Das Glück in vollen Zügen - Lisa Kirsch - E-Book
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Das Glück in vollen Zügen E-Book

Lisa Kirsch

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Beschreibung

Nächster Halt Liebe – Lisa Kirsch hat die romantischste Liebeskomödie des Sommers geschrieben, perfekt für Leserinnen von Meike Werkmeister und Petra Hülsmann. Marie liebt ihr Leben im kleinen Bauwagen am Ammersee. Aber ihren Traumjob in München würde sie nie aufgeben. Deshalb pendelt sie. Alles kein Problem, wenn da nicht die ständigen Bahn-Verspätungen und die Marotten ihrer Mitreisenden wären. Besonders der Benzin-Neandertaler, der immer lautstark mit seinen BMW-Kollegen telefoniert, geht ihr auf den Senkel. Schade, denn er sieht verdammt gut aus. Der angebliche Benzin-Neandertaler heißt Johannes und findet Marie eigentlich ganz süß, traut sich aber nicht, sie anzusprechen. Wie hat man das nur vor Tinder gemacht? Dann ist Marie eines Tages nicht mehr im Zug, und Johannes merkt: Er will sie unbedingt wiedersehen.

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Seitenzahl: 441

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Lisa Kirsch

Das Glück in vollen Zügen

Roman

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. KapitelDank

Für Anne-Rose. Danke, dass du mit mir den Ammersee unsicher gemacht hast.

1

Ich lief über die Wiese, nahm auf dem Holzsteg Anlauf und sprang kopfüber in den Ammersee.

Prustend kam ich hoch. Das Wasser war eisig, kleine Nadeln bohrten sich in meine Haut und einen Moment lang hatte ich das Gefühl, die Kälte würde mir das Herz zusammendrücken. Doch dann schwamm ich ein paar Züge und genoss, wie sich meine Haut langsam an die Temperatur gewöhnte. Es war 6 Uhr morgens und im See spiegelte sich der rosa Schleier, der noch am Himmel hing. Ich atmete tief ein. Es gibt doch nichts Schöneres als frische Nebelluft mit ein wenig Entengeruch als Würze.

Wie jeden Tag zwang ich mich zu drei Runden. An dem Graureiher vorbei, der auf dem umgefallenen Baum auf Fische lauerte, bis an die Grundstücksgrenze und zurück. Dabei beobachtete ich meinen kleinen Bauwagen. Wirklich klein war er eigentlich nicht. »Der Wohlwagen 2000, Größe M, mit viel Platz für Autarktechnik und Kellerkasten für Stauraum«, hatte der nette Verkäufer in Göttingen damals gesagt. »Genau richtig für einen Singlehaushalt!« Die Spitze mit dem Singlehaushalt hatte ich einfach mal ignoriert. Vielleicht war es auch keine Spitze gewesen, sondern der Versuch, meinen Beziehungsstatus zu erfragen, aber ich war empfindlich geworden bei dem Thema und hörte aus allem einen versteckten Vorwurf heraus. Das lag natürlich an meiner Mutter – wie so vieles in meinem Leben.

Aber die Autarktechnik hatte mir gefallen. Die hatte ich auch direkt eigenhändig eingebaut, sobald der Wagen an seinem Platz stand. Solarzellen auf dem Dach, ein Ofen im Wohnzimmer, Wasseraufbereitungsanlage, eine ausfahrbare Terrasse – sogar eine Wanne hatte ich.

Von außen wirkte mein Wohlwagen simpel. Niemand, der ihn da stehen sah, mit der Kapuzinerkresse, die sich die Treppe hinaufrankte, und den weißen Fensterrahmen, würde erwarten, was sich in seinem Inneren verbarg. So schlicht wie möglich und am besten mitten im Grünen, das war schon immer meine persönliche Version eines Traumzuhauses gewesen. Gegen technische Annehmlichkeiten hatte ich hingegen nichts einzuwenden. Mit meinem Peter hatte ich den perfekten Kompromiss zwischen Luxus und Naturnähe gefunden. Ich hatte die Holzpaneele blau angestrichen und den Wagen nach Peter Lustig benannt, dem freigeistigen Helden meiner Kindheit, dem ich die Idee für mein Zuhause verdankte. Auf dem Dach neben den Solarzellen gab es eine Sonnenterrasse, die man über eine winzige Wendeltreppe erreichte. Auch die hatte ich selber angebaut. Und links von der Eingangstür stand mein selbstgezimmertes Hochbeet. Die letzten Erdbeeren dieses Sommers schimmerten rot zwischen den Blättern hindurch. Da konnte ich gleich fürs Frühstück ernten gehen.

Als ich mich auf den Steg hievte und das Wasser von meinem Körper schüttelte, sah ich hinter den Sträuchern eine Bewegung. Es stimmt wohl, dass Rentner unter chronischer Schlaflosigkeit leiden, dachte ich grimmig, als ich mir die Haare auswrang und den Blick über das Nachbargrundstück schweifen ließ. Anders ließ sich nicht erklären, dass der alte Kratzer jeden Morgen so früh schon im Garten rumwerkelte. Es sei denn, er stellte sich extra den Wecker für meinen Kopfsprung. Zuzutrauen wäre es ihm. Eigentlich tat er mir leid, er war Witwer, leidenschaftlicher Meckerer und geradezu krankhaft an meinem Leben interessiert, aber ich hatte das Gefühl, dass er irgendwo hinter seiner spießigen Vorstadtfassade ein gutes Herz verbarg. Nur versteckte es sich, ähnlich wie bei meiner Mutter, so gut hinter der Sorge um gesellschaftliche Regeln und Konventionen, dass es schwer zu finden war.

 

Vor der Haustür ließ ich das nasse Höschen fallen (nimm das, alter Kratzer!), warf es über die Leine neben dem Küchenfester und zog den Vorhang der Außendusche zur Seite. Einen Spalt ließ ich ihn offen stehen, so dass ich den See beobachten konnte, während das heiße Wasser meinen zitternden Körper zum Prickeln brachte. Der See: meine große Liebe, mein wahres Zuhause. Ich lächelte und nahm meine Zahnbürste aus dem Hängeregal. Während ich schrubbte und den weißen Schaum einfach aus dem Mund in den Abfluss tropfen ließ, dachte ich wie so oft, dass nichts mich glücklicher machte, als die glitzernde Ruhe des Ammersees und der majestätische Anblick der Alpen, die ihn bewachten. Den See in meiner Nähe zu wissen, dass ich mich abends, wenn ich in der Bahn saß, auf ihn freuen konnte, das wog alles auf: das frühe Aufstehen, das Pendeln nach München, die langen Arbeitstage. Heute war es so windstill, dass sich die Wolken im Wasser spiegelten und es fast aussah, als schwämmen die Enten im Himmel.

Wenn ich den Vorhang noch ein klein wenig mehr nach rechts zog, sah ich nicht nur den See, sondern auch das Haus. Wie immer bei seinem Anblick durchfluteten mich gemischte Gefühle. Als Erstes kam die Trauer, dunkel und schmerzhaft. Mein Vater war jetzt schon weit über ein Jahr tot, und doch war die Wunde in meinem Herzen noch so frisch, dass es mich immer wieder überraschte. Als würde mir jemand jeden Tag aufs Neue ein kleines Messer in die Brust stoßen. Dann kam die Sorge um meine Mutter. Dieses Gefühl war ein wenig ambivalenter, denn neben der Sorge schwang auch Gereiztheit mit. Gereiztheit und Überforderung. Außerdem war da noch die Beklemmung, die ich immer spürte, wenn ich an meine Kindheit dachte. Das Haus auf dem Hügel am See stand für alles, was ich eigentlich hinter mir gelassen hatte, mein altes Leben, die alte Marie. Hinter mir gelassen nicht nur im übertragenen, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich hatte meinen Wohlwagen direkt davor geparkt. Sozusagen in erster Reihe am See.

Es war doch seltsam, dass ich wieder hier gelandet war, dachte ich, und spuckte Wasser in die Luft, während ich basisches Kräuter-Duschgel auf meinen Luffa drückte. Ich hatte meine Zwanziger damit verbracht, vor dem spießigen Kleinstadtleben hier davonzulaufen. Dann war mein Vater krank geworden, und ich war zurückgekommen. Um bei ihm zu sein, um meine Mutter zu unterstützen, um nicht die Tochter zu sein, die zuerst an sich und ihre Freiheit denkt. Aber ich hatte nicht mehr im Haus leben können. Wieder in mein altes Kinderzimmer zu ziehen war mir wie ein fataler Rückschritt in die Vergangenheit erschienen, den es unter allen Umständen zu vermeiden galt. Doch die Mieten in der Gegend waren unerschwinglich. Meine Eltern hatten natürlich angeboten, mich zu unterstützen. Sie hätten mir alles bezahlt, um mich zurückzuholen. Aber mit 31 wieder von ihnen abhängig zu sein, nachdem ich zwölf Jahre damit verbracht hatte, mich freizustrampeln, konnte ich einfach nicht akzeptieren. Und dann war mir die perfekte Lösung eingefallen. Gut, wenn man es ganz genau nahm, war ich auch jetzt nicht wirklich unabhängig, denn der Grund und Boden, auf dem Peter parkte, gehörte meiner Mutter. Aber alles im Leben ist ein Kompromiss, sagt man das nicht so?

 

Als ich fertig war mit meiner Dusche, zog ich, noch ins Handtuch gewickelt, meine Rottweilerhündin Dexter unter viel Kraftaufwand nach draußen und zwang sie dazu, sich zu erleichtern. Die Hündin konnte den Wagen eigentlich jederzeit durch die Klappe verlassen, die ich ihr eingebaut hatte, aber momentan war sie hochschwanger. Ich fürchtete, dass sie vielleicht ohne mein Nachhelfen zu faul sein würde, und die Holzdielen waren frisch gestrichen.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich mich beeilen musste. Ich hatte zu oft den Snooze-Button gedrückt, föhnen war heute nicht drin. Schnell drehte ich die nassen Haare im Nacken zu einer Schnecke und stopfte die Entwürfe für die neue Küchenmaschine, die ich gestern im Home-Office noch perfektioniert hatte, in meine Aktentasche. Das Kostüm verstaute ich zusammen mit meinem Make-up-Täschchen und den hohen Schuhen in meinem wasserdichten Rucksack. Ich rollte ihn oben zusammen, schlüpfte in meine zerfetzte Lieblingsjeans, streifte die Birkenstocks über, und zwei Minuten später schob ich mein Fahrrad über die Wiese. Fröhlich winkte ich dem alten Kratzer zu, der gerade die Rosen wässerte und so tat, als würde er mich nicht bemerken. »Herrlicher Morgen zum Baden, was?«, rief ich, ein wenig extra enthusiastisch, und er hob empört die Hand zum Gruß. Er war vor zwei Jahren nebenan eingezogen, und wir waren noch nicht miteinander warm geworden. Ich hatte das Gefühl, dass er mir meine gute Laune generell übel nahm. Wie kommt diese Person nur dazu, immer so fröhlich zu sein in ihrem schäbigen Bauwagen, schien er jedes Mal zu denken, wenn ich mit ihm sprach. Manchmal drehte ich abends extra laut die Musik auf, wenn ich ihn auf der Terrasse sah.

2

Döner roch doch manchmal ein wenig nach Dixi-Klo. Das hatte er in den letzten Wochen schon öfter gedacht. Zumindest um 8 Uhr morgens, wenn man außer Kaffee noch nichts im Magen hat.

Johannes drehte den Kopf zur Seite, als er an der neonbeleuchteten Bude vorbeilief, wo Seyhan gerade mit etwas, das aussah wie eine kleine Heckenschere, an einem überdimensional großen, vor Fett triefenden Fleischklotz herumsäbelte, als gäbe es keine schönere Aufgabe auf der Welt.

»Morgen, Jo!« Er grinste fröhlich und entblößte eine halbgerauchte Zigarette, die zwischen seinen Zähnen hing.

»Na wenn die mal nicht im Essen landet!« Johannes winkte kurz in seine Richtung, rang sich ein Lächeln ab, denn er mochte Seyhan eigentlich sehr gerne, und betrat die Bäckerei nebenan. Wer braucht überhaupt so früh am Morgen schon Döner in Herrsching?, fragte er sich, während er in seiner Tasche nach dem Portemonnaie kramte. Hier kamen um diese Uhrzeit doch nur Pendler vorbei. Morgens in der Bahn die anderen Mitreisenden mit Geruchsschwaden belästigen, war das nicht eine tolle Idee? Wahrscheinlich würde gleich einer direkt neben ihm sitzen und mit Knoblauchatem Smalltalk halten wollen.

Er merkte selber, dass er schlechte Laune hatte. Was hieß schlecht. Miserabel. Geradezu unterirdisch. Wenn er abends hier ankam, machte er öfter mal einen Stopp bei Seyhan, der ihn immer nach seinem Tag fragte und ihm immer zwei extra Peperoni oben aufs Kraut legte, obwohl es eigentlich nur eine pro Kunde gab, weil sie beim Einkauf in der Metro preislich reinhauten, wie er ihm mal erklärt hatte. Aber Jo tat Seyhan leid, und deswegen bekam er extra Peperoni.

Abends roch der Döner auch nicht nach Pisse, sondern verführerisch nach einer schnellen, befriedigenden Mahlzeit, die er sich mit einer Portion Pommes rot-weiß reinziehen konnte, bevor er nach Hause radelte. Eine kleine, tröstliche Auszeit vor dem Chaos. Meist hörte er dazu Böhmermanns Podcast und stierte gedankenverloren auf die Gleise.

Wenn er dann daheim vor einem vollgehäuften Teller saß, mit der Gabel im Essen seines Vaters stocherte und versuchte herauszufinden, was er da vor sich hatte und ob es eventuell lebensgefährdende Bestandteile enthielt (einmal hatte er eine Schraube aus dem Blaukraut gezogen, und ein anderes Mal – das war bisher seine schlimmste Woche gewesen – hatte er erst gemerkt, dass das Fleisch verdorben war, nachdem er zwei große, wirklich große Stücke gegessen hatte und sich plötzlich so fühlte, als habe ihm jemand in den Magen geboxt), war er dankbar für den Puffer, den ihm der Döner verschafft hatte. Beinahe jeden Abend malte er eine halbe Stunde mit dem Besteck psychedelisch anmutende Muster ins Essen und kippte sein Kunstwerk anschließend ins Klo. Dann bestellte er gegen zehn noch eine Pizza, die er für zwei Euro Extratrinkgeld an der hinteren Gartenpforte entgegennahm, oder versuchte, sich aus den Vorräten im Kühlschrank was zusammenzubrutzeln, wenn es die Arbeit erlaubte. Meistens erlaubte sie es nicht, und der Abend endete mit einer großen Vesuvio und einer Cola. Mehr als einmal hatte er in einer Besprechung fettige Fingerabdrücke auf den Unterlagen gehabt, die von der Salami herrührten.

Aber das war momentan eben sein Leben.

Er stellte sich in die Schlange und trippelte ungeduldig vor sich hin. Was bestellte die vor ihm denn noch alles? Natürlich, einen Soja-Matcha-Latte. Normaler Kaffee ging ja nicht mehr, der machte auf Instagram nicht genug her. Er musterte die roten Haare der Frau, die gerade durch die News bei Focus Online scrollte. Den Bericht über den Anschlag in Tunesien schnickte sie mit dem Finger weg, aber die neuesten Gerüchte um die Trennung von Tom Kaulitz und Heidi Klum schienen sie zu interessieren. Sie hatte ihr Handy an einer goldenen Stoffkordel um den Oberkörper geschlungen, wie es jetzt alle machten. Damit man es noch schneller zücken konnte und ja keinen erinnerungswürdigen Moment verpasste. Er rollte hinter ihrem Rücken mit den Augen, während er die Bäckerin beobachtete, die mit rosa Krallennägeln quälend langsam die Dose mit dem Matchapulver öffnete. Nun musste die Milch noch heiß gemacht und geschäumt werden. Auch noch zwei Brezen? Alles klar, vielleicht noch eine frischgeschmierte Semmel mit Extrabelägen dazu? Er hatte schließlich den ganzen Tag Zeit!

Okay, jetzt wurde er gemein. Das passierte immer, wenn er zu wenig schlief und einfach alles zu viel war. Heute Nacht hatte er überhaupt nicht geschlafen. Und zu viel war ihm alles schon lange. Eigentlich von Anfang an. Aber fragte danach irgendjemand? Nein, alle schienen äußerst zufrieden mit der Situation. Alle außer ihm.

Endlich hatte die Rothaarige ihren Matcha und ihre Brezen und raffte die Tüte an sich. Sie drehte sich um, und er wollte schon vorrücken, da trafen sich ihre Blicke, und er blieb wie angewurzelt stehen.

3

Als ich den Kies der Auffahrt erreichte und mich gerade in den Sattel schwingen wollte, ertönte hinter mir ein schriller Schrei.

»Mariiii-lee!!«

Ich fuhr erschrocken herum. Warum um Gottes willen war meine Mutter um diese Zeit schon wach?

»Mama, wie siehst du denn aus?«

Meine Mutter stand oben auf dem Balkon und schaute missbilligend auf mich herunter. Sie war in ihren seidenen Morgenmantel gewickelt, und ihr Gesicht war bedeckt von einer schwarzen Crememaske.

»Das Gleiche könnte ich dich fragen! Du musst sofort hochkommen!«

»Ich kann nicht, ich muss die S-Bahn kriegen!«

»Nimmst du eben eine später! Ich muss deine Taille abstecken!«

»Wie bitte?«

»Die Schneiderin! Ich habe es total vergessen, sie hat das Kleid geschickt. Wir müssen schauen, ob es auch passt!«

Ich atmete einmal tief ein und aus. »Mama, ich habe dir doch gesagt, ich brauche kein Kleid. Ich arbeite direkt neben Peek & Cloppenburg, ich kaufe mir einfach eins!«

Meine Mutter schnaubte nur. So antwortete sie immer, wenn das, was ich sagte, so abwegig für sie war, dass sie es keiner weiteren Antwort würdigen wollte. »Sie hatte deine Maße, und ich habe ihr gesagt, du magst Blau. Brauchst du eben nicht mehr einkaufen gehen, sei lieber dankbar. Es muss heute sein, sonst wird sie nicht fertig, die Gala ist schon übermorgen! Los, es dauert ja nur zwei Minuten!«

Ich wusste, dass es nicht nur zwei Minuten dauern würde, aber ich wusste genauso gut, dass Widerstand keinen Zweck hatte. Wenn die Stimme meiner Mutter diesen Ton annahm, konnte man nur strammstehen.

Ich ließ das Fahrrad fallen und zog mein Handy aus der Jeanstasche. Während ich die Stufen zur Haustür hinaufrannte, tippte ich eine Nachricht an meine Chefin Nadine. Werde die frühe Bahn nicht kriegen, sorry, Notfall mit meiner Mutter. Aber zur Präsentation bin ich da!!

Das will ich auch schwer hoffen! War die postwendende Antwort.

Hundertpro!

»Mariele!!« Das Schreien meiner Mutter ließ mich kurz zusammenzucken. »Bin ja schon da, jetzt kreisch halt nicht so!« Ich ließ den Schlüssel neben der Haustür auf den Boden fallen – eine alte Angewohnheit, von der ich sicher war, dass sie mit meinem ausgeprägten Fluchtinstinkt zu tun hatte, der immer besonders stark zu werden schien, wenn meine Mutter in der Nähe war – und lief nach oben, wo sie bereits im Schlafzimmer hin und her eilte. Auf dem riesigen Bett mit Blick auf den See lagen bunte Kleider übereinandergestapelt, mehrere Paar hochhackige Schuhe standen im Raum verteilt, und es herrschte allgemeines und ungewohntes Chaos.

»Mama, was bist du denn so gehetzt, es ist noch nicht mal sieben!« Ich ließ meinen Rucksack aufs Bett fallen und küsste meine Mutter aufs Ohr.

»Ich habe heute das Mittagessen mit den Frauen vom Charity-Verband. Oh, Vorsicht!« Meine Mutter drückte mich an sich, schob mich dann aber schnell wieder weg, damit ich die Creme auf ihrem Gesicht nicht aufs T-Shirt bekam.

»Ach, stimmt ja. Deswegen die Maske.«

»Aktivkohle! Ich muss alle Register ziehen, diese Frauen sind wie Hyänen. Letztes Mal hat Regina gesagt, dass ich ›ja schon viel besser‹ aussehe. Schon viel besser! Diese unverschämte Person!«

»Sie hat es sicher nett gemeint.«

»Nett. Die wissen gar nicht, was das ist. Sie haben mich nur aufgenommen, weil dein Vater damals so großzügig gespendet hat. Und das lassen sie mich bei jeder Gelegenheit spüren!«

Ich nickte verständnisvoll. Innerlich stöhnte ich. Meine Mutter stammt aus einer alten Münchner Metzgerfamilie und hatte die letzten 40 Jahre ihres Lebens damit verbracht, diese Tatsache vor der Welt so gut es ging zu verbergen. Mit dem Tod meines Vaters hatte sie eine tiefsitzende Panik entwickelt, dass nun doch alle merken würden, dass sie gar nicht wirklich dazugehörte. Die Gala, für die sie mich vermessen wollte, war das erste gesellschaftliche Großevent, auf das sie ohne ihren Mann gehen würde. Ich wusste, wie wichtig es ihr war – und wie sehr sie es gleichzeitig fürchtete.

»Los, hopp, ich denke, du hast es eilig. Ich muss mir auch noch die Haare eindrehen!« Plötzlich packte meine Mutter mich am Arm, schaute mich stirnrunzelnd an und wischte mir dann ärgerlich über das Gesicht. »Du bist ja noch voller Zahnpasta. Wirklich, Marie, so wärst du jetzt in den Zug gestiegen?«

»Das juckt doch niemanden.« Grummelnd schaute ich in den Spiegel – sie hatte recht, ich sah aus, als hätte ich Tollwut – und rubbelte mir die weißen Reste aus den Mundwinkeln. Wie immer in Anwesenheit meiner Mutter fühlte ich mich nicht wie eine erwachsene Frau, sondern wie ein unmündiges Kind. Ich war 31, hatte in Indonesien solarbetriebene Wasserpumpen gebaut, war in einem umgebauten Van zwei Jahre solo durch Südamerika gefahren, hatte nebenbei studiert, zwei Fremdsprachen gelernt und arbeitete nun bei Vorwerks größtem Konkurrenten als Abteilungsleiterin für Produktdesign. Eine ganz beachtliche Bilanz, sollte man meinen, oder? In meinem Arbeitsleben war ich Frau Brunner, die rechte Hand vom Chef (oder in meinem Fall der Chefin), die für ihre innovativen Ideen bekannt war und sich vor nichts und niemandem verstecken musste.

Hier war ich das Mariechen, das man nach Lust und Laune herumkommandierte.

Normalerweise konnte ich mich meiner Mutter ziemlich gut widersetzen. Aber angesichts der Umstände war ich milder geworden. Der Tod meines Vaters hatte uns auf seltsame Art zusammengeschweißt. Auch wenn sie mich an jedem Tag meines Lebens wahnsinnig machte, ich liebte sie sehr und wollte, dass sie glücklich war. Ich würde also mit auf die Gala gehen, von der sie seit Wochen redete. Ich würde mich in ein maßgeschneidertes Kleid pressen, und ich würde die ganzen reichen Schnösel, die sie mir den Abend über vorstellen würde, zuckersüß anlächeln und meinetwegen sogar ein wenig mit ihnen flirten. Aber ausgehen würde ich nicht mit ihnen. Damit hatte ich schon genug Lebenszeit verschwendet. Doch das musste ich meiner Mutter ja jetzt nicht auf die Nase binden.

Sie zog eine knisternde blaue Monstrosität aus einer Box, und ich brauchte ein paar Sekunden, bis mir klar war, dass das mein Kleid sein sollte. Der Stoff nahm gar kein Ende. Wie es schien, wollte sie mich für das Spektakel so gut es ging verhüllen.

»Mama. Ich gehe nicht zu den Oscars! Hat das etwa eine Schleppe?«

»Unsinn, es fällt hinten etwas weiter. Das betont die Taille.«

Ich seufzte und zog mich aus. »Egal, einfach nicht hinschauen«, sagte ich mir im Kopf. Zum Glück war ich wirklich nicht eitel. Solange ich irgendwie reinpasste, würde es schon gehen.

Mit ihrer Hilfe quetschte ich mich in das blaue Stoffmonster und versuchte, nicht allzu genau in den Spiegel zu schauen. In zwei Tagen konnte man jetzt eh nicht mehr viel drehen. Also versuchte ich, mich damit abzufinden. »Etwas eng!«, kommentierte ich, als ich es richtig drapiert hatte, und meine Mutter zog stirnrunzelnd ihr Maßband hervor. »Hast du etwa zugenommen, seit wir das letzte Mal gemessen haben?«, fragte sie konsterniert.

»Das kann sehr gut sein!«, antwortete ich ungerührt, und sie schnalzte mit der Zunge. Während sie um mich herumwuselte und dabei vor sich hin murmelte, als müsste sie eine komplizierte Rechenaufgabe lösen, zückte ich erneut mein Handy. Ich machte ein Spiegel-Selfie von mir und schickte es an Katja, meine beste Freundin.

Hilf mir!, schrieb ich unter das Foto, auf dem meine Mutter vor mir kniete und mit gerunzelter Stirn das Band um meine Taille enger zog, als könnte sie nicht glauben, was sie da sah.

»Mama, wenn du den Speck zusammenpresst, kriegst du zwar eine kleinere Zahl, aber dann platzt mein Kleid!«, sagte ich gut gelaunt. Mein Gewicht war ein ewiges Streitthema zwischen uns. Ich trug eine sportliche 40–42 und fühlte mich pudelwohl in meiner Haut. Meine Mutter, die eine dünne (und unsportliche!) 36 war und ihr ganzes Leben auf Diät verbracht hatte, missbilligte es, wie alle Menschen, die nicht von Natur aus schlank sind, sondern sich ihr Gewicht erkämpfen müssen, wenn jemand sich nicht von den gesellschaftlichen Zwängen zur Idealfigur beeindrucken ließ.

»Jetzt zieh eben kurz ein, du musst den Bauch ja auch nicht so raushängen lassen! Wenn nur deine Brüste ein wenig kleiner wären!«

Ich seufzte. »Ich lasse ihn nicht hängen, ich atme. Und das ist seine natürliche Form. Außerdem habe ich bisher für meine Brüste nur Komplimente bekommen. Allerdings meist von Männern.«

Meine Mutter spitzte die Lippen. Mit Anzüglichkeiten konnte sie nicht umgehen, was ich gerne mal für mein persönliches Amüsement ausnutzte. »Marie! Na, vielleicht kann sie an den Nähten noch ein wenig was herauslassen. Ziehste halt den Bauch ein, gell? Oder du probierst es einfach mal mit einer Shapewear?«

»Ich habe Shape, vielen Dank! Wie wäre es, wenn du mir einfach ein Kleid machen lässt, das mir auch passt, wenn ich schon dir zuliebe auf diese schreckliche Veranstaltung gehen muss?«

Sie sog scharf die Luft ein. »Du gehst dort doch nicht für mich hin, sondern für dich!«

»Ach ja? Na, dann kann ich es ja auch bleibenlassen!«

»Marie Louise Magdalena!« Meine Mutter nannte meinen vollen Vornamen nur dann, wenn sie wirklich genervt oder wirklich entsetzt war – was beides häufig vorkam.

»Und außerdem … Wenn du mich auf dieser Party präsentieren willst, warum lässt du mich dann einhüllen wie eine Wurst im Schlafrock? Es ist Sommer, ein Cocktailkleid hätte es auch getan!«

»Für eine Gala? Bist du wahnsinnig? Gottschalk wird persönlich die Eröffnungsrede halten. Was meinst du, was da für Roben ausgepackt werden, da kannst du doch nicht in irgendeinem Beachfetzen rumlaufen!«

»Schon gut.« Ich seufzte wieder und sah auf mein Handy.

Soll ich Verstärkung schicken?

Dem Smiley zufolge, das Katja hinter ihre Worte gesetzt hatte, lachte sie sich gerade über uns kaputt.

Ich grinste und tippte eine Antwort. Nicht nötig, sie lässt mich (hoffentlich!) bald wieder gehen.

»Jetzt wackele doch nicht so, wie soll ich denn so richtig messen?«

»Mama, ich präsentiere heute das neue Modell, ich kann wirklich nicht noch später kommen. Den ersten Zug habe ich schon verpasst!«

»Bin ja gleich fertig. Denkst du an das Abendessen mit Franz?«

Ich zuckte zusammen. Mist, das hatte ich vollkommen verdrängt. »Äh, also eigentlich ist das heute nicht so ide…«, versuchte ich mich rauszureden. Der Blick meiner Mutter ließ mich zurückrudern. »Ja, klar. Ich denke dran!«, seufzte ich.

»Wir holen dich von der Arbeit ab. Ich hoffe, in diesem Rucksack befindet sich etwas, das du gegen diese grauenvollen Latschen eintauschen kannst?«

»Na sicher. Glaubst du, ich gehe so zur Präsentation?«

»Dir traue ich alles zu! Franz hat im Schapeau reserviert, also mach was mit deinen Haaren.«

»Bezahlt er denn dieses Mal selber?«, murmelte ich eingeschnappt, und bereute es sofort.

»Wie bitte?« Die Augenbrauen meiner Mutter verschmolzen zu einem wütenden Strich.

»Ach, nichts.«

Sie warf mir noch einen scharfen Blick zu, sagte aber nichts, sondern machte sich jetzt daran, meine Hüfte zu vermessen.

Ich hasste den neuen Freund meiner Mutter. Seine Angewohnheit, sich von ihr in sündhaft teure Restaurants einladen zu lassen, obwohl er angeblich mehr Geld hatte, als man laut aussprechen durfte, war nur eines der vielen Dinge, die mich an ihm störten. Zu denen gehörten auch seine eindeutigen Blicke auf meine Brüste, die er ganz sicher kein bisschen zu groß fand.

Außerdem war es viel zu früh für eine neue Beziehung. Aber jeder trauert auf seine Weise. Meine Mutter hatte entschieden, dass es ihr guttat, sich kopfüber ins Leben zu stürzen, und ich musste zugeben, dass das nach den ersten Monaten, in denen sie in ihrem dunklen Zimmer gesessen und auf den See hinausgestarrt hatte, auch eine positive Entwicklung war. Trotzdem – ich konnte Franz nicht leiden. Irgendwas war faul an ihm.

4

Die Frau hielt inne, starrte Johannes an und wurde rot bis unter die Haarwurzeln. Eilig trat sie einen Schritt nach vorne. Im selben Moment machte er eine unkontrollierte Bewegung – und sein Ellbogen knallte gegen ihren Matcha. Der Deckel fiel ab, die grüne Milch schwappte über und verteilte sich auf ihrem Kleid.

»Shit! Tut mir leid!« Johannes machte Anstalten, ihr mit der Hand übers Kleid zu reiben, dann begriff er in letzter Sekunde, was er da tat, und hielt inne, die Finger etwa auf Brusthöhe der Frau in der Luft. Ihm wurde heiß. »Sorry, ich wollte nicht … äh.« Schnell ließ er die Hand sinken. »Ich hole eine Serviette!«

»Nicht nötig, nichts passiert!« Die Frau sah ihm nicht in die Augen. Sie hatte keine Hand frei, um sich sauber zu machen, aber sie wartete auch nicht auf die Serviette. »Tschüs«, murmelte sie und lief mit schnellen Schritten davon, eine Spur aus grünen Spritzern hinter sich herziehend. Den Deckel ließ sie einfach liegen.

Johannes ließ die Servietten, die er schon in der Hand hatte, wieder fallen, bückte sich und warf den Deckel in den Abfalleimer. Katja, 32, war so schnell verschwunden, dass er nicht einmal mitbekommen hatte, in welche Richtung sie gegangen war. Auf ihrem Tinderprofil hatte sie anders ausgesehen, aber das taten sie alle. Trotzdem war sie es, zu 100 %. Er hatte sie sofort erkannt – und sie ihn auch.

Das Tolle an Tinder war, dass man per Daumenwisch Frauen aus der Gegend kennenlernen konnte. Nicht mehr so toll war es, wenn diese Frauen einen nach drei Wochen intensiver Flirtgespräche einfach ghosteten. Aber das Schlimmste und überhaupt nicht mehr toll war es, wenn man diese Frauen dann morgens um acht mit schlechter Laune und Bartstoppeln beim Bäcker traf, und sie gar nicht schnell genug vor einem davonlaufen konnten.

Immer noch durcheinander bestellte er einen doppelten Espresso und ein Croissant mit Frischkäse und Schnittlauch. Er verstand es einfach nicht. Was hatte er falsch gemacht? Er war doch nett, er sah ganz gut aus, war sportlich, hatte einen super Job. Gut, heute war er grummelig. Okay, so richtig scheiße drauf war er heute. Aber das konnte sie ja schließlich nicht riechen. Wenn er nicht unter Stress stand, sein Privatleben kein Tinder-Desaster war und er nicht den ganzen Tag über Bauchschmerzen hatte, wenn er an den Abend dachte, war er wirklich ein netter Typ. Normal eben, würde er sagen. Kein Hauptgewinn, aber musste er sich deshalb verstecken?

Sie hatten sich so gut verstanden. Ein Treffen war nur deshalb noch nicht zustande gekommen, weil er immer arbeitete und abends oft das Haus nicht verlassen konnte. Sie war erst erkältet und dann übers Wochenende in Berlin. Aber es war ganz fest geplant gewesen, bloß den Tag mussten sie noch festlegen. Am Ammersee ein Picknick oder – ganz romantisch – eine Bootsfahrt, es war beschlossene Sache. Jeden Abend hatten sie sich geschrieben, bis einer von ihnen zu müde wurde. Über WhatsApp wohlgemerkt, nach nur ein paarmal hin und her schreiben hatten sie Nummern ausgetauscht. Mehr als einmal war er mit dem Handy eingenickt und mit einem »Wahrscheinlich schläfst du schon wieder – Gute Nacht, Jo, ich freue mich auf dich!« in der Hand aufgewacht, auf das er dann lächelnd, noch im Bett liegend, mit einer Entschuldigung und einem Morgengruß antwortete. Überhaupt nicht schmierig war es gewesen. LZB – Langzeitbeziehung hatte unter ihren Fotos gestanden, und nach dem er gegoogelt hatte, was das bedeutete, hatte er das für gut gefunden. Bei Tinder musste man kurz und bündig klarmachen, was man wollte, sonst wurde es kompliziert. Nein, etwas Ernsteres, Erwachsenes, gar nicht Tinder-Typisches war es gewesen, und er hatte sich wirklich Hoffnungen gemacht, hatte es schön gefunden, dass sie sich noch nicht persönlich kannten, und die Vorfreude auf ein erstes Treffen auskosteten.

Gut, von ihren Profilen her hatten sie nicht besonders zusammengepasst. Aber was hieß das schon? Ihre Fotos waren niedlich gewesen, ansprechend. Vielleicht ein wenig zu flirty. Er hielt nicht viel von Bikini-Bildern im Internet, zu viele Spanner (er wusste das, er war mit ihnen zur Schule gegangen), und musste man unbedingt direkt zeigen, was es zu erobern galt? Das setzte einen als männlichen Part so unter Druck. Aber als sie sich besser kennengelernt hatten, war klar gewesen, dass es irgendwie doch passte, und der etwas oberflächliche Eindruck, den ihre Bilder auslösten, verflog. Sie war ein wenig jünger als er, war witzig und interessiert, sie sahen die gleichen Serien auf Netflix (eine Frau, die für Walking Dead schwärmt, musste man erst mal finden!), und vor allem antwortete sie! Das war in Tinderland inzwischen eine selten gewordene Spezies. Likes gab es viele, sogar Superlikes hatte er einige vorzuweisen (27, um genau zu sein, aber dass er sie gezählt hatte, sagte Dinge über seinen Charakter, denen er lieber nicht so genau nachspüren wollte). Den Dialog jedoch über mehr als ein »Hey«, ein paar Smileys und Floskeln hinaus auszuweiten war geradezu unmöglich.

Die Superlikes hatte er vor allem den Boulderfotos zu verdanken, da war er sicher. Braungebrannt war er da, von der südfranzösischen Sonne, und die Muskeln auf seinen Armen stachen hervor, weil er sich an den Felsen festhielt und sie so ganz natürlich flexte. Ein bisschen geschwindelt war es schon, momentan war sein Teint eher käsig als knackig braun, und beim Bouldern war er seit Monaten nicht gewesen, schon gar nicht in Südfrankreich. Wenn er es jetzt mal schaffte, dann nach der Arbeit zwei Stunden mit Henne in der Halle. Von einem Sixpack und Henry-Cavill-Bizeps konnte also keine Rede sein. Aber gut, so machte man das eben im Internet.

 

Er kippte den Espresso im Stehen und biss dann, nach einem panischen Blick auf die Uhr, im Laufen in sein Croissant. Er war immer noch schlecht gelaunt, aber jetzt hatte sich noch eine weitere Ursache dazugesellt. Als er keuchend auf dem Bahnsteig ankam, war die Hälfte seines Schnittlauchs unterwegs zu Boden gesegelt und die Anzeigetafel zeigte 15 Minuten Verspätung an. Natürlich. Der Tag hatte beschissen angefangen, und er würde beschissen weitergehen.

Beschissen enden würde er sowieso.

Er lehnte sich an einen Pfeiler und checkte seine E-Mails. Die Fahrt nach München würde nicht ausreichen um wettzumachen, was er gestern Abend nicht geschafft hatte. Die Beförderung war zum schlechtest möglichen Zeitpunkt gekommen. Warum musste immer alles auf einmal passieren? Der Prototyp für das dreirädrige Cargo-E-Bike von BMW war auf der micromobility expo in Hannover gut angekommen, jetzt mussten sie nachlegen und die Serienproduktion vorbereiten. Außerdem musste er diese beschissene Pressemitteilung aufsetzen und die Quartalsbilanz abschließen. Er brauchte die Abende, er brauchte die Wochenenden, und er brauchte Schlaf! Lange würde er das so nicht durchhalten. Allein bei dem Gedanken fühlte er eine bleierne Müdigkeit hinter den Augenlidern, gegen die er sicher den ganzen Tag ankämpfen würde. Und das Geschunkel des Zuges lullte ihn immer so ein. Gut, hoffte er jetzt einfach mal auf die Wirkung des doppelten Espresso.

Er steckte das Handy in die Tasche. Wenn die Anzeige stimmte, hatte er noch acht Minuten, aber vorsichtshalber schlenderte er schon mal nach vorne. Er wusste genau, auf welcher Höhe sein Wagen halten würde und positionierte sich so, dass er mit ein wenig sachtem Ellbogeneinsatz als einer der Ersten in den Zug stürmen konnte. Gut fühlte er sich damit nicht, eigentlich hasste er Drängler. Aber er brauchte einen Sitzplatz. Und so unterirdisch, wie dieser Tag angefangen hatte, konnte er schon riechen, dass es heute schwierig werden würde. Jeden Morgen ging er extra bis ganz ans Ende des Bahnsteigs. Die Chance, einen guten Platz zu erwischen, war in den ersten Wagen größer, weil sich die meisten Menschen in Eingangsnähe drängten und zu faul waren, weiter nach hinten zu laufen. Außerdem war dort die Raucherinsel.

Er kannte die meisten Menschen um sich herum vom Sehen. Gegen die ältere, hochgewachsene Frau in Pumps und mit Aktentasche unter dem Arm hatte er das Rangeln um einen Platz schon des Öfteren verloren. Sie führte morgens bereits knallharte (und lautstarke) Geschäftsverhandlungen und ließ sich von den genervten Blicken der Mitreisenden nicht im Geringsten stören. Den Trick mit dem Vorneeinsteigen hatte sie anscheinend auch durchschaut, denn er sah sie hier jeden Morgen. Eigentlich kannte er so gut wie alle hier, überlegte er, außer den fülligen Typ in Chucks und der roth…

Katja, 32, stand nur wenige Meter von ihm entfernt, den Blick auf ihr Kordelhandy geheftet.

Sein erster Impuls war es, sich wegzuducken. Aber plötzlich überrollte ihn eine seltsame Welle aus Emotionen. Vielleicht war es der Schlafmangel, vielleicht der Schnittlauch auf seinen Schuhen, den er gerade bemerkte und hastig wegwedelte, aber etwas in ihm brachte ihn plötzlich dazu, sich umzudrehen. Es war toll gewesen zwischen ihnen! Er hatte nichts falsch gemacht. Und er hatte das nicht verdient!

»Du bist immer so lieb«, hatte Francesca, seine Ex, oft gesagt. »Wie ein Bärchen!«

Meistens hatte sie das nett gemeint, dann mochte sie es, dass er so lieb war. Aber wenn sie sich stritten, war er plötzlich viel zu lieb, und das Zu wurde zu einem Vorwurf. »Immer muss ich alles entscheiden, ich bin doch nicht deine Mutter, ich will einen Mann, kein Kleinkind! Du kannst einfach nie sagen, was du eigentlich willst. Mach doch mal ’ne Ansage!«, hatte sie ihn einmal angeschrien, und er hatte sie verblüfft angestarrt. Eine Ansage wollte sie? Was sollte er denn um Himmels willen ansagen?

Francesca war Halbitalienerin und von Natur aus feurig. Er hatte irgendwann entschieden, dass er da nicht mithalten konnte. Aber trotzdem hatte er aus dieser letzten gescheiterten Beziehung eine Lehre gezogen. Frauen wollten Männer, die die Dinge anpackten, die klar ihre Meinung sagten. Wenn sie nett waren, auf ihre Freundin Rücksicht nahmen, ihr die Entscheidungen überließen, weil sie wollten, dass sie glücklich war, dann war das falsch und unmännlich.

Schön, dann mach ich jetzt mal ’ne Ansage!, dachte er und stürmte entschlossenen Schrittes auf Katja zu. Ein kleiner Teil in ihm schrie ihn an, sofort umzukehren – aber das war das Bärchen! Er war kein Bärchen, er war ein Mann, und er wollte verdammt nochmal wissen, warum sie ihm nicht mehr antwortete.

»Hey!«

Katja sah erschrocken auf. Als sie ihn erkannte, weiteten sich ihre Augen.

»Katja?«

Sie sagte nichts.

»Ich glaube, wir kennen uns?«

Noch immer kam nichts. Sie hatte die Augen so weit aufgerissen, dass er eine kleine geplatzte Ader neben ihrer blauen Iris sehen konnte.

»Ich bin’s, Johannes.«

»Tut mir leid, ich kenne Sie nicht!« Ihre Stimme klang seltsam kratzig. Sie hielt ihre Brezen-Tüte an sich gedrückt wie ein Schutzschild. Er roch den Matcha. Schuldbewusst sah er den dunklen Fleck auf ihrem Kleid.

»Doch, natürlich! Von Tinder. Du bist doch Katja aus Dießen. Ich hab dich sofort erkannt!« Er lächelte – wie er hoffte, gewinnend –, aber ihre Augen weiteten sich noch ein wenig mehr und wollten den beinahe ängstlichen Ausdruck einfach nicht verlieren. »Ich glaube, du schuldest mir ein Picknick!«

Er zwinkerte, und sie zuckte zusammen.

»Hör mal, wenn du einen anderen kennengelernt hast, ist das kein Problem, du kannst es mir ruhig sa…«

Plötzlich rollte hinter ihm der Zug ein und übertönte seine Worte. Natürlich, wenn man ihn mal nicht brauchte, kam er dann doch pünktlich.

»Tut mir leid, ich muss einsteigen!«, rief Katja über den Lärm hinweg. Sie nahm ihre Tasche und hastete davon. Johannes sah ihr verdattert nach. Als er in der Scheibe des Zuges einen Blick auf sein Spiegelbild erhaschte, bemerkte er, dass er Schnittlauch im Mundwinkel hängen hatte.

5

Als ich eine halbe Stunde nach der Presswurstanprobe die geschwungene Treppe runterrannte und mich dabei dank meiner ausgelatschten Birkenstocks beinahe königlich auf die Nase legte, spürte ich eine leichte Panik in mir aufsteigen. Natürlich war es nicht bei der Taillenvermessung geblieben, ich hatte mir auch noch Stoffmuster ansehen und außerdem das neueste Kleid meiner Mutter begutachten müssen (reine Zeitverschwendung: Wir hatten schon immer einen vollkommen gegensätzlichen Geschmack, und sie war ernsthaft beleidigt gewesen von meinem Urteil), und nun war ich wirklich, wirklich spät dran. Ich würde zur Bahn rasen müssen, wenn ich den Zug noch erwischen wollte.

Hektisch stopfte ich die – für meine Mutter obligatorische, für mich vermaledeite – Bunte in meinen Rucksack. Die hatte sie mir eben noch mit den Worten »ich hab dir was für die Wiesn angekreuzt, Seite sieben, wenn du magst bestell ich es sofort!« aufgezwungen. Ich schwang mich auf mein Rad und trat in die Pedale. Umziehen würde ich mich in der Bahn. Eigentlich hatte ich vorgehabt, das wie so oft auf der Damentoilette der Firma zu erledigen, aber jetzt, wo ich den späteren Zug nehmen musste, kam es auf jede Sekunde an. Es war nicht mein erster Striptease im Zug und würde auch nicht mein letzter sein, ich war Verschlafen gewöhnt und inzwischen routiniert im Improvisieren. In Gedanken ging ich kurz die Schritte durch und nickte zufrieden. Kleid über die Jeans, Shirt drunter durch wursteln, Strumpfhose hochziehen, Schuhe an, fertig. Mit Rock oder gar Bluse und Hose wäre es schwieriger geworden, aber so würde es gar kein Problem sein. Meine Haare waren inzwischen auch trocken, die konnte ich dann schnell hochstecken. Ich schoss aus der Einfahrt, holte im Fahren mein Handy hervor und schaute auf den Streckenagenten. Die App zeigte an, dass die angesagte Verspätung nun doch behoben worden war. Mist, ausgerechnet! Da war doch diese Gleissperrung kurz vor Geisenbrunn, auf die hatte ich gehofft. Heute arbeitete das Schicksal gegen mich.

Noch drei Minuten bis zum Bahnhof von Herrsching. Als ich keuchend bei Seyhans Bude um die Ecke schoss und dabei geflissentlich die gerade auf Rot schaltende Ampel ignorierte, sah ich den einfahrenden Zug.

»Shit, verdammter!«

Ich sprang in vollem Schwung ab, ließ das Rad fallen und warf dem erschrockenen Seyhan die Schlüssel zu. »Anbinden. Zug. Spät. Mach es wieder gut!«

Seyhan fing gekonnt mit einer Hand die Schlüssel, bevor sie in der Knoblauchsoße landeten, und grinste. »Alles klar, Marie! Ich bind’s hinter der Bude an!«

»Bist ein Schatz, muss rennen!«, brüllte ich, dann jagte ich los, wetzte um die Ecke und sprang durch die S-Bahn-Tür, zwei Sekunden bevor sie sich piepend hinter mir schloss.

6

Geschafft. Er hatte ein wenig Ellbogenschmalz einsetzen müssen (dafür reichten seine Muskeln gerade noch), aber er saß! Jo schloss eine Sekunde die Augen, um wieder zu Atem zu kommen. Jeden Morgen dieser Kampf, es war purer Stress. Der spätere Zug war sogar noch voller, damit hatte er nicht gerechnet. Alle wollten einen Platz, es war nicht wirklich sozial, sich mit vollem Körpereinsatz durch die Tür zu drängeln. Aber er konnte ja schlecht im Stehen seinen Laptop balancieren. Und wenn er noch mehr Zeit verlor, sah er seinen neuen Posten in ernster Gefahr. Schließlich wussten sie im Büro nicht, was bei ihm daheim los war. Er hatte es bisher tunlichst vermieden, darüber zu sprechen. Die Leben seiner Kollegen waren alle so normal. Die Gespräche im Pausenraum drehten sich um Grillabende, abwaschbare Autositze für Kleinkinder und überteuerte Sommerferien an der Ostsee – da konnte er schlecht mit seinen doch etwas speziellen Themen dazwischenfunken. Er saß meistens mit Jens und Olaf, den beiden anderen Entwicklern aus seiner Abteilung, in der Ecke am Fenster vor dem Kaffeevollautomaten. Sie hatten Spaß in ihrem Dreierteam, lachten viel, hatten über die Jahre ihren ganz eigenen, manchmal etwas sarkastischen Humor entwickelt, der sicherlich schockierte, wenn man ihn nicht gewohnt war. Ab und an trafen sie sich zum Fortnite-Zocken. Das waren die einzigen Stunden im Monat, in denen er sich vollkommen frei und unbeschwert fühlte. Aber auch ihnen hatte er kaum etwas erzählt. Nur dass er wieder in der Heimat wohnte, dass er die Stadt nicht mehr sehen konnte, es ihn zurückgezogen hatte, er der Familie nahe sein wollte … Was man eben so sagt. Ihre Kommentare hatte er ignoriert. Olaf wusste ein bisschen mehr, und seine mitleidigen Blicke konnte er gerade noch so ertragen.

Es kam ihm falsch vor, darüber zur sprechen. Als würde er seinen Vater verraten. Nicht mal mit seinen Brüdern konnte er wirklich offen sein, obwohl sie ihn erst in diese Lage gebracht hatten. So genau wusste er selber nicht, was ihn davon abhielt, ehrlich zu ihnen zu sein. Vielleicht hatte er Angst, dass sie dachten, er wäre der Sache nicht gewachsen. Oder dass er sich rauswinden wollte. Wenn sie wüssten, wie sich die Situation in den letzten Monaten verschlimmert hatte, würden sie Konsequenzen ziehen wollen. Und er war noch nicht bereit für Konsequenzen.

Unauffällig sah er sich um. Keine Schwangeren oder älteren Herrschaften, denen er seinen Platz anbieten müsste. Gut. Dann konnte er den Laptop rausholen. Schon so oft hatte er sich Klapptische gewünscht, irgendwas, worauf man arbeiten konnte. Wussten die beim MMV denn nicht, dass Pendler die Zeit im Zug irgendwie sinnvoll nutzen mussten? Doch, wussten sie sicher, aber es war ja nicht ihr Problem, was? Nicht mal Steckdosen gab es. Mal abgesehen vom WLAN, das, so hatte er zumindest gehört, für Ende 2020 angedacht war. Angedacht. Er merkte, dass er immer noch schlechte Laune hatte. Aber gut, warum sollte sie auch besser sein, nach der Abfuhr von Katja eben. Die war ihm näher gegangen, als er selber es zugeben wollte, seine Wangen glühten noch immer. Warum hatte sie nur so entsetzt geschaut? Es konnte unmöglich nur der Schnittlauch gewesen sein. Das war peinlich, aber doch wohl verzeihlich. Er bekam ihren Gesichtsausdruck einfach nicht aus dem Kopf. Erschrocken wurde ihm klar, dass sie ihn wirklich verletzt hatte. Er konnte nicht aufhören, daran zu denken. Was hatte er falsch gemacht?

Während er seinen Laptop hochfuhr und in seiner Tasche nach dem Handy kramte, registrierte er mit wachsendem Entsetzen, wie plötzlich alte Minderwertigkeitskomplexe aus seiner Teenagerzeit in ihm hochploppten, die er längst überwunden geglaubt hatte. Aber anscheinend hatten sie irgendwo in einer dunklen Kammer seiner Seele gelauert und nur auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. Konnte es ernsthaft sein, dass er hier saß, ein Mann von 34 Jahren, und über diese Dinge nachdachte? Es war lächerlich. Aber er konnte sich nicht dagegen wehren. Plötzlich war er wieder ein etwas zu magerer, leicht nerdiger Teenager mit unkontrollierbarer Mischhaut, der unsterblich in Annegret Seilspringer verliebt war. Als er es nach über zwei Jahren sinnlosen Schmachtens endlich schaffte, sie anzusprechen, nachdem er auf einer Party am See bereits mehrere Flaschen Rigo getrunken hatte und sich die Sterne leicht drehten, hatte sie ihn so radikal abblitzen lassen, dass er erst mit 18 Jahren wieder wagte, sich einem Mädchen auch nur zu nähern. Er seufzte und dachte, dass er Tinder löschen sollte. Er war zu alt für diesen Mist. Aber man hatte ja eben gesehen, was passierte, wenn man in der nicht virtuellen Welt heutzutage eine Frau ansprach.

Richtig.

Sie liefen davon.

 

Die Bahn fuhr langsamer und hielt ruckelnd in Seefeld-Hechendorf. Dieses ganze Gezockel machte das Pendeln wirklich nicht einfacher, dachte er und sah aus dem Fenster. Eine Oma mit einem gelb-rot karierten Einkaufstrolley trippelte in Zeitlupe auf die Tür zu. Konnten sie nicht endlich einen Schnellzug einführen, der direkt durchfuhr? Die Leute aus Unterpfaffenhofen konnten ja schließlich auch nach Herrsching zum Bahnhof kommen, das war doch wirklich nicht zu viel verlangt. Man konnte nun mal nicht jedes Kaff der Welt an eine Bahnlinie anbinden, andere Menschen fuhren schließlich auch mit dem Auto zur Station. Wenn sie die ganzen unnötigen Stopps ausmerzten, brauchten sie sicher keine 20 Minuten bis in die Innenstadt.

Der Mann ihm gegenüber erhob sich genau in dem Moment, in dem der Zug mit einem Holpern anfuhr. Er fiel nach vorne, stieß gegen Jo, so dass er ihm den Laptop in den Bauch rammte, und patschte ihm dabei seine Krawatte ins Gesicht. Jo wollte gerade den Mund öffnen, um ihm zu sagen, dass das doch gar nicht schlimm war, da rappelte der Mann sich auf und ging ohne ein Wort weiter. Dabei trat er Jo auf den Fuß. Er klappte den Mund wieder zu und sah ihm sprachlos nach. »Hammel!«, knurrte er leise.

Seine Laune wurde nicht besser, nun pochte auch noch sein kleiner Zeh. Und er hatte den Anruf beim Lotzl vor sich. Schon bei dem Gedanken ging sein Puls hoch. Er hasste den Kerl. Ein PS-Junkie, wie er im Buche stand.

Jos Abteilung stand mit dem Rest des Unternehmens mehr oder weniger auf höflichem Kriegsfuß. Keiner sagte es so direkt, aber wenn man in einem der weltweit größten Autohäuser in der E-Bike-Abteilung arbeitete, musste man eben damit leben, allseits als Tret-Öko belächelt zu werden. Lotzl, der über den Klimawandel nur im Konjunktiv sprach, fuhr einen X4.

Er hielt mit seinem Spott über die »Pedelec-Abteilung« nicht hinter dem Berg. Jo nannte ihn für sich auch gerne Trumpl. Wann immer er ihn sah, machte er einen großen Bogen. Aber Trumpl hatte die Zahlen, die Jo brauchte. Die neuen E-Leasingräder für die Mitarbeiter kamen gut an. Besser als sie erwartet hätten. Anscheinend bewegten sich die Menschen gerne auf Rädern, solange sie sich dafür nicht wirklich bewegen mussten. Bereits über ein Zehntel der BMW-Arbeiter nutzte für die langen Arbeitswege auf dem Betriebsgelände mittlerweile das Dienstrad als umweltfreundliche Alternative. Und ein nicht unbeachtlicher Teil von ihnen hatte sich für das E-Leasing registriert. Jetzt wollten sie als Werbung für die Abteilung Zahlen veröffentlichen. Wenn auch die Menschen außerhalb des Unternehmens hörten, dass sich die Mitarbeiter freiwillig für die E-Bikes entschieden, ja dass sogar die Chefetage mitmachte, war das die beste Werbung, die sie kriegen konnten. Sie hatten bereits ein Interview mit einem der Vorstände gedreht, der, so wurde gemunkelt, zwar erst zweimal mit dem Rad zur Arbeit gekommen war, aber gut, Hauptsache, er hielt sein Gesicht hin. Inmitten einer blühenden Grünanlage hatte er voller Überzeugung davon geredet, warum ihm das Ganze eine Herzensangelegenheit war. Dann noch ein paar Schlagwörter wie »Klimaschutz«, »Verkehrsentlastung«, »Greta Thunberg« und »verstopfter Ring« eingestreut und sie hatten die Münchener schon mal in der Tasche. Als Nächstes ging es darum, auch den Rest der Welt zu überzeugen, der vielleicht nicht täglich mit einer verstopften Innenstadt zu kämpfen hatte, aber trotzdem eine umweltfreundliche Alternative zum Auto suchte. Eigentlich sollte das kein Problem sein. Am FIZ hatten sie bereits 760 neue Doppelstockständer geschaffen. Es lief wirklich gut, da brauchten sie gar nichts zu beschönigen. Diese Tatsache musste er nur irgendwie in einen Artikel und dann in eine Präsentation gießen.

Eine junge Frau quetschte sich in ihren Vierer und ließ sich auf den freigewordenen Platz ihm gegenüber fallen. Sie brachte einen durchdringenden Geruch nach Duschgel mit. Sofort zog sie ihr Handy raus und hielt es sich ans Ohr. »Ist ja witzig, ich bin im selben Zug!«, lachte sie in den Hörer. »Ja, ich hab die frühe natürlich verpasst, sie hat mich einfach nicht rausgelassen. Kannst du rüberkommen?« Sie horchte einen Moment. »Ach so, ganz hinten. Ich bin ganz vorne. Na, es ist eh zu voll, und ich muss mich noch umziehen.« Einen Moment hielt sie erstaunt inne. »Oh … okay! Ja, ich erinnere mich an den. Das musst du mir heute Abend unbedingt genauer erzählen!«

Jo runzelte die Stirn. Umziehen? Hier? Er beobachtete sie einen Moment über den Rand seines Laptops hinweg. Sie war sehr hübsch, ihre blonden Locken noch ein wenig feucht, die braunen Augen ungeschminkt, warm und freundlich. Er mochte natürliche Frauen. Etwas seltsam gekleidet war sie allerdings, trug ein gehäkeltes weißes Top, zerrissene Jeans und ausgelatschte braune Birkenstocks. Am Handgelenk hatte sie bunte Armbänder und, wie er jetzt sah, im linken Mundwinkel einen kleinen weißen Fleck. Vermutlich Zahnpasta, dachte Jo, und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag.

Während er halbherzig ein paar Worte seiner PowerPoint hin und her schob, dachte er darüber nach, wie wohl ihr Tinderprofil aussehen würde. Wahrscheinlich ein Festival-Foto, auf dem sie mit Körperfarbe eingeschmiert in die Kamera strahlte. Ein Bild aus Peru oder Bolivien beim Lamafüttern, eines, auf dem sie Hunde streichelte, und eines beim Wandern auf dem Gipfel eines Berges, von hinten, die Haare im Wind wehend, die Arme weit ausgestreckt, als wollte sie sagen: Komm her, Welt! Er sah die Hashtags auf Instagram genau vor sich. #hipppieatheart #naturelover #athomeintheworld #travelgirl

Er schüttelte sich. Okay, was bitte war los mit ihm? Jetzt dachte er in Hashtags? Er verabscheute Hashtags.

Heimlich betrachtete er sie wieder über den Laptoprand und senkte schnell die Augen, als sie zu ihm aufsah. Sie war wirklich hübsch. Vielleicht war sie eine von den etwas Geheimnisvollen, die nur fett NONS unter ihrem Bild stehen hatten (was »No One-Night-Stands« bedeutete, wie er durch Recherche herausgefunden hatte). Wenn man erst mit Mitte dreißig in das Tinder-Game einstieg, hatte man einiges nachzuholen, das war ihm schnell klargeworden. Zum Glück musste man ja heutzutage nicht mehr seine Kumpels fragen. So wie damals, als er in der 9. nicht gewusst hatte, was ein Blowjob war. Himmel, die Geschichte erzählte Henne heute noch.

Eigentlich, dachte er, seufzte leise und beschloss, sich endlich auf seine Präsentation zu konzentrieren – immerhin waren sie schon an Neugilching vorbei und er hatte noch nicht mal richtig angefangen –, sah sie aus wie eine Frau, die gar kein Tinderprofil brauchte. Sie war viel zu hübsch, ihr Lachen viel zu strahlend. Die Kerle liefen ihr sicher scharenweise im echten Leben nach, so dass sie gar kein virtuelles führen musste.

 

Der Zug fuhr in den nächsten Bahnhof ein, der Mann neben ihr stieg aus, und eine ältere Frau in Jeansrock und Bluse schob sich auf den Sitz. Jo konnte nicht umhin, an seiner Tastatur vorbei kurz ihre stämmigen weißen Waden zu bemerken, die sich in sein Sichtfeld schoben. »Echte Blaukrautstampfer«, wie sein Vater sagen würde. Kurz musste er schmunzeln, dann durchzuckte ihn die Traurigkeit. Er war überrascht, wie weh es tat und wie unvermittelt es kam.

Der Humor war das, was ihm am meisten fehlte. Sein Vater war immer ein witziger Typ gewesen. Seine Scherze hatten etwas Gutmütiges, weil er sich meistens selber mit einschloss. Obwohl er selbst, seit Jo denken konnte, einen beachtlichen Ranzen vor sich herschob, lästerte er zum Beispiel mit Leidenschaft über dicke Menschen. Meistens über die, die sich in seiner direkten Umgebung befanden und seine Bemerkungen gar nicht überhören konnten. Er und seine Brüder hatten sich früher oft vor Scham gewunden, wenn sie im Restaurant saßen und er sich zu den Tischnachbarn rüberlehnte, wenn das Essen aufgetragen wurde, und so etwas sagte wie: »Die Bikinifigur hätte sich diesen Sommer für uns eh nicht gelohnt, was?«, und sich dann mit dröhnendem Lachen auf den Bauch klopfte.

Die Frau mit den Blaukrautstampfern stellte ihre Tasche ab und zog eine Illustrierte heraus. »Fashion-Gaudi auf der Wiesn!« lautete die Überschrift der Bunten. »Modern aufgebrezelt!« Jo konnte ein Stöhnen gerade noch unterdrücken. Jetzt ging dieser Schwachsinn schon wieder los. Wenn er morgens noch vor seinem ersten Kaffee die Bahn mit lederhosentragenden Amis teilen musste, wurde es immer ein besonders beschissener Tag. Jeden September wollte er gerne auswandern. Am liebsten auf eine einsame griechische Insel, wo sie garantiert noch nie was von Lederhosen gehört hatten.

In der Abteilung hatten sie die Oktoberfest-Kontingentkarten bereits bekommen. Natürlich hatte er sich nicht eingetragen, aber die meisten waren darüber hergefallen wie über frische Plunderstückchen. Ein richtiges Gerangel war das jedes Jahr. Ihm war das völlig fremd. Am liebsten hätte er sich jetzt rübergelehnt und ihr gesagt, wie vollkommen überbewertet die Wiesn war. Man saß in stinkenden Zelten, in denen es von der Decke tropfte, zahlte ein halbes Monatsgehalt für warmes Bier, wurde hin und her geschubst und konnte kein einziges vernünftiges Wort reden, weil alle nur brüllten und grölten. Christian Lindner, dessen Vorjahres-Outfit die Bunte analysierte, würde ihr garantiert auch bestätigen, dass es sich nicht lohnte und er nur für die Presse hinging. Das sah man schon an dem leicht gequälten Gesichtsausdruck und der lächerlich durchgestylten Aufmachung. Grüne Wildleder-Sneaker … Was hatte er sich nur dabei gedacht? Aber gut, für das Blatt war es ein gefundenes Fressen. Wie konnte man für so eine Postille bloß Geld ausgeben? Glaubte diese Frau wirklich, dass Christine Neubauer exklusive Details aus dem Privatleben ihres Exmannes preisgab? Oder dass sich Prinzessin Caroline mit einem studentischen Liebhaber in den Dünen von Saint-Tropez wälzte? Und er wollte ja nichts sagen, aber wenn sie die Wiesn-Tipps beherzigte und sich in eines der abgebildeten Kleider presste, würde das kein gutes Ende nehmen.