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Das Geheimnis eines Familienerbstücks: Der Liebesroman »Das Erbe der Lady Godiva« von Erfolgsautorin Madge Swindells als eBook bei dotbooks. Sie ist ein echter Wirbelwind – doch nun wird es selbst der Werbetexterin Sam Rosslyn zu stürmisch: Ihre Agentur wurde verkauft, ihr Job ist dahin … und ausgerechnet jetzt sieht es so aus, als würde der ehrwürdigen Brauerei ihres Großvaters der Bankrott drohen. Das darf Sam nicht zulassen! Hals über Kopf verlässt die junge Frau London, um im beschaulichen Bourne-on-Sea nach dem Rechten zu sehen. Dort erwartet sie nicht nur ihre Familie, die schon immer eine gewisse Neigung zum Chaos hatte, sondern auch der amerikanische Geschäftsmann Richard. Will er Sam wirklich helfen – oder ihr nur das wertvollste Erbstück der Familie Rosslyn abluchsen? Sam muss mit Feuereifer an vielen Fronten kämpfen – was nicht leichter wird dadurch, dass Richard verdammt attraktiv ist … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der ebenso beschwingte wie gefühlvolle Liebesroman »Das Erbe der Lady Godiva« von Madge Swindells – perfektes Lesefutter für die Fans von Danielle Steel und Nora Roberts. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 557
Über dieses Buch:
Sie ist ein echter Wirbelwind – doch nun wird es selbst der Werbetexterin Sam Rosslyn zu stürmisch: Ihre Agentur wurde verkauft, ihr Job ist dahin … und ausgerechnet jetzt sieht es so aus, als würde der ehrwürdigen Brauerei ihres Großvaters der Bankrott drohen. Das darf Sam nicht zulassen! Hals über Kopf verlässt die junge Frau London, um im beschaulichen Bourne-on-Sea nach dem Rechten zu sehen. Dort erwartet sie nicht nur ihre Familie, die schon immer eine gewisse Neigung zum Chaos hatte, sondern auch der amerikanische Geschäftsmann Richard. Will er Sam wirklich helfen – oder ihr nur das wertvollste Erbstück der Familie Rosslyn abluchsen? Sam muss mit Feuereifer an vielen Fronten kämpfen – was nicht leichter wird dadurch, dass Richard verdammt attraktiv ist …
Über die Autorin:
Madge Swindells wuchs in England auf und zog für ihr Studium der Archäologie, Anthropologie und Wirtschaftswissenschaften nach Cape Town, Südafrika. Später gründete sie einen Verlag und brachte vier neue Zeitschriften heraus, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Bereits ihr erster Roman, »Ein Sommer in Afrika«, wurde ein internationaler Bestseller, dem viele weitere folgten.
Die Website der Autorin: www.madgeswindells.com
Bei dotbooks veröffentlichte Madge Swindells ihre großen Familien- und Schicksalsromane »Ein Sommer in Afrika«, »Die Sterne über Namibia«, »Die Insel des Mistrals«, »Die Rose von Dover«, »Liebe in Zeiten des Sturms« und »Die Löwin von Johannesburg« sowie ihre Spannungsromane »Zeit der Entscheidung«, »Im Schatten der Angst«, »Gegen alle Widerstände« und »Der kalte Glanz des Bösen«.
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eBook-Neuausgabe Juni 2020, April 2022
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1999 unter dem Originaltitel »Winners and Losers« bei Little, Brown and Company, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Das Erbe der Lady Godiva« bei Lübbe und unter diesem Titel auch als Neuausgabe 2020 bei dotbooks.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1999 by Madge Swindells
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2002 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Copyright © der Neuausgabe 2020, 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von shutterstock/Fab_1, Evgenyrychko, SuxxesPhoto, Julian Gazzard, pzAxe, oksana 2010, michelaubryphoto, Alessandro Colle, Annuitti
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-96655-269-1
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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
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Madge Swindells
Das Geheimnis von Bourne-on-Sea
Roman
Aus dem Englischen von C. E. Kilch
dotbooks.
Coventry, den 4. Juni 1057
Godiva, nein, bey meiner Ehr’, tu’s nicht,
Drauf ist der lüstern’ Plebs doch nur erpicht.
Nacktärsch’ge Rebellion, nimmer soll sie mich erweichen!
Ich war zu mild. Züchtigen lass ich dich, mit Ruten streichen!
An den Pranger mit dir, die Flausen will ich dir austreiben,
Und bis die Syph’ dich niederrafft, so lange sollest du dort bleiben!
So wütete der Graf. Godiva nahm’s gelassen.
Vom morgendlichen Ritte, nackt und bloß, wollt’ sie nicht lassen.
Damit Leofric gelobte, die Armen von der Steuern Last zu lösen,
Wollt’ sie wie eine Hure sich entblößen.
Plötzlich aber, gepackt von kaltem Grausen,
Schickt’ sie nach dem Schreiber, diesem furzenden Banausen, anzuweisen die Gemeinen, jeden Plebsgenossen,
Dass ihre Vorhäng’ und auch die Augen sie verschlossen,
Wenn sie auf ihrem Stutengaule durch die Gossen rauschte;
nur für den Falle, dass der Wind ihr Haar hochbauschte.
Langsam kroch die Nacht dahin, die Dämm’rung graute.
Schlaflos wälzte sich der Graf im Bett und schaute bängiglich auf den kommenden Morgen.
Jahrhundertelang, deucht’ ihm, würde man noch spotten
Über den Grübchenarsch seiner Frouwe, den entblößten, den flotten.
Wohl wahr, unter seiner Raffgier litten die Bauern, machten Bankrott,
Hatten weder Heller noch Penny, noch nicht mal ’ne Coke.
Dann aber, welch erlösender Gedanke: Nimmermehr wird sie sich trauen. An solchem Mute mangelte es sehr.
Doch keiner ahnt’ den Eid, den seine Frouwe versprochen,
Die Steuern zu fällen
Und beider der Schande anheim zu stellen.
Sie hatten also verloren. Wie hatte das nur geschehen können? Sie und alle anderen aus der Kreativabteilung von Ogden’s hatten sich doch weit über das übliche Maß hinaus eingesetzt und wochenlang durchgeschuftet. Sam konnte sich nicht erinnern, dass sie in der letzten Zeit einen Abend, geschweige denn einen ganzen Tag freigehabt hatte. Mittlerweile träumte sie schon von den Slogans, schreckte morgens aus dem Schlaf, tastete nach dem Lichtschalter und ihrem Notizblock, der immer griffbereit lag; die Einfälle kamen ihr in den seltsamsten Momenten, sogar im Schlaf.
Sie versuchte, die Magenschmerzen und das Pochen in ihren Schläfen zu ignorieren, während sie an ihrem Daumen kaute und traurig zu Walter blickte, ihrem Boss und Liebhaber. Er stand hinter seinem Schreibtisch und erklärte ihnen mit trübsinniger Miene die Situation. Sein gesamtes Vermögen steckte in der kleinen Agentur ‒ ein Grund mehr, warum sie so hart gearbeitet hatte.
»Hörst du überhaupt zu, Sam?«, stieß Walter gereizt hervor.
»Hat es denn noch einen Sinn?«
»Um Gottes willen, sei still!«, fauchte Fiona. Das schmerzte. Sam ließ ihren Blick über die ausgelaugten, äußerst fähigen und unterbezahlten Mitarbeiter schweifen, die sich in Walters kleinem Büro drängten. Keiner riss Witze. Walter trug einen anthrazitfarbenen Mohair-Anzug, dazu ein weißes Hemd mit dunkler Krawatte. Er war wie für eine Beerdigung gekleidet. Wie passend! Sie trugen Ogdens zu Grabe.
»Wir haben uns wacker geschlagen.«
Sie rutschte unruhig hin und her. Walter drückte sich doch sonst nicht so platt aus. Und warum lag etwas Schuldbewusstes in seinem Blick? Sie sah ihn lange und eindringlich an.
»Die Bank hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich habe nach den Verhandlungen, die die gesamte Nacht angedauert haben, Punkt Mittag die Agentur an M & M verkauft. Zu den guten Neuigkeiten: Ich habe uns alle mitverkauft, bis zum letzten Kreativen. Alle bekommen Zwölf-Monats-Verträge, Samanthas Vertrag läuft sogar noch länger; die einzelnen Bedingungen sind ‒ natürlich innerhalb gewisser Grenzen ‒ noch separat auszuhandeln.«
Sam verzog das Gesicht. M & M war ihre interne Bezeichnung für Meredith & Munrowe, ihren größten Rivalen um BMI, einen der mächtigsten Computerhersteller der Welt. Es war ein Kampf David gegen Goliath, bei dem Ogdens gegen den etablierten Konkurrenten lediglich seine Kreativität ins Feld führen konnte. Vergangenen Monat waren die Präsentationen vorgelegt worden, und eigentlich hätten sie gewinnen müssen.
»Wir haben es also nicht verbockt?«
»Was?«
»Den Griff nach den Sternen.«
»Beruhige dich, Sam! Manche von uns brauchen auch was zu essen.«
»Zu welchem Preis? Indem wir nach bedingungsloser Kapitulation zum Feind überlaufen?«
Walter räusperte sich gereizt. Sam war so verdammt naiv. Aber sie hatte mit ihrem herausragenden innovativen Potenzial sein finanzschwaches Unternehmen am Laufen gehalten. Den Scheck, den er gerade auf der Bank eingereicht hatte, hatte er zum Teil ihren brillanten Ideen zu verdanken. Aber an den Geschäftsdschungel wollte sie sich nicht gewöhnen. Sie schätzte Werte wie Idealismus und Ehre. Schuldbewusst erinnerte er sich daran, dass sie ihn ebenfalls schätzte. Er hatte sie ausgenutzt. Er zwang sich zu einem Lächeln.
»Sam, die Kapitulation war alles andere als bedingungslos. Ganz im Gegenteil. Schau dir die Verträge an. Du stehst jetzt sehr viel besser da.«
Irgendetwas stimmte nicht, spürte sie. Und plötzlich regte sich ein schrecklicher Verdacht. Hatte er den BMI-Vertrag deswegen gewollt? Damit die Konkurrenz ihn aufkaufen würde? Hatte sie deswegen monatelang jedes Wochenende und jeden Abend geschuftet? Sie hatte die Agentur retten wollen, für ihn, für sich und für alle anderen.
»Warum sollten M & M ein Verlierer-Team übernehmen? Kannst du uns das erklären?« Sie sah, dass Walter zusammenzuckte.
Es folgte ein langes Schweigen, währenddessen er an seiner Krawatte nestelte. Sein Gesicht lief rot an, er schluckte, und auf seinen Brauen sammelten sich Schweißtropfen.
»Weil wir gewonnen haben«, sagte er. »Wir haben den Auftrag. Was noch? Deine Slogans, Sam. Du wirst ihre neue Kreativabteilung leiten … Ruhe, Ruhe!«
Er musste schreien, um sich in dem ausbrechenden Lärm Gehör zu verschaffen. »Lasst mich ausreden! Ich werde aussteigen, aber ihr werdet den Auftrag übernehmen, für den ihr so hart gekämpft habt. Welchen Unterschied macht es schon, wo euer Büro liegt? Ihr habt größere Sicherheiten, bekommt eine bessere Bezahlung und Sonderzulagen. Ihr müsst lediglich eine Konkurrenzklausel unterschreiben, das ist alles. Aber erst einmal muss hier einiges umorganisiert werden. Nehmt euch ein langes Wochenende frei. Wir sehen uns Dienstag wieder. Das gilt auch für dich, Samantha.« Er blieb an der Tür stehen, während alle gleichzeitig aufeinander einbrüllten.
»Du hast von Anfang an nichts anderes gewollt, nicht wahr, Walter?«
»Den großen Reibach.«
»Wir waren also überhaupt nicht pleite.«
»Ich werde dir meine Spesenabrechnung schicken, Walter.«
»Ich habe es niemandem erzählt, aber ich habe eine Bankauskunft eingeholt. Wir waren nicht in den roten Zahlen.« Rupert, der Artdirector, ergriff nur selten öffentlich das Wort. Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit einem Taschentuch.
»Wir sind verkauft worden, nicht die Agentur«, versuchte Sam zu erklären. »Und Walter fährt den Profit ein. Sie konnten es sich nicht leisten, BMI als Kunden zu verlieren, nicht wahr, Walter? Und das hast du gewusst.«
»Das habe ich nicht gesagt, Sam.«
»Du bist ein verdammter Lügner, Walter.«
Als die einzelnen Stimmen im allgemeinen Getöse untergingen, warf Walter hinter sich die Tür zu und floh.
Das Telefon klingelte. Jemand hob ab. »Es ist für dich, Sam.«
»Tut mir Leid«, kam die Stimme aus der Telefonzentrale, »ich weiß, keine Anrufe, aber das hier klang sehr dringend. Ein John Carvossah ist am Apparat.«
»Stell ihn durch … Hallo, John. Ist mit Großvater alles in Ordnung?«
In Johns tiefer Stimme lag ein leichtes Zittern. Stirnrunzelnd nahm Sam zur Kenntnis, dass der Geschäftsführer ihres Großvaters sie zum Essen einladen wollte. »Klar. Treffen wir uns um eins. Aber damit ich mir bis dahin keine Sorgen zu machen brauche ‒ was gibt es?«
»Nichts! Na ja, nichts Unmittelbares. Ich will nur eines sagen: Trevor vertreibt sich die Zeit mit sinnlosem Zeug, während alles um ihn herum in die Brüche geht.«
»Das hört sich nicht so an, als ob nichts los wäre«, antwortete sie besorgt.
»Ich erklär es dir beim Essen. Bis dann.«
Sam sah auf ihre Uhr. Sie musste sich beeilen. Sie packte ihre Tasche und ging zum Garderobenraum. Fiona eilte ihr nach.
»Nimm’s nicht so schwer, Sam. Es wird dir dort gut gehen. Du hast mehr Urlaub, wirst besser bezahlt. Sie haben sogar einen Tennisplatz.«
»Sie sollen zur Hölle fahren! Ich werde keine Konkurrenzklausel unterzeichnen. Außerdem muss ich den unangenehmen Geruch hier aus der Nase bekommen. Vielleicht kehre ich für eine Weile nach Hause zurück.«
Fiona sah sie mit ihren großen blauen Augen mitleidsvoll an. Sie richtete ihren Prada-Rock, schüttelte die blonde Mähne und schnallte den Gürtel enger. »Wo liegt dein Zuhause?«
»In der Provinz, ein abgelegenes Kaff. Besser bekannt als einer der letzten noch unberührten Flecken des alten Englands, wo die Hinterwäldler, die dort leben, durch nichts außer dem steigenden Bierpreis aus der Ruhe zu bringen sind. Mein Großvater besitzt eine kleine Brauerei.«
»Walter wird dich vermissen.«
»Nicht lange. Keiner von uns beiden hat es sonderlich ernst genommen.« Zumindest jetzt nicht mehr. Sam wusste, dass sie ihm das nie verzeihen würde.
»Ich habe schon immer ein Auge auf ihn geworfen.«
»Dann nur zu!«
Sam beobachtete Fiona, die sich vor dem Spiegel zurechtmachte.
»Sam, ich habe nie verstanden, was euch beide verbindet«, sagte sie.
»Dann frag ihn doch!«
»Das habe ich schon.« Ihr Gesichtsausdruck wurde feindseliger. »Er sagte, du würdest ihn mit deinem Talent verblüffen und ihm permanent einen Ständer bescheren. Und er müsste sich anstrengen, um mit dir intellektuell mitzuhalten.«
»Das hat er gesagt? Ich bin erstaunt.«
Und vieles mehr, erinnerte sich Fiona, aber das wollte sie nicht sagen. Um ihren neidischen Blick vor Sam zu verbergen, drehte sie sich zum Spiegel um und zog den Lippenstift nach. Manche Frauen hatten einfach alles, es war nicht fair. Sam besaß eine glatte, weiche Haut, sinnliche Lippen, buschige Brauen, dunkle, samtene Augen, und ihr Haar bestand aus einer unordentlichen, beinahe tiefschwarzen Lockenpracht. Dennoch, Walter war nicht wegen ihres Aussehens ins Schwärmen geraten, sondern wegen ihres impulsiven und warmherzigen Wesens.
»Sam, glaubst du wirklich, dass Walter und ich …« Sie sah sich um, doch Sam war bereits verschwunden.
John wartete vor dem Restaurant Good Earth. Er hatte das gesamte Register gezogen, um seiner männlichen Ausstrahlung Ausdruck zu verleihen. Er zeigte unverhohlen Begierde und Bewunderung, trug ein konspiratives Grinsen und einen Anflug von Fassungslosigkeit zur Schau. Warum sind wir nicht mehr zusammen?, schien er zu fragen, aber das alles war bis ins Kleinste einstudiert. Unzählige Male hatte sie miterlebt, wie er seinen Charme mit unterschiedlicher Intensität anknipsen konnte, abhängig davon, wen er damit betören wollte.
»O Gott, es tut gut, dich zu sehen, Sam! Du siehst bezaubernd aus. Ich habe dich vermisst.«
An Johns Äußerem war nichts Außergewöhnliches. Er hatte große blaue Baby-Augen, die in einem kantigen Schädel saßen, regelmäßige, grobe Gesichtszüge und hellbraunes, von der Sonne gebleichtes Haar. Ein ganz normaler Typ, Langstreckenschwimmer, Segler, ehemaliger Rugby-Spieler am College. Durch und durch ein Macho, auf den jede Frau hereinfiel ‒ bis auf die Frau, die er liebte.
Sam besuchte noch die High School, als John nach Woodlands kam, und sie verliebte sich mit der Inbrunst und Leidenschaft eines Teenagers in ihn. Noch immer wurde ihr am ganzen Körper heiß, wenn sie daran dachte, wie er ihr an ihrem siebzehnten Geburtstag einen Antrag gemacht hatte.
»Falls du mich heiraten willst, wenn du alt genug bist, dann sage ich ja«, hatte er ihr versprochen. Er zog sie gern damit auf, wenn sie wütend auf ihn losging, jetzt aber war, zumindest von ihrer Seite aus, zwischen ihnen nur noch geschwisterliche Zuneigung vorhanden. Sein Arm lag auf ihrer Schulter. Sie schüttelte ihn ab, ließ sich nicht auf seinen Smalltalk ein und musste sich gedulden, während ihnen ihr Tisch in der Ecke gezeigt wurde.
»Okay, John, komm ohne Umschweife zur Sache«, sagte sie.
»Jemand muss deinen Großvater zur Räson bringen.«
»Erzähl weiter.«
»Wir stecken in Schwierigkeiten, aber er will den Tatsachen nicht ins Auge sehen. Bierbrauen ist nicht mehr das, was es mal war. Traditionelles britisches Bier ist sowieso ein Verlustgeschäft, was in Kent durch illegale Importe nur noch beschleunigt wird. Die Steuern sind himmelschreiend. Die Leute kaufen ihr Bier in Frankreich und holen es rüber, wenn sie gerade Lust dazu haben.«
»Nicht jeder kann einfach über den Kanal, um sich eine Flasche Bier zu besorgen.«
»Schon, aber in Dover sitzen genügend zwielichtige Typen, die arbeitslose Jugendliche auf den Fähren und Hovercrafts hin- und herschicken.«
»Werden die nicht vom Zoll aufgegriffen?«
»Bei einundzwanzig Millionen Reisenden, die jährlich durch Dover geschleust werden?«
»John, siehst du das alles nicht ein wenig zu schwarz?«
»Es kommt noch schlimmer. Was Trevor im Moment besonders erbost, ist eine kriminelle Bande, die Bier und Alkohol ins Land schmuggelt, die aus gestohlenen Lieferungen stammen. Er hat sich in den Kopf gesetzt, herauszufinden, wer dahinter steckt. Er meint, sie hätten es vor allem darauf abgesehen, unsere Position zu schwächen, damit wir gezwungen sind zu verkaufen. Das ist verrückt, wir sind doch nur ein kleiner Fisch. Wir zählen überhaupt nicht.«
»Trevor muss einen Grund haben, wenn er das annimmt.«
»Hör mir zu, Sam. Ich sag’s dir ganz offen. Er wird langsam alt ‒ akzeptier es. Er glaubt, er sei wieder im SAS, der alte Trottel!«
Sam spürte, dass Johns Kritik an ihrem Großvater sie allmählich verärgerte. »Wer gibt dir das Recht, ihn als…«
John fasste nach ihrer Hand. »Okay, tut mir Leid. Du weißt, wie nahe mir Trevor steht ‒ schließlich hat er mir mal das Leben gerettet. Aber wir müssen etwas unternehmen. Er jagt hinter Schmugglern her, statt sich auf die Brauerei zu konzentrieren. Wir sind tief in den roten Zahlen, Sam. Die Bank drängt darauf, dass er verkauft, jetzt, nachdem ein gutes Angebot vorliegt.«
»Was?«
Einige Köpfe drehten sich in ihre Richtung.
»Davon hat mir niemand was gesagt!« Sie war wütend. Jeder schien es darauf abgesehen zu haben, ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Erst Walter, jetzt Großvater. Und warum hatte es ihr keiner erzählt?
»Sei nicht sauer, Sam. Eine alteingesessene tschechische Brauerei namens Balaton ist seit einiger Zeit an Woodlands interessiert. Trevor hat bislang jedes Angebot ausgeschlagen, obwohl man bereit ist, einen großzügigen Preis zu bezahlen. Die Bank setzt ihn unter Druck, das Angebot anzunehmen.«
»Und wie will sie das tun?«
»Indem sie sein Kreditvolumen zusammenstreicht. Er verfügt nicht über genügend Bargeldreserven, um Hopfen zu kaufen oder die Löhne zu bezahlen.«
Das war ein Schock. Sams Wangen brannten. »Was meinst du, John? Bist du der Meinung, Großvater sollte verkaufen?«
»Ich will es folgendermaßen formulieren: Mir liegt das Wohlergehen der Familie am Herzen. Ich glaube nicht, dass Trevor noch in der Lage ist, eine Brauerei zu leiten. Es tut mir Leid, wenn ich das sage, aber es sieht so aus, als sei er senil geworden …«
Dies war eine geradezu unerhörte Beleidigung ihres Großvaters, bei der Sams Blut in Wallung geriet. Nachdem John mit seinem eigenen Unternehmen Pleite gegangen war, hatte Trevor ihn aufgenommen, ihm Anteile vermacht und einen Job auf Lebenszeit zugesichert. Sam hatte den Grund dafür nie in Erfahrung bringen können. Und so wollte John es ihm nun vergelten? Mit eisiger Miene schlug sie zurück. »Ich habe einen Brief von Shireen bekommen«, sagte sie. »Sie heiratet. Sie kommt vielleicht nach England, um sich die Brautausstattung zu kaufen und sich von allen zu verabschieden.«
Es war nicht zu übersehen, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Nur selten hatte sie ihn so betroffen erlebt. Sie erhob sich. »Ich hoffe, du hältst mich nicht für unhöflich, aber ich muss ins Büro zurück. Ich werde mit Großvater reden. Danke für das Essen.«
An der Tür holte John sie ein und packte sie am Arm. »Du hast dich nicht geändert, was? Aus dem Nichts heraus zuschlagen und sofort wieder verschwinden! Das ist dein Stil.«
»Lass meinen Arm los! Und verschone mich mit deinen Beleidigungen Trevors. Sollte er jemals senil werden, wird er immer noch doppelt so schlau wie du sein.«
Sie entwand sich seinem Griff und ging davon.
***
John bezahlte die Rechnung und ging die wenigen Häuserblocks zum Parkplatz. Dann rief er im Büro an, um nachzufragen, ob Nachrichten eingetroffen seien. Mona, die Schreibkraft der Brauerei, die er gerne als seine Sekretärin ausgab, meldete sich bei seiner Durchwahl.
»Mr. Carvossah ist heute nicht im Haus«, leierte sie herunter und legte auf.
»Diese dumme Kuh!« Er wählte erneut. »Mona, hör zu, ich bin’s, John.«
»Ach, du bist es!« Sie kicherte. »Ich dachte, ich würde heute nicht mehr von dir hören.«
»Irgendwelche Anrufe für mich, die du nicht einfach abgewürgt hast?« Sie las die beiden vor, die er erwartet hatte.
»Halt, da war noch was!«, die ihr dann ein. »Ein Mr. Kupi! Hier ist seine Nummer.«
Der Name versetzte John in Panik. Er nahm kaum noch wahr, wie Mona ihn mit einem kurzen »Bis dann« aus der Leitung warf, und war bereits in seine Erinnerungen an jenen Tag versunken, an dem er ‒ vor gut acht Monaten ‒ Hans Kupi kennen gelernt hatte.
Es war ein Tag wie jeder andere gewesen; schwarz-graue Wolken hingen tief über den Dächern, Seemöwen kreisten und kreischten, als wollten sie einem die Trommelfelle zum Platzen bringen; die Brandung donnerte an den Kieselstrand, dass es noch in einem Kilometer Entfernung zu hören war. Fast hätte er das Smugglers’ Arms nicht betreten, doch als er noch unentschlossen vor der Tür stand, setzte heftiger Regen ein, und er riss die Schwingtüren auf.
Im Pub war es finster und schmuddelig. Rob, der Barmann und Besitzer des Ladens, schien seinen Kater zu pflegen. Ein Blick in seine grauen Augen ‒ und John wusste, dass die Umsätze sanken und der Trübsinn zunahm. John setzte ein Grinsen auf. »Wie gehts, Kumpel? Schon den mit dem Seemann und der Meerjungfrau gehört?«
»Den hast du mir schon das letzte Mal erzählt. Du lässt nach, John. Geht das Geschäft so schlecht?« Für einen großen Mann hatte Rob eine überraschend hohe Stimme.
»Sei nicht albern, wir wissen nicht wohin mit unseren Gewinnen.«
»Das hast du das letzte Mal auch erzählt, und ich hab’s dir nicht abgenommen. Was solls sein? Das Übliche? Ich sag dir, wo das Problem liegt ‒ aber ihr unternehmt ja nichts dagegen. Wir haben hier die Jugendlichen, und für die brauchen wir eben diese neumodischen Bier-Mix-Getränke. Nur die Alten stehen noch auf richtiges Ale. Du bist ein guter Zuhörer, John, aber gibst du das, was ich dir erzähle, auch weiter?«
»Klar mach ich das.«
Rob war wieder bei seinem Lieblingsthema. Ein Glas Apfelsaft kam auf John zugeschlittert. Er hätte ein Bier vorgezogen, hatte aber Probleme mit seiner Leber, obwohl er erst achtundzwanzig Jahre alt war.
Eine belgische Touristenmeute betrat das Lokal. John suchte das Weite und nahm mit seinem Glas in einer Ecke am Fenster Platz, um einen Bericht abzufassen. Eine Minute später stieß jemand an seinen Tisch und setzte sich ihm gegenüber. John sah sich kurz im Lokal um und stellte fest, dass es nur zur Hälfte gefüllt war und es genügend freie Plätze gab. Als er sich dem Eindringling zuwandte, um sich zu beschweren, ließ ihn der Blick des anderen verstummen.
»Mein Name ist Hans Kupi. Ich kenne Sie vom Sehen. John Carvossah, nicht wahr?« Er trug einen maßgeschneiderten grauen Anzug und eine handgefertigte Seidenkrawatte; sein kurz geschnittenes graues Haar, der durchdringende Blick und ein Metallzahn verliehen ihm dennoch eher das Aussehen eines ehemaligen Sträflings.
»Woher kennen Sie meinen Namen?«, fragte John.
»Es gehört zu meinem Geschäft, das herauszufinden. Sie und ich, wir sollten uns unterhalten, John.«
»Ich kann Ihren Akzent nicht einordnen.« John runzelte die Stirn und überlegte, wie er den Mann wieder loswerden konnte.
»Ich bin Tscheche, Bierbrauer aus Pilsen, habe aber vor, sehr bald zu expandieren. Ich habe mir Woodlands angesehen und in den Pubs der Brauerei mit ein paar Leuten geplaudert. Ich hab Großes von Ihnen gehört, John. Sie versuchen, den Betrieb ins zwanzigste Jahrhundert zu hieven, auch wenn wir schon das einundzwanzigste erreicht haben. Aber Sie hatten damit bislang wenig Erfolg, oder? Der Alte will, dass alles nach seiner Pfeife tanzt.«
»Er ist ein großartiger Kerl«, sagte John abwiegelnd. »Vielleicht ein wenig konservativ, aber das ist alles.«
»Sie sind loyal. Das gefällt mir, John, aber wenn Sie so weitermachen, werden Sie bald ohne Arbeit dastehen. Deswegen würde ich mich gerne einschalten.«
Kupi verstummte, nippte an seinem Bier und starrte auf die alten Eichenbalken, den gewienerten Boden und die leeren Tische.
»Was meinen Sie damit, Sie wollen sich ›einschalten‹?«, fragte John, nun doch neugierig geworden.
»Nun, einige meiner Mitarbeiter haben sich in den vergangenen Jahren nach einer Brauerei umgesehen, und Woodlands scheint exakt unseren Vorstellungen zu entsprechen. Rosslyn wird allmählich zu alt dafür, und als Erben des stark verschuldeten Betriebs gibt es nur die beiden Enkeltöchter.«
»Warum erzählen Sie mir das?« John wusste sich nicht zu entscheiden, ob ihn die Sache interessierte oder er sich einfach nur belästigt fühlen sollte.
»Ich hätte Sie gern auf meiner Seite, John. Ich suche nach einem guten Mitarbeiter, der die Leitung von Woodlands übernimmt, und ich rühme mich, ein guter Menschenkenner zu sein. Ich werde bald ein Angebot für den Betrieb vorlegen. Stellen Sie sich nicht dagegen. Das ist alles, worum ich Sie bitte.«
John fühlte sich überrumpelt und in die Ecke gedrängt. Er fuhr sich durchs Haar. Er war für die harte Geschäftswelt nicht geschaffen, das wusste er. »Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht, Kupi, das muss man Ihnen lassen. Aber Sie kennen mich doch überhaupt nicht. Lassen Sie das schöne Gerede und kommen Sie zur Sache. Was wollen Sie wirklich?«
Kupi zuckte mit den Schultern. »Warum haben Sie sich nie darum gekümmert, Ihr Bier zu exportieren?«
»Aus dem gleichen Grund, warum wir die Pubs nicht modernisieren oder andere Biersorten herstellen, denke ich.« Noch in dem Augenblick, in dem er es ausgesprochen hatte, wünschte er sich, er hätte es nicht getan. Er lief rot an, was Kupi nicht verborgen blieb.
»Es ist nicht einfach zu entscheiden, wem Sie sich mehr verpflichtet fühlen sollen, nicht wahr? Der Brauerei, Ihren Kumpels, die dort arbeiten und auf ihre Jobs angewiesen sind, oder Ihrem Chef Trevor Rosslyn. Reden Sie mit ihm. Es gibt in Russland einen riesigen Wachstumsmarkt für Starkbier, und glauben Sie mir, ich kenne den russischen Markt wie meine Westentasche. Bringen Sie ihn dazu, starkes dunkles Ale oder Stout zu produzieren.« Er verstummte für einige Augenblicke, dann legte er eine Aktentasche auf den Tisch. »John«, fuhr er fort, »betrachten Sie das als eine Anzahlung auf zukünftige Prämien, denn eines ist sicher: Ich werde die Brauerei übernehmen. Im Moment aber brauche ich gutes starkes Ale, und zwar eine Menge; ich kann die Nachfrage im Osten nicht befriedigen. Stellen Sie das richtige Bier her, und Sie werden ein Vermögen machen.«
»Wir haben versucht, nach Russland zu exportieren, aber die Eisenbahnlinien werden vom organisierten Verbrechen kontrolliert. Wir bekamen keinen Fuß in die Tür.«
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich verfüge über die richtigen Kontakte.«
John sah ihn fragend an.
»Das Leben geht an Ihnen vorüber, John. Was haben Sie vor? Woodlands wird in einem Jahr bankrott sein, und Sie werden dann ohne Arbeit dastehen.«
Kupi hatte Recht. John wusste, dass er sich im alten Trott eingerichtet hatte. Sein Wagen, seine Wohnung, seine Freundinnen beziehungsweise keine Freundinnen: Das alles bewies ‒ er war ein vollkommen durchschnittlicher Typ. Wenn er von dem Reichtum las, den andere sich erwarben, wurde ihm regelrecht schlecht. Die Medien wurden niemals müde, einen auf die Erfolge der anderen hinzuweisen. Er wusste, er bewegte sich auf einem schmalen Grat und stand kurz davor abzustürzen. Er erhielt einen niedrigen Festlohn und arbeitete auf hoher Provisionsbasis ‒ aber man konnte nichts verkaufen, wenn man das falsche Gebräu im Angebot hatte.
Doch was hatte Kupi soeben gesagt? Es durchfuhr ihn wie ein Stromstoß. Zehntausend Pfund in bar befänden sich in der Aktentasche, die er unter den Tisch stellte?
»Unterstützen Sie mich bei der Übernahme, und es wird Ihnen an nichts fehlen«, sagte Kupi. »Halten Sie mich über die Vorgänge auf dem Laufenden. Überreden Sie Rosslyn, ein neues Stout auf den Markt zu bringen, und wir können in den Export gehen.«
John fühlte sich schwindelig, als Kupi ihm die Hand schüttelte und dann ging. Es ist nichts Schlimmes geschehen, dachte er. Ich habe nichts unterschrieben, ich habe mich nicht verpflichtet, für diesen Dreckskerl auch nur einen Finger zu rühren. Und außerdem, was ist so schlimm daran, Bier nach Russland zu exportieren?
Vorsichtig bewegte er die Füße unter dem Tisch, bis sie gegen die Aktentasche stießen. Er schob sie zu sich heran und sah sich um, ob ihn jemand beobachtete. Keiner schien sich für ihn zu interessieren. »Bis zum nächsten Mal, Rob«, rief er, als er das Lokal verließ.
Draußen vor der Tür öffnete er die Aktentasche einen Spalt breit und sah die sauberen Geldbündel. Er blickte zu seinem verbeulten Ford Sierra. Ein Liebhaberstück, redete er sich immer ein, aber plötzlich erschien ihm der Wagen als das, was er war: eine Schrottkiste. »Du hast auch schon bessere Tage gesehen.« Er klopfte auf die Motorhaube.
Vielleicht konnte er die Aktentasche irgendwo verschwinden lassen oder, noch besser, der Polizei übergeben. Aber das konnte sich als vertrackt oder vielleicht sogar als gefährlich herausstellen. Er konnte sie Kupi auch einfach zurückgeben, wenn er von ihm das nächste Mal kontaktiert wurde. Ja, das wäre das Beste. Aber zehntausend Pfund? Und noch dazu steuerfrei!
Als John nun auf die Begegnung zurückblickte, dachte er, dass das Schicksal einen doch mit der Nase voran in den Dreck stoßen konnte, wenn ihm gerade danach war. Denn am nächsten Tag brannte sein Motor aus, und so verwendete er das Geld als Anzahlung für einen neuen Wagen. Wie komisch, dachte er. Ich habe das Pub als freier Mann betreten und habe mich dann für lächerliche zehntausend verkauft. Er spürte, wie ihm die Galle in die Kehle stieg.
Sam verbrachte den Nachmittag damit, ihr Büro auszuräumen. Die Hälfte der Angestellten war trunken vor Rührseligkeit, und Walter tänzelte andauernd um Sam herum und erklärte ihr, welch wunderbaren Vertrag sie bekommen würde. »Du kannst mich nicht einfach hängen lassen, Sam. Ich kann dich verklagen. Du hast noch einen Arbeitsvertrag, du musst die Kündigungsfrist einhalten. Oder ist dir dieser Punkt entgangen?«
»Walter, komm auf den Boden der Tatsachen. Mein Vertrag läuft in drei Wochen aus. Willst du mich deswegen noch verklagen?«
Er stürmte davon; sie musste die beiden schweren Kartons allein zum Auto schleppen. Als sie zu Hause ankam, fühlte sie sich deprimiert.
Sam musste sonst nur ihre Wohnung in Hampstead betreten und die Tür hinter sich schließen, um mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Zugegeben, die Wohnung lag im Souterrain und war an bewölkten Tagen sehr dunkel, aber sie befand sich direkt an der Hampstead Heath, und von den Fenstern aus war die Böschung mit Blumen zu sehen, die sie im Frühjahr bepflanzt hatte. Sie legte Händels »Messias« auf, machte Tee und bewunderte ihre Landschaftsgemälde. Noch immer spürte sie die Anspannung des Tages. Sie brauchte frische Luft. Sie durchwühlte einen Schrank, suchte nach ihren Joggingschuhen und machte sich auf den Weg. Jock, der Collie des Hausmeisters, lief bellend hinter ihr her, und bald darauf umrundeten sie beide einen der Teiche. Als sie um sieben zurückkehrte, stürzte sie sich in die lange vernachlässigte Hausarbeit. Sie verstaute gerade ihre Bürosachen in einem Schrank, als es an der Tür klopfte.
Es war Walter.
»Du bist hier nicht erwünscht, Walter. Verschwinde.«
»Manchmal benimmst du dich wie ein Kind.« Er drängte sich an ihr vorbei in den Flur, schlenderte ins Wohnzimmer und lümmelte sich auf die Couch. »Sam, du willst mich verletzen, aber du schadest dir damit nur selbst. Du wärst mit deinen vierundzwanzig Jahren der jüngste Artdirector in London. Eine Chance wie diese bekommst du nie wieder. Wie kannst du auch nur in Erwägung ziehen, deine Karriere zu ruinieren, nur um mir eins auszuwischen? Du bist sauer, weil ich dir nichts gesagt habe. Aber ehrlich, Sam, ich wusste es selbst nicht. Wie hätte ich es denn wissen sollen?«
»Ich komm da nicht mit, Walter. Wie sollte ich dir eins auswischen? Es kann dir doch egal sein, ob ich den Vertrag annehme oder nicht!«
»Verstehst du das denn nicht? Kannst du es dir nicht selbst denken?«
»Nein, verdammt noch mal.«
»Im BMI-Vertrag ist ausdrücklich festgelegt, dass jenes Team den Auftrag ausführt, das auch die Kampagne entworfen hat. Damit bist du gemeint! Ohne dich gibt es keinen Vertrag! Und das Angebot von M & M beinhaltet ausdrücklich den BMI-Vertrag und das Team, das ihn gewonnen hat.«
»Dann hast du also eigentlich mich verkauft!«
»Du musst es nur ein Jahr lang machen.«
»Mit einer auf zwei Jahre festgelegten Konkurrenzklausel! Wo soll ich dann hin, wenn ich gehe? Hör auf, mich für dumm zu verkaufen, Walter!«
»Ich kann das auf ein Jahr reduzieren, und ich könnte dir einen Anteil geben. Zehn Prozent. Was hältst du davon?«
»Du hast Nerven. Dreckskerl! Du hast mich benutzt.«
»Sei nicht voreilig, Sam. Artdirector in einer der größten Londoner Werbeagenturen ‒ das ist eine ziemliche Leistung mit vierundzwanzig.«
»Du wiederholst dich.«
»Was soll ich denn tun, wenn ich nicht verkaufe? In meinem Alter bekommt man nur noch schwer einen Job.«
Warum war ihr noch nie die schlaffe Haut unter seinem Kinn aufgefallen, die Tränensäcke unter den Augen? Was hatte sie dazu verführt, in ihm einen dynamischen, faszinierenden Menschen zu sehen? Im Augenblick jedenfalls sah er einfach erledigt aus.
»Walter, deine Zeit ist vorbei. Wahrscheinlich war sie niemals da.«
»Dann mach es aus Freundschaft. Wir haben eine ziemlich gute Zeit miteinander verbracht.«
»Haben wir das? Ich erinnere mich nur, dass wir bis spät in die Nacht gearbeitet haben und du mich angetrieben hast, immer größere, bessere Ideen, Slogans, Bilder und schließlich die gesamte Kampagne zu entwerfen. Und dafür hast du mir so gut wie nichts bezahlt. Es ist vorbei, Walter. Bitte geh!« Aber er ging nicht. Erst als sie damit drohte, die Polizei zu holen, begab er sich widerstrebend zur Tür.
»Muss ich dich bitten, Sam? Ist es das, was du willst? Oder hoffst du vielleicht, dass ich dich heirate?«
Er wich ihrem Wurfgeschoss aus, knallte die Tür hinter sich zu und ließ Sam mit den Scherben der antiquarischen Vase zurück, ein Erbstück ihrer verrücktesten Tante.
Nachdem er fort war, setzte sie sich, um die Dinge auf die Reihe zu bekommen. Sie war ausgenutzt worden. Die Tatsache schmerzte, aber sie hatte eine wertvolle Lektion gelernt ‒ so etwas sollte ihr nicht noch einmal passieren. Walters moralische Maßstäbe waren seine Sache, nicht ihre. Und was den Job anbelangte, vielleicht nahm sie ihn trotzdem an ‒ aber erst, nachdem sie zu Hause ihren Urlaub verbracht hatte. Ein langer, ruhiger Sommer schien eine verlockende Vorstellung. Vielleicht konnte Trevor Gesellschaft brauchen.
Sie sah auf die Uhr. Zweiundzwanzig Uhr ‒ es war noch nicht zu spät, um ihn anzurufen; vor Mitternacht ging er selten zu Bett. Sie wählte und hörte es lange klingeln. Warum ging niemand dran? Sie spürte, dass sie unruhig wurde, aber das war absurd: Er konnte mit Freunden beim Essen oder beim Bridge sein oder mit dem Vikar eine Partie Schach spielen.
In Bourne-on-Sea schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Das kleine Dorf stammte aus dem Mittelalter, es hatte noch Reihen von Tudor-Cottages, mehrere Darren, vier alte Pubs, enge Gassen mit Kopfsteinpflaster und eine alte Steinkirche, die von einer Eibenhecke umgeben war. Ganz in der Nähe, auf einem Hügel über dem Meer, erhob sich eine halb verfallene Burg mit einem Turm; sie gehörte seit Generationen Sams Familie und überblickte einen herrlichen, von Kastanienbäumen gesäumten Dorfanger, einen der schönsten in ganz Kent. Gleich daneben stand die alte Scheune, die Rosemary, Trevors Sekretärin, für ihr Laientheater wieder hergerichtet hatte.
Sam verspürte Heimweh, als sie an das Dorf und ihren Großvater dachte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihr nichts lieber war als ein ruhiger Sommer zu Hause.
Trevor stieg aus seinem Geländewagen und erinnerte sich an eine lang zurückliegende Nacht wie diese. Auch damals hatte am Himmel die dünne weiße Sichel des Mondes gestanden, und vom Boden hatte sich fahl schimmernder Nebel erhoben. Es war kalt gewesen für den Monat Mai, aber damals hatten sie die Kälte nicht gespürt. Er und seine Gruppe, George, Robin, Vim und Michel, hatten zwischen den Bäumen gekauert. Er hatte, so wie jetzt auch, Georges Atem in seinem Nacken gespürt, und Michel, der schon immer zu ungeduldig war, hatte sich danach gesehnt, endlich in Aktion treten zu können.
Aber warum musste er gerade jetzt an den Krieg denken? Und warum ausgerechnet an jene Nacht?
»Los, machen wir schon, verdammt noch mal!« Michel, natürlich. Manche Dinge änderten sich nie.
»Vergiss nicht, so lange zu warten, bis die Boote komplett ausgeladen sind.«
Michel zwinkerte ihnen zu und hielt den Daumen nach oben. »Viel Glück.«
Sie ließen Michel beim Geländewagen oben auf der Klippe über der Bucht zurück. George und er schnallten ihre Rucksäcke auf und machten sich auf den Weg. Ihre Route führte über Klippen hinab zu einer kleinen Kieselbucht, etwa eineinhalb Kilometer von St. Margarets Bay entfernt, zu der eine aufgelassene Straße führte. Infrarotferngläser, eine Kamera mit einem Teleobjektiv, eine Armbrust und eine halb volle Flasche Talisker-Whisky, der die Feuchtigkeit aus ihren alten Knochen vertreiben sollte, vervollständigten die Ausrüstung. Damals hatten sie solche Luxusgüter nicht gehabt.
Er erinnerte sich an jene Nacht, als läge sie erst einige Monate und nicht fünfundfünfzig Jahre zurück: Sie hatten damals nur ihre Gewehre und drei große Sprengladungen bei sich, lange, gleichmäßige Würfel aus Sprengstoff, in denen die weißen Zünder saßen, aus denen die Zündschnur ragte. Sie hatten den See hinter sich gelassen, sich durch Bäume und Unterholz entlang des Mže-Flusses vorgearbeitet, hatten Nỳřany umgangen, bis sie auf die Vororte von Pilsen gestoßen waren. Dort hatten sie gewartet.
Trevor spürte die gleiche Feuchtigkeit des Nebels auf seinem Gesicht wie damals, diesmal aber fühlte er sich warm und behaglich in seiner Vortex-Windjacke. Eine solche Jacke hätte er damals auch gebrauchen können. Vielleicht würde er dann nicht so an Rheuma leiden, wie das mittlerweile der Fall war.
»Alles in Ordnung, George?«
George nickte.
Als Trevor seinen Freund betrachtete, verspürte er ein Gefühl kameradschaftlicher Verbundenheit, wie er es seit jenen Zeiten nicht mehr empfunden hatte, als sie im tschechischen Untergrund gekämpft hatten. Die Freundschaft und seine Probleme hatten die drei Männer wieder zusammengeführt.
»Alles so wie früher, was?«
»Meine Knie fühlen sich anders an.« Aber mit George schien alles in Ordnung zu sein.
Halb joggend, halb marschierend erreichten sie nach einer halben Stunde den Strand. Trevors Atem ging laut und rasselnd, und sein Rücken schmerzte fürchterlich.
»Trevor, glaubst du, sie landen wieder an der gleichen Stelle an? Was ist, wenn sie sich einen anderen Platz suchen?«
»Dann fangen wir wieder von vorne an.«
Wochenlang hatte Trevor nachts den Strand beobachtet, um herauszufinden, wo sie den geschmuggelten Alkohol an Land schafften. Er hatte hinter Felsen auf dem harten Strandkies gekauert, während die Minuten nur langsam verstrichen. Auch der Krieg hatte für ihn vor allem aus einem bestanden: Warten.
Er erinnerte sich, wie er in jener Zeit, nachdem sie sich getrennt hatten, zwei Stunden lang hinter einem Stapel Schwellen gekauert hatte. Endlich, von Nervosität getrieben, war er zum Stellwerk des Pilsener Bahnhofs gekrochen, hatte seine Ladung platziert und war mit klopfendem Herzen über die Gleise zurückgerannt. Er sah die dunkle Silhouette des Stellwerks, die schwachen Lichter im Führerstand der Lokomotiven, eingehüllt vom Geruch des Öls und des Kohlenrauchs. Die nächsten zehn Minuten kamen ihm vor wie zehn Stunden. Dann zündete er die Ladung. Nur Augenblicke später spurtete er zu den Bäumen zurück; das Geräusch seiner Füße wurde übertönt von der Explosion, gefolgt von Schreien, Schüssen und Schritten.
Warum waren die drei Sprengladungen nicht gleichzeitig hochgegangen? Er blickte auf das leuchtende Zifferblatt seiner SAS-Uhr. Dreißig Sekunden … dann eine Minute. Was war schief gelaufen? Schon sah er George und Michel vor sich, die bewusstlos in die Gestapo-Zellen geschleift wurden. Zwei Minuten … fünfundvierzig Sekunden … drei Minuten … Dann hörte er die zweite Explosion über das Bahnhofsgelände hallen.
»Und jetzt die Dritte. Komm schon, lass sie hochgehen.« Fünfzehn Minuten später ertönte die dritte Explosion. Sie war gedämpft, schwächer und schien weiter entfernt zu sein als geplant.
Im Morgengrauen waren George und Michel zu ihrem Treffpunkt auf der anderen Uferseite des Mže zurückgekehrt. Das Haar klebte ihnen an der roten, verschwitzten Stirn, ihre Füße waren mit Blasen überzogen. George hatte sich eine Zigarette angesteckt, lehnte an einem Baum und sah stirnrunzelnd zu Trevor.
»Es hat geklappt, aber nicht so, wie geplant. Sie werden die Schäden relativ schnell beheben können. Trevor, wir brauchen mehr Sprengladungen.«
Robin kam als Nächster. »Warum hat es so lange gedauert, bis die dritte Ladung gezündet wurde?«, fragte er. »Das gefällt mir nicht. Verschwinden wir von hier!«
Aufgeschreckt von den Erinnerungen, wälzte sich Trevor unruhig hin und her. Die Scheinwerfer eines Lasters, der auf dem alten Weg zum Strand hinabrumpelte, brachten ihn in die Gegenwart zurück. Er griff sich sein Fernglas, stieg auf den Felsen und sah aufs Meer hinaus. Weit draußen in der Dunkelheit blitzte dreimal kurz eine Taschenlampe auf; der Laster antwortete mit dem Aufblenden des Fernlichts.
»Unterschätze den Feind nicht! Das sind skrupellose Mistkerle; die schrecken vor nichts zurück. Sie sind in wenigen Minuten hier. Pass auf, George, mit großer Sicherheit sind sie bewaffnet.«
Trevor trat einen Schritt nach hinten, fand keinen Halt, verlor das Gleichgewicht und spürte einen scharfen Schmerz im Rücken, als er auf den Kieseln aufschlug.
»Verdammt!« Einen kurzen Augenblick der Verwirrung lang glaubte er, in einem tschechischen Flussbett zu liegen. Er rappelte sich auf, versuchte die stechenden Schmerzen zu ignorieren und riss sich zusammen. Seine Glieder schienen eingerostet zu sein, ihm war fürchterlich kalt. Die schrecklichen Erlebnisse, die er bislang durchgemacht hatte, waren nichts verglichen mit den Gebrechen des Alters. Er sah zu George, der neben ihm kauerte und dessen geschwollenes Gesicht das reine Leiden auszudrücken schien. »Alles in Ordnung, George?«
»Ein wenig außer Atem, das ist alles«, keuchte er.
Ihr Plan war ganz einfach. Sobald die Boote anlandeten, würde Michel über sein Handy die Polizei verständigen und ihren Standort durchgeben. Er würde warten, bis die Kisten ausgeladen waren, und dann den mächtigen Suchscheinwerfer anschalten, der auf dem Geländewagen montiert war. Während die Schmuggler geblendet und verwirrt waren, würde George mit seiner Armbrust auf die Reifen des Lasters schießen, während Trevor Fotos vom Fahrer und seinen Komplizen machte. Anschließend wollten die drei im Schutz der Dunkelheit fliehen und den Rest der Polizei überlassen.
Der Motor des Lasters heulte auf, er drehte um und stieß dann rückwärts zum Strand hinab; sechs Motorboote kamen durch die Brandung. »Position einnehmen«, murmelte Trevor, während die Schmuggler die Boote entluden.
Die Minuten vergingen wie Stunden. Dann trat Michel in Aktion. Die kleine Bucht wurde in ein surrealistisches Licht getaucht. Jede Bewegung schien im folgenden Bruchteil einer Sekunde eingefroren zu sein. Dann drückte Trevor auf den Auslöser seiner Kamera, und George bediente seine Armbrust. Der rechte Vorderreifen platzte. Die Schmuggler verteilten sich. George zielte erneut. Wieder ein Volltreffer! Der Laster neigte sich gefährlich zur Seite.
»Gut! Und jetzt nichts wie weg!« Trevor wandte sich um, er wollte den Weg über die Klippen hochlaufen, bemerkte aber, dass er die Beine kaum bewegen konnte.
Der Fahrer rannte vom Laster weg, hob ein Gewehr und feuerte in schneller Folge mehrere Schüsse auf den Suchscheinwerfer ab. Ein Schrei hallte über die Bucht, während alles plötzlich wieder in Dunkelheit lag.
Der gewundene Pfad durch die Klippen lag direkt vor Trevor. Er hatte ihn fast erreicht, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Er erstarrte; eine hoch gewachsene Gestalt mit einer wollenen Gesichtsmaske ging mit einem Totschläger auf ihn los. Er wehrte den Angriff ab und bekam den Totschläger zu fassen; sein Körper erinnerte sich an längst vergessene Nahkampftechniken, doch die Glieder wollten den Befehlen nicht mehr gehorchen. O Gott! Er hätte sich fit halten sollen. Wie hatte er es so weit kommen lassen können? Er spürte, wie er zu Boden ging. Er nahm eine schnelle Bewegung wahr, vor seinen Augen blitzte es auf, gleichzeitig fuhr ein stechender Schmerz durch seinen Schädel. Jemand trat ihn. Die Schmerzen waren schrecklich, noch schlimmer aber war seine Sorge um Michel und George. Er wollte aufstehen und kämpfen, konnte sich aber nicht rühren. In der Ferne hörte er Polizeisirenen. Dann nichts mehr.
Auf dem Schild stand: »Sie befinden sich im Herzen von Woodlands Country.« Zwölf weitere Schilder würden noch folgen, bevor sie die Abzweigung zu ihrem Zuhause erreichte, und nochmals vier befanden sich auf dem Weg nach Bourne-on-Sea. Die halb ausgewachsenen Lämmer, die sich gegenseitig über die Felderjagten, den karmesinroten Mohn in den Hecken nahm sie kaum wahr. Sie war unterwegs zum Krankenhaus, ihre Gedanken waren bei ihrem Großvater. Wer sollte einen alten, siebenundsiebzigjährigen Mann krankenhausreif schlagen wollen? Seit Johns Anruf war sie völlig aufgelöst. Am liebsten hätte sie die Täter eigenhändig ermordet. Sie würde es tun, wenn sie es könnte. Dreckskerle! Sie liebte Trevor und hatte ihm viel zu verdanken. Das Glück ihrer Kindheit beruhte auf ihm.
Es war ein grauer Märzmorgen gewesen, als sie und Julie, ihre fünfjährige Schwester, in seine Obhut gekommen waren. Damals war sie elf gewesen und trauriger, als je ein Kind sein sollte, weil sie und ihre Schwester alles hinter sich lassen mussten, was sie geliebt hatten. Sie hatten sich beide halb tot vor Angst gefühlt. Nach der langen, schlaflosen Nacht im Flugzeug, einer Reise, bei der sie von ihrer früheren, verwitweten Nachbarin begleitet wurden, erreichten sie ein kaltes, schreckliches Land, in dem der Wind heulte, wo der Himmel so tief hing, dass man glaubte, man müsse ersticken, und in dem die Feuchtigkeit einem bis in die Knochen kroch. Sam hatte versucht, sich ihren Großvater vorzustellen, der sie zwei Jahre zuvor in Zimbabwe besucht hatte. Aber sie hatte sich an sein Gesicht nur undeutlich erinnern können.
Als Werbetexterin, die versiert war im Umgang mit Slogans und Bildern, konnte sich Sam ausrechnen, mit wie viel Sorgfalt Trevor seinen Eröffnungszug geplant hatte. Er hatte sie am Tor empfangen, an dem ihre Begleiterin ihm seine beiden Enkelkinder förmlich übergeben hatte.
»Ich werde mich in Kürze um Sie kümmern, Madam«, hatte er gesagt. »Sie müssen müde und durchgefroren sein. Im Wohnzimmer stehen Tee und Crumpets bereit. Die Haushälterin wird sich Ihrer Sachen annehmen.«
Und dann hatte er die beiden Mädchen an der Hand genommen und über den Hof zu den Stallungen geführt.
»Also«, hatte er begonnen, »dann werft mal einen Blick auf alles. Seht ihr dort die Shetland-Ponys? Die stammen vom Pony eures Vaters ab. Das hat ihm gehört, also gehören sie jetzt euch.«
»Wie heißt das da?«, hatte Julie gefragt.
»Shaka. Wenn du willst, kannst du auf ihm reiten. Und wie gefallen euch unsere Zugpferde? Es sind die besten in ganz England. Unsere Familie ist berühmt für ihre Zucht. Das hier hat eurem Vater gehört ‒ er hat daran gedacht, es nach Zimbabwe zu holen.« Er hielt inne. »Hier, schaut euch das an.«
Sie spähten in einen Korb, in dem eine schwarze Hündin mit samtigen Augen acht schwarze Welpen säugte.
»Darf ich eins anfassen?« Sam war hin und weg von den zappelnden Hündchen mit ihren rosaroten Schnauzen.
»Natürlich.«
»Sie sieht aus wie Caesar, aber der wurde beim Überfall getötet«, sagte Julie.
»Sie ist ja auch Caesars Schwester. Siehst du, Julie, der Lieblingslabrador deines Vaters, Brutus, hat eine ganze Reihe preisgekrönter Nachfahren hervorgebracht, und Sarah gehört auch dazu. Sie ist sehr stolz auf ihre Welpen. Natürlich gehören sie ebenfalls euch, denn schließlich stammen sie von den Hunden eures Vaters ab.«
Sam erinnerte sich, wie in der unverhofften Freude darüber, dass nicht alle geliebten Dinge unwiderruflich verloren waren, für einen kurzen Augenblick alle Trauer vergessen war.
»Euer Vater hatte vor, eines Tages hierher zurückzukehren und die Brauerei zu übernehmen. Vielleicht wollt ihr beide ja seine Stelle einnehmen. Seht in mir also jemanden, der sich um alles kümmert, was eurem Vater gehört hat und einmal in euren Besitz übergehen wird. Wir werden gute Freunde werden, das weiß ich.«
Sam musste daran denken, dass sie den Stall niedergeschlagen, verloren und im Bewusstsein, eine Waise zu sein, betreten und ihn eine halbe Stunde später als Landbesitzerin wieder verlassen hatte ‒ in Begleitung eines Großvaters, der sie liebte, sowie eines eigenen Welpen. Sie hatte damals entschieden, ihn Brutus zu nennen und ihn zu sich zu nehmen, sobald er von seiner Mutter getrennt werden konnte. Julie hatte ihre Hand losgelassen. Aufgeregt hatte sie davon gesprochen, die Reitschule am Ort zu besuchen.
Niemand konnte Sam die geliebten Eltern ersetzen, aber sie wurde geliebt und gehörte hierher. Hier lagen ihre Wurzeln. Plötzlich hatte das kalte Wetter seinen Schrecken verloren. Seit diesem Tag war Trevor immer, wenn sie ihn brauchten, für sie da gewesen und hatte sie beide mit Freiräumen und mit viel Liebe erzogen.
Und jetzt diese schreckliche Sache. Erst hatte John sie informiert, dann, um siebzehn Uhr, hatte Rosemary, Großvaters Sekretärin, angerufen und ihr erzählt, dass Trevor niedergeschlagen worden sei. Unter Tränen hatte Rosemary erklärt, die Polizei habe ihn in die Notaufnahme gebracht, allerdings sei er auf eine andere Station verlegt worden, da sein Oberschenkel gebrochen war. Sam hatte sich vorgenommen, am nächsten Morgen als Erstes einen Spezialisten aus der Harley Street anzurufen.
Sie hatte das Notwendigste eingepackt und sich sofort auf den Weg gemacht. Sie parkte den Wagen, eilte zur Krankenhausrezeption, gab ihren Namen an und wurde in den angrenzenden Raum gewiesen, wo sich ein Mann erhob und ihr die Hand entgegenstreckte. Er war groß, besaß ein schmales, knochiges Gesicht, schwarze, buschige Brauen und metallischgraue Augen. Nur sein warmer, leicht amüsierter Gesichtsausdruck bewahrte ihn davor, hässlich zu sein. Sie mochte ihn sofort.
»Samantha Rosslyn? Ich habe auf Sie gewartet. Ich bin Inspektor Neville Joyce. Nehmen Sie doch bitte Platz.«
»O Gott!«
»Er befindet sich auf dem Weg der Besserung, Miss Rosslyn. Entspannen Sie sich.«
Sam fiel eine schwere Last von der Schulter. »Sie? Du … erinnerst dich doch sicherlich«, sagte sie erleichtert. »Du bist doch der Neffe von Onkel George. Seit wann bin ich für dich Miss Rosslyn?«
»Ein gutes Gedächtnis! Es muss mindestens zehn Jahre her sein, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich will dich nicht lange aufhalten. Ich wollte mit dir nur über deinen Großvater sprechen. Wir sind uns schon immer in die Quere gekommen. Ich bewundere ihn sehr, aber diesmal hat er meine Toleranzgrenze eindeutig überschritten. Ich möchte dich bitten, ihn davon zu überzeugen, das Herumschnüffeln doch lieber uns zu überlassen.«
»Welches Herumschnüffeln? Du musst mir erklären, was eigentlich geschehen ist.«
»Letzte Nacht haben Trevor, mein Onkel und einer ihrer Freunde einer ausländischen Bande aufgelauert, die eine große Ladung gestohlenes Bier ins Land schmuggeln wollte. Dein Großvater hat Fotos geschossen, allerdings haben die Schmuggler die Kamera zerstört. Ich weiß, dass er glaubt, wir würden uns nicht genügend um den Bierschmuggel kümmern. Das Problem ist: Für die Sache ist der Zoll zuständig, uns wurde bislang die Einsicht in die Angelegenheit verwehrt. Glaub mir, ich habe es versucht. Durch den gestrigen Vorfall fällt jedoch alles in meine Zuständigkeit.
Trevor ist schwer verprügelt worden. Er hat sich dabei eine Gehirnerschütterung und eine Oberschenkelfraktur zugezogen. Michel Cesari, ein Korse, wurde angeschossen. Er liegt auf der Intensivstation, wird aber überleben. Und Onkel George hat einen kleineren Herzinfarkt erlitten.
Die drei Alten haben versucht, die Schmugglerbande aufzuhalten, bis die Polizei eintraf. Aber sie können die Uhr nicht zurückdrehen, auch wenn sie das gerne wollten. Wusstest du, dass George, Michel und dein Großvater im Zweiten Weltkrieg im tschechischen Untergrund gekämpft haben? Hat dir Trevor jemals seine Auszeichnungen gezeigt? Eine davon ist das Viktoriakreuz.«
Sam war überrascht. »Ich hatte keine Ahnung …« Sie holte tief Luft. »Er hat Julie und mir nie von seinen Kriegserlebnissen erzählt, Neville. Vielleicht hat er sich gedacht, dass wir vom Krieg genug hatten. Und damit hatte er ja Recht.«
»Jedenfalls, die drei haben eine große tschechische Untergrundgruppe geleitet. Es ist ihnen gelungen, die verschiedenen Fraktionen zusammenzubringen, ohne dass es zu internen Auseinandersetzungen kam.«
»Wenn ich das gewusst hätte.«
»Naja, es ist schon lange her, aber eine Zeit lang war er sehr berühmt. Genau wie deine Großmutter. Sie ist ebenfalls vom König ausgezeichnet worden. Ich bewundere deinen Großvater, Sam.«
Sie versuchte zu lächeln, musste sich jedoch auf die Lippen beißen, um ihre Tränen zurückzuhalten. »Das tun viele«, flüsterte sie. »Ich gehöre auch dazu.«
»Dann versuch ihn doch bitte davon abzuhalten, sich in kriminelle Machenschaften einzumischen. Es gibt Leute, die dafür bezahlt werden, sich darum zu kümmern.«
Sie war fest entschlossen, ruhig zu bleiben. »Jemanden lieben und jemanden überwachen, das sind zwei grundverschiedene Dinge, Neville. Aber ich denke, mit einem gebrochenen Oberschenkel wird er dir kaum noch Probleme bereiten.«
»Du klingst genau wie er.«
»Weißt du, wie es seinen Freunden geht?«
»Besser, als es diese komischen alten Käuze verdient hätten!«
Was für ein netter Ausdruck! Sie wollte ihn sich merken; vielleicht könnte sie ihn beim nächsten Mal anbringen, wenn sie einen Slogan für Senioren entwerfen musste.
»Das freut mich. Haben Sie gegen das Gesetz verstoßen?«
»Onkel George hatte eine Armbrust bei sich. Ihre Wirkung ist tödlich und der Besitz illegal. Er hat damit die Reifen des Lasters zerschossen.«
»Eine Armbrust! Die Sache wird ja immer grotesker. Wird man Anklage gegen ihn erheben?«
»Wahrscheinlich nicht.«
Sam wollte aufstehen, doch Neville hielt sie mit seiner schweren Hand auf der Schulter zurück. »Sam, ich denke, dein Großvater hat Recht. Hinter dem Alkoholschmuggel steht ein weit verzweigtes Netzwerk des organisierten Verbrechens. Ich sage dir das, damit er einsieht, dass er in diesem Fall nichts auf eigene Faust unternehmen darf. Er hätte nicht die geringste Chance. Ich kann es nicht oft genug wiederholen. Er darf sich in diese Sache nicht einmischen.«
Trevor schlief. Seine Nase war verbunden, die Lippen waren geschwollen und aufgerissen. Weiß Gott, wie sein restlicher Körper aussah. Sam fasste nach seiner linken Hand und legte sie sanft zwischen ihre Hände.
Wie friedlich er aussah. Sie hatte ihn noch nie so reglos gesehen. Sonst war er immer in Bewegung, gestikulierte und besaß eine lebhafte Mimik. Sein drahtiges, kurz geschnittenes weißes Haar war zerzaust, die Augenbrauen waren buschig und kohlrabenschwarz. Zusammen mit seiner Hakennase und seinen hohen Wangenknochen verliehen sie ihm beinahe südländische Züge.
Sie spürte, wie Trevor ihre Hand drückte. Sie sah ihm in die schwarzen Augen und versuchte, möglichst ernst zu blicken. »Ah, bist du endlich wach? Wie geht es dir?«
»Ganz in Ordnung. Ein wenig angeschlagen vielleicht. Was machst du hier?«
»Rosemary hat mich angerufen. Du hattest kein Recht, dich in Gefahr zu bringen. Du solltest an deine Familie denken. Wir sind hier nicht im Krieg.«
»Dessen wäre ich mir nicht so sicher, Sam.« Er wollte sich bewegen, stöhnte aber vor Schmerzen auf. »Das ist eine neue Form von Krieg. Die Unschuldigen gegen das organisierte Verbrechen und seinen alles unterminierenden Einfluss, durch den alle anständigen Werte hinweggeschwemmt werden.«
»Wow! Was für Worte von jemandem mit einer Gehirnerschütterung. Aber, würde es dir nicht besser anstehen, wenn du versuchen würdest, Woodlands vor der Übernahme zu retten?«
»John hat es dir erzählt?«
»Ja. Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
Wieder drückte er ihr die Hand. »Vielleicht, weil alles auf einmal kam. Noch vor einigen Monaten lief alles wunderbar. Wir haben keinen Gewinn gemacht, aber ich hatte einige Pläne, um das zu ändern.« Er verzog das Gesicht und streckte sich nach dem Glas mit Wasser. Sam reichte es ihm. »Das Braugewerbe ist im Umbruch begriffen. Wir mussten schnell modernisieren. Um die Finanzierung zu gewährleisten, habe ich bei der Bank meine Anteile als Sicherheit hinterlegt. Von dem Geld habe ich einige Pubs renovieren lassen.
Vor einem Monat kam dann von Balaton ein Übernahmeangebot für Woodlands. Zur gleichen Zeit hat die Bank unseren Überziehungskredit mit der Begründung zurückgeschraubt, unsere Aktien hätten an Wert verloren. Dann haben sie mir mitgeteilt, sie hätten ein gutes Angebot von Balaton, uns zum marktüblichen Preis aufzukaufen ‒ ein Angebot, das aber weit unter dem wahren Wert lag. Und weißt du warum? Ich habe den Wert des Lands immer nach seinem Hopfenertrag berechnet. Als Immobilienanlage ist es jedoch wesentlich mehr wert.«
»Die können doch nicht unsere Anteile kaufen? Wir sind ein Privatunternehmen.«
»Doch, das können sie, wenn sie uns mit angemessener Frist dazu auffordern, das Bargeld aufzutreiben, um unsere Anteile selbst auszulösen. Und das können wir nicht. Ich hab ein paar Fehler gemacht, Sam. Wir haben zu viel Kapital in Stout-Lagerbestände gebunden. Ich bin davon ausgegangen … Naja, lassen wir das! Wenn wir unsere Anteile nicht abtreten oder innerhalb von sechs Monaten nicht das nötige Kapital auftreiben, droht die Bank uns zu liquidieren.«
»Das ist doch kriminell!«
»So läuft das Geschäft nun mal. Auch wenn wir solche Praktiken nicht anwenden, sind sie nicht minder legal. Hilf mir auf, Sam, ich fühl mich so verdammt schwach.«
Sie fasste ihn unter den Schultern und versuchte, ihn umständlich in eine sitzende Stellung zu hieven. »Du wiegst ja eine Tonne.«
Während er ihr zu helfen versuchte, öffnete sich seine Pyjamajacke und ließ seine Verletzungen erkennen. Es gab kaum einen Fleck an seinem Oberkörper, der nicht purpurrot oder schwarz verfärbt und geschwollen wäre.
»O Gott! Du musst ja schreckliche Schmerzen haben! Sie haben dich ziemlich in die Mangel genommen. Was war das? Ein Schlagstock?«
»Genagelte Stiefel. Ich bin mir sicher, der hatte einige Erfahrung darin. Aber ich wachs schon wieder zusammen.« Trevor lehnte sich zurück und schloss die Augen. Dann sagte er: »Sam, wenn ich beweisen könnte, dass das organisierte Verbrechen in Osteuropa versucht, in der britischen Brauindustrie Fuß zu fassen, dann wäre die Bank moralisch verpflichtet, nicht an sie zu verkaufen ‒ denk nur daran, welch schlechte Publicity das für sie wäre. Aber so, wie es jetzt aussieht und ich nun mal im Krankenhaus bin, werden wir ihr Angebot annehmen müssen. Ein alter Krüppel und ein Mädchen können sich nicht gegen das organisierte Verbrechen stellen. Zehn Millionen Pfund sind viel zu wenig, aber es könnte schlimmer sein. Ich will, dass du den Verkauf abwickelst. Wenn Balaton erfährt, dass ich im Krankenhaus liege, könnten sie versucht sein, das Angebot noch weiter zu verringern.«
Sam konnte die Situation noch immer nicht recht begreifen. Wie um alles in der Welt könnten sie Woodlands verkaufen? Es war seit Generationen im Besitz der Familie.
»Was ist, wenn wir nicht verkaufen?«
»Dann steht uns ‒ wie gesagt ‒ wahrscheinlich in sechs Monaten die Liquidierung bevor. Oder Balaton kontrolliert die Mehrheit, falls die Bank ihnen unsere Anteile verkauft. Und dann haben sie uns im Sack. In jedem Fall bleibt dann für uns nichts übrig. Rosemary war vorhin mit unserem Anwalt Michael Johnson hier. Du bist ihm einige Male begegnet. Ich habe dir die uneingeschränkte Vollmacht übertragen lassen.« Er lächelte. Es war nicht zu übersehen, wie viel Anstrengung es ihn kostete, fröhlich zu scheinen. »Wie gehts Michel?«, murmelte er.
»Neville Joyce sagt, er kommt durch, er liegt aber noch immer auf der Intensivstation.«
»Sam, bitte finde heraus, wie es ihnen geht. Ich werde mir das nie verzeihen.«
»Du hättest die Schmuggler nicht stellen dürfen. Neville hat Recht, du bist nicht mehr der Jüngste. Und außerdem, was hättet ihr schon ausrichten können? Ihr wart doch noch nicht mal bewaffnet.«
Trevor zuckte zusammen, dann seufzte er. »Was für ein Mist! Es heißt, ich bräuchte ein künstliches Hüftgelenk. Das wird mich einige Wochen zurückwerfen. Kannst du in der Agentur Urlaub nehmen?«
»Das ist nicht mehr nötig. Walter hat uns einfach an die Konkurrenz verkauft.«
»Und das war nicht vorherzusehen?«
»Ich hab keinen Gedanken daran verschwendet.«
»Ein zweites Mal wird dir das nicht passieren. Ich nehme an, das tut ziemlich weh.«
»Ja, aber nicht lange.«
In diesem Moment erschien die Schwester, um mitzuteilen, dass der Spezialist eingetroffen sei. Eine halbe Stunde später kam er zu ihr hinaus. »Ich muss den Oberschenkel sofort nageln. Er wird zwei Wochen im Krankenhaus sein, und danach wird er es langsamer angehen müssen. Binnen eines Monats wird er sich mit einer Krücke wieder bewegen können. In der Zwischenzeit würde ich ihn gerne in eine nahe gelegene Privatklinik verlegen. Er sagt, er verfüge über eine Krankenversicherung.«
»Ja, natürlich, danke. Ich werde es ihm mitteilen.«
Trevor nahm die Neuigkeiten mit stoischer Gelassenheit auf. »Du solltest jetzt gehen«, sagte er. »Du musst den Laden übernehmen. Kopf hoch! Wir fangen wieder von vorne an. In einem Monat bin ich wieder ganz der Alte.«
Sam war weder beruhigt noch überzeugt, als sie ging.
Trevor schloss die Augen und sank auf sein Kissen zurück. Er lauschte Sams Schritten, die im Gang immer leiser wurden. Sie glich in vielem ihrer Großmutter, die ebenso einfallsreich und loyal, wenngleich vielleicht ein wenig starrköpfig gewesen war. Er wusste, Sam würde mit allem wunderbar klarkommen.
Als er aufgewacht war und sie auf seiner Bettkante hatte sitzen sehen ‒ ihr schwarzes Haar fiel ihr nach vorn ins Gesicht, ihre braunen Augen betrachteten ihn voller Mitgefühl ‒, da hatte sie exakt wie Anna ausgesehen, damals, als er aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war und erwartet hatte, sich in einer Gestapo-Zelle wiederzufinden. Stattdessen hatte er sich in der Scheune der Gräfin Anna Steppinac befunden. Er lächelte, als er sich wieder an die kurzen Augenblicke, die verstohlenen Momente in Gräben, Wäldern und Höhlen erinnerte. Nach einigen Monaten hatte er angefangen, das Ende des Krieges zu fürchten; er glaubte, es werde ihre Trennung bedeuten. Doch sie hatte ihn geheiratet. Der Krieg war seine schlimmste, aber auch seine beste Zeit gewesen.
Warum sollten sie Woodlands verlieren? Woodlands gehörte Trevor ‒ sowie ihr und Julie ‒ von Geburt an. Wie konnte sie zweimal in ihrem Leben alles verlieren?