Das gefährlichste Land der Welt
Und andere Reisegeschichten, die wehtun
Robin Simon
Copyright © 2024 Robin Simon
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[email protected] rights reservedDie in diesem Buch beschriebenen Personen wurden namentlich geändert, Ereignisse enthalten fiktive Elemente. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen, ob lebend oder tot, ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln, sei es elektronisch, mechanisch, durch Fotokopieren, Aufzeichnen oder auf andere Weise, übertragen werden.ISBN-13: 9781234567890ISBN-10: 1477123456Cover design: Robin SimonLibrary of Congress Control Number: 2018675309
Für Petra Seybold-Powane
Contents
Title Page
Copyright
Dedication
Auf Krücken durch Sumatra
Gastfreundschaft mit Maschinen-gewehr
Über Mate-Tee und Busfahrten
Als die Wohnung brannte
Berühmt in Bukarest
Man sollte mehr über das Fliegen nachdenken
Gorillas im Regen
Warum man ältere Menschen mit auf die Bärenpirsch nehmen sollte
Per GPS ins Hisbollah-Land
Pamir, Land der platten Reifen
Wenn der Weg mal nicht das Ziel ist
Das gefährlichste Land der Welt
Über Wölfe und Selfies
Ein Mango Lassi zu viel
Der freundliche Schläger
Fox Fire Waitress
Das Rätsel der vielen Tankstellen
Metallica und der Lamm-Anus
Nach dem Unfall ist vor dem Unfall
HBO und Duschtoiletten
Zuerst die Kinder
Das trockenste Volk der Welt
Fish, Chicken or Shrimp?
Leben auf der Überholspur
Der frühe Vogel fängt rein gar nichts
Von Drachen und Röntgenbildern
Heute habe ich alles gesehen
Epilog
About The Author
„Das Vorwort ist die Schrotflinte der Hoffnung!“
Patrick Gergen
Nur soviel: Was während der beschriebenen Reisen die Realität war, mag heute ganz anders aussehen. Das betrifft Sehenswürdigkeiten, Informationen, aber auch Menschen und Kultur. Dieses Buch ist kein Reiseführer, sondern eine Ansammlung von Geschichten zum jeweiligen Zeitpunkt. Namen wurden geändert.
Auf Krücken durch Sumatra
Indonesien, 2012
„Meine Ex-Freundin war Krankenschwester“, informiert mich Lamat auf Englisch, nachdem ich ihn nach seiner genauen Qualifikation zum Arzt frage. Lamat trägt dicke Goldketten und eine dunkle Sonnenbrille, raucht ungefilterte Zigaretten der Marke International und ist etwa Ende zwanzig Jahre jung. Der Qualm steigt mir in die Nase. „Aus Deutschland war sie, wir waren etwa drei Monate zusammen“, klärt er mich auf. Damit ist er im Dorf derjenige mit der umfangreichsten medizinischen Ausbildung. Und daher der unangefochtene Arzt im Dorf. Gerade liege ich auf einem wackligen Tisch, mehrere erwachsene indonesische Männer halten mich fest, während Lamat mir den geschwollenen Knöchel massiert. Der Tisch ist uneben, drückt mir in den Rücken und riecht nach getrocknetem Bier. Mein rechter Fuß ist ein dicker blauer Klumpen und Lamat massiert den Bluterguss mit kräftigen Fingern. Die Schmerzen sind unerträglich, mein „Arzt“ scheint allerdings zufrieden mit dem Ergebnis. Die Männer um mich herum freuen sich auch sichtbar: mein Guide Doni, Nordin und die anderen. Nach ein paar Minuten ist die Tortur vorbei, und ich gehe davon aus, nie mehr meinen Fuß bewegen zu können. Meine Backen sind verklebt von all den Tränen, meine Stimme heiser wie nach einem Death-Metal Konzert, aber irgendwie fühle ich mich gut, wie ein Sechsjähriger, der gerade mitten in der Nacht auf einen Lego-Stein getreten ist, laut aufheult, dann aber bemerkt, dass er gerade das fehlende Teil für den Feuerwehrwagen gefunden hat. So in etwa.
Wir sind hier in Bukit Lawang, einem kleinen Dorf, das sich mitten im Dschungel im Norden Sumatras versteckt – ein Ort, den eigentlich nur ein paar entspannte Backpacker oder Orang-Utans selbst auf der Landkarte finden. Warum bin ich hier? Nun, ich träume schon lange davon, diese seltenen Tiere in freier Wildbahn zu sehen, tief im indonesischen Dschungel. Die Anreise ist allerdings etwas mühsam, da es keine Direktflüge aus der Schweiz oder aus Deutschland nach Medan gibt. Für mich ging es zuerst nach Doha (Katar) und dann weiter nach Kuala Lumpur (Malaysia), von dort weiter mit einem Billigflieger der Air Asia nach Medan auf Sumatra (Indonesien). Dementsprechend übermüdet war ich dann auch bei der Ankunft.
In Medan wurde ich einige Tage zuvor von Doni abgeholt, meinem Guide für die Dschungel-Expedition. Der Plan war, vier Tage im dichten Dschungel zu verbringen, dort zu übernachten, ohne andere Touristen und das Ganze möglichst nachhaltig (was schwierig wird nach zwölftausend Kilometern Flug). Doni hatte ich durch verschiedene Recherchen im Internet gefunden. Er gilt als Tierfreund, Umweltschützer und bei jeder seiner Touren pflanzt er einen Baum im Dschungel an, einen Mangobaum, als kleines Symbol gegen die vielen abgeholzten Wälder. Die Beschreibung gefiel mir gut, die Planung mit ihm ging sehr einfach und unkompliziert, und siehe da, er stand tatsächlich in Medan am Flughafen, breit grinsend, Zigarette im Mundwinkel. Donis Haare standen in alle Himmelsrichtungen, er war klein und hager, ein paar schlecht gestochene Tattoos zierten seine dünnen Oberarme und auf seinem löchrigen T-Shirt war eine bekannte Motorradmarke abgebildet. Das „Abholen“ stellte sich dann eher als „Begleitung“ heraus, denn er hatte kein eigenes Auto. Stattdessen gingen wir zusammen zum Busbahnhof, wo wir dann in einen maßlos überfüllten Minibus einstiegen, mit dem Ziel: Bukit Lawang. Meine Laune: hervorragend.
Die holprige Fahrt dauerte einige Stunden. Es war weder bequem noch kühl. Die offenen Fenster trugen heißen Wind und Staub ins Fahrzeug und ich saß dicht an dicht zusammengequetscht. Doni quasselte durchgehend, was mir ganz gelegen kam, und bedeutete, dass ich nicht so viel sagen musste und mich viel mehr mit verlegenen Blicken auf die unfassbar schöne, junge Frau eine Reihe vor mir konzentrieren konnte. Sie hatte ein buntes Kopftuch um und ein schmales, hübsches Gesicht. Eine Haarsträhne fiel ihr über die Stirn, und sie trug eine ganze Menge Ketten und bunte Bänder an beiden Armen. Sie war auf dem Weg in den Norden Sumatras, dem ehemaligen Rebellengebiet Aceh, das Weihnachten 2004 grausam vom Tsunami getroffen wurde und dadurch traurige Bekanntheit erlangte, als mehr als einhundertdreißigtausend Menschen alleine in Indonesien ihr Leben verloren. Tsunami, Rebellen, Vulkane und Vorurteile sind sicherlich einige der Hauptgründe, warum Touristen weiterhin der Gegend fernbleiben. Zu allem Übel kommt es in Bukit Lawang immer wieder zu heftigen Überschwemmung, begünstigt durch skrupellosen Raubbau an den Wäldern und damit der Zerstörung der Flussvegetation. So starb vor einigen Jahren auch Donis Mutter in den Fluten. Wirtschaftliche Interessen und illegale Abholzung bleiben in der Region weiterhin pro-blematisch.
Die Fahrt ging fast ausschließlich entlang endloser Palmölplantagen, die Speisefett für berühmte Nuss-Nugat-Cremes liefern, wodurch dicke Kinder namens Meret und Joshua noch dicker werden und die leider keinen guten Einfluss auf den Lebensraum der letzten Orang-Utans haben. Kurz gesagt: Es gibt nur noch wenige dieser wunderbaren Geschöpfe auf der Welt, und damit meine ich die Affen, nicht Meret oder Joshua, denn der Dschungel, ihr Rückzugsort, wird gnadenlos abgeholzt. Die verhungernden Tiere, die sich aus Verzweiflung an die Früchte der Bauern machen, werden dann erschossen und die süßen, kleinen Babys werden an fette, neureiche Menschen vorwiegend aus Asien oder der arabischen Welt verkauft, wo sie dann genauso fett werden und an Leberversagen zugrunde gehen. Ich spürte, wie die Wut in mir aufstieg, beim Anblick der perfekt organisierten Palmölplantagen. Indonesien ist der weltweit größte Produzent von Palmöl.
Die junge Muslimin vor mir im Bus würdigte mich übrigens keines Blickes. Sie schien sich für allerlei Dinge zu interessieren, nur ich war anscheinend nicht auf der Liste. Irgendwann redete ich mir ein, dass sie einfach zu schüchtern sei. Allerdings schien sie sich mit den anderen jungen Männern im Bus prächtig zu verstehen. Etwas zu prächtig, wie mir schien. Da wurde gelacht, diskutiert und sogar Essen ausgetauscht.
Am kleinen Busbahnhof mussten wir dann noch einmal umsteigen, in ein furchtbar lautes und augenbetäubend buntes Tuk-Tuk, das uns dann schließlich zum eigentlichen Ziel brachte, Bukit Lawang. Ich war bereits recht müde von der langen Reise, und auch nicht mehr der Frischeste. Das Dorf Bukit Lawang bestand aus vielen kleinen Hütten und war von einer durchgehenden Straße verschont geblieben. Stattdessen führte ein schmaler Fußweg, etwa einen Kilometer lang, an gemütlichen Hostels und Restaurants mit Palmblattdächern vorbei. Zur Linken erstreckte sich der reißende Fluss, dessen klare Gewässer wild zwischen den Ufern tobten. Die steilen Hügel des Dschungels erhoben sich majestätisch zur Rechten. Überall spielten Kinder, und die Einheimischen grüßten freundlich, ohne aufdringlich zu sein. Ein verführerischer Duft nach Gewürzen, Fisch und süßen Früchten lag in der Luft. Mein Gepäck, das stolze fünfzehn Kilogramm wog, machte sich schon nach wenigen Metern bemerkbar. Das Green Hill Hostel lag fast am Ende des Dorfes, und nach einer Viertelstunde Fußweg kam ich völlig verschwitzt an. Doch die Strapazen hatten sich gelohnt, denn oben am Hang des Dorfes erwartete mich eine eigene kleine Hütte mit einem atemberaubenden Blick auf den reißenden Fluss und die dichten Wälder.
Dort wartete auch schon Anja. Sie sah gut aus, mit ihren gelockten, roten Haaren, dem bunten Rock, dem Fruchtsaft vor sich und der Zigarette in ihrer Hand. „Lange her“, sagte sie lächelnd, und wir umarmten uns. Anja kannte ich aus alten Tagen im Studium. Sie verließ im Anschluss Deutschland für ein Jahr, arbeitete in Neuseeland in einer Design-Agentur und war am Ende für zwei Monate auf einer Asienreise unterwegs. Ich erfuhr zufällig auf Facebook davon, berichtete ihr von meiner geplanten Reise und sie beschloss spontan, für ein paar Tage dazuzustoßen. Und hier saßen wir also, am Ende der Welt. Ich bestellte einen Papaya-Shake und heiße Kartoffeln mit scharfer Tomatensoße und wir beobachteten den Wald vor uns. In diesem Moment fühlte ich mich sehr glücklich. Es gibt diese Momente, nichts Bestimmtes passiert, aber alles passt wunderbar zusammen, der Kopf ist frei und man ist ganz vor Ort. Dazu noch ein frischer Papaya-Shake und nichts kann mehr schiefgehen. Außer, dass ein scharfer Zwiebelgeschmack meine Freude trübte, denn scheinbar wurde die Papaya mit dem Gemüsemesser zerlegt.
Kurz danach ging das Unwetter los. Es regnete heftig, es windete, und in der Ferne hörte man das grollende Gewitter. Allerdings genoss ich den Augenblick. Ich mag Regen, ich mag den Klang und den Geruch von Regen. Und geschützt unter Palmendächern, irgendwo auf Sumatra, fühlte es sich sehr gemütlich an. Wir blieben eine Weile so sitzen und lauschten dem Wetter, bis ich irgendwann das schwere Gepäck in meinen Bungalow schleppte. Ich nahm eine Dusche, allerdings war diese offen an der Seite meines Bungalows angebaut, sodass ich im warmen Regen stand, während ich mich ordentlich einseifte. Eigentlich praktisch. Anjas Bungalow lag direkt neben meinem, und wir verbrachten den Rest des Nachmittags auf meiner großen Veranda, redeten über alte Zeiten und beobachteten die frechen Affen, die von Veranda zu Veranda sprangen, Früchte klauten und sich gegenseitig ärgerten. Und dann fragten wir uns, ob unser geplanter Dschungeltrip auch bei einem solchen Unwetter stattfinden wird.
Am frühen Abend hörte der Regen auf, wir suchten uns ein kleines Restaurant im Dorf aus, mit Blick auf den Fluss und aßen gelbes Curry. Die Gespräche gingen uns nicht aus und ich war froh, dass Anja so spontan entschieden hatte, mitzukommen. Nach dem Essen rafften wir alle Energie zusammen und machten uns auf den Weg, um die kommenden Tage zu organisieren. Zunächst benötigten wir Bargeld, um unseren Guide Doni bezahlen zu können. Das stellte sich als schwieriger heraus, als es klang, denn in Bukit Lawang gab es keinen einzigen Geldautomaten. Wir fragten etwas besorgt herum und erfuhren, dass man dazu in ein benachbartes Dorf fahren muss. Also heuerten wir etwas genervt ein Tuk-Tuk und machten uns auf den Weg ins dreißig Minuten entfernte Borohah. Wer Tuk-Tuks kennt, weiß, dass dreißig Minuten eine lange Zeit sind, dass der Hintern irgendwann weh tut und es laut und anstrengend sein kann. Allerdings waren wir derart auf der engen Rückbank eingeklemmt, dass sich unsere Beine und Arme zwangsweise berührten, was weder mich noch Anja zu stören schien. Flirten auf Indonesisch.
Nachdem wir endlich am Geldautomaten angekommen waren, der PIN-Code funktionierte, wir unser Erspartes in den Händen hielten, und nach einer halben Ewigkeit wieder zurück in Bukit Lawang aufkreuzten, trafen wir letztlich unseren Guide Doni, überreichten ihm den vorab vereinbarten Betrag und er erklärte uns den Ablauf der kommenden Tage. Frühmorgens würden wir unsere Wanderung beginnen, begleitet von drei weiteren Personen: Ein zusätzlicher Guide, der immer einen Schritt vorausgehen würde, um mögliche Tierbegegnungen aufzuspüren, ein fleißiger Träger, der das gesamte Equipment schleppen würde, und nicht zu vergessen, unser kulinarischer Chef in der Wildnis, der Koch. All das nur für uns beide - ein wahrhaftiges Privileg! Am ersten Tag würden wir tief in die unberührte Wildnis des Nationalparks eindringen. Am zweiten und dritten Tag lautete unsere Mission, wilde Orang-Utans zu finden. Unser Camp würden wir immer an derselben strategischen Stelle direkt am Fluss aufschlagen. Hier war der Plan, unter dem funkelnden Sternenhimmel zu schlafen, ohne Zelt und nur von der Natur umgeben. Sicherlich ein unvergessliches Erlebnis.
Während er das erzählte, regnete es wieder in Strömen. „Und was machen wir, wenn es nachts regnet?“, fragte ich ihn etwas beunruhigt. „Dann werden wir eben nass“, erwiderte er. Klang logisch. Anja schaute ein wenig besorgt, das mochte aber auch daran liegen, dass Doni im Anschluss von den vielen Blutegeln im Dschungel berichtete. Eine solche Tour hatte ich bisher nicht gemacht und es klang alles sehr abenteuerlich, vor allem die Schlafsituation. Ich war aufgeregt.
Am kommenden Morgen wachte ich durch lautes Klopfen an meiner Tür auf. 6:00 Uhr zeigte mein altes Handy an. Ich kroch aus dem Bett. Es war Anja, in Unterwäsche. „Meine Dusche geht nicht, darf ich bei dir?“ Klar durfte sie. Also saß ich leicht unentspannt im Bett und wartete, bis sie fertig war, wieder an mir vorbeilief, diesmal ihre Unterwäsche in der Hand, nur ein weißes Handtuch umgewickelt. Nachdem wir uns beide fertig gemacht hatten, im Sinne von „angezogen und Rucksäcke gepackt“, gab es unten auf der Terrasse Porridge mit Honig zum Frühstück und pünktlich um 7:30 Uhr begrüßten wir dann Doni beim Treffpunkt. Der zweite Guide war auch schon da, Nordin hieß er, etwas untersetzt, sehr sympathisch, mit einem Dauergrinsen im Gesicht. Nordins Englisch war nicht so gut, und er war zudem etwas schüchtern. Mit ihm würde ich mich sehr gut verstehen, das wusste ich sofort. Er trug zerrissene Jeans, ein altes Basketball-Jersey und abgelaufene Flip-Flops. Ich in meiner perfekten Wanderausrüstung sah daneben etwas albern aus. Den Träger und den Koch würden wir erst am Abend treffen, sie waren bereits losgelaufen, um alles für unsere Ankunft am Schlafplatz vorzubereiten.
Die Tour konnte also losgehen, allerdings galt es erst einmal, eine circa einhundert Meter lange Hängebrücke zu überqueren. Und wenn ich von einer indonesischen Hängebrücke in Bukit Lawang spreche, dann ist das keine mehrfach mit Schweizer Seilen abgesicherte Fotobuch-Brücke, die ein wenig wackelt und man mit leicht rasendem Herzen darüber hüpft. Sondern es handelte sich um ein paar alte, abgenutzte Seile, rostigen Stangen, die ebendiese Seile festhielten und morschen Holzbrettern, die alle paar Meter eingebrochen waren und einen freien Blick auf den reißenden, schlammigen Fluss unter uns preisgaben. Es kostete mich sehr viel Überwindung, die Brücke zu überqueren, allerdings wollte ich mich nicht schon beim ersten Meter unbeliebt machen. Also stolperte ich mit halb geschlossenen Augen und pochendem Herz über die Brückenreste, während Anja völlig entspannt vor mir herlief, eine Banane aß und irgendeine Geschichte erzählte.
Am Ende der Hängebrücke allerdings war alle Panik vergessen. Der riesige Dschungel des Gunung-Leuser Nationalparks lag vor uns. Der moosige Geruch, die bunten Pflanzen, die unbekannten Geräusche. Jetzt war ich wirklich weit weg von zu Hause, der Natur ausgeliefert und abhängig von einem lockigen Typen, den ich erst seit einem Tag kannte. Meine Komfortzone hatte ich definitiv verlassen, und es war ein tolles Gefühl. Bereits nach wenigen Metern sahen wir die ersten Tiere, Thomas-Leaf Affen, auch Thomas-Languren genannt, deren Schwanz länger als der Körper ist und die zum Glück bislang nicht als bedroht eingestuft sind. Ein wenig später, mit sehr viel Glück, entdeckten wir ein paar wesentlich seltenere und scheuere Weißhand-Gibbons. Wilde Tiere sehen, die man sonst nur aus dem Zoo kennt, ist immer ein ganz besonderes Gefühl. Selbst Doni, der die Tiere schon hunderte Male gesehen haben muss, blieb immer wieder aufgeregt stehen.
Der Gunung Leuser Nationalpark ist ein bemerkenswertes Ökosystem, das eine reiche Vielfalt an Pflanzen und Tieren beherbergt. In diesem unberührten Regenwald finden sich seltene und faszinierende Arten wie den Sumatra-Tiger, den hoffentlich bald abgelichteten Orang-Utan, Sumatra-Nashornvögel und kleine Wald-Elefanten. Die Flora des Parks ist ebenso beeindruckend, mit einer Vielzahl von exotischen Pflanzen, darunter verschiedene Arten von Orchideen, Rafflesia-Blumen (die größte Blume der Welt) und eine breite Palette von Baumarten. Die Bäume hier erreichen oft erstaunliche Höhen zwischen sechzig bis achtzig Metern und tragen zur Erhaltung des Lebensraums für zahlreiche Tierarten bei.
Nach etwa einer Stunde legten wir die erste Rast ein, Doni rauchte hockend eine Zigarette, packte den Stummel anschließend vorsorglich in eine kleine Tüte, um ja keinen Dreck im Wald zu hinterlassen, und erklärte sein mir bereits bekanntes Vorhaben. „Bei jeder Wanderung pflanze ich einen Baum. Einen Mango-Baum.“ Die Aktion war zwar nur symbolisch, aber sie war aufrichtig. Doni war ohnehin sehr besorgt, keinen Abfall zu hinterlassen, er sammelte auch fremden Müll ein, den er im Wald fand, er mahnte uns, still zu sein, wenn Tiere um uns herum waren, und er erzählte uns zu jeder Pflanze und jedem Baum, ja sogar zu den Ameisen, viele spannende Geschichten.
Dann sahen wir die ersten Orang-Utans. Es waren sogenannte halbwilde Orang-Utans, die täglich zur etwas näher am Dorf liegenden Futterstation kommen müssen, weil sie sich selbst sonst nicht ernähren können. Wir waren dennoch aufgeregt, auch wenn wir natürlich „echte“ wilde Orang-Utans sehen wollten. Die meisten dieser halbwilden Tiere leben sehr nahe am Dorf in den angrenzenden Wäldern. Sie wurden entweder verletzt oder als Babys aufgenommen, gepflegt und großgezogen, und später wieder ausgewildert. Nur das eigene Fressen zu finden, wollen sie im Dschungel nicht mehr lernen. So auch die beiden Tiere über uns. Es waren ausgewachsene Orang-Utans, ein Weibchen und ein Männchen, hoch oben in den verwinkelten Baumkronen, dennoch neugierig genug, um immer wieder die Köpfe nach unten zu strecken, um uns zu beobachten.
Allerdings kamen plötzlich zwei weitere Touristen hinzu, die zweistündige Kurzwanderungen zu diesen halbwilden Tieren machen, um danach stolz auf Facebook ihre Bilder vom „Abenteuer“ zu zeigen. Dabei versuchen häufig deren nicht zertifizierten Guides, die Tiere anzulocken, damit die Fotos noch besser werden. So auch dieser Guide, der rief, pfiff und mit Essen wedelte. Doni regte sich tierisch auf, wollte, dass wir weitergehen. Ich fing allerdings einen Streit mit dem Guide an und ließ das junge Paar wissen, worauf sie sich da eingelassen hatten, und warum das so gefährlich für die Tiere ist. Die Orang-Utans werden mit ungesundem Essen geködert, meistens Obst oder sogar Pringles, dabei fangen sie sich häufig Krankheiten durch den Kontakt mit Menschen ein, zudem können sie aggressiv werden und wer einmal den Arm eines Orang-Utans gesehen hat, möchte nicht unbedingt eine Backpfeife von einer ausgewachsenen, gestressten Orang-Utan Mama bekommen, denn das kann sogar tödlich enden. Die selbst ernannten Guides haben dann dicke Stöcke dabei, mit denen sie auf die Tiere einschlagen, wenn sie zu nahe kommen, und der negative Kreislauf beginnt.
Zum Glück sahen wir danach keine Menschen mehr. Nur noch grandiose Natur, wilde Tiere und uns. Uns mochte ich. Unsere kleine Truppe aus tierliebenden Menschen. Nun kann man argumentieren, dass auch wir dazu beitragen, dass diese einzigartige Natur zerstört wird, mit all den Flügen, den Pirschwanderungen im dichten Dschungel. Aber Reisende, die auf ausgebildete Guides achten und sorgsam reisen, bringen auch Geld in die abgelegenen Regionen und stellen dadurch sicher, dass die wilden Tiere nicht als Störenfriede gesehen werden, sondern auch als Chance für die Einheimischen, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Zudem wird man auf solchen Reisen sensibilisiert für die kleinen Dinge, die man zu Hause machen kann, z.B. bestimmte Produkte nicht mehr kaufen, oder man lernt gewissenhafte Organisationen kennen, denen man gerne Spenden schickt.
Gegen Mittag breitete Doni ein großes, buntes Tuch auf dem weichen Blätterboden aus, verscheuchte ein paar handgroße Ameisen und bereitete das Mittagessen vor. Wir setzten uns still und etwas ausgelaugt neben ihn, schauten ihm beim Kochen zu, blickten in die endlosen Baumwipfel und atmeten den Duft von morschen Stämmen ein. Wir alle waren sehr hungrig von der anstrengenden Wanderung. Wie auch immer Doni es schaffte, es gab frische, schmackhafte Passionsfrucht, leckeren Fried-Rice mit Ei und Gurke und kalten Eistee dazu. Erschöpft wie wir waren, kam uns das Essen wie eine Sternekoch-Mahlzeit vor. Die letzten beiden Stunden Marsch wurden dann noch einmal sehr herausfordernd, denn Anja hatte keine festen Schuhe dabei und rutschte immer wieder aus. Kurz vor unserem Schlafplatz mussten wir dann noch durch ein niedriges Flussbett waten, das allerdings von derart spitzen Steinen bedeckt war, dass wir unsere Socken anlassen mussten. Für Doni natürlich kein Problem, er lachte nur.
Worüber ich nicht lachen konnte, war der große Blutfleck auf meinem grauen Hemd. Direkt über meinem Bauchnabel. Anja schaute mich panisch an. Ein faustgroßer Blutfleck konnte nichts Gutes heißen. Vorsichtig schob ich mein Hemd nach oben, eine klaffende Wunde erwartend, wurde aber von einem fetten, vollgesaugten, sichtlich zufriedenen Blutegel begrüßt. Während ich noch entsetzt auf das satte Tier starrte, zündete Doni bereits ein Streichholz an, hielt es unter den Eindringling und nach wenigen Sekunden fiel der unerwünschte Blutsauger von meinem Bauch auf den Boden. Danach entdeckte ich noch weitere Blutegel an mir, auch Anja hatte einen am Bein abbekommen. Während Doni „Welcome to the Jungle“ pfiff, liefen wir dann die letzten Meter zum Camp angewidert hinter ihm her.
Endlich am Schlafplatz angekommen, waren bereits die beiden anderen Männer am Kochen, und es roch fantastisch. Sowieso waren Gerüche das Eindrücklichste der Reise. So verschieden, so natürlich, so unbekannt. Die beiden Männer sprachen zwar kein Englisch mit uns, waren aber sehr viel am Lachen und wirkten unglaublich sympathisch. Hermann und Ricky nannten sie sich. Es gab erneut ein Festmahl. Eingelegter Tofu, frisch gefangener Fisch, Gemüse, Kartoffeln, Omelette, scharfer Chili, danach schwarzen Tee und salzige Cracker. Alles war hervorragend gewürzt und unendlich scharf. Genau nach meinem Geschmack. Auch Anja war begeistert. Der Abend hielt langsam Einkehr und wir setzten uns an den gemütlichen Fluss, neben einem kleinen, plätschernden Wasserfall. Die Geräusche um uns herum wurden lauter und exotischer, Vögel pfiffen, Affen schrien, der Fluss blubberte und der Wind der pfiff. Irgendwo da draußen im Wald würden wir am kommenden Tag mit etwas Glück wilde Orang-Utans sehen, und hoffentlich würde, während wir schliefen, kein hungriger Sumatra-Tiger Gefallen an uns finden. Wir badeten in unserer Unterwäsche im kühlen Fluss und ließen uns danach am Lagerfeuer trocknen.
Doni wollte wissen, warum es zur weltweiten Finanzkrise kam, wieso die Schweizer einen Teilchenbeschleuniger gebaut hatten, der uns aller Voraussicht nach in ein schwarzes Loch werfen wird, und welche der Weltreligion unserer Meinung nach die Beste sei. Alles nicht wirklich unkomplizierte Themen. „Meine Neffen sind seit drei Wochen allein zu Hause“, erzählte uns Doni dann am späten Abend. Die Sterne hingen schwer über uns und es sah nicht danach aus, dass es heute Nacht regnen würde. „Sie sind vier, acht und vierzehn Jahre alt und ihre Mutter ist vor einem Jahr gestorben.“ Der Vater, sein Bruder, sei gerade in Medan unterwegs, um einen Job zu finden, das sei aber leider nicht so einfach. Aber alles würde gut werden, davon war Doni überzeugt, und seine positive Einstellung beeindruckte mich.
Mit diesen Gedanken schlossen wir unsere Augen, Anja drehte sich gemütlich in meinen Arm, die vier Guides hielten freundlicherweise etwas Abstand und der kalte Steinboden unter uns drückte unangenehm in meinen Rücken. Es gab weder ein Zelt noch einen Schlafsack, nur dünne Decken. Aber das war ok, ich fühlte mich weder ängstlich noch wollte ich jetzt in einem normalen Bett liegen. Ich wollte genau das: Mitten im Dschungel schlafen, knapp zehntausend Kilometer von zu Hause entfernt. Wir waren so müde, dass wir schnell einschliefen. Und seit mehreren Wochen war es scheinbar der erste Abend, an dem es nicht regnete. An eine Schutzmaßnahme hatten die Guides allerdings gedacht: Rund um unser „Camp“ hatten sie mit weißer Kreide eine Spur gezogen. „Das wird Spinnen und Schlangen abhalten“, klärten sie uns auf. Na dann gute Nacht.
Ich wachte früh auf, noch bevor die ersten Sonnenstrahlen durch die Baumkronen drangen. Hermann hatte bereits das Frühstück vorbereitet, es roch schon nach frischem Kaffee, es gab reichlich Toast mit dreifachem Käse und dazu frischer Ananas. Ich hätte ewig so weitermachen können. Wir packten unsere Tages-Rucksäcke, wuschen uns provisorisch im Fluss und machten uns dann im Morgennebel wieder auf die Affen-Pirsch. Den gesamten Vormittag verbrachten wir damit, tiefer in den Dschungel des Nationalparks einzudringen. Irgendwann hörten wir Motorsägen in der Ferne. Ein unglaublich störendes und fremdartiges Geräusch in unserer Idylle. „Das sind illegale Holzfäller“ meinte Doni besorgt. Auch der Gunung-Leuser Nationalpark bleibt leider nicht verschont. Die skrupellose Abholzung dringt immer tiefer in den Wald hinein, und es ist lange her, dass man einen Tiger oder einen Waldelefanten hier gesehen hat. Wir liefen immer weiter in den Wald, bis wir keine Motorsägen mehr hörten. Zu Mittag gab es gebratene, scharfe Nudeln und frisches Obst, wie immer ein Festmahl. Danach wurde die Vegetation wesentlich dichter und schwerer zu durchdringen. Doni musste immer wieder mit seiner Machete den Weg freiräumen. Plötzlich kam Nordin aufgeregt auf uns zugelaufen, den Finger vor den Mund gedrückt, das internationale Zeichen für „Ruhe“. Er war ein paar hundert Meter vorgelaufen, um nach Fährten zu suchen. Scheinbar hatte er etwas gefunden. Er winkte heftig, wir sollten uns beeilen. Wir folgten ihm nervös, stolperten über Wurzeln und Äste, und auch Nordin musste sich konzentrieren, blieb immer wieder stehen und schaute in die Baumkronen.
Und dann sahen wir sie plötzlich vor uns: Eine Orang-Utan-Mama mit ihrem Baby.
Hoch oben in den dichten Baumwipfeln genossen die beiden die Aussicht. Das Kleine war recht neugierig und lugte immer wieder kurz zwischen den Blättern hervor, als ob es schauen wollte, welch komische Kreaturen denn da unten saßen. Was für eine tolle Begegnung. Ich glaube, ich vergaß eine halbe Stunde lang, zu atmen. Wie zufrieden und ahnungslos Mama und Tochter da oben saßen. Wir schossen unsere Kamera-Speicher schwindelig, blieben noch eine ganze Weile sitzen und beobachteten die scheuen Tiere, wie sie ruhig und gemütlich an Blättern und Baumrinden knabberten.
Orang-Utans, mit ihrer charakteristischen roten Fellfarbe, sind für mich die faszinierendsten Bewohner der Regenwälder Borneos und Sumatras. Sie sind weltweit die einzigen überwiegend baumlebenden Primaten und zeigen eine unglaubliche Anpassung an ihr arboreales Leben, wie lange Arme und geschickte Hände. Ihre Intelligenz spiegelt sich in der Verwendung von Werkzeugen und komplexen Kommunikationsformen wider. Ernährungstechnisch bevorzugen sie Früchte, ergänzt durch Blätter, Rinde und Insekten. Im Gegensatz zu anderen Primaten führen Orang-Utans ein eher einzelgängerisches Leben. Mütter und ihre Jungen bilden die engste soziale Einheit; die Bindung zwischen ihnen ist stark und dauert mehrere Jahre. Weibliche Orang-Utans sind in der Regel in ihrem Geburtsgebiet ansässig, während Männchen oft umherwandern.
Nach einer guten halben Stunde meinte Doni allerdings, dass wir die Tiere nicht länger stören sollten, und es Zeit sei, aufzubrechen. Ein Traum war wahr geworden und ich konnte diese fantastischen Tiere endlich in freier Wildbahn sehen. Umso trauriger der Gedanke, dass es diese Art von Begegnung nicht mehr lange geben wird, zu schnell schreiten illegaler Raubbau und Lebensraumzerstörung auf Sumatra und Borneo voran.
Wir waren wohl noch immer in Gedanken bei den friedlichen Orang-Utans und bemerkten daher wohl nicht das schlecht gelaunte Wildschwein, das plötzlich auf uns zugeschossen kam. Wir alle erschraken fürchterlich. Doni schrie sofort „auf den Baum“ und wir kletterten panisch auf den großen Baumstamm, der glücklicherweise ganz in der Nähe lag. Noch glücklicher waren wir, dass das Schwein, das Wilde, nur zur Warnung auf uns zu rannte und dann wieder mit einem Haken im dichten Wald verschwand, samt Ferkel, was wir erst dann bemerkten. Doni war noch eine ganze Weile sehr aufgebracht, auch mein Adrenalin blieb für eine Weile auf Höchstwert, das hätte auch schmerzhaft enden können. Es endetet schließlich auch schmerzhaft, aber aus einem anderen Grund: beim Weitergehen waren wir noch so sehr mit unseren Gedanken beschäftigt, dass Anja nicht aufpasste, ausrutschte, hinfiel und sich das Steißbein prellte. Sie weinte. Ich half ihr auf die Beine und stütze sie für ein paar Meter. Erneut machte sich Doni Vorwürfe, obwohl er wirklich nichts dafür konnte. Das war allerdings erst der Anfang der Verletzungsmisere, es sollte noch schlimmer kommen: Nur wenige Meter weiter, unser Camp schon im Blick, in Gedanken jedoch noch bei Affen und Wildschweinen, übersah ich eine rutschige Stelle, verlor das Gleichgewicht und mein rechter Fuß verhakte sich unter einer dicken Wurzel, während der Rest meines Körpers den glitschigen Hang hinunterrutschte. Es knackte laut, und zu meinem Leidwesen war es kein gebrochener Ast, der dieses Geräusch verursachte. Ich schrie laut auf, lag unten an der Böschung im Dreck und sah meinen Fußknöchel, dick und blau. In diesem Moment ging mir viel durch den Kopf, vor allem die Frage, wie zum Teufel ich so wieder aus dem Dschungel herauskommen soll? Und ob der Kamera etwas passiert ist? Hermann und Ricky kamen sofort angerannt und halfen mir durch den kühlenden Fluss zum Camp, das gerade einmal fünfzig Meter entfernt lag. Der Fuß schmerzte und ich konnte kaum auftreten. Sofort machten sich alle auf die Suche nach diversen Heilkräutern, während ich besorgt, zwei Tagesmärsche von Bukit Lawang entfernt, mit dickem Fuß mitten im Dschungel von Sumatra saß.
Ricky kam zurück mit verschiedenen Blättern, Kräutern und Blüten, zerrieb alles in einer kleinen Schüssel mit Wasser und verteilte dann die Paste auf der schmerzenden, geschwollenen Stelle. Das tat gut und kühlte ein wenig. Dann tranken wir Tee, was sollten wir auch sonst tun. Es gab Reis mit gekochtem Ei, dazu Erdnusssauce und Gurkensalat. Trotz der Schmerzen ging es mir halbwegs gut dabei, ich hatte ja tolle Menschen um mich herum, das war das beruhigende Gefühl. Und zudem war ich doch erleichtert, dass mir der Sturz erst nach den Orang-Utans passiert war. Mir war bewusst, dass weitere Wanderungen jetzt nicht mehr möglich waren und wir durch mein Verschulden die Wanderung abbrechen mussten. Wir legten uns frühzeitig schlafen, Anja kraulte mitleidig meinen Kopf, ihr geprelltes Steißbein war nicht mehr so wichtig. Der Schmerz ging etwas zurück und scheinbar auch die Schwellung. Vielleicht war alles doch nicht so schlimm?
Fehlanzeige! Am Morgen wachte ich mit einem regelrechten Klumpfuß auf, starke Schmerzen und Blaufärbung inklusive. Was sollten wir nun tun? Wie würde ich zurück nach Bukit Lawang kommen? Wir berieten uns eine Weile in der Gruppe, alle waren rührend besorgt. Teamwork war jetzt gefragt. Tragen konnten mich die Jungs sicher nicht. Ich war etwa achtmal so schwer wie Doni oder Ricky und das ganze Equipment und die Rucksäcke mussten ja auch irgendwie zurück. Also erarbeiteten Doni, Nordin, Hermann und Ricky folgende Lösung: Wir bauten aus stabilen Ästen einfache Krücken für mich, sodass ich mein Gewicht auf den linken Fuß verlagern konnte. Zudem beschlossen wir, durch den niedrigen Fluss in Richtung Bukit Lawang zu waten, was der direkteste Weg und für den Fuß zusätzlich kühlend war. Außerdem war das Flussbett relativ flach. Anja, Nordin und Doni würden mich begleiten und abwechselnd meinen schweren Rucksack tragen. Hermann und Ricky würden währenddessen schnellen Schrittes mit dem Camping-Equipment durch den Wald vorlaufen, in ein näher gelegenes Dschungeldorf, das über einen schmalen Waldweg etwa zwei Stunden Moped-Fahrtzeit von Bukit Lawang entfernt lag. In diesem Dorf würden sie jemanden versuchen zu überzeugen, ihnen zwei Mopeds zu leihen, dort auf uns warten und dann mit Anja und mir nach Bukit Lawang fahren. Doni, Nordin sowie die Ausrüstung würden sie später abholen.
So abenteuerlich es klingt: Der Plan ging auf.
Zunächst wateten wir also langsam durch den kalten Fluss, das Wasser reichte mir gerade ans Schienbein, wir kamen aber gut voran, und die hölzernen Krücken hielten. Nur die spitzen Steine im Flussbett machten mir zu schaffen. Doni versuchte immer wieder, mit lustigen Geschichten über seine Jugend oder seine unzähligen Ex-Freundinnen abzulenken. Das half eine Weile, und es war rührend zu sehen, wie sehr er sich bemühte. Nach einer halben Ewigkeit kamen wir schließlich an einem kleinen Dorf mit Strohhütten an, und dort warteten auch schon winkend Hermann und Ricky, ausgestattet mit je einem alten Moped. Das halbe Dorf stand lächelnd herum, wir schienen das Highlight des Tages zu sein. Und alle freuten sich, dass es mir gut ging. Es war ein schönes Gefühl zu sehen, wie sich die Menschen gegenseitig halfen, und dass man sich so rührend um mich, den Ausländer, kümmerte. Das Schlimmste war also überstanden – dachte ich. Allerdings hatten wir nicht mit dem rasanten Fahrstil der beiden Guides gerechnet. Mit gefühlten einhundert (und tatsächlichen dreißig) Kilometern pro Stunde rasten wir durch den Dschungel, über Stock und Stein, als sei ich lebensbedrohlich verletzt. Wir erreichten Bukit Lawang in unter zwei Stunden, mein Hintern schmerzte, Anjas Steißbein schrie, und dann kam das große Finale: Wir mussten noch eine letzte Hängebrücke überqueren, die dermaßen zerstört, so maßlos zugerichtet war, dass es ganze fünf Minuten Überzeugungsarbeit benötigte, uns beide darüber zu bekommen. Millimeterweise bewegten wir uns zu Fuß, ich mit Krücken, die Brücke quietschte bei jedem Schritt besorgniserregend, etwa zwanzig Kinder beobachteten uns an beiden Ufern und lachten, gefühlte zehn Minuten lang, Schritt für Schritt, die Krücken maximal belastet, dem Nahtod auf den schmerzenden Fersen. Kaum hatten wir es geschafft und lagen uns begeistert in den Armen, fuhren Ricky und Hermann entspannt mit den Mopeds darüber, die Kinder sprangen und hüpften wieder auf der Brücke herum und der Alltag hielt Einzug.
Und hier schließt sich nun der Kreis. Hier liege ich bei Lamat auf dem wackligen Tisch. Hier massiert er mir den Bluterguss aus dem geschwollenen Fuß, die anderen halten mich fest und ich schreie wie das Wildschwein von gestern.
Später am Nachmittag sitzen Anja und ich wieder auf der Restaurant-Terrasse in unserem Green Hills Hostel und schlürfen süße Mango-Shakes, die wir uns redlich verdient haben. Wir hören ein Knattern und es tauchen zwei Mopeds auf. Nordin, Hermann und Ricky sitzen grinsend darauf. Sie setzen sich zu uns an den großen Holztisch, und während Nordin ein wenig gebrochenes Englisch spricht und die beiden anderen vor allem zuhören, freuen wir uns alle wie kleine Kinder und lachen mit Händen und Füßen, klopfen uns wiederholt sinnlos auf die Schultern. Es ist einer dieser Momente, die alles andere vergessen lässt, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, wie man es vom Mannschaftssport kennt. Man hat zusammen etwas Anstrengendes erreicht. Dann reißt Nordin die Augen auf und schreit „Noodle Hair!“, und siehe da, Doni steht neben uns, seine kurzen Locken in alle Richtungen wuchernd. Wir lachen uns kaputt, „Noodle Hair“ ist zu diesem Zeitpunkt der beste Witz der Welt. Als wir uns endlich beruhigt und alle genügend Tee getrunken haben, wollen Anja und ich zahlen und die anderen einladen, doch die weigern sich aufgeregt. Natürlich zahlen sie für uns, wir sind doch jetzt Freunde. Ein schönes Gefühl. Und dann lädt Doni uns auch noch zu einer Hochzeit eines Freundes ein. Jetzt. Sofort. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Wir alle fahren mit den Mopeds zum Fest, schmutzig wie wir sind, mit Klumpfuß, Krücken und Wanderhosen. Die Familie des Brautpaars freut sich riesig über unseren Besuch und wir verbringen einen herrlichen Nachmittag mit der Hochzeitsgesellschaft, essen undefinierte, aber unglaublich leckere Dinge am endlosen Buffet, sitzen lachend auf bunten Plastikstühlen, verfolgen fasziniert die traditionelle Trauung und können kaum glauben, was wir in den vergangenen Tagen alles erlebt haben. Ein paar Tage im Dschungel, Erinnerungen fürs Leben. Zudem zwei gerissene Bänder am rechten Außenfuß, wie sich zurück in der Heimat herausstellen sollte.
Gastfreundschaft mit Maschinen-gewehr
Uganda, 2015
Uganda. Roadtrip. Zelten. Drei Begriffe, die selten in einem Satz fallen, aber für Fräulein D. und mich genau die richtige Idee für eine abenteuerliche Reise. Das Vorhaben stand schon lange im Raum, und so kompliziert war die Planung dann auch nicht. Bei der Firma Road-trip Uganda konnten wir einen kleinen Allrad-Toyota mieten, inklusive Campingausrüstung, Werkzeug und einer Anleitung zum Bestechen von Polizisten.
Die Reise würde uns zuerst nach Kigali, der Hauptstadt Ruandas führen, dann zu den letzten Berggorillas im Biwindi Nationalpark, und schließlich über die Grenze nach Uganda, wo wir unser Auto in Empfang nehmen und zwei Wochen lang das Land bereisen würden.
„How long is the Fahrt“, frage ich den Taxifahrer, der uns von Ruhengeri in Ruanda nach Kisoro in Uganda bringen soll. Da das Deutsche „Fahrt“ wie das Englische „Fart“ klingt, und damit „Furzen“ bedeutet, und ohnehin diese schreckliche Mischung aus Englisch und Deutsch zum Heulen ist, kann meine Partnerin, Fräulein D., das Lachen für die kommende Stunde nicht mehr unter Kontrolle halten. Zurecht. Irgendwie verfalle ich immer in ein schlechtes Englisch, wenn ich mich mit Menschen unterhalte, deren Englisch nicht ganz so gut ist. Wahrscheinlich weil ich den falschen Eindruck habe, dass sie mich dann besser verstehen können. Aber das ist natürlich absoluter Quatsch. Der Fahrt ist aber raus, da ist nichts mehr zu ändern. Im alten Taxi, einem Toyota Corolla, funktioniert die Klimaanlage nicht mehr, aber zuverlässig sind die Fahrzeuge ja allemal. Von hundert Autos, die an uns vorbeifahren, sind vielleicht zwei nicht von Toyota. Keine schlechte Werbung. Trotz der Hitze geht es uns gut. Die Fenster sind heruntergekurbelt und der Wind segelt uns um die Ohren. Es riecht nach Abenteuer, wie auch immer das riechen soll, wahrscheinlich ist es die Mischung aus Staub, warmen Ledersitzen, Duftbaum im Auto, Abfall draußen auf der Straße und der eigene Schweiß, an den man sicher besser gewöhnt bei einer solchen Reise.
Die Reise bis zur Grenze Ugandas dauert insgesamt etwa eine Stunde, obwohl die Strecke nicht mal vierzig Kilometer misst. Aber die Straßen sind nicht im besten Zustand und es herrscht ein hektischer Fußgängerbetrieb, sodass wir immer wieder langsam fahren müssen. Wir beobachten die Menschen links und rechts, eine alte Frau steht mitten im Nirgendwo und schöpft Wasser mit einem schmutzigen Plastikbecher aus einer Schlammpfütze. Sie hat nicht mal einen Eimer dabei. Ein Bild, das nach einer Sekunde verschwunden ist, aber wahrscheinlich für immer im Kopf hängen bleibt.
Als der Grenzbeamte erfährt, wo wir übernachten, zwinkert er nur und meint, wir sollen der Hotelbesitzerin einen schönen Gruß ausrichten. Man scheint sich zu kennen. Wir fragen uns allerdings, ob sie uns danach ein besseres oder ein schlechteres Zimmer geben wird. Kaum haben wir die Grenze überquert, merken wir sofort, dass Uganda anders tickt als Ruanda. Alles scheint wesentlich intensiver zu sein, lauter, farbenfroher, aber auch ärmer und wesentlich schmutziger als das Nachbarland Ruanda. Natürlich ist das nur ein erster, voreiliger Eindruck nach wenigen Minuten, aber so ist das nun mal mit Eindrücken. Zudem wird auf der linken Seite gefahren, was ein wenig Stress in mir auslöst. In England links zu fahren ist ja schon anstrengend genug, aber in Uganda auf unbefestigten Straßen, im Staub, mit Menschen überall, ohne Bürgersteige und nur vereinzelt Verkehrsschildern, überall Kühe und Ziegen in allen Himmelsrichtungen, das kann noch spannend werden. Uganda ist ohnehin anders. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist unter fünfzehn Jahre alt, es gibt hier mehr Vogelarten als in ganz Nordamerika und man ist stolz auf über fünfzig verschiedene Bananensorten, aus denen man sogar Bier braut. Und eine Konkurrenz zum schottischen Nessie gibt’s auch noch: Lukwata, ein Monster, das im Lake Victoria hausen soll. Beschrieben als ein riesiges, schlangenähnliches Wesen, ist das Monster von Legenden und Mythen umgeben. Fischer und Anwohner erzählen Geschichten von unerklärlichen Wellen und plötzlichen Verschwinden von Menschen und Tieren, die oft Lukwata zugeschrieben werden. Die Legende besagt, dass das Ungeheuer die Seelen der Ertrunkenen bewacht und ein Wächter des Sees ist. Das ist uns jetzt aber erst mal egal, den See besuchen wir erst am Ende unserer Reise.
Wir checken im Hotel Mucha in Kisoro ein, richten der Inhaberin Grüße vom Zollbeamten aus, und bekommen scheinbar ein Downgrade. Falls es doch ein Upgrade sein soll, wollen wir gar nicht wissen, wie schlimm die anderen Zimmer aussehen.
Unser Wagen wird dann auch mit ein paar Stunden Verspätung geliefert. Der Fahrer entschuldigt sich, scheinbar hatte eine Baustelle seine Fahrt verzögert. Der Wagen ist saudreckig, was uns nicht weiter stört. Irgendwie mag ich, dass er „erfahren“ aussieht. Es ist ein kleiner, relativ alter Toyota RAV4, mit zwei Türen. Wir kurven eine kleine Runde um den Block, um das Fahrzeug zu testen. Der Toyota surrt schön ruhig und bis auf die offensichtliche Abnutzung scheint alles ok zu sein. Der Fahrer von Roadtrip Uganda erklärt mir genau, was alles zu beachten sei. So zum Beispiel sollen wir alle zwei Tage Wasser nachfüllen, den Ölstand prüfen und so weiter. Wir schauen uns den Stauraum an, schließlich sollen ja unsere beiden Rucksäcke auch noch ins Auto. Aber Kofferraum und die Rückbank sind bereits derart randvoll mit dem geliehenen Camping-Equipment, dass unser Gepäck nur noch mit Mühe hineinpassen wird. Dann quetsche ich mir noch den rechten Daumen beim Schließen der Tür und muss ein Pflaster draufkleben. Es läuft gut. Unser Auto heißt übrigens Hulky, so steht es am Schlüsselbund geschrieben. Hulky wird also unser Begleiter für die kommenden zwei Wochen in Uganda sein. Wir sind sehr gespannt, etwas nervös und freuen uns schon auf das Abenteuer. Wir verabschieden uns vom Fahrer, der nun mit dem Bus zurück nach Kampala fahren wird, immerhin fast fünfhundert Kilometer.
Nach überstandener Nacht unter dem feinmaschigen Moskitonetz, gestärkt vom Frühstück, bestehend aus Toast und Marmelade, geht es endlich los. Nach der ersten Stunde Fahrt wächst dann allerdings langsam die Mängelliste bei Hulky: Der Wassertank ist voll, aber die Windschutzscheibe reinigen funktioniert nicht. Das ist nicht allzu praktisch, wenn man bedenkt, dass man zu neunzig Prozent über staubige Schotterpisten fährt. Beim Fahrersitz (meinem Sitz für die kommenden zwei Wochen) drückt ein Metallteil unangenehm von unten in den Oberschenkel. Die Kilometeranzeige funktioniert nicht und zählt nicht mit. Der Rückspiegel ist mit einer Schnur befestigt und fällt bei jeder Erschütterung aus der Position – also etwa alle drei Sekunden. Und das Lenkrad ist nicht richtig eingestellt, sodass man leicht nach links steuern muss, um gerade in der Spur zu bleiben.