Das goldene Zeitalter - Kenneth Grahame - E-Book

Das goldene Zeitalter E-Book

Kenneth Grahame

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Beschreibung

"Das Goldene Zeitalter" ist eines der frühesten Werke Kenneth Grahames, sein erstes Kinderbuch, und gilt bis heute als Klassiker. In ihm verarbeitet er eigene Kindheitserinnerungen in Geschichten, die mit hintergründigem Humor das Leben von fünf Waisen im viktorianischen England schildern. Die Geschichten brillieren vor allem mit der Zurschaustellung der "geistigen Beschränktheit" Erwachsener, die im krassen Gegensatz steht zur unbekümmerten Lebensfreude der Kinder. Dabei sind die Geschichten durchzogen von Anspielungen auf die griechische Mythologie.-

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Seitenzahl: 197

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Kenneth Grahame

Das goldene Zeitalter

Übersezt von Emmy Becher

Saga

Das goldene Zeitalter

 

Übersezt von Emmy Becher

 

Titel der Originalausgabe: The Golden Age

 

Originalsprache: Englisch

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1895, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728172247

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Die Olympier

Wenn ich jetzt an jene vergangenen Tage zurückdenke, hinter denen sich die Thore längst geschlossen haben, so sehe ich deutlich ein, daß vieles darin anders anzusehen und anders zu machen gewesen wäre für Kinder mit richtigen Eltern. Aber für solche, deren nächste Anverwandte nur Onkel und Tanten sind, muß man mildernde Umstände gelten lassen. Sie behandelten uns zwar gut, wenigstens was die leiblichen Bedürfnisse anbelangt, was aber darüber hinausging war ihnen gleichgültig; sie mußten wohl der ziemlich verbreiteten Anschauung huldigen, daß Kinder wie die lieben Tiere nur ein körperliches Dasein führten. Dieser Irrtum erwuchs ihnen wie mancher andre aus geistiger Beschränktheit, und ich erinnere mich in sehr früher Jugend, ganz objektiv und ohne alles Uebelwollen diese Beschränktheit festgestellt und ihren schädlichen Einfluß in der Welt erkannt zu haben. Aehnlich wie bei Kaliban auf Setebos entstand dabei in mir ein unklarer Begriff von einer launischen, eigensinnigen, zu jeder Willkürlichkeit geneigten Vorsehung, die nur, weil's ihr so beliebt, dies und jenes anordnet – zum Beispiel diesen hoffnungslos unfähigen Geschöpfen eine Gewalt über uns einräumt, die wir von Rechts wegen über sie hätten ausüben sollen.

Diese Erwachsenen, die eine Laune des Schicksals zu unsern Vorgesetzten gemacht hatte, flößten uns durchaus keine Ehrfurcht ein, sondern eher einen gewissen Neid auf ihre begünstigte Stellung und Mitleid mit ihrer Unfähigkeit, diese auszunützen. Wenn wir uns einmal die Zeit nahmen, über sie nachzudenken, was allerdings nicht häufig vorkam, so war es doch wirklich ein trostloser Zug ihres Charakters, daß sie von der ihnen eingeräumten Freiheit, alle Freuden des Lebens zu genießen, so gut wie keinen Gebrauch machten. Sie hätten ja den lieben langen Tag im Teich herumpantschen, die Hühner scheuchen können, hätten ungestört in den heikelsten Sonntagskleidern auf Bäume klettern dürfen; kein Mensch würde ihnen verwehrt haben, bei hellem lichten Tag unverhohlen Schießpulver zu kaufen und Feuerteufel auf dem Rasen abzubrennen – und von alledem thaten sie rein nichts! Keine unwiderstehliche Gewalt trieb sie am Sonntag in die Kirche, und doch gingen sie aus freien Stücken allwöchentlich hinein, ohne indes irgendwie mehr Spaß dabei zu haben als wir.

Im ganzen war das Dasein dieser Olympier offenbar so inhaltlos, als ihre Bewegungen langsam und gezwungen waren, ihre Gewohnheiten langweilig und sinnlos. Für alles, was nicht greifbare Wirklichkeit ist, schienen diese Leute blind und taub zu sein. Das Baumgut, ein ganz wundervoller, von Elfen und Kobolden durchschwirrter Ort, brachte für sie einfach Aepfel und Kirschen hervor, und that die Natur einmal ihre Schuldigkeit nicht, so wurden nicht selten wir für ihre Unterlassungen verantwortlich gemacht. In den Tannenwald oder das Haselnußgehölze setzten sie nie einen Fuß und sie hatten keine Ahnung von den Wundern, die sie bargen; die geheimnisvollen Quellen, die den Ententeich speisten und mindestens so merkwürdig waren, wie die des Nils, übten auf sie keine Anziehungskraft aus. Von Indianern merkten sie einfach nichts und die Büffel und Seeräuber (mit Pistolen!), die doch das ganze Gut unsicher machten, bereiteten ihnen nie die geringste Sorge. Eine Räuberhöhle zu durchforschen oder nach Schätzen zu graben, machte ihnen kein Vergnügen, vielleicht aber war es noch die zweckmäßigste unter ihren thörichten Gewohnheiten, daß sie mit Vorliebe Stubenluft atmeten.

Eine Ausnahme unter den Olympiern war allerdings der Vikar, der nicht mit der Wimper zuckte, wenn man ihm erzählte, daß auf der Wiese im Baumgut eine ungeheure Büffelherde weide, unter die wir mit Moccasin und Tomahawk mit blutverkündendem Kriegsgeheul auf unsern flinken Rossen hineinsprengten. Weder lachte noch lächelte er dabei wie die andern Olympier, sondern er gab uns so interessante, mannigfaltige Ratschläge für die Verfolgung dieses gefährlichen Wilds, daß wir uns sagen mußten, er habe sein Mannesalter und seine hervorragende Stellung sicher nur durch praktische Erfahrungen mit diesen Geschöpfen in ihrem Heimatland erreicht. Ferner war er auch zu jeder Zeit bereit, auf kürzeste Mobilmachung hin, als feindliche Armee oder beutesuchender Indianertrupp auszurücken, kurz, so weit wir's beurteilen konnten, ein hochbegabter, weit über dem menschlichen Durchschnitt stehender Mann, der mittlerweile wohl Bischof geworden sein mag. Seine Fähigkeiten berechtigten ihn sicherlich zur höchsten geistlichen Würde.

Unsre seltsamen Vorgesetzten erhielten mitunter Besuch von ebenso farb- und leblosen Olympiern, wie sie selbst waren, Leuten ohne verständigen Lebenszweck und geistige Interessen. Diese pflegten wie aus den Wolken gefallen bei uns einzuziehen und ebenso plötzlich wieder zu verschwinden, um ihr zweckloses Dasein irgendwo anders fortzusetzen, wir aber wurden bei solchen Gelegenheiten aufs roheste vergewaltigt. Man fing uns ein, wusch unsre Gesichter und zwängte uns in reine Kragen, wobei wir uns der rohen Gewalt mit mehr Verachtung als Empörung zu unterwerfen pflegten. Mit straff gebürstetem, geöltem Haar und krampfhaftem, blödsinnigem Freundlichkeitsgrinsen saßen wir dann da und hörten ihre nichtssagenden Redensarten mit an – wie in aller Welt konnten vernünftige Menschen ihre Zeit so vergeuden? Das war die Frage, die wir uns immer wieder vorlegten, wenn wir endlich losgelassen wurden und in der alten Lehmgrube Töpfe formten oder im Haselnußgehölz den Bären nachstellten.

Es erfüllte uns mit immer neuer Verwunderung, wie sich diese Olympier über unsre Köpfe hinweg, bei den Mahlzeiten zum Beispiel, über irgend eine politische oder gesellschaftliche Nichtigkeit mit einem Eifer unterhalten konnten, der deutlich verriet, daß sie diese blassen Schattenbilder der Wirklichkeit für ungeheuer wichtig und tatsächlich hielten. Wir, die Erleuchteten, die den Kopf voll von Plänen, Verschwörungen und Geheimnissen schweigend kauten, wir hätten ihnen sagen können, was Wirklichkeit war! Wir hatten sie ja nur vor der Thüre zurücklassen müssen und brannten darauf, wieder zu ihr zu gelangen, aber wir hüteten uns wohl, derartige Offenbarungen an sie zu verschwenden, denn wir wußten aus Erfahrung, wie fruchtlos es war, ihnen unsre Ideen mitzuteilen. Im Denken und Planen eins, aneinander geschmiedet durch die Notwendigkeit, ein gemeinsames feindliches Schicksal abzuwehren, gegen eine Strömung anzukämpfen, die uns unablässig in ihre Wirbel reißen wollte, hatten wir keine Vertrauten außerhalb unsres Kreises. Die seltsame blutlose Menschengattung der Olympier stand uns entschieden viel ferner als die freundlichen Tiere, die unser naturgemäßes Dasein im Freien teilten. Die Kluft zwischen uns wurde noch erweitert durch das Gefühl ihrer fortdauernden Ungerechtigkeit, die sich darin äußerte, daß diese Olympier niemals einen Irrtum eingestanden, sich nie verteidigten, nie ein Wort zurücknahmen und ebenso wenig derartige Zugeständnisse von unsrer Seite gelten lassen wollten. Als ich zum Beispiel einmal die Katze aus dem Fenster geworfen hatte, allerdings nicht aus Bosheit und auch nicht zu ihrem Schaden, wäre ich nach kurzem Besinnen geneigt gewesen, mannhaft zuzugeben, daß es unrecht gewesen sei. Hätte die Sache aber damit ihren Abschluß erreicht gehabt? Sicherlich nicht! Ein anderesmal, als Harold einen ganzen Tag Zimmerarrest erhalten hatte wegen Mißhandlung des nachbarlichen Schweins – eine That, deren er nie fähig gewesen wäre, denn er stand, in freundschaftlichsten Beziehungen zu dem betreffenden Borstenvieh – und man hintendrein den wahren Schuldigen entdeckte, unterblieb jede leiseste Andeutung einer Entschuldigung. Harold war weit mehr erbittert über diese Hartnäckigkeit der unfehlbaren Olympier als über seine Haft, die er sich auch insofern leicht gemacht hatte, als er mit Hilfe seiner Verbündeten sofort aus dem Fenster gestiegen und erst zur Stunde der Befreiung in sein Gefängnis zurückgekehrt war. Ein Wort würde genügt haben, allen Groll wegzuwischen, aber dieses Wort blieb ungesprochen.

Mittlerweile sind all diese Olympier dahin und vergangen, und ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist mir, als ob die Sonne nicht mehr ganz so hell scheine wie früher, als ob die unabsehbaren Prairieen von ehedem zu ganz gewöhnlichen kleinen Wiesen zusammengeschrumpft wären. Manchmal befällt mich eine Schwermut und ein finsterer Verdacht steigt in mir auf – et in Arcadia ego – ja, daß ich Arkadien bewohnt habe, ist über jeden Zweifel erhaben. Ist es denkbar, daß auch ich seither zum Olympier geworden bin?

Ein Feiertag

Der ungestüme Wind hatte sich aufgemacht und geberdete sich kreischend und jauchzend als Herrscher des Tags. Die Pappeln schwankten und neigten sich stöhnend, welkes Laub wirbelte raschelnd durch die Luft und der ganze reingefegte Himmel schien Laute von sich zu geben wie eine Riesenharfe. Es war einer von den ersten Tagen, wo die Erde aus ihrem Winterschlaf geweckt wird; sie streckte und reckte sich, noch traumumfangen lächelnd, und alles, was auf der Riesin Leib sich tummelt, erbebte von ihrer Bewegung.

Wir waren heute schulfrei, irgend einem Geburtstag zu Ehren. Wer der Held des Tages war, thut nichts zur Sache, einer von uns hatte eben Geschenke und die üblichen Glückwünsche entgegengenommen und jenes hohe Selbstbewußtsein empfunden, das nicht minder wohl thut, weil man's ohne jegliches eigene Verdienst genießt. Der freie Tag aber kam uns allen zu gute, das entzückende Frühlingsahnen war für alle da, die mannigfaltigen Genüsse des Sonnenscheins, der Wasserlachen und des Heckenschlüpfens lächelten nicht nur dem Geburtstagskind.

Wie ein losgelassenes Füllen rannte ich auf der Wiese umher, glückselige Schuhsohlen dem Himmel zukehrend, der verständnisvoll in meinen Jubel einstimmte. Er war so blau, als ein blauer Himmel nur sein kann, breite Wasserlachen, die der Winter zurückgelassen hatte, spiegelten seine Farbe in vollem Glanz treulich wider und die weiche milde Luft war geschwängert von jenem Werdehauch, der meine eigene kleine Person so gut durchbebte wie die vorwitzige Primel, die sich schon unter ihrer grünen Schutzhülle reckte. Hinaus, hinaus in die sonnengebadete, lebenzeugende Welt zog ich, frei von Lektionen, frei von Erziehung und Zwang, wenigstens für den einen Tag. Meine Beine liefen von selbst weiter und weiter, und auch der Umstand, daß ich aus weiter Ferne meinen Namen rufen hörte, hemmte meinen Lauf nicht. Sicher war es nur Harold, der mir rief, und wenn seine Beine auch kürzer waren als die meinigen, so konnten sie doch einen längeren Dauerlauf als diesen füglich aushalten. Jetzt hörte ich den Ruf abermals; er klang schwächer, rührender, die Stimme kippte dabei um und ich mußte stehen bleiben – ich hatte Charlottes Klagelaut erkannt.

Keuchend kam sie heran und stampfte jetzt neben mir über den lehmigen Ackerboden. Wir hatten kein Bedürfnis, uns zu unterhalten, die Daseinswonne und Lebenswärme boten an diesem glorreichen Morgen Beschäftigung und Befriedigung zur Genüge.

»Wo ist Harold?« fragte ich endlich.

»Spielt wieder Pfannkuchenmann wie gewöhnlich,« gab mir Charlotte mit einiger Mißbilligung zum Bescheid. »Einen ganzen geschlagenen Feiertag über nichts als Pfannkuchenmann sein wollen!«

Das war in der That ein seltsames Gelüste, aber Harold, der seine Spiele in der Regel selbst erfand und ohne Mitwirkung in Scene setzte, pflegte mit großer Ausdauer jeden neuen Mumpitz zu verfolgen, bis sein Reiz gänzlich erschöpft war. Augenblicklich war der Pfannkuchenmann seines Herzens Traum, und er konnte tagelang Trepp auf und ab, durch alle Gänge und Zimmer wandern, mit einer unhörbaren Glocke klingelnd und unsichtbaren Käufern ungreifbare Pfannkuchen anbietend. Wenn man's so hört, erscheint dieses Vergnügen ziemlich armselig, und doch – durch überfüllte Straßen ziehen, die man selbst gebaut hat, mit einer Glocke klingeln, die kein andrer hört, geschäftig vorüberhastenden Leuten, die man selbst erfunden hat, luftige Erzeugnisse einer Phantasiebackpfanne anbieten, das hat entschieden auch seine Reize, nur daß dies Spiel allerdings an einem trüben Wintertag zeitgemäßer gewesen wäre, als an diesem göttlichen Frühlingsmorgen.

»Und wo steckt Eduard?« fragte ich weiter.

»Der kommt von der Landstraße her,« berichtete Charlotte. »Wird sich in den Graben verstecken und als Bär auf uns losfahren, wenn wir vorbeikommen. Sag aber ja nicht, daß du's weißt, weil's eine Ueberraschung ist.«

»Schon recht,« erwiderte ich großmütig. »Lassen wir also uns überraschen.«

Im stillen aber fühlte ich ganz deutlich, daß auch der wildeste Bär an diesem Tag der Tage viel zu gewöhnlich war und die Stimmung nur stören konnte.

Als wir, weiter schlendernd, in die Landstraße einbogen, stürzte denn auch thatsächlich ein unleugbar echter grauer Bär auf uns los. Gebrumm, Gequiekse, Revolverschüsse und unvergeßliche Heldenthaten entwickelten sich daraus, bis Eduard schließlich die Güte hatte, schwerfällig und unheimlich hinzustürzen, sich im Schmutz zu wälzen und zu verenden, wie es einem so unvergleichlichen Mutz geziemt. Das stand ja längst fest, daß jeder, der es unternahm, ein Bär zu sein, im Notfall auch sterben mußte, und wäre er gleich der Erstgeborene und Erbe, denn sonst wäre ja das ganze Dasein eitel Kampf und Blutdurst geworden und das Zeitalter der Höhlenmenschen wieder über unsre schwer errungene Kultur hereingebrochen.

Nachdem diese Episode zu voller Zufriedenheit aller Mitwirkenden erledigt worden war, schlenderten wir ziellos auf der Landstraße weiter, unterwegs noch Harold auflesend, der keine Pfannkuchen mehr bei sich hatte und in vernünftiger, umgänglicher Gemütsverfassung war.

»Was würdet ihr thun,« hob Charlotte mit einemmal an – sie war, wie immer, gänzlich erfüllt von dem zuletzt gelesenen Buch, das erst, wenn sein Inhalt ganz ausgepreßt war, beiseite geworfen wurde – »wenn ihr zwei Löwen daherkommen sähet, auf jeder Seite der Straße einen, und ihr gar nicht wüßtet, ob sie an der Kette liegen oder nicht?«

»Was wir thun würden?« rief Eduard, von Mut glühend. »Ich würde ... ich thäte ... natürlich ...« sein prahlerischer Ton dämpfte sich und er murmelte nur noch: »Weiß selber nicht, was ich thäte.«

»Gar nichts thun thäte ich,« gab ich nach einiger Ueberlegung zum Bescheid, und ich muß wirklich sagen, es war das Vernünftigste, was mir einfallen konnte.

»Ja, wenn's zum Handeln käme,« warf Harold nachdenklich hin, »so denk' ich mir, die Löwen würden wohl alles allein besorgen, was zu thun ist, meint ihr nicht?«

»Wenn's aber gute Löwen sein thäten«, hob Charlotte an, »so würden sie nichts thun, was sie nicht wollten, daß man ihnen thäte ...«

»Ja, woher soll ich aber wissen, ob ein Löwe gut oder schlecht ist?« fragte Eduard rasch. »In den Büchern steht gar nichts darüber und die Löwen sind nie mit ›gut‹ oder ›bös‹ gestempelt.«

»Ach was! Gute Löwen gibt's überhaupt nicht,« versicherte Harold eifrig.

»Natürlich gibt's ... haufenweise,« widersprach Eduard. »Fast alle Löwen in den Geschichtenbüchern sind sogar gute Löwen, denk doch nur an den Löwen vom Androkles und an den Löwen vom heiligen Hieronymus und ... und ... und der Löwe und das Einhorn ...«

»Der hat ja aber doch das Einhorn um die ganze Stadt herum gejagt,« machte Harold zu des Löwen Ungunsten geltend.

»Das beweist ja doch gerade, daß er ein guter Löwe war!« rief Eduard triumphierend, »'s ist nur die Frage, wie sieht man's einem Löwen an, ob er gut oder bös ist?«

»Ich ... ich würde halt Martha fragen,« äußerte Harold in gläubiger Einfalt.

Eduard würdigte ihn nur eines verächtlichen Nasenrümpfens und wandte sich dann Charlotte zu.

»Du, ich sag' dir was ... wir könnten ja auf alle Fälle einmal Löwen spielen! Ich, ich lauf' voraus bis an die Ecke und bin der Löwe, nein, ich bin die zwei Löwen, einer rechts, einer links von der Straße, und du kommst so daher und hast keine Ahnung, ob ich angebunden bin Ober nicht ... das ist gerade der Witz dran!«

»Nein, ich danke,« entgegnete Charlotte mit einem hohen Maß von Festigkeit. »Du wirst dann angebunden sein, bis ich ganz nah' dran bin, und wirst mich dann zerreißen und mein Kleid über und über schmutzig machen und kann sein, mir recht weh' thun – deine Löwen kenn' ich!«

»Nein, das werde ich nicht, ich geb' dir mein Ehrenwort, daß ich's nicht thue,« beteuerte Eduard. »Ich werde dieses Mal ganz etwas Neues von einem Löwen sein, etwas, das du dir auch nicht einmal ein bißchen denken kannst!«

Damit schlug er die Fersen gen Himmel und rannte auf seinen Posten. Charlotte zauderte ein wenig, dann ging sie voran, sehr, sehr langsam und zaghaft mit jedem Schritt weniger die Abenteurerin von vorhin und mehr die »Bange-Büchse«, die sie für gewöhnlich war. Ihr Anblick versetzte aber auch den Löwen oder vielmehr die Löwen in furchtbare Wut; die klare Frühlingsluft erzitterte von ihrem Gebrüll. Ich wartete nur, bis die Löwen und ihr Opfer hinlänglich in Gefahr und Kampfeslust versunken waren, dann schlüpfte ich durch die Hecke von der vielbegangenen Landstraße in die einsamen, stillen Felder hinaus. Nicht daß ich ein ungeselliger Bursche gewesen wäre oder übersättigt von Eduards Löwenrollen, aber der göttliche Frühlingstag lockte mich leidenschaftlich, seine Jugendkraft durchtoste mein Blut. Erde zu Erde! Das war das Leitmotiv, das freudige Losungswort des Tags, und diese menschlichen Gespräche und diese menschliche Ueberhebung wirkten wie ein Mißton, wie etwas Unnatürliches, wenn die gütige Natur ihr Schweigen brach und aus voller Kehle den Sang erschallen ließ, der jeden Nerv in uns in Schwingung versetzt. Die Luft, der feuchte Erdgeruch wirkten berauschend wie Feuerwein, das Getriller der Lerche, der warme Dunst aus dem Kuhstall quer gegenüber auf dem Feld, das Schnauben und der Rauch des in der Ferne vorüberfahrenden Bahnzugs, alles war Wein – oder war's Musik – oder Duft – diese Einheit, in die alles zerschmolz?

Ich hätte damals keine Worte zu finden vermocht für diesen Erdrausch, der mich umfing, und ich finde auch heute nur ein Stammeln. Jauchzend lief ich querfeldein, meine Sohlen quetschten das durchsickerte Erdreich, und wenn ich mit dem Stecken in eine Pfütze schlug, gab's einen Diamantenregen. Aufs Geratewohl heulte ich himmelwärts und plötzlich merkte ich, daß ich sang. Der Text war sinnlos, unzusammenhängende Laute, die Melodie eine Augenblicksschöpfung ohne Rhythmus, auf und ab, mir aber kam er genial vor, mein Sang, der einzige, der für diese Stunde paßte, das richtige, vollkommene Lied. Menschliche Zuhörer würden sich wohl die Ohren zugehalten haben, die Natur aber sang in der nämlichen Tonart, wo ich auch hinhörte, und mir war's, als ob sie meine Töne ohne Widerstand und Mißbilligung in die ihrigen verwebte.

Die ganze Zeit über lockte mich der Wind wie ein guter Spielkamerad.

»Nimm mich heute zum Führer,« klang's aus den Baumwipfeln, drin er sich tummelte, daß die Aeste knackten. »So manchen Feiertag bist du den Spuren der dummen, herzlosen Sonne nachgegangen und hast dir nichts als müde Beine geholt. Sie hat dich angelockt und dein Vertrauen getäuscht, mit einem blassen ausdruckslosen Mond als Begleiter durftest du dich mühsam heimschleppen. Versuch's heute einmal mit mir, dem Unhold, dem Heuchler, dem Spitzbuben, der um die Ecke gesaust kommt, wenn sich's niemand versieht, der nachläßt, verschwindet und dann wieder da ist und die Leutchen äfft! Ich kann dir zum Tanz aufspielen wie keiner, denn ich bin stark, bin die Laune in Person, bin ein Herrscher, der kein Gesetz achtet, hab' keine Grundsätze und bin für nichts verantwortlich, niemand unterthan.«

Was mich betraf, ich war eben in der Laune für solche Gesellschaft! Hatte ich nicht den ganzen langen Tag vor mir? Arm in Arm also mit dem wilden Gesellen folgte ich willig dem Zickzackkurs, den mein ungebundener Lotse mich stoßweis führte.

Ein wunderlicher Wanderkamerad war's, das hatte ich bald los. Wollte er einen Spaß machen, oder verfolgte er einen besonderen Zweck, als er mich jetzt, mir nichts dir nichts, zu einem Liebespaar hinfegte, das schweigend, Aug' in Auge, durch einen verschwiegenen, aber fühllosen Zaun getrennt beisammenstand? Derartiges berührte mich sonst immer als die unbegreiflichste und beklagenswerteste aller menschlichen Dummheiten. Wenn zwei Kälber ihre Nasen durch einen Lattenzaun aneinander reiben, so ist das ein naturgemäßes und berechtigtes Verfahren, aber daß menschliche Wesen, Geschöpfe, die sich frei bewegen und etwas Vernünftiges vornehmen können, zu dieser Art von Kurzweil greifen – nein! Nun, am ratsamsten war's, mit verschämter Miene vorüberzugehen und gar nicht über die Geschichte nachzudenken, heute aber war's, als ob alles, worauf ich stieß, gerechtfertigt würde durch den Zauber dieser Luft, eingefügt in die Melodie, die sie mir sang, und zu meiner eigenen Verblüffung ward ich inne, daß ich die albernen Leutchen, die mich natürlich gar nicht bemerkten, im Vorüberstreichen mit Wohlwollen statt mit Verachtung ansah. Irgend ein versöhnender Einfluß mußte walten, der selbst solch abgeschmackte Fratzen mit Knospenschwellen, Erdgeruch und Frühlingsluft in Einklang brachte.

Ein kräftiger Puff, den mir der herrische Begleiter auf die rechte Wange versetzte, veranlaßte mich, linksum zu machen und mit einemmal stand die Dorfkirche, einsam aus ihrem Kreis von kahlen, schweigenden Ulmen aufragend, vor meinen Blicken, und aus dem Sakristeifenster ragten zwei dünne, zappelnde, nach einem Standpunkt lechzende Beine hervor, jeder Zoll daran Diebsgelüste, wenn nicht Kirchenschändung verratend, für jedes gläubige Gemüt der Gemeinde ein haarsträubender Anblick. Ich kannte diese Beine, wenn mir auch die übrige Gestalt verborgen war; sie pflegten für gewöhnlich mit dem Rumpf von Billy Saunders, dem unerreichten Bösewicht des Dorfs zusammenzuhängen. Auch was Billy in diese Lage gebracht hatte, konnte ich mir mit Leichtigkeit zusammenreimen, es war des Pastors Biskuitvorrat, den dieser, wie auch ich genau wußte, im selben Schrank mit seiner Amtstracht verwahrte. Einen Augenblick überlegte ich mir den Fall, dann ging ich meiner Wege. Niemand soll mir nachsagen, daß ich auf Bills Seite gestanden hätte, aber die richtige Entrüstung im Namen des Pastors brachte ich allerdings auch nicht zu stande. Dieser Frühlingsmorgen wirkte mehr berauschend als bildend und war so unmoralisch, mir einzuflüstern, Bill habe vielleicht ebensoviel Anspruch auf Süßigkeiten als ein Pastor, schon aus dem einfachen Grund, weil er viel bessere Zähne habe! Jedenfalls konnte man über diesen Punkt verschiedener Meinung sein, und mich ging die Sache ja nichts an. Die Natur, die mich heute umschlungen hielt, kümmerte sich jedenfalls gar nicht darum, wer die Biskuits vertilgte, und hatte sicher nicht die Absicht, ihren Schützling seine Zeit damit vergeuden zu lassen, daß er für die Gesellschaft den Büttel spielte.

Nun fing er aufs neue an, mich weiter zu zerren, mein aufdringlicher Führer, und als ich mich auf sein Geheiß wieder in Bewegung setzte, fühlte ich deutlich, daß er mir noch mehr Feiertägliches zeigen wolle. Und das that er auch und alles war in dem nämlichen gesetzlosen und doch gesetzmäßigen Stil. Wie die schwarze Flagge eines Piratenschiffs strich unheilverkündend ein Habicht durch den blauen Ocean der Luft dahin, dann ließ er sich schwerfällig wie ein Senkblei auf eine Hecke nieder, aus der schrill und dünn ein schmerzlich klagender Hilfeschrei ertönte. Als ich an die Stelle kam, waren etliche auf dem Boden verstreute Federchen – etwa wie die Fetzen eines Theaterzettels sahen sie aus – das Einzige, was von der Tragödie zeugte, die hier aufgeführt worden war. Die Natur aber lächelte ungestört weiter und sang teilnahmlos ohne Erbarmen ihren Sang. Sie nahm nicht Partei, sie gönnte dem Habicht so gut sein Teil wie dem Buchfinken, beide waren ihre Kinder und sie zog keines dem andern vor.

Ein paar Schritte weiter stieß ich auf einen toten Igel – nein, er war mehr als tot, er war verfault. Ein betrüblicher Anblick für jemand, der den Burschen in angenehmen Verhältnissen gekannt hatte! Die Natur hätte füglich ein wenig Halt machen und diesem ihrem rauhborstigen Söhnchen, seinem vergeblichen Streben, seinem betrogenen Ehrgeiz, der ganzen jählings abgeschnittenen Nützlichkeit seines Daseins eine Thräne weihen können, fiel ihr aber gar nicht ein! Jubilierend wie je plätscherte, rieselte und wehte sie ihr Lied weiter, worin »Tod – im – Leben« und »Leben – im – Tod« abwechselnd den Kehrreim bildeten. Und als ich um mich blickte, die armen Rüben aus dem Boden starren sah, denen die Schafe in den überstandenen Tagen des Frosts das Herz aus dem Leibe gerupft hatten, da stieg eine unklare, dämmerige Ahnung in mir auf von dem finsteren, unerbittlichen Ernst ihres herzhaften schallenden Liedes.