenden Weingüter zu besuchen, und sie wollen bei uns anfangen.«
Ich muss grinsen, meine Mutter klingt beinahe wie ein Teenager vorm ersten Date. In meinem Kopf entsteht das Bild eines schnöseligen Mittfünfzigers mit Schnurrbart und schickem Anzug. So oder so ähnlich sehen die Weinhändler aus, die bei Carolin immer auftauchen.
»Mama, das ist ja super!«
Sie lacht, und gleichzeitig höre ich ein paar Schluchzgeräusche. Offensichtlich hat es sie wirklich total umgehauen.
»Wann will er denn kommen?«
»Am Wochenende, Sonntag.«
»Oh.« Das geht schnell. Nicht mal mehr eine Woche.
»Ja, deshalb rufe ich an.« Ihre Stimme verändert sich, wird nun ernster, womit sie ein nervöses Ziehen in meiner Magengegend auslöst. Kurz geht mein Blick zu Zoe, die mich aufmerksam beobachtet. Gerade gießt sie das heiße Wasser in ihre Tasse, und der Geruch von Bergamotte zieht durch den Raum.
»Dein Vater hat in der Woche ein paar Termine, die er so kurzfristig nicht verschieben kann. Außerdem hat er viel im Weinberg zu tun. Jochen ist ja nicht da ...« Noch bevor sie es sagt, weiß ich plötzlich, worauf das Gespräch hinausläuft. »Deshalb haben wir gehofft, dass du vielleicht kommen und uns unterstützen könntest? Du kannst so gut mit Menschen umgehen, du wärst uns wirklich eine große Hilfe.«
Ich atme tief durch und versuche meine Gefühle zu ergründen. Jochen ist nicht da. Und hoffentlich habe ich in den letzten zwei Wochen genug von meinen vermeintlichen Uni-Aktivitäten erzählt, dass sie mich damit in Ruhe lassen werden.
»Denk an die Fotos, du könntest dann selbst welche machen«, setzte sie nach, und ich muss schmunzeln. Ich habe ihr im Vertrauen gesagt, dass mir bei der Arbeit an der Website aufgefallen ist, wie veraltet die Bilder sind und sie besser ein paar neue machen sollten.
Dann kommt mir mein Traum in den Sinn. Ich könnte meiner Uroma Blumen bringen und meinen Opa besuchen.
Seufzend treffe ich meine Entscheidung. »Am Wochenende sagst du? Ich werde mit meiner Chefin sprechen, aber das wird sicher klappen.«
»Ja, wirklich?« Da ist wieder die fröhliche Mutter. »Das ist fantastisch! Danke! Dann sehen wir uns am Wochenende?«
»Ja.«
»Gut. Ich freue mich auf dich.«
»Hmm.«
Dann beendet sie das Gespräch.
Ich lege das Telefon weg und lehne mich auf dem Stuhl zurück.
»Was ist los? Willst du am Wochenende zu deinen Eltern fahren?«, fragt Zoe zaghaft.
»Ja. Es kommt irgendein junger Mann und will sich alles ansehen.«
»Uhhh. Ein junger Mann, wie nett.«
Ich muss lachen. »Wenn meine Mutter ›jung‹ sagt, meint sie alle Männer zwischen zwanzig und achtzig.« Da ist sie wirklich herrlich diplomatisch. »Es ist auf jeden Fall eine große Chance für meine Eltern. Und ich war echt lange nicht mehr da, also ...« Ich räuspere mich. »Zuerst muss ich das natürlich mit meiner Chefin klären. Aber ich habe noch einige Urlaubstage, eigentlich sollte das kein Problem sein.«
»Dann ist doch alles in Ordnung.«
»Klar. Alles gut.«
»Ich denke, das wird dir sehr guttun. Dann kannst du vielleicht mal in Ruhe überlegen, wo du im Leben hinwillst. Immerhin gehst du auf die dreißig zu und kannst ja nicht für immer in dem Laden versauern.«
Wo ich im Leben hin will? Keine Ahnung. Ich bin erst siebenundzwanzig, hat das nicht noch Zeit? Meine kleine innere Stimme behauptet auch, ich solle mir endlich überlegen, was ich machen möchte.
»Ich meine, du hast Weinbau studiert, oder nicht? Wo könntest du dein Wissen besser einsetzen als auf einem Weingut?« Zoes blaue Augen blitzen auf.
»Mhh.« Langsam schwenke ich meine Tasse und beobachte den Tee, wie er dabei das Licht reflektiert.
Ich liebe das Weingut, auf dem ich aufgewachsen bin, liebe die Weinberge und ich liebe auch die Arbeit dort. Trotzdem brauchte ich eine Pause. Doch diese Pause hat sich ausgeweitet und ist gewachsen. Immer weiter. Bis sie schließlich keine Pause mehr war, sondern ein Abschied.
Aber wer weiß, vielleicht tut mir etwas Abstand zum Alltag ganz gut.
Ein paar Tage später lenke ich den Wagen nach einer fast zweistündigen Fahrt auf die Kieseinfahrt, die zum Weingut meiner Eltern führt. Schon als Kind habe ich das Geräusch der knirschenden Steine geliebt. Die Fliederbüsche, die den Weg säumen, fangen bereits langsam an zu blühen. Kurz fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt, und ein sanftes Kribbeln macht sich in mir breit. Eine brodelnde Mischung aus Vorfreude und Nervosität.
Ich stelle den Wagen neben dem Haus auf einen der freien Parkplätze und steige aus. Nur ein einziges anderes Auto steht neben meinem, offenbar sind derzeit nicht viele Gäste da.
Ich nehme meine Tasche und gehe hinüber zum Eingang. Das große Gebäude mit den weißen Sprossenfenstern hat sich nicht verändert, seit ich das letzte Mal hier war. Die Fassade aus Naturstein wirkt gleichzeitig edel und zugleich geschichtsträchtig, das hat mir immer schon gefallen. Aber unser Zuhause hat eben auch eine lange Historie hinter sich. Schon mehrere Generationen der Familie Lorenz haben hier gelebt und gearbeitet.
Kurz schließe ich die Augen und höre, wie der Wind in den Blättern des Flieders rauscht und das Zwitschern der Vögel wie ein sanftes Lied erklingt. Mich erfasst eine lange nicht dagewesene Ruhe, als ich einen tiefen Atemzug nehme und einfach der Natur lausche. Ich liebe mein Zuhause. Schon als Kind habe ich es als Privileg verstanden, hier groß werden zu dürfen. Am liebsten saß ich in der Reifenschaukel an der Eiche hinterm Haus und genoss einfach die Geräusche.
Ich krame meinen Schlüssel aus der Tasche und öffne die Eingangstür. Obwohl ich lange nicht mehr hier war, habe ich es trotzdem nie über mich gebracht, den Schlüssel meines Elternhauses abzugeben.
»Hallo, Fiona!« Meine Mutter kommt mir lächelnd aus der Küche entgegen und wirft sich ein kariertes Handtuch über die Schulter. Dieser Moment ist so seltsam vertraut, dass es fast skurril wirkt. Sie zieht mich in eine feste Umarmung, die man ihrer schmalen Gestalt nicht zutraut. Ohne ein weiteres Wort streicht sie mir kurz über den Rücken, nimmt meine Tasche und schiebt mich sanft in Richtung Küche. Dort setze ich mich auf einen der hellbraunen Stühle, die um den runden Esstisch stehen, und ehe ich‘s mich versehe, steht ein großer dampfender Becher Tee vor mir. In der Mitte des Tisches steht ein Blumengesteck, das einen süßlichen Duft verströmt. Meine Mutter liebt es zu dekorieren und alles mit Blumen vollzustellen.
»Schön, dass du gekommen bist.«
Ich nicke und puste den Dampf über der Teetasse weg. Seit meiner Kindheit ist es meine Lieblingstasse, die rosafarbene mit dem verblichenen Regenbogen in Pastellfarben.
»War es wirklich in Ordnung, so kurzfristig freizubekommen?«
»Ja. Carolin ist sehr nett und hat die Situation direkt verstanden. Alles gut.«
Meine Mutter schaut auf die Küchenuhr, die über der Tür hängt und zuckt kurz zusammen.
»Es tut mir leid, ich habe gleich einen Termin. Total blöd, wo du gerade erst angekommen bist.« Sie seufzt. »Wäre es in Ordnung, wenn du mit Krümel eine Runde gehst?«
Entschuldigend lächelt sie mich an, und ich erwidere es automatisch. »Klar.«
Beim Klang seines Namens quietscht die Tür, und der dunkelbraune Labrador schlurft herein. Er scheint jetzt erst zu bemerken, dass ich angekommen bin, denn er kommt schwanzwedelnd zu mir und legt den Kopf auf mein Bein.
»Hallo, Dickerchen.« Ich kraule seinen Kopf, und er schaut mich aus seinen dunkelbraunen Augen ruhig an. »Wollen wir gleich eine Runde laufen? Zur Kapelle vielleicht?«
Ein Seufzen meiner Mutter lässt mich aufsehen.
»Es ist total schön dort. Solange sie noch steht, will ich es auch genießen«, verteidige ich sofort meinen Lieblingsort.
Meine Mutter hat sich wieder an die Spüle gestellt und wischt über den Wasserhahn. »Nichts als Ärger hat uns das blöde Ding gebracht. Wir hätten es schon viel früher abreißen lassen sollen.« Sie schnalzt mit der Zunge. »Nach dem, was dir damals passiert ist, frage ich mich, warum du überhaupt noch dorthin gehst.«
Angst krabbelt meinen Nacken hinauf und hinterlässt eine Gänsehaut.
»Ach das ...« Ich höre selber das Krächzen in meiner Stimme.
Es stimmt, ich habe schlechte Erfahrungen in der Kapelle gemacht. Doch trotzdem war ich immer gerne dort. Von außen. Die alte Kapelle am Rande unseres Grundstücks hat mich schon immer angezogen. Diese ganz spezielle Atmosphäre schenkt mir eine besondere Art Ruhe. Allerdings geht es den wenigsten Menschen so. Die meisten finden das Gebäude gruselig. In meiner Jugend gab es immer wieder Idioten, die meinten, man könnte dort prima Mutproben veranstalten. Wer traut sich in der Nacht zur verfluchten Kapelle? Wer legt sich mit auf die Lauer und sucht nach der weißen Frau?
Manchmal habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, sie zu erschrecken. Ein kleines Schmunzeln legt sich auf meine Lippen, als ich an die schockierten Gesichter und das Gekreische der coolen Jungs denke. Vor allem die Kumpels meines Bruders habe ich dort häufiger verscheucht. Angsthasen.
Ich nippe vorsichtig an meinem Pfefferminztee, und das heiße Getränk rinnt wohltuend meinen Hals hinunter. Mein Blick geht aus dem Fenster und fällt auf das einzelne fremde Auto. »Sind im Moment nicht viele Gäste hier?«
Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Nein. Ehrlich gesagt, haben wir in letzter Zeit immer weniger Gäste. Es werden auch immer weniger Weinproben.« Sie seufzt. »Es sind nur drei Zimmer belegt im Moment.«
Ich horche auf. Die Stimme meine Mutter klingt sehr resigniert, und eine dunkle Vorahnung macht sich in mir breit. Es hat Zeiten gegeben, da haben meine Eltern überlegt, ein eigenes Gästehaus zu bauen, um die Gäste nicht mehr im hinteren Gebäudeteil unseres Hauses unterbringen zu müssen. Was ich durchaus begrüßt hätte. Zwar hatten die Gäste einen eigenen Bereich, trotzdem habe ich mich als Jugendliche manchmal etwas gehemmt gefühlt, wenn ich wusste, dass fremde Menschen in unserem Haus waren.
»Was ist denn los?«
»Ach Liebes, lass uns doch heute Abend sprechen, wenn dein Vater dabei ist, ja?«
Ich nicke langsam, und das ungute Gefühl verstärkt sich. Meine Mutter war immer schon ein Freund der direkten Worte und hatte es nie nötig, ihren Mann als Unterstützung heranzuziehen. Vorsichtig schiele ich zu ihr hinüber, während sie an ihrer gepunkteten cremefarbenen Bluse herumzupft. Dadurch, dass ihr Haar noch immer größtenteils dunkelblond und zu einer schicken Kurzhaarfrisur geschnitten ist, wirkt sie deutlich jünger als ihre siebenundfünfzig Jahre. Doch in ihr Gesicht haben sich einige Falten gegraben, und nun schaut sie sorgenvoll aus dem Fenster.
Ich drehe meine Tasse in den Händen und betrachte den Regenbogen darauf, der nach physikalischen Gesichtspunkten natürlich vollkommen inakzeptabel ist. Aber ich habe sie von meiner Uroma zur Einschulung bekommen. Kurz danach ist die stille Frau gestorben, und so ist diese Tasse wie ein letztes Erinnerungsstück an sie. Wobei ich mich nur sehr vage erinnern kann. Manches mögen auch einfach nur Erzählungen sein. Aber ich weiß noch, wie sie an guten Tagen mit mir zur Kapelle spaziert ist und wir gemeinsam dort auf der Bank gesessen haben. Sie war kein Mensch vieler Worte, aber ihre ruhige Liebe kann ich auch heute noch spüren, wenn ich den Ort besuche.
Aus heutiger Sicht fällt es mir schwer zu verstehen, warum sie sich so gerne dort aufgehalten hat, immerhin wurden doch auch über sie selbst schlimme Geschichten erzählt. Geschichten, die sich darum drehen, dass diese liebevolle und besonnene Frau ihren Mann umgebracht haben soll. Vollkommener Blödsinn natürlich. Die Leute waren nur immer neidisch, weil sie in der damaligen Zeit als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern alles so hervorragend im Griff hatte und das Weingut sehr schnell nach dem Krieg wieder richtig gut dastand. Das haben ihr viele übel genommen. Und so wie die Menschen eben sind, neidisch und missgünstig, haben sie ihr dann solche fiesen Gerüchte angedichtet, um wenigstens ihren Ruf zu schädigen.
Aber trotzdem war es für sie sicher nicht angenehm, Gegenstand des Dorfklatsches gewesen zu sein. Ich bewundere sie für ihre Courage, dass sie sich von nichts und niemandem hat unterkriegen lassen und einfach ihr Ding gemacht hat. Ganz egal, was die anderen sagen.
Ein tiefes Brummen lässt mich aus meinem Gedanken auftauchen. Krümel.
»Ach du, sollen wir los? Ja?«
Sein Schwanzwedeln ist Antwort genug.
»Gut, dann machen wir uns auf den Weg.«
»Danke.« Meine Mutter schenkt mir ein warmes Lächeln und steht auf. »Ich sollte jetzt auch losfahren.« Sie drückt meinen Arm. »Schön, dass du hier bist.« Damit geht sie an mir vorbei in den Flur. »Die Leine hängt an der Garderobe, bis später!«, ruft sie mir noch zu, dann höre ich die Tür ins Schloss fallen.
»Nun gut«, wende ich mich dem Hund zu. »Dann sind es nur noch wir zwei.«
*
1938
Kerzengerade stand Luise neben ihren Geschwistern auf dem Hof und schaute dem dunklen Wagen hinterher, der nun auch ihre Mutter fortnahm.
Auch wenn sie bereits vor fast zwei Tagen friedlich gestorben war, wurde es nun erst richtig real. Jetzt, wo nicht nur ihre Seele, sondern auch ihr Körper das Haus verlassen hatte.
Eine kleine, tränenfeuchte Hand schob sich in ihre und sie presste die Kiefer so fest aufeinander, dass sie glaubte ihre Zähne müssten zerspringen.
»Wann kommt Mami zurück, Luise?«, fragte Margarete, und ihrer Stimme war die Trauer anzuhören, die Luise so tief wie möglich in sich verschlossen hielt. Immerhin war sie die Älteste, sie musste stark sein. Für ihre Geschwister und auch für sich selbst.
»Sie kommt nicht zurück.« Es war Fritz, der ihr die Antwort abnahm. Luise warf ihrem Bruder einen tadelnden Blick zu, den er jedoch nicht bemerkte. Seine blauen Augen waren auf den Hof gerichtet. Er hatte schon immer seine Gefühle gut verbergen können. Sogar vor ihr.
»Ist das wahr?« Margaretes riesengroße Kulleraugen waren nun auf sie gerichtet. Seufzend drückte sie die Hand ihrer kleinen Schwester.
»Mama ist jetzt beim lieben Gott. Von dort wird sie gut auf dich aufpassen, mach dir keine Sorgen.«
»Dann ist sie bei Papa?« Das kleine Mädchen zog einen Flunsch und die Unterlippe zitterte dabei.
»Ganz genau.« Luise rang sich ein Lächeln ab und versuchte, zuversichtlich zu wirken. Doch es war schwer, Zuversicht zu vermitteln, wenn sie einem selbst fehlte.
»Das ist ja schön, dann ist Papa auch nicht mehr allein. Dann können die beiden jetzt zusammen mit dem lieben Gott spielen.«
In Margaretes Augen trat ein Funkeln, und Luise musste schmunzeln. Kinderseelen erkannten Dinge mit einer Leichtigkeit, die den Älteren bereits verloren gegangen war.
»Kommt, wir sollten reingehen.« Langsam wandte sie sich ab und zog ihre Schwester mit sich.
»Ich geh noch in den Stall«, flüsterte Hannelore die mit ihren dreizehn Jahren schon deutlich mehr von der prekären Situation verstand als die fünfjährige Margarete.
»Aber nicht mehr lange, es wird gleich dunkel«, mahnte Luise halbherzig. Sie wusste, dass Hannelore vermutlich die halbe Nacht bei den Pferden verbringen würde, so wie sie es einst selber getan hatte. Doch diese sorglosen Zeiten waren lange vorbei. Ihr Blick glitt über den Hof und blieb schließlich an ihren Geschwistern hängen, die wie sie selbst vor der Haustür standen. Die neunjährige Ingrid hatte sich heute den Tag über deutlich zusammengerissen, sicher würde es nicht mehr lange dauern und sie würde zusammenbrechen. Aber Ingrid machte die großen Gefühle lieber mit sich aus. Sie würde warten, bis Margarete schlief, erst dann würde sie ihrer angestauten Trauer Raum geben.
Luise seufzte. Wie sollte es weitergehen? Wie konnte sie die Seelen ihrer Geschwister nun beschützen? Sie sah in den Himmel, an dem sich die beginnende Dämmerung abzeichnete. Bald würde das Firmament voll von ewigen Sternen leuchten. Neben ihnen wirkten ihre Sorgen vergänglich und nicht mehr so schwerwiegend. Der Gedanke hatte etwas Tröstliches. Sie schluckte. Wie oft hatte sie mit ihrem Vater in die vermeintliche Dunkelheit gestarrt und über bekannte und weniger bekannte Sternenkonstellationen zu diskutieren. Nun schien es wie eine Erinnerung aus einem anderen Leben zu sein.
Fritz fing ihren Blick ein, er verstand genau, was in ihr vorging. Wie immer. Sie lächelte, sie musste nicht alles alleine regeln. Ein Hauch Dankbarkeit wallte in ihrem Herzen auf.
»Ingrid, gehst du bitte mit Margarete zu Bett?«
Ausnahmsweise nickte diese stumm und gab nicht wie üblich unendliche Widerworte, um die Zeit so gut es ging hinauszuzögern. Ingrid nahm ihre kleine Schwester an die Hand, und die beiden verschwanden im Inneren des Hauses.
»Also, wie schlimm ist es?«, fragte Fritz, dem nicht entgangen war, dass Luise einen Moment mit ihm allein sein wollte.
Langsam atmete sie aus und ließ den Blick über den Vierkanthof schweifen. Gegenüber dem Haus lagen die Ställe, in denen gerade Hannelore mit hüpfenden Zöpfen verschwunden war.
»Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll«, gestand sie ehrlich, denn vor ihrem Bruder hatte sie keine Geheimnisse. Ihre Lippen begannen zu beben, und Luise presste die Hände zusammen. Sie bemühte sich, tief durchzuatmen und merkte, wie ein Teil der Anspannung, den sie den ganzen Tag über in sich getragen hatte, von ihr abfiel. »Ich bin nicht volljährig. Wer weiß, wie viel Zeit sie uns lassen, aber sie werden kommen.«
Fritz vergrub die Hände in den Taschen und kickte mit dem Fuß einen kleinen Stein vor sich her. »Und das bedeutet?«
»Kinderheim.« Luise seufzte, und ihr Herz schlug schwer in ihrer Brust. »Sie werden uns alle in ein Heim bringen. Vielleicht haben wir Glück und kommen alle zusammen ins St. Anna.« Oder aber sie würden nach Mädchen und Jungen getrennt untergebracht. »Es wären nur vier Jahre, bis ich einundzwanzig bin. Dann kann ich eure Vormundschaft übernehmen.«
Ein Brummen war alles, was er zur Antwort gab. Als er den Stein zum wiederholten Male anstieß, blickte sie auf und erkannte eine Gestalt, die auf dem Weg zum Hof auf sie zukam.
Luise legte den Kopf schief. »Ist das Frau Höfer?«
Fritz stoppte und kniff nun ebenfalls die Augen zusammen. Schließlich zuckte er die Achseln. »Möglich.«
Tatsächlich, an dem leicht schiefen Gang der Person ließ sich zweifelsfrei erkennen, dass es sich um die Haushälterin des Pastors handelte.
Sie winkte bereits mit der Hand.
Luise konnte ein Aufstöhnen gerade noch unterdrücken. Seit dem Tod ihrer Mutter meinten es die Dorfbewohner wahrhaft gut mit ihnen. Dauernd kam jemand vorbei und brachte ihnen kleine Aufmerksamkeiten, so als hätten sie sich bei einer Dorfversammlung abgesprochen. Ihre Anteilnahme wusste Luise durchaus zu schätzen, doch waren die Gespräche zumeist sehr anstrengender Natur.
»Hallo, ihr Lieben!«, rief sie in ihrer hohen, fröhlichen Stimme.
»Ich setze schon mal eine Kanne Wasser auf«, brummelte Fritz, klopfte Luise auf die Schulter und ging ins Haus.
»Hallo, Frau Höfer, wie schön, Sie zu sehen.« Lächelnd reichte sie der älteren Frau die Hand.
»Ach, mein liebes Kind.« Trauer schwang in der gerade noch fröhlichen Stimme der älteren Frau mit. »Wie geht es den Geschwistern?«
»Ganz gut. Sie verarbeiten es alle auf ihre eigene Weise.«
»Es ist wirklich bewundernswert, wie du das alles schaffst.«
Luise nickte nur. Davon würde sie sich nichts kaufen können. Und ihre Geschwister auch nicht. Sie war nicht volljährig, das war alles, was für das Amt zählte.
Frau Höfer schien noch mehr auf dem Herzen zu haben, also geleitete Luise die Dame zur Haustür.
»Kommen Sie doch mit herein, mein Bruder bereitet gerade einen Tee vor.«
Luise glaubte, einen Hauch Missbilligung in dem Gesicht der Frau zu erkennen.
»Vielen Dank, sehr gern«, gab sie jedoch zur Antwort.
Schweigend betraten sie das ruhige Haus, und warme Luft schlug ihnen entgegen. Offenbar hatte Fritz nicht nur Wasser aufgesetzt, sondern auch das Holz in den Kaminen angezündet. Hannelore hatte erst am Morgen alle Kamine ausgefegt und vorbereitet. Im Grunde für diese Jahreszeit eine Verschwendung von Feuerholz, doch sie war ihnen dennoch dankbar. Nach diesem Tag hatten sie ein wenig Gemütlichkeit verdient.
Luise führte Frau Höfer in das Wohnzimmer und bot ihr einen Platz auf dem geblümten Sofa an. Dann setzte sie sich selbst auf einen der neu bezogenen, roten Stühle.
»Wie kommen wir zu der Ehre Ihres Besuches?« So spät am Abend, wenn meine Geschwister bereits im Bett sind, dachte sie.
Nun schlich sich doch eine Trauermiene in die Züge der Haushälterin, und Luise ahnte nichts Gutes.
»Weißt du schon, wie es jetzt weitergeht?«
Luise verschränkte die Hände ineinander und schüttelte den Kopf. Über nichts anderes hatte sie sich in den letzten Stunden Gedanken gemacht, doch hatte sie auf etwas mehr Zeit gehofft.
Die Frau nickte, als hätte sie genau das erwartet. »Ich habe mit meiner Schwester korrespondiert. Sie arbeitet im St. Anna in der Stadt.« Mitleidig verzog sie den Mund. »Leider ist es dort sehr voll, ihr werdet nicht alle unterkommen können.«
Es entstand eine Pause, die Fritz dankenswerterweise unterbrach, als er den Tee hereinbrachte. Krampfhaft bemühte Luise sich, Haltung zu bewahren und sich den inneren Aufruhr nicht anmerken zu lassen. Ansonsten wüsste am nächsten Tag jeder im Dorf davon. Obwohl ihre Hände eiskalt waren und sich ein fester Knoten in ihrem Bauch gebildet hatte, rang sie sich ein Lächeln ab.
»Es wird sich eine Lösung finden lassen.« Um ihre Finger zu beschäftigen, nahm sie die Kanne und goss Frau Höfer und sich selber etwas von der dampfenden Flüssigkeit ein. Fritz hatte sich hinzugesetzt und saß nun mit verschränkten Armen auf dem dunklen Sessel, der neben dem Sofa stand.
Frau Höfer beäugte Luise kritisch, faltete aber schließlich die Hände im Schoß. »Kannst du dich nicht darum bemühen, dass dir die vorzeitige Volljährigkeit zugesprochen wird?«
Luise wiegte den Kopf. »Es dauert noch einige Monate, bis ich achtzehn werde. Sicherlich werde ich es aber versuchen, damit die Zeit, die meine Geschwister in einem Heim womöglich getrennt voneinander verbringen, so kurz wie möglich ist.«
Frau Höfer nickte. »Ich wüsste da vielleicht noch eine Möglichkeit.«
Luise hielt mitten in der Bewegung inne, wobei ihr beinahe der Tee überlief. Sorgsam stellte sie die Kanne ab und versuchte, ihr viel zu schnell schlagendes Herz zu beruhigen.
»Der alte Jan hat neulich beim Bauer Max erzählt, dass es einen Junggesellen gibt, der nach einer Frau sucht.«
Luise presste die Lippen zusammen. Sie ahnte, worauf das hinausläuft.
Frau Höfer runzelte die Stirn, und ihr Blick ging in die Ferne. »Ich weiß nicht mehr, wie er heißt und auf welchem Hof er lebt. Aber der Max sagte, er sei ein patenter Bursche. Wenn du möchtest, frage ich noch mal nach.«
»Das wäre sehr freundlich«, presste Luise hervor. Das war möglicherweise die einzige Möglichkeit, das Kinderheim abzuwenden, und doch verfestigte sich bei dem Gedanken daran der Kloß in ihrem Bauch. Sie mied den Blick ihres Bruders, seine Meinung dazu konnte sie ohnehin in ihrem Kopf hören.
Natürlich glaubte sie an die romantische Liebe, schließlich hatte sie genug Bücher gelesen. Allerdings wusste sie tief in ihrem Inneren, dass die Liebe zu ihren Geschwistern größer war, als es die Hoffnung auf eine erfüllende Liebe zu einem Mann war. Wenn sie ihren Geschwistern das Leben ermöglichen konnte, das sie verdienten, würde sie dafür jede Mühsal in Kauf nehmen.
Lächelnd nahm Frau Höfer einen Schluck Tee. »Ich werde mich gleich morgen erkundigen. Das wird schon.«
Luise zwang sich ein Lächeln ab, von dem sie hoffte, dass es nicht so falsch aussah, wie es sich anfühlte. Die Möglichkeit einer Heirat schwirrte schon eine Weile in ihrem Hinterkopf. Eigentlich schon, seit sie das erste Mal Blut in den Taschentüchern ihrer Mutter gesehen hatte. Aber da hatte sie noch Hoffnung gehabt.
*
Krümel schleicht neben mir durch die Weinberge, und ich betrachte ihn nachdenklich. Wehmut kriecht in mir hoch. Ich war ein Teenager, als wir ihn als Welpen bekommen haben. Wir haben viel gespielt, und ich habe ihn heimlich in meinem Bett schlafen lassen. Jetzt zeigen sich bereits weiße Haare in seinem Gesicht.
Die Frühlingssonne über uns leuchtet und wärmt meine Haut, ist aber noch nicht so drückend, dass es unangenehm wäre. Das Gezwitscher der Vögel ist das Einzige, das die Stille um uns herum durchbricht.
Ich schließe kurz die Augen und sauge all dies auf, bis in die tiefen Winkel meiner Seele. Mit jedem Atemzug spüre ich eine Gelassenheit, die mich ausfüllt und erdet. Möglicherweise war meine Pause wirklich zu lang und ich war wirklich zu lange nicht mehr hier gewesen.
Der Weg führt uns durch die Weinberge an verschiedenen Wingerten vorbei. Sie alle gehören verschiedenen Familien, die ich zum größten Teil selber kenne. Zur linken wird der Weinbau durch kleine Natursteinmauern abgegrenzt, rechts kann ich die Mosel sehen, die sich stetig durch die Landschaft zieht. Wir gehen langsam aufwärts, und es dauert noch einige Minuten, bis vor uns schließlich die dunklen Steine der alten Kapelle auftauchen. Hier oben sind die meisten Wingerte unsere. Die Kapelle steht auf unserem Grundstück, wurde sie auch von einem meiner Vorfahren gebaut.
Krümel stromert noch durch die Gegend, während ich mich auf die Holzbank setze, die vor der Kapelle steht. Von hier aus hat man einen wunderschönen Ausblick auf unsere Weinberge. Ich lasse meinen Blick über die akkurat errichteten Reihen schweifen, wie die kleinen Stämme sich der Sonne entgegenrecken. Bilder ziehen vor meinem inneren Auge vorbei, in denen ich durch die Reihen gelaufen bin und mit Jochen fangen gespielt habe. Oder wie ich später meinen Opa beobachtet habe, wie er die Reben gebunden hat. Ich weiß noch genau, mit welcher Hingabe und Achtsamkeit er sich jedem einzelnem Stock widmete. Als ich noch klein war, war auch mein Großonkel dabei. Er war der Bruder meines Opas, und die beiden hatten immer eine ganz besondere Beziehung zueinander. Leider ist er kurz nach meiner Uroma verstorben, und ich glaube diese beiden Tode hintereinander haben meinen Opa nachhaltig getroffen. Er war danach nie wieder so fröhlich wie zuvor.
Von hier aus kann ich bis hinunter zu unserem Hof sehen. Sogar die dicke Eiche mit der Reifenschaukel erkenne ich. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich dort meine Zeit verbracht habe. Mit ein paar Kissen konnte ich ganz wunderbar bequem in dem Reifen liegen und lesen. Als Jugendliche habe ich Bücher nur so verschlungen. Es war wie eine Flucht. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie es begonnen hat, aber irgendwann fingen die anderen Jugendlichen aus dem Ort an, die alten Geschichten über meine Uroma herauszukramen. Gemeine Geschichten. Aber dabei beließen sie es nicht. Sie zogen auch meine Mutter und mich mit rein, als ob wir etwas mit der Geschichte zu tun gehabt hätten.