Das Gewicht der Reue - Khalil Sweileh - E-Book

Das Gewicht der Reue E-Book

Khalil Sweileh

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Beschreibung

Khalil Sweilehs Roman "Gewicht der Reue" beleuchtet die Tragödie, die das syrische Volk in den letzten Kriegsjahren erlebt hat und die für jeden Menschen aus Syrien nichts als Schmerz bedeutet. Sweileh nimmt den Leser mit auf einen Streifzug durch das geschundene Damaskus. Er geht Erinnerungsspuren nach und stellt die seelischen Konflikte dar, die sich aus der Zerstörung von Ort und Gesellschaft ergeben. Im Zentrum steht dabei ein Mensch, der sich mit verpassten Gelegenheiten auskennt und der versucht, seine Dämonen zu zähmen. Der Protagonist richtet seine Worte an die alten Gassen von Damaskus, während er drei Frauen am Rande des Lebens folgt: einer Dichterin, einer ehemaligen politischen Gefangenen und einer bildenden Künstlerin. Allmählich entwickelt sich der Roman zu einer Biografie dieser Persönlichkeiten, enthüllt die lebendige Realität in all ihren sozialen Aspekten - die Auswirkungen des Krieges auf unterschiedliche Figuren werden offenbar. Zugleich handelt es sich um einen Liebesroman im Schatten der Zerstörung, inmitten der täglichen Hölle, der Todesnachrichten und der offenen Rechnungen des Hasses, in der unbeschwerte Beziehungen nicht gedeihen können und die Liebe zum Scheitern verurteilt ist.

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 Khalil Sweileh

DAS GEWICHT DER REUE

Übersetzt aus dem Arabischen von 

Suleman Taufiq

Roman

Originaltitel:

اختیار الندم، خلیل صویلح

Hachette Antoine, Lebanon, 2017

Die Veröffentlichung dieser Übersetzung wurde durch die 

finanzielle Unterstützung des Sheikh Zayed Book Award, 

Department of Culture and Tourism / Abu Dhabi, ermöglicht

CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek

© 2022 by Sujet Verlag

ISBN-Nummer: 978-3-96202-629-5

Das Gewicht der Reue

Khalil Sweihleh

Aus dem Arabischen von Suleman Taufiq

Umschlaggestaltung: Kai Kullen

Layout: Vivien Müller

Lektorat: Kurt Scharf

Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen

1. Auflage: Herbst 2022

Printed in Europe

E-Book: www.dezettgrafik.com

www.sujet-verlag.de

 Einer von uns musste die Tiefe des Schmerzes mit dem Skalpell des Verschwindens ergründen.

1

Vielleicht ist Reue eine verspätete Entschuldigung für Handlungen, die wir für gerechtfertigt hielten, als wir sie ausführten, oder für solche, die wir unterließen, als sie notwendig gewesen wären.

So legte ich an diesem Oktobernachmittag an der Kreuzung der Firdaus- und al-Mutanabbi-Straße meinen Arm um deine Taille. Als Vorwand diente mir der Regen, der, zumindest im Film, Intimität fördert.

Unterwegs erzähltest du mir erstens, dass du Hunger hättest, zweitens, dass du Vegetarierin seist und drittens, dass du Pommes frites mit Mayonnaise liebtest. Ich musste also nach einem Ort suchen, der deinen Wünschen entsprach. 

Im Picasso-Restaurant waren die Tische und Stühle alle rot, ein guter Anlass, um uns in die Nuancen dieser Farbe, die auf das Begehren hinweist, zu vertiefen.

Das Vage an unserer Beziehung, das wir mit koketten Bemerkungen zu überspielen versuchten, wurde von flüchtigen Hinweisen auf das Blut verstärkt, das der Krieg überall hinterlassen hatte und das auch rot war.  

 Du wolltest deinen zweiten Besuch in Damaskus wegen des starken Regens im Süden verschieben. Eigentlich hatte ich diesbezüglich keine großen Hoffnungen mehr, und ich konnte mir auch keinen Umstand vorstellen, der uns wieder zusammenbringen würde. 

Vielleicht war aber einer der Gründe, die mich dazu bewogen, den Vorhang der Einsamkeit zu sticken und mich dauerhaft dahinter zu verstecken, auch nur Langeweile. Nach zwei Wochen ohne dich, hielt ich deinen unerwarteten Besuch jedenfalls für ein gutes Omen oder auch für ein Ereignis, das die Eintönigkeit meiner Tage, die sich kaum voneinander unterschieden, vorübergehend unterbrechen würde. 

Ich hatte dir beiläufig erzählt, dass dein Anruf an diesem Morgen mich sehr erfreut hatte und dass du wie eine unerwartete Regenwolke warst, die meine ausgetrocknete Seele erfrischte. Ein Late-Night-Chat auf Facebook zerstreute meine Verlustängste. Das Schreiben im Cyberspace gibt uns eine Portion Mut, die es uns ermöglicht, über Dinge zu diskutieren, die wir in Gegenwart des anderen nicht anzusprechen wagen. Ebenso helfen eine ausweichende Art zu reden, eine rätselhafte Formulierung, eine interpretierbare Referenz oder ein Vers aus einem Gedicht, den man aus einem populären Blog entlehnt, die Barrieren der Nüchternheit allmählich zu überwinden. Dabei kommt es allerdings leicht zu sprachlichen Ausrutschern, die auf den ersten Blick unbeabsichtigt erscheinen mögen.

Auch du hattest mir, ein wenig leichtsinnig, Fallen gestellt, warst aber nicht mit derselben Entschlossenheit vorgegangen, mit der ich die undurchdringlichen Mauern, hinter denen du dich verschanzt hattest, zu durchbrechen suchte. Ich schickte mich an, mich auf ein gefährliches Gelände zu begeben, jenseits der Wohlanständigkeit. Oder genauer gesagt, erst hattest du den Brennstoff mit einem unsichtbaren Streichholz entzündet, aber dann löschtest du das Feuer durch eine gegenteilige Aussage wieder. Das hatte nichts mit dem Holz zu tun, das wir zusammen im Wald der Verführung in unserer Nähe gesammelt hatten. Wir waren gewissermaßen geflohen, um nicht aufzugeben.

Unsere erste Bekanntschaft begann mit deinem Anruf vor genau fünf Jahren. Du warst etwas verwirrt und hattest mir gesagt, dass es etwas in deinem Leben gebe, das mich betreffe und du würdest es mir erklären, wenn wir uns wiedersähen. Ich habe mich damals nicht sehr dafür interessiert, ich hätte es sogar beinahe vergessen.

Fünf Jahre? Es sind eigentlich dieselben langen fünf Jahre der Hölle, die noch immer nicht überwunden ist. In dieser stürmischen Zeit gab es jemanden, der die Zweige des Baumes schüttelte, und die Früchte fielen um ihn herum zu Boden.

Dann kamen andere Leute und zertrampelten die Früchte mit ihren schweren Schuhen, anschließend brannten sie den Baum nieder. Was später geschah, hat meine Pläne zunichte gemacht.

 In einem Telefoninterview hatte ich einer Journalistin erzählt, dass mein nächster Roman von der Liebe handele. Ich hatte dies voller Zuversicht gesagt, wie ein Tennisspieler, der seine Aufwärmübungen beendet hat und nur noch auf den Tennisplatz eilen muss.

Die Feuer des Krieges verbannten meine Gedanken in eine weite Ferne. Es war einfach nicht mehr vorstellbar, dass ich inmitten der täglichen Hölle, der Nachrichten von den Toten und der von den Barbaren ausgestellten Rechnungen des Hasses, die wir täglich bezahlen mussten, über „unbeschwerte Liebesbeziehungen“ schreiben würde.

Aber zuerst sollte ich dir auf die Frage nach dem Hass antworten, nicht auf die Frage nach der Reue: Es ist der Hass, eingehüllt in ranzige Schokolade und Neid mit einem bitteren Beigeschmack wie Galle, der Hass, der einem im Moment der Umarmung einen vergifteten Dolch in den Rücken stößt, der Hass, der bei der ersten Rache die Tarnung der Vergebung ablegt, um stattdessen die Form eines gezückten Schwertes anzunehmen.

Der erste Zug in der imaginären Schachpartie zwischen uns beiden war eine vorsichtige Annäherung an die Mauer des anderen. Durch einen unvermittelten Satz schob ich plötzlich mein Pferd auf den Teil des Bretts, den du beherrschtest: „Dein Duft bricht in meine Einsamkeit ein.“ 

Die Nüchternheit der vorangegangenen nächtlichen Chats hätte eine so plötzliche Veränderung des Tons nicht zugelassen. Ich erlebte, wie so eine zärtliche Bemerkung Verwirrung stiftete. Ich hatte es einfach satt, durch den geschützten Garten der Intellektualität zu wandern, in dem man sich verschanzt, um nicht in ein rhetorisch freies Feld zu geraten.

Weil wir uns in unseren bisherigen nächtlichen Chats zurückgehalten hatten, konnten wir mit dieser plötzlichen Veränderung nicht umgehen. Dadurch, dass ich so eine unerwartete Bemerkung machte, sprengte ich den Rahmen der Vorsicht. 

Gleich nachdem ich einige deiner Gedichte gelesen hatte, riet ich dir, deine Ausdrucksweise von dem Morast der Gemeinplätze zu befreien, denn sie tragen im Obstgarten des Begehrens keine Frucht, ich empfahl dir, deine dunklen Gefühle von Überinterpretationen zu reinigen. Und dann fügte ich noch einen improvisierten Satz hinzu, der mir unversehens einfiel wie ein Eichhörnchen, das plötzlich vor einem auftaucht: „Ohne Bahre kommen wir nicht auf die Intensivstation.“ Zur Erklärung habe ich auf das Ausrufezeichen hingewiesen, das du mir dann zurückgeschickt hast. Das Schreiben ist der Moment, der über Leben und Tod entscheidet, es ist die weiße Trage, die uns in die Leichenkammer bringt oder auf die Intensivstation, wo wir genug Sauerstoff zum Atmen bekommen, um zu überleben. 

So schreiben wir, um Kohlendioxid in Sauerstoff und Kohlenstoff aufzuspalten, um wilde Früchte mit intensivem Geschmack hervorzubringen und die Schmerzen wie die Sünden des Körpers in Schach zu halten.

2

Du hast versucht, den Satz „Dein Duft bricht in meine Einsamkeit ein.“ zu ignorieren, und bist einfach nicht darauf eingegangen. Stattdessen hast du ein Emoji aus der blauen Seite gewählt, ein Emoji mit Augen in der Form kleiner Herzen. Aber du hast diesen Versuch nicht lange durchgehalten. Schon drei Tage nach diesem Chat leuchtete das Dialogfeld mit den Worten „Ich vermisse dich“ auf, und nach ausweichenden Kommentaren von uns beiden beendetest du, Asmahan Maschaal, deinen Chat mit den Worten „Gute Nacht, in Liebe“.

An diesem Punkt wurde mir klar, dass du im Begriff warst, im Treibsand vergeblicher Abwehr zu versinken, und dass dich die Leitsätze unseres Sufi-Meisters Dschalaluddin Rumi nicht mehr interessierten. Du hattest die Lehren des Sufismus, die deine Gefühle wie ein Schildkrötenpanzer verborgen hatten, für immer aufgegeben. 

Unser Spiel, in dem du die Schildkröte warst und ich der stachelige Igel, war amüsant, vielleicht sogar aufregend. Du hattest den Hals ein wenig herausgestreckt und ihn dann wieder zurückgezogen, während ich meine Igelstacheln zeigte. Igel und Schildkröte? 

Ich versuchte, mich an eine Fabel zu erinnern. Aber mein Gedächtnis ließ mich im Stich, jeder von uns beiden hatte seine eigene Geschichte. Was verbindet uns mit einer Geschichte? Wie eine Schildkröte musstest du dir ein Rennen mit dem Hasen liefern, und dabei würdest definitiv du gewinnen. Als Igel musste ich mit einer Schlange kämpfen und sie besiegen. Was mir am Leben des Igels gefiel, war, dass er ein nachtaktives Tier ist, das nicht schläft, aber andererseits bin ich nicht so stachlig, und wenn ich meine Stacheln einsetze, dann nur in der Absicht, mich zu verteidigen.  

Du hattest dich entschieden, in dem Wortgeplänkel, das sich als Zeitvertreib zwischen uns entwickelte, ein Schmetterling zu sein. 

Ich dagegen habe dich mit einer Gazelle verglichen. Doch du hast mir stattdessen ein anderes Bild als Kommentar zurückgeschickt. Du stehst mit offenen Armen auf einem Berg, in der Ruine einer verlassenen, tausend Jahre alten Burg, mit lockigen, langen, schwarzen Haaren, als ob du eine nahe Wolke umarmen wolltest, aber tatsächlich warst du entschlossen, mit den Flügeln eines Schmetterlings zu fliegen.

In einem späteren Kommentar ohne besonderen Kontext schriebst du: „Fandest du meine Haare oder meine Gedichte schöner?“ Ich brauchte einige Zeit, um eine passende Antwort zu finden, dann schrieb ich zurück: „Deine Poesie braucht den Wahnsinn deiner fliegenden Haare.“

Dein Haar war wirklich wunderschön, und ich wollte unbedingt mit deinen Locken spielen, während du damit beschäftigt warst, das zu vertilgen, was von dem Teller mit Pommes frites und Mayonnaise noch übrig war. 

Dann stellte ich mir diese Szene noch einmal vor: Während wir in dem Café „Trattoria“ in al-Schaalan Tee tranken und du den Kopf wendetest, um Whitney Houston beim Singen eines alten Liedes auf dem Bildschirm zu verfolgen, entdeckte ich einem Schönheitsfleck auf deinem Nacken.

Mein Blick fiel auf deinen entblößten Brustansatz, und ich entdeckte leichte Sommersprossen in Form umgekehrter Birnen, ohne zu erwarten, dass sich die Beziehung zwischen uns weiter entwickeln würde, da du bei jedem zärtlichen, zweideutigen Wort wie eine Gazelle aufschrecktest. An jenem herbstlichen Sonnenuntergang im Oktober fragtest du mich, als wir das Café verließen: „Was ist Reue?“

3

Auf dem Weg zur Bushaltestelle erzählte ich dir von dem Film „Die Reue“ des georgischen Regisseurs Tengiz Abuladze, als vorläufige Antwort auf deine Frage. Du hattest wohl eine andere Reaktion erwartet. Nach sieben Jahren Ehe hattest du dich entschieden, deinen Mann zu verlassen.  Die Hälfte dieser Jahre war, wie du mir im Café erzähltest, eine Hölle gewesen, in denen die Macht des Hasses sich als stärker erwiesen hatte als die Liebe.
Am Madfaa-Park brachte uns die Karre eines Verkäufers von gerösteten Maronen ein wenig aus dem Konzept. Du erwähntest beiläufig, Asmahan, deine Leidenschaft für Kastanien. Dann entschuldigtest du dich für die Unterbrechung, denn ich hatte schon angefangen, dir einen Ausschnitt aus dem Film zu schildern. Ich bemühte mich, dir die Szene im Film zu beschreiben, in der die Leiche des Bürgermeisters nach jedem Versuch, sie zu begraben, immer wieder auftauchte. Es war eine törichte Idee, in einem solchen intimen Augenblick, von der Stalin-Zeit mit all ihrer Grausamkeit, Tyrannei und Gewalt zu erzählen. Aber ich hatte nun einmal damit angefangen, und es führte kein Weg mehr daran vorbei. Also fuhr ich mit der Filmgeschichte fort. Meine Hände waren schwarz von den Kastanienschalen. Du knabbertest die heißen Kastanien mit Vergnügen, während du dir den Rest der Geschichte anhörtest:
Der verstorbene Bürgermeister einer georgischen Provinzhauptstadt wird immer wieder aus seinem Grab geholt und im Garten der Hinterbliebenen ausgestellt. Als Grabschänderin wird eine Frau ertappt, die mit dieser Aktion verhindern will, dass die politischen Gräueltaten des Potentaten vergessen werden. 
„Eine Frau von Stalins Opfern lebt in der Nähe des Hauses. Sie ist es, die das Grab ausgehoben und jede Nacht die Leiche herausgenommen hat, eine Art Rache für die Ermordung ihrer Eltern auf Befehl des Generals, der keine Skrupel kannte. Für die Frau war der Bürgermeister der Inbegriff von Niedertracht, Unterdrückung und Brutalität. ‚Er sollte nicht noch die Würde eines Begräbnisses bekommen,‘ sagte sie.
Die Frau wurde festgenommen und vor Gericht gestellt, bei dem Verhör sagte sie: ‚Ein Mann, der unschuldige Menschen massakriert hat, sollte nicht begraben werden.‘ Dessen Enkel war schockiert, als er erfuhr, wie grausam sein Großvater gewesen war, wenn der Sohn auch die gegen seinen Vater erhobenen Vorwürfe bestritt. Die Frau bestand darauf, dass ein Verbrecher nicht begraben werden dürfe, bis seine Verbrechen öffentlich aufgedeckt worden seien, denn das Begraben der Vergangenheit hätte bedeutet, den Menschen zu vergeben, die mit ihrer Brutalität und Grausamkeit das Leben anderer zerstört hatten. Der Enkel verließ die Stadt, und in einer möglicherweise nur von mir erfundenen Version der Geschichte beging er aus Scham über die Rolle seines Großvaters Selbstmord, während der Sohn den Körper seines Vaters von der Klippe werfen musste, die das Dorf überblickte.“
Du rangst mehrmals nach Luft, Asmahan, während du zuhörtest und über die Metapher der Reue und die Bedeutung des Verschweigens ähnlicher Verbrechen nachdachtest, auch wenn es nur um die Sünden in einer fehlgeschlagenen Liebesgeschichte ging, die mit einer Trennung endete.

4

An diesem Abend waren die Minibusse auf der Strecke Muhadscherin - Bab Tuma überfüllt. Sie fuhren alle vorbei, ohne anzuhalten. Nach zwanzig Minuten Wartezeit beschloss Asmahan, ein Taxi zu nehmen, um nicht zu spät in Dscharamana anzukommen, und auch, um das Gedränge bei den nächtlichen Kontrollen an den zahlreichen militärischen Checkpoints zu vermeiden. Dort wohnte sie vorübergehend bei ihrer Freundin Dschumana Sallum, die als Fotografin bei einer staatlichen Nachrichtenagentur arbeitete. 

Durch das Rückfenster des Taxis winkte sie mir mit der Werkausgabe von Giuseppe Ungaretti zu, dem größten italienischen Wort-Bildhauer. So hatte ich ihn ihr beschrieben. Dadurch bedankte sie sich noch einmal für das wertvolle Geschenk. 

Ich versuchte, das starre Konzept der Poesie, an das sie glaubte, in Frage zu stellen, indem ich ihr eine gegensätzliche Antwort anbot: Die Poesie blühe in einem anderen Beet, nicht in dem, an das sie durch ihre Lesart gewöhnt sei. Ich sagte ihr, dass sie als Schmetterling Nektar aus allen Arten von Blumen kosten und den geheimen Duft aller Pflanzen einatmen müsse. Ebenso solle sie sich nicht von den mumifizierten Texten, die an den Fachbereichen für arabische Sprache an den Universitäten gelehrt würden, überwältigen lassen.

„Hör zu: Poesie, das ist der Wahnsinn der Fantasie, ihre Wildheit, ebenso wie das Archiv der Sinne, das alles umfasst, von den Versen des großen al-Mutanabbi bis zu den Visionen des letzten Landstreicher-Dichters, den noch niemand entdeckt hat.“

Ungefähr zehn Minuten später klingelte, während ich in meiner Jackentasche nach dem Haustürschlüssel suchte, das Handy. Es war ein Anruf von ihr. Es gab wieder einmal Stromausfall. Während ich mit Hilfe meines Feuerzeugs den Weg durch die Dunkelheit suchte, erzählte sie mir, dass sie gerade im Taxiradio Umm Kulthums Lied „Es ist zu spät“ höre. Sie hielt das Telefon in die Nähe des Lautsprechers. Kurz vorher hatten wir vom Bedauern gesprochen – und jetzt dieses Lied darüber.

Ich hatte starke Kopfschmerzen, nahm eine Tablette Panadol, dann warf ich mich noch angezogen auf mein chaotisches Bett und ruhte mich aus. Ich steckte mir die Kopfhörer des Handys in die Ohren und suchte den Radiosender. Umm Kulthum sang immer noch aus voller Kehle: „Was nützt dir die Reue? Ach Reue, ach Reue.“

5

Am nächsten Nachmittag wartete ich auf einen Anruf von dir mit deinem Pseudonym Amal Nadschi oder mit dem richtigen Namen Asmahan Mischaal, damit wir uns treffen könnten. Die Unterhaltung der Leute am Tisch im Café al-Rauda war unerträglich langweilig. 

Ich hatte keine Geduld mehr, immer die gleichen Gespräche über mich zu ergehen zu lassen, über Tote, Geschosse, Vertriebene oder über das Wetter und die Härte des Lebens. Ich hatte dir erzählt, dass ich in den letzten fünf Jahren versucht hätte, in jeder Hinsicht Geduld zu üben. Aber ich wusste einfach nicht, wie ich diese kümmerliche Diät von Morden, Massakern, Massengräbern, Hungersnöten und Gewalt verdauen sollte.

Ich fühlte mich elend, mein Geist wurde durch die Ungeheuerlichkeit von so viel Zerstörung abgestumpft. Ich würde gern freiere Luft atmen, aber ich kenne keinen anderen Stall als dieses Café. Als ich die Hoffnung darauf, dass du noch kommen würdest, aufgegeben hatte, verließ ich den Ort; ich war so wütend, dass ich mein Päckchen Tabak und mein Feuerzeug auf dem Tisch liegen ließ. Das passierte mir oft, wenn ich verärgert war. 

Ohne Einleitung schicktest du mir nachts eine Mail: 

„Eine Frau steht auf und singt, 

Der Wind folgt ihr, verzaubert sie

und streicht über die Erde 

Der wahre Traum ergreift sie. 

Dieses Land ist kahl 

Diese Frau ist verliebt

Dieser Wind ist stark 

Dieser Traum ist tot.“

Und weiter schriebst du: „Noch mal danke für das Geschenk“.

Ich las die Zeilen des Gedichts „Beduinenlied“ von Giuseppe Ungaretti mehrmals und versuchte herauszufinden, warum du gerade diese Zeilen ausgewählt hattest. War es eine Vorstufe zur Verführung oder nur ein Zufall? Der sinnliche Charakter dieser Wörter war offensichtlich, und vielleicht wolltest du mir damit einen ausdrücklichen Hinweis auf den Wunsch geben, in eine heikle Phase unserer Beziehung einzutreten, über unsere anfängliche Vereinbarung hinaus. Oder sollten wir nur Freunde bleiben, ohne emotionale Belastungen und Liebeskämpfe, allerdings mit der Bedingung, dass ich nicht mit meinem Rat zu den Texten, die du mir schicktest, sparen würde. Du schriebst: „Ich werde deine Hauskatze sein, die dir zu Füßen sitzt und deinen wunderbaren Ratschlägen lauscht.“ 

Ich protestierte und versprach, deine Texte ernsthaft zu lesen und sie dann „von Unkraut zu befreien“. Du antwortetest sofort: „Gut so, mein Meister, mein Herr und Gebieter.“ Ich antwortete, dass ich eine solche Anrede von dir nicht mehr hören wolle, auch sonst nichts, was auch nur von ferne an Unterwerfung erinnerte.

In der ersten Zeit unserer Bekanntschaft schicktest du mir fast täglich Texte, und ich las sie als persönliche Botschaften, Geständnisse oder als Ausdruck von Schmerz. Ich bemerkte einen anderen Ton, der nach und nach in deine Sprache eindrang, mit unverhohlen sinnlichen Worten und Phrasen. Seufzer der Entbehrung suggerierten eine versteckte Laszivität, die es in deinen früheren Schriften nicht gegeben hatte. Du schienst endlich erkannt zu haben, dass Poesie zu einem anderen Bereich gehört, in dem alle Sinne mobilisiert werden und wo man „der Sprache mit Vergnügen Gewalt antut“, wie ich dir philosophierend schrieb. Ich wollte dich dazu zu bewegen, ein Gelände zu erkunden, das tieferes Eindringen mit einer Machete erfordert, nicht nur einen Holzstock, mit dem man einen Granatapfel erntet.

„Eine Machete?“, schriebst du erstaunt und missbilligend und fügtest dann mit einer kritischen Bemerkung hinzu: 

„Wie könnte ein Schmetterling wie ich so brutal sein?“ 

Spontan antwortete ich, um die Distanz zu verringern:

„Um über die Liebe zu schreiben, braucht man auch Reißzähne.“ 

Auch das Wort „Reißzähne“ lehntest du ab. An diesem Punkt erkannte ich, wie tief die Kluft zwischen uns war. Du hattest lange isoliert in einem vergessenen Dorf gelebt, das in all diesen Jahren des Krieges von keiner Granate berührt worden war. Du hattest dich damit beschäftigt, wilde Pflanzen zu entdecken – Majoran, Salbei, Lavendel und Rosmarin sowie Vögel, Reptilien und Insekten. Tagsüber hattest du die Wände deines Zimmers bemalt und in den Nächten deine Entschlossenheit auf die Probe gestellt, die heulenden Wölfe der Begierde in deiner Brust zum Verstummen zu bringen, während ich in dem Wahnsinn dieser Stadt herumirrte, die jeden Tag, vielleicht sogar im Stundentakt ihre Toten beerdigte.

„Ja, eine Machete“, antwortete ich und dachte an Dutzende von Szenen zurück, in denen das Schwert des Scharfrichters über den Hals eines Menschen erhoben wurde, den man auf die Knie gezwungen hatte, oder in denen ein bereits enthaupteter Mann an einem Strommast auf einem Platz einer tausend Jahre alten Stadt hing. 

Natürlich meinte ich unser Bedürfnis nach ästhetischen Worterklärungen, die einerseits erläutern, wie man aus dem, was bei uns noch mittelalterlich ist, ermisst, wie schwer ein scharfes Fallbeil wiegt, und andererseits die Technologie intelligenter Bomben, und ebenso, wie diese Barbaren Fatwas im Namen Gottes erfinden konnten und mit einem Fallbeil, einem Schwert oder einem Sprengstoffgürtel töten.

Damit ich mich nicht von anderen Beispielen der Gewalt hinreißen ließe, fragtest du mich, um das Thema zu wechseln: „Was liest du gerade?“

 „Der Schriftsteller und seine Albträume“, antwortete ich.  

„Verdammte Albträume, Fallbeile und Selbstmordgürtel. Von wem ist das Buch?“

„Von Ernesto Sabato, einem argentinischen Physiker, der sich dem Schreiben zugewandt hat, um die Geschwindigkeit, mit der die Menschheit sich in die Katastrophe stürzt, noch zu erhöhen, so sagt er und glaubt, dass die Aufgabe des Schriftstellers darin bestehe, seine innere Welt zu erbrechen“.

„Die einzigen Argentinier, die ich kenne, sind Maradona, der Fußballer, und vielleicht die Namen von ein paar Mate-Tee-Vertreibern. Ach ja, jetzt erinnere ich mich auch noch an Borges. Er ist auch Argentinier, nicht wahr?“ Und dann fügtest du unvermittelt hinzu: „Ich vermisse dich.“

6

In dieser Nacht hatte ich einen Albtraum, der schlimmer war als der von Ernesto Sabato. Der Dichter Abu Alaa al-Ma‘arri aus dem 11. Jahrhundert stand an meiner Tür. Sein Kopf rollte auf den Boden. Ich erinnerte mich, dass er mir eine zerrissene Kopie seines Buches „Sendschreiben über die Vergebung“ überreicht und mich gebeten hatte, es zu restaurieren und neu herauszubringen. Als ich auf seinen abgetrennten Kopf zeigte, wie es auf dem Bild seiner Statue zu sehen ist, das von Zeitungen und Websites verbreitet wird, sagte er traurig:

„Die Tage zerbrechen uns, 

als wären wir aus Glas, 

und wir werden nie wieder zusammengesetzt.“

Dann zog er stolpernd weiter, dabei hielt er den Kopf in seinen Händen.

Später schaute ich, wann immer ich aus dem Haus ging, an die Stelle, wo al-Ma‘arris Kopf gelandet war, und auf die Blutspur, die die Treppe hinunterlief. Ich schloss die Tür und eilte die Treppe hinunter, um mich von dem Geist al-Ma‘arris zu befreien. Aber es nützte nichts, und es hat lange gedauert, bis ich die Szene endlich vergessen hatte. 

Nachts schrieb sie mir: „Gestern habe ich von dir geträumt.“ 

Nach einigen Anspielungen von ihrer Seite und ein paar Metaphern begriff ich, dass es ein erotischer Traum gewesen war, von aufflammenden Wünschen, die sie wohlweislich unterdrückt hatte, oder sie hatte sich zumindest damit begnügt, ihre Angelleine in seichtere Gewässer auszuwerfen und sie dann wieder einzuholen, ohne einen Fang gemacht zu haben. 

Unsere Beziehung war noch ungeklärt, wir standen an der Schwelle eines Raumes, den uns die Volksmärchen raten, nicht zu betreten, wenn wir uns nicht selbst schaden wollten. 

Ich war nicht in der Stimmung für ein Spiel heimlicher Verführung. Ich war beunruhigt von dem Traum, in dem mir Al Ma‘arri erschienen war, oder besser gesagt, von dem Albtraum. Du öffnest einem Mann mit abgetrenntem Kopf die Tür, und er bittet dich, ein zerrissenes Exemplar seines Buches zu reparieren und neu zu publizieren. 

War das ein Fingerzeig des Schicksals für mich, das Buch „Sendschreiben über die Vergebung“ noch einmal zu lesen und es auf Geheimnisse zu überprüfen, die ich zuvor übersehen hatte? Welcher Gruppe, in die das Buch die Dichter eingeteilt hatte, sollte ich zuerst begegnen, den Poeten des Paradieses oder denen der Hölle?

Und was wäre, wenn ich die Rollen während der Restaurierung vertauschte und al-Ma’arris Überzeugung ins Gegenteil verkehrte? Wenn ich zum Beispiel Irma al-Qays und Antara bin Schaddad, Tarafa Ibn al-Abd den Älteren, den Jüngeren al-Muraqqasch, und al-Schanfari in den Himmel versetzte und Zuhair ibn Abi Salma, al-A‘scha, al-Naabigha al-Dhubyani, Ibn Alabri in die Hölle? 

Das Jüngste Gericht mit der Entscheidung über Hölle und Himmel ist zwar noch nicht gekommen – aber es ereignet sich hier täglich, in den Tunneln, auf den Brücken und an den Checkpoints. Eine sich ständig wiederholende Hölle, die nicht weniger grausam ist als die al-Ma’arris. Es ist das Buch für ein ausschweifendes Theaterstück für Scharen von Menschen, die zwischen Himmel und Hölle umherirren. Menschenmassen mitten im Sturm, es ist, als würden sie vor einem Feuer, einem Erdbeben oder einem göttlichen Fluch fliehen.

Rebellion und Anarchie, Vernichtung und Nichts. In diesem Moment des Wahnsinns überquerte Antara bin Schaddad gerade die Straße und steuerte auf das Camp eines Geschwaders bewaffneter Männer zu, um Ablas Entführern das Lösegeld für sie zu überbringen. Mit Mühe zogen Tausende von Kamelen durch den ersten Checkpoint. 

Da er dazu gezwungen wurde, akzeptierte Antara die Bedingungen, die die Soldaten am Checkpoint ihm stellten – die Beschlagnahme einer Menge Kamelmilch auf die persönliche Anordnung des Kommandanten im Dienst hin, der gerade Backgammon im Wachraum spielte. Aber als Antara und seine Karawane das Lager erreichten, stellte er fest, dass Abla sich selbst getötet hatte, nachdem sie von vierzig Bewaffneten nacheinander vergewaltigt worden war. 

Während ich das „Sendschreiben über die Vergebung“ las, war ich erstaunt, dass al-Ma’arri den Dichter al-Muraqqasch den Jüngeren ohne Zögern in die Hölle geschickt hatte. Dieses Schicksal hätte ihm erspart bleiben sollen, sagte ich mir, denn er hatte folgende Verszeilen geschrieben: 

„Wo immer du warst, 

egal wo du bist, 

welches Land oder welchen Ort 

du auch besuchst hast - 

du hast dieses Land zum Leben erweckt.“

7

Es war schwierig für uns beide, den Bereich der Sinne zu betreten. Deine Angst vor Verlust und meine Vorsicht vor deinem emotionalen Wahnsinn, der destruktiv bis zur Panik war, bevor du dein nächtliches Geständnis am nächsten Morgen mit dem prägnanten Satz „Scheiß auf den Wein“ widerriefst - wohl in der Absicht, den aufschlussreichen, höchst sinnlichen Ton zu rechtfertigen, als ob der Tag die Butter der Nacht schmelzen würde. Aber was mache ich nun mit deinen Texten? 

„Der Duft der Lust sickert aus deiner Haut, aus deinen Händen, die vom Honig der Worte triefen, und das Warten steigert die Erregung noch.“

Ich gestehe, dass ich etwas erleichtert war, als du mir erzähltest, dass du von deinen Angriffsplänen Abstand nehmen wolltest. „Die stürmischen Liebesgeschichten vergehen oft so schnell, wie sie begonnen haben, und ich fürchte einen weiteren Verlust, kaum sind die Wunden meiner Seele vernarbt.“

Zumindest in dieser Zeit ging es mir auch nicht gut. Ich habe meine Sorgen und bin in emotionaler Verwirrung. Du möchtest mich für dich allein, das kann ich dir nicht versprechen, zumal du weit weg bist. Wenn du demnächst nach Damaskus zu Besuch kommst, verspreche ich dir nur, dass wir mit der Zeit spielen werden, so wie du es wünschst, als wären wir zwei wilde Tiere. 

Für mich ist Freundschaft schwieriger als Liebe. Wir machen einen Fehler, wenn wir die Vertrautheit zugunsten der Liebe nützen und nicht für die Entwicklung unserer Freundschaft. Ich bestreite nicht, dass ich dich begehrt habe. Es war das erste Mal, als wir durch den langen Apothekengang gingen. Du hast nach einer bestimmten Marke von Augentropfen gefragt, um den Sitz deiner Kontaktlinsen zu verbessern. Als du dich im Gespräch mit dem Apotheker nach vorne beugtest, sind mir deine Oberschenkel aufgefallen und dein Gesäß, das sich unter deinem Kleid abzeichnete. 

Als wir aus der Apotheke herauskamen, sagtest du mir mit einem spitzbübischen Lächeln: „Du bist in Gesellschaft einer halbblinden Frau, lass mich nicht allein, du bist mein Stock, der mir den Weg zeigt.“

Es war kurz vor fünf Uhr abends, wir gingen zusammen in Richtung Qabbani-Theater. Du wolltest, dass wir zusammen eine Aufführung besuchten. Du wolltest dich dort mit Freundinnen treffen. Ich lehnte entschieden ab, weil ich mir kein Theaterstück zweimal anschauen kann, und ich hatte das Stück schon bei der Premiere gesehen. Ich würde während der Aufführung immerzu gähnen müssen. Ich ging weiter hinauf zum Schahbandar-Platz, ohne mir darüber Gedanken zu machen, was der Morgen mit sich bringen würde.  

Nach der Rückkehr in dein Dorf im Süden überschüttetest du mich mit neuen Texten, du sagtest, du hättest sie wie im Fieber geschrieben. Beim Lesen fiel mir auf, dass sie die Verkleidung des Sufismus abgelegt hatten, der die alten Texte verhüllt hatte. Du betratst mit Sätzen wie „Dein hungriger Steinbock knabbert an meinem frischen Gras“ einen Bereich offener Sinnlichkeit.

Du hast mich wirklich überrascht, und siehe, der Schmetterling verwandelte sich in einen Vogel mit einem scharfen Schnabel und der klaren Absicht, seine metaphorische Beute zu fangen. Dies spiegelte sich in deiner Art wider, mich mit Sehnsucht, Einsamkeit und Verliebtheit anzusprechen. 

Ich hatte dir, als wir eine abschüssige, mit Steinen gepflasterte Gasse in Suq Sarudscha durchquerten, gesagt, dass wir zuerst die Sprache entstauben müssten, um die wahre und tiefe Bedeutung des Erdbebens zu erkennen, das wir heute erlebten. Ich erklärte, als Folge dessen entwickele der gefesselte Körper auch eine gefesselte Sprache bzw. eine Sprache von Mumien. Wir begegneten ihr mit Respekt, Ehrfurcht und Bewunderung, als wären wir in einem Museum. Strippen steuerten die Bewegungen unseres Marionetten-Körpers, unsere toten Ahnen hätten das Spiel meisterhaft in Szene gesetzt. Jeder von uns habe einen heiligen Vorfahren, der jeden Augenblick aus dem Grab steigen könne, damit wir seine Gebote strikt befolgten.

Schau dir diese Menschenansammlung vor der Bäckerei an. Das sind die Enkel von Mördern, Philosophen, Baumeistern, Zuhältern, Dieben, Maklern, Henkern, Dichtern und Verliebten, in einer Tretmühle, die sich unaufhaltsam weiterdreht.

Du wirst unter ihnen einfach Kopien ihrer Vorfahren finden, mit Turbanen, Fatwas, Schwertern und verblassenden Sehnsüchten. Deine Urururgroßmutter würde wütend aufwachen, wenn ich dich jetzt vor allen Leuten in die Arme nähme, so wie einer meiner beduinischen Vorfahren sich in seinem Wüstengrab umdrehen würde, weil ich seine Lehren über den Anstand zerstörte. Denn er will seine Würde nicht durch das Verhalten eines Mannes von seinem Blute verlieren, das seiner unwürdig ist. Wie du siehst, handelt es sich um das, was wir insgeheim begehren, aber öffentlich leugnen, was wir uns wünschen und wovon wir bereuen, es nicht getan zu haben, wenn wir daran denken.

Während du fort warst, dachte ich an die Entfremdung eines gestohlenen Klaviers, das nun in einem improvisierten volkstümlichen Café steht, und daran, wie dieses traurige Klavier mit Geleitschutz hier ankam, um in einer vernachlässigten Ecke platziert zu werden. Du bist dieses Klavier, aber gespielt wird es mit gebrochenen Fingern, du bist eine Vegetarierin unter Kannibalen, ein Schmetterling unter Krähen. 

„Ein Klavier?“

 „Vielleicht sollten wir über andere Musikinstrumente reden, zum Beispiel über eine Laute, eine Flöte oder ein Robab und nicht über ein Piano in einem improvisierten Lokal, das einmal ein Laden für Autoreifen war, bevor es von einem ehemaligen Zementdieb übernommen wurde. Er trieb sich tagsüber in den Straßen herum und raubte nachts Zement aus Lagerhäusern im Bau. Dieser Gauner entwickelte sein Geschäft während des Krieges mit der Plünderung von Häusern in zerstörten und verlassenen Vierteln in den Vororten der Stadt. Bei seinem letzten Überfall fand er in einem Haus zwischen den Möbeln ein Klavier und brachte es, weil er niemanden fand, der es kaufen oder darauf spielen wollte, in sein Café mit seinen vielen verschiedenartigen Stühlen. Das Piano wurde neben den schmalen Gang zur Toilette platziert. Auf dem dazugehörigen Metallständer standen noch ein paar staubige Notenblätter, vielleicht waren es Stücke von Bach, Beethoven oder Chopin.

Ich sage dir noch einmal: „Du bist das Klavier, das die ruhige Ecke, in der es einst stand, verloren hat, und es vermisst die Finger, die diese unsterblichen Musikstücke darauf gespielt haben.

Ein Piano mitten in den Trümmern. Ein weiteres Bild von einem Platz im Yarmuk-Lager. Während seiner langen Belagerung brachte der junge Palästinenser Eham Ahmad ein heruntergekommenes Klavier auf den Platz, den die Kämpfer in Schutt und Asche gelegt hatten, und spielte und sang Stücke über die irdische Hölle. Dann verboten ihm die Kämpfer, dort weiterzuspielen, und drohten ihm mit dem Tod. Er flüchtete auf einem gefährlichen Weg nach Deutschland, um dort in Ruhe Konzerte geben zu können. Du kannst ein Video von ihm auf YouTube ansehen. Das Dilemma, so scheint es mir jetzt, liegt in dem Klavier einerseits und der Geige andererseits. Die beiden Instrumente wurden mit derselben Axt zertrümmert, die den Kopf der Statue von al-Ma‘arri enthauptete, und die Fatwa, die zur Verbrennung von Averroes‘ Büchern führte, zur Zerstückelung des Mystikers al-Halladsch, der Ermordung von Suhrawardi, und zur Hinrichtung meines Freundes, des Dichters Baschir al-Ani.

Nun befinden wir uns nach dieser Reise durch die Unterwelt wieder im Freien. Vielleicht erwartetest du ein weiteres Wort von mir über die verstohlene Freude, die es uns gemacht hat, dass wir stundenlang zusammen waren, bevor du Damaskus verließest, um in dein Dorf im Süden zurückzukehren.

Aber ich fühlte mich erstickt, gelangweilt und verloren. Ich beneidete dich um deine ländliche Abgeschiedenheit. Du lebst allein auf einem anderen Planeten, den die Barbaren noch nicht entdeckt haben. Es ist, als wärest du der „Kleine Prinz“ in Antoine de Saint-Exupérys Roman, ein Mensch, der seit fünf Jahren weder den Einschlag auch nur eines einzigen Geschosses erlebt noch Leichenteile gesehen oder Krankenwagensirenen gehört hat.

8

Ich sah mir Archivfotos und Pläne an, um mir erste Ideen zu einem Filmprojekt für einen Amateurworkshop am Drehbuchinstitut zu notieren.

Ich habe diesen Platz extra ausgewählt, weil er der Stadtmitte am nächsten ist, mit all ihrem Trubel, den Gerüchen, Cafés, billigen Hotels und Geheimnissen der Nacht. Mein Interesse an diesem Platz hat noch einen weiteren Grund: Ich habe bis jetzt noch keinen einzigen Spielfilm gesehen, der eine Aufnahme von diesem Ort gezeigt hätte, und das trotz der visuellen Verlockungen, die ein dort gelegenes, fast neunzig Jahre altes Kino bietet.