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Dieses Buch enthält folgende Romane: (499) W. A. Hary: Der Schwarze Adel W. A. Hary: Die Berghexe W. A. Hary: Schrecken in der Nacht W. A. Hary: Aus Mädchen macht er Fische W. A. Hary: Der Berg der Verdammten John Devlin: Mit dem Flammenwerfer gegen Vampire John Devlin: Als ich ein Vampir wurde John Devlin: Das Flüstern des bösen Dämons Mark Tate ist der Geister-Detektiv. Mit seinem magischen Amulett, dem Schavall, nimmt er es mit den Mächten der Finsternis auf und folgt ihnen in andere Welten und wenn es sein muss, bis in die Hölle. Ihm zur Seite steht May Harris, die weiße Hexe.
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Das große Buch der Geister, Vampire und Dämonen: 8 Gruselkrimis
Copyright
Der Schwarze Adel
Die Berghexe
Schrecken der Nacht
Aus Mädchen macht er Fische
Der Berg der Verdammten
Mit dem Flammenwerfer gegen Vampire
Als ich ein Vampir wurde
Das Flüstern des bösen Dämons
Dieses Buch enthält folgende Romane:
W. A. Hary: Der Schwarze Adel
W. A. Hary: Die Berghexe
W. A. Hary: Schrecken in der Nacht
W. A. Hary: Aus Mädchen macht er Fische
W. A. Hary: Der Berg der Verdammten
John Devlin: Mit dem Flammenwerfer gegen Vampire
John Devlin: Als ich ein Vampir wurde
John Devlin: Das Flüstern des bösen Dämons
Mark Tate ist der Geister-Detektiv. Mit seinem magischen Amulett, dem Schavall, nimmt er es mit den Mächten der Finsternis auf und folgt ihnen in andere Welten und wenn es sein muss, bis in die Hölle. Ihm zur Seite steht May Harris, die weiße Hexe.
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2024 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
W. A. Hary
„ Die wunderschöne Riviera sehen – und sterben?“
Monsieur Cardusch war der hässlichste Mann, den ich jemals in meinem Leben gesehen hatte. Er war so hässlich, dass ich erschrak.
Niemand hatte mir gesagt, dass Monsieur Cardusch so aussah, aber ich wusste sofort, wen ich vor mir hatte. Sein Anblick allein erzeugte ein Schaudern und - Furcht!
Ich warf einen Seitenblick auf meine Freundin May und das Ehepaar Furlong. Wir saßen an einem Tisch im Freien, in einem Gartenlokal direkt über dem Meer. Links von mir ging es steil hinab.
Die Brüstung war so niedrig, dass sie kaum den Blick nach unten behinderte, wo sich die Fluten des Mittelmeers gegen das Gestein warfen.
Nach drei Tagen Regen war das Meer aufgewühlt wie am Atlantik. Irgendwie passte diese urige Brachialgewalt des Meeres zu der Erscheinung von Monsieur Cardusch und seiner Hässlichkeit.
Er war mittelgroß, breitschultrig, mit dicken Armen und Händen wie Kohleschaufeln. Er hatte einen unglaublich breiten Mund mit wulstigen Lippen, einen stacheligen Bart, dessen einzelnen Haare aus schwarzem Draht zu bestehen schienen, weit auseinander liegende Froschaugen, Blumenkohlohren, lichtes, strähniges Haar auf dem kantigen Schädel, der ohne erkennbaren Halsansatz in die speckig-muskulösen Schultern überging.
Ich schluckte schwer, als mir Monsieur Cardusch die Rechte zur Begrüßung hinstreckte. Die weit hervorquellenden Froschaugen musterten mich so kalt wie die Augen einer Schlange. In dem Gesicht bewegte sich nichts, als wäre es in Wirklichkeit eine Horrormaske aus Plastik.
Ja, das bildete ich mir ein, um mich überwinden und nach dieser fleischigen, schwitzenden Hand greifen zu können. Meine Hand verschwand in seiner wie die Hand eines Kindes. Jetzt erwartete ich, dass er mir die Hand zerquetschte. Nichts dergleichen geschah. Monsieur Cardusch passte auf und seine Pranke war ganz und gar nicht verschwitzt und feucht, wie ich angewidert angenommen hatte. Aber sie war eiskalt, wie die Hand eines Toten.
Als er losließ, zog ich meinen Arm schleunigst zurück. Mein Blick irrte ab zu meinen Begleitern.
May kam als Nächste an die Reihe.
Monsieur Cardusch hatte behauptet, ein guter Freund von Don Cooper zu sein und wenn jemand ein guter Freund von Don Cooper war, dann wurde er zunächst einmal von uns akzeptiert. Alles andere kam später.
Monsieur Cardusch begrüßte jeden der Reihe nach. Er sprach dabei kein einziges Wort. Dann setzte er sich lächelnd.
Das Lächeln hätte er lieber bleiben lassen sollen. Das war wie das Grinsen eines Monsters, kurz bevor es sein Opfer verschlang.
Ich hatte Angst vor diesem Mann. Er war mir unheimlich und ich schaute zu den Nachbartischen hinüber - nur um mich zu überzeugen, dass wir nicht mit ihm allein waren.
Was erwartete ich von diesem Monsieur Cardusch, der uns so dringend hatte sprechen wollen? Jedenfalls nichts Gutes!
»Es freut mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind!«, sagte er auf Englisch, mit einem kaum merklichen französischen Akzent.
Er hatte in der Wohnung von Don Cooper angerufen. Tab Furlong, der die Wohnung regelmäßig kontrollierte, so lange Don sie nicht benutzte, hatte den automatischen Anrufbeantworter abgehört und war darauf gestoßen. Er war zugegen gewesen, als Cardusch zum zweiten Male anrief und Don sprechen wollte. In seiner Eigenschaft als Chefinspektor von New Scotland Yard hatte Tab darauf aufmerksam gemacht, dass Don nicht da war. Er hatte gegenüber Cardusch behauptet, Don Cooper wäre nicht mehr am Leben.
Daraufhin hatte uns Cardusch eingeladen - an die französische Riviera. Dieses Lokal hier in Juan-les-Pins hatte er so gut beschrieben, dass wir es auf Anhieb gefunden hatten.
Wir waren dem seltsamen Angebot gefolgt, weil wir damit einen kleinen Urlaub an der Cote d'Azur verbinden wollten.
Warum auch nicht?
Jetzt bereute ich es zutiefst. Etwas Unheimliches ging von diesem Monsieur Cardusch aus. Der und ein guter Freund von Don? Wie war denn Don an den geraten?
»Obwohl der Anlass eher traurig ist«, sagte Cardusch. Seine Stimme klang sanft - einfach zu sanft! »Ich bedaure den Tod meines Freundes Don Cooper sehr.«
Ich hatte den schlimmen Verdacht, dass er Don überhaupt nicht gekannt hatte. Und ich hatte nicht vor, ihm zu erklären, dass Don natürlich nicht wirklich tot war, sondern in einer jenseitigen Welt sich befand - freiwillig. Es war die Welt der Magie ORAN.
Mein Verstand begann wieder zu arbeiten. Ich wollte nicht mehr passiv verharren, sondern diesem Cardusch auf den Kopf zusagen, dass er uns mit einem Vorwand hergelockt hatte. Vor allem wollte ich wissen, warum.
Noch einmal überzeugte ich mich davon, dass sich sämtliche anderen Gäste - größtenteils Touristen wie wir - ganz neutral verhielten. Sie ahnten nichts. Außerdem: Cardusch war allein gekommen. Traute er sich denn zu, mit uns vieren ohne Hilfe fertig zu werden?
Ja, jetzt neigte ich tatsächlich zu der Ansicht, dass dies hier eine Falle war.
Ich beugte mich vor. Mein Sommerhemd stand oben offen, denn es war sehr warm an diesem sonnigen Tag an der Riviera. Mein Amulett, der Schavall, hatte ich an der Silberkette hängen. Als ich mich so vorbeugte, um mir diesen Monsieur Cardusch einmal vorzuknöpfen, löste sich der Schavall aus dem Ausschnitt und pendelte vor.
Er glühte rot auf und sah aus wie ein glühendes Dämonenauge.
Ich stierte automatisch darauf. Verdammt, wenn der Schavall aufglühte, dann ›witterte‹ er Schwarze Magie!
Ich hob den Blick und schaute nach Monsieur Cardusch. Der hatte die ohnedies zu großen Augen noch größer aufgerissen. Dicke Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn. Er glotzte auf den glühenden Schavall. Ein dumpfer Laut entrang sich seiner Kehle.
Plötzlich warf er sich nach vorn. Nicht, um die Flucht anzutreten, ganz im Gegenteil: Es sah aus, als wollte er mir an die Kehle, aber er meinte nur den Schavall.
Seine Hände stoppten kurz vor dem Amulett.
Ich beobachtete ihn genau, rührte mich nicht.
»Das Ding da!«, keuchte Cardusch. »Was...?«
Sollte es möglich sein, dass er nichts von meinem Schavall wusste? Dass er mein wichtigstes Hilfsmittel gegen die Macht des Bösen nicht kannte?
In dem Schavall waren universelle Kräfte gespeichert. Aber sie dienten nur dem Guten und keiner speziellen Person. Auch mir nicht! Ich war nur ihr Träger und die Kräfte des Schavalls entfalteten sich meist ohne mein Zutun und meinen Willen.
Manchmal fühlte ich mich wie ein untergeordnetes Objekt - nur dazu da, den Schavall herumzutragen, damit er im entscheidenden Moment seine Macht gegen das Böse entfalten konnte.
Monsieur Cardusch packte zu, umschloss den Schavall mit seiner riesigen Pranke und riss ihn mir mit einem Ruck von der Kette.
Dann sprang er brüllend empor. Nicht nur der Schavall glühte, sondern jetzt auch die Faust von Cardusch.
Es gab eine grelle Leuchterscheinung.
Und dann war Monsieur Cardusch nicht mehr da. Er war verschwunden - von einem Augenblick zum anderen.
Wir sprangen alle vier von unseren Plätzen, wo wir wie angegossen gesessen hatten.
Wir waren unfähig gewesen zu reagieren. Jetzt taten wir es, indem wir um den Tisch liefen und den Boden absuchten.
Nicht nur Monsieur Cardusch war spurlos verschwunden - mit ihm auch mein Schavall.
Wir sahen uns an.
Endlich wurden auch die anderen Gäste auf uns aufmerksam. Auf uns vier, nicht etwa auf das, was sich eben erst abgespielt hatte!
Der Kellner eilte herbei. Er runzelte die Stirn.
»Was ist los?«, fragte er in der Landessprache.
Ich entgegnete ihm, ebenfalls auf Französisch: »Wer ist eigentlich Monsieur Cardusch?«
Der Kellner hatte ein Tablett mit zwei Eisportionen auf der flachen Hand.
Die ließ er jetzt fallen. Er blickte gehetzt um sich. Seine Augen waren schreckgeweitet, als hätte ich etwas gesagt, was Grauen erzeugen musste.
»Monsieur Cardusch!«, sagte ich eindringlich.
Der Kellner bekreuzigte sich stammelnd. Dann wandte er sich ab und rannte davon, wie von Furien gehetzt.
Die Gäste betrachteten uns misstrauisch. Jetzt war auch der letzte auf uns aufmerksam geworden.
Wenigstens reagierten sie nicht so extrem auf den Namen Cardusch.
Schon wieselte der Wirt herbei, mit einer Schürze vor dem speckigen Bauch.
Er schüttelte drohend die Faust.
»Was geht hier vor?«, schimpfte er mich an.
Ich zuckte ein wenig hilflos mit den Achseln, zupfte die zerrissene Halskette oder das, was davon übrig geblieben war, von meinem Hals und sagte: »Ich habe lediglich nach Monsieur Cardusch gefragt.«
Der Wirt vergaß seinen Zorn. Auch seine Augen weiteten sich. Seine Kinnlade fiel herab. Sein speckiger Bauch wabbelte.
Ich zuckte abermals die Achseln. »Monsieur Cardusch« - ich betonte den Namen so stark, dass ihn jeder auf der Terrasse hören musste, aber außer dem Wirt reagierte niemand darauf - »wollte sich mit uns hier treffen. Er kam auch, war soeben noch da. Aber im nächsten Augenblick...«
Der Wirt bewies bessere Nerven als sein Kellner.
»Er war da?«, stammelte er, aber wenigstens lief er nicht davon und gab sich Mühe, sich zu beherrschen.
»Ja, soeben noch. Aber dann...« Ich machte die Geste, die bedeuten sollte, dass sich etwas in Luft auflöst und blies dabei die Wangen auf.
Das war eine Mimik, die der Wirt verstand. Jetzt wabbelte nicht nur der Bauch. Jetzt zitterte der Arme an Leib und Seele.
»Ich...« Er brach ab, schöpfte tief Atem. »Sind Sie Freunde von... IHM?«
Das IHM klang irgendwie verzweifelt. Er war tatsächlich nicht in der Lage, den Namen Cardusch auszusprechen!
»Nein!«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Wir kommen aus England. Er hat uns angerufen und hierher eingeladen. Wir sind seinem Ruf gefolgt - obwohl wir weder wissen, was er von uns wollte, noch wer er ist.«
»Und - und warum sind Sie dann überhaupt - gekommen?«, fragte der Wirt.
»Mon Dieu!« Ich machte eine hilflose Geste. »Er gab vor, einen verstorbenen Freund von uns gut gekannt zu haben. Nun, wir dachten, wir könnten unseren Urlaub mit einem kleinen Besuch bei Monsieur Cardusch verknüpfen. Wie sollten wir ahnen, dass er hier nicht so beliebt ist?«
»Nicht beliebt?«, rief der Wirt alarmiert. »Aber nein, nicht doch, Messieurs! Er - er ist sogar sehr beliebt, glauben Sie mir. Wir - wir sind doch alle froh darum, nicht wahr?«
Er schaute gehetzt in die Runde, als erwarte er einen Zuhörer, der ihn schlimm bestrafen würde - falls er es wagte, etwas anderes über Monsieur Cardusch zu sagen.
Ich zog meinen Geldbeutel. Hier würden wir nicht weiterkommen. Und es war nicht so angenehm, im Blickpunkt des Interesses zu stehen. Die Situation war äußerst peinlich. Ich sah, dass weiter hinten sich jemand bezeichnend an die Stirn tippte und etwas zu seinem Nebenmann sagte. Sie musterten uns abschätzend.
Man nahm also an, der Wirt hätte vor uns Bange, weil wir vier Irre aus England waren.
Nein, das ist gewiss nicht angenehm. Es war auch kaum anzunehmen, dass uns der Wirt noch weiterhelfen würde.
Ich gab ihm das Geld für unseren Verzehr. Dann verließen wir das Lokal.
Auf der Straße, außer Sichtweite des Lokals, blieben wir stehen. Die Häuser waren weiß gekalkt und sauber. Die Straße geteert und so heiß, dass man meinen musste, mit den Schuhen daran hängen zu bleiben.
Zwei Touristen mit schussbereiten Fotoapparaten gingen vorbei. Sie belauerten uns kurz, entschlossen sich aber dann doch, lieber die Sehenswürdigkeiten von Juan-les-Pins und nicht uns auf den Film zu bannen.
»Wir hätten nicht so einfach gehen sollen«, maulte May.
Ich legte den Arm um ihre Schultern. Das leichte Sommerkleid flatterte um ihre schlanken Beine. Der ständige Wind trocknete den Schweiß von ihrem Gesicht.
Ich küsste ihre Stirn.
»Doch, May!«, behauptete ich. »Cardusch scheint so etwas wie der Buhmann vom Revier zu sein. Wir werden überhaupt nichts über ihn erfahren. Von niemandem.«
»Ich schon!«, widersprach May. Ich musterte sie. May konnte Gedanken lesen. Eine besondere Begabung, die sie nicht gern einsetzte, weil es ihrer Meinung nach nicht sehr angenehm war, die geheimsten Gedanken der lieben Mitmenschen zu erfahren.
Hatte sie die Gedanken des Wirtes belauscht? Und die des Kellners?
Wir waren ungestört. Vier Touristen, die mitten auf der Straße standen und miteinander plauderten. Kein ungewöhnlicher Anblick, obwohl es besser gewesen wäre, wir hätten die Straße geräumt.
Aber wir blieben stehen, als hätten wir Furcht davor, in einem der Häuser befände sich ein ungebetener Lauscher.
May sagte: »Cardusch hatte keine Gedanken. Nicht wie einer, der sich abzuschirmen versteht, wie ihr drei, sondern wie einer, den man mit den Augen sehen kann, der aber überhaupt nicht existiert. Wie ein Trugbild.«
»Dann hätte er sich doch ein besseres und vor allem gefälligeres Bild aussuchen sollen«, meinte ich trocken. »Und was war mit dem Kellner?«
»Sobald er den Namen Cardusch hörte, drehte er durch.«
»Das war ja nicht zu übersehen!«, murrte Tab Furlong, der Chefinspektor.
»Vorsicht!«, schrie seine Frau Kathryn.
Wir wussten nicht sofort, was sie meinte. Aber dann hörten wir den aufheulenden Motor und sprangen auseinander.
Ein offener Wagen sauste heran. Es war ein roter Alpha Romeo Spider. Hinter dem Steuer saß - niemand! Der Wagen schoss wie eine Rakete auf uns zu.
Wir waren in letzter Sekunde ausgewichen. Der Wagen verfehlte uns ganz knapp, raste an uns vorbei die Straße entlang.
Da war die Kurve. Das Gefährt wurde von keinem Menschen gesteuert. Wir erwarteten, dass es gegen die Hauswand prallte.
Nichts dergleichen! Ein Unsichtbarer steuerte das Fahrzeug sicher durch die Kurve. Das Motorengeräusch verlor sich in der Ferne.
Bleich sahen wir uns an.
»Ich hatte mir unseren Urlaub heiterer vorgestellt!«, beschwerte sich Tab. »Der hier verspricht nicht die geringste Erholung!«
Wir fanden uns im Hotelzimmer von May und mir ein, um Kriegsrat zu halten. May und ich standen an der Zimmerbar, gegen den schmalen Tresen gelehnt, an dem sowieso nur zwei Leute Platz hatten. Die Furlongs saßen in der Sesselgruppe.
Die Klimaanlage hatten wir abgeschaltet. Dafür stand die Balkontür sperrangelweit offen. Die Sonne war auf der anderen Seite des Hotels und hier wehte ein erfrischendes Lüftchen vom Meer herein.
Alle waren inzwischen der Meinung, dass es ein Fehler gewesen war, das Lokal so schnell zu verlassen, außer mir. Das ärgerte mich.
May lachte plötzlich auf und zauste meine Haare. »Komm, reg dich nicht auf, Mark. Hat doch keinen Sinn. Es ist jetzt sowieso egal. Es ist nun mal passiert.«
»Klingt gerade so, als hätte ich eine Dummheit begangen«, begehrte ich auf. »Was hätten wir denn noch dort tun sollen? Den Wirt noch mehr aufregen? Den Gästen ein längeres Schauspiel bieten? Auf allen vieren herumkriechen und den Schavall suchen? Ich bin der Meinung...«
Ein Geräusch lenkte mich ab. Es kam von draußen: Flügelschlagen. Wir schauten unwillkürlich hinaus.
Da war nichts zu sehen, aber das Flügelschlagen wurde deutlicher. Schließlich entfernte es sich wieder.
Ich hatte ein seltsames Gefühl in der Brust und schluckte schwer.
Dann winkte ich ab. »Ach was, du hast ja recht, May: Schwamm drüber!«
Ich wollte May auf die Stirn küssen.
Auf der Straße, in der Nähe des Lokals, hatte das noch einwandfrei hingehauen. Jetzt war es schwierig, wenn nicht unmöglich...
»He, hast du andere Schuhe angezogen?«, fragte ich.
»Wieso?«
»Na, welche mit höheren Absätzen?«
»Nein, im Gegenteil, ich habe flache Latschen angezogen. Sind viel bequemer... Wieso fragst du?«
»Scheinbar bist du in der letzten Stunde gewachsen!«, erklärte ich schlicht.
Es stimmte, nur war es mir bis jetzt noch nicht aufgefallen: May war etwa zehn Zentimeter kleiner als ich. Normalerweise. Jetzt überragte sie mich auf einmal.
May lachte erheitert. Sie glaubte natürlich an einen Witz. Aber dann blieb ihr das Lachen im Hals stecken.
»Wie bitte?« Sie machte ein erschrockenes Gesicht und betrachtete mich von Kopf bis Fuß.
»Mein Gott!«, entfuhr es ihr.
Mir war auf einmal unerträglich heiß. Nicht vom Wetter. Da war ein schrecklicher Gedanke, der sich mir aufdrängte, den ich aber einfach nicht wahrhaben wollte.
»Nicht ich bin größer geworden, Mark, sondern du bist...«
Ich schaute unwillkürlich an mir herab. Das Sommerhemd war zu groß geworden. Es war dasselbe wie in dem Terrassencafe. Die Hose war zu weit. Sie schlotterte, als hätte ich fünf Kilo mindestens abgenommen.
Obwohl ich das gewiss nicht notwendig hatte.
Nicht nur das: Die Hose war zu lang. Wenn ich jetzt von der Bar wegging, stolperte ich über die überstehenden Enden.
Ich war geschrumpft! Daran gab es keine Zweifel mehr. Keiner von uns hatte es bemerkt. Bis jetzt, wo es so offensichtlich war, dass man es einfach nicht mehr leugnen konnte.
Mir stand der kalte Schweiß auf der Stirn, obwohl mir so unerträglich heiß war. Das Glas in meiner Hand zitterte so stark, dass ein paar Tropfen herausspritzten.
Ich ließ das Glas fallen, weil ich es nicht mehr halten konnte und schaute in die kreidebleichen Gesichter von Tab und Kathryn Furlong.
Kathryn sprang auf. Sie wirkte einen Moment unschlüssig. Dann kam sie zu mir herüber.
Sie bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze. Kein Wunder, denn Kathryn war einmal Primaballerina gewesen und hatte nichts verlernt. Zumal sie immer noch trainierte, wie ich wusste.
Kathryn trug ein leichtes Sommerkleid, ähnlich wie May. Nur war ihr Kleid ein wenig hoch geknöpfter. Sie öffnete den obersten Knopf und brachte etwas zum Vorschein: Ihren sagenhaften Drudenstein. Das war ein natürlich entstandener Kiesel mit einem ebenso natürlich entstandenen kreisrunden Loch in der Mitte. Kathryn hatte eine dünne Lederschnur hindurch gezogen und trug damit den Drudenstein um den Hals.
Als sie mich erreichte, öffnete sie den Knoten der Lederschnur und hob den Drudenstein an das Auge. Sie blickte hindurch.
Ich wusste, dass Kathryn latent Hexenkräfte besaß, die sie mit dem Drudenstein zur Wirkung bringen konnte.
Sie betrachtete mich durch den Stein. Ein paar Sekunden. Dann ließ sie den Stein sinken und machte ein ernstes Gesicht.
Gebannt schaute ich sie an.
Kathryn zuckte die Achseln. »Ich kann nicht die geringsten Spuren von Schwarzer Magie feststellen, Mark. Tut mir leid.«
»Mark Tate, der schrumpfende Privatdetektiv von London!«, knirschte ich. Es hatte humorig klingen sollen, tat es aber nicht.
Ich hatte verdammte Angst. Wie kam ich dazu, einfach zu schrumpfen?
Auch Tab stand auf.
»Es hat begonnen, als wir Cardusch trafen und der dir den Schavall abgenommen hat. Herrje, wenn dieser Cardusch ein Schwarzer Magier war, dann hätte es ihm doch unmöglich sein müssen, den Schavall an sich zu nehmen. Und er muss ein Vertreter der Schwarzen Magie sein. Sonst hätten der Wirt und der Kellner nicht so reagiert. Die hatten namenlose Furcht.«
Wieder dieses laute, diesmal aggressiv klingende Flattern draußen. Keiner von uns achtete darauf.
Kein Wunder. Schließlich hatten wir im Moment andere Sorgen. Ich ballte die Hände zu Fäusten, in ohnmächtiger Wut. Ich knallte die geballte Rechte in die Linke. Mehrmals. Ich hätte losbrüllen mögen. Aber was hätte es genutzt?
»Verdammt, es gibt einfach keine Erklärung, Tab, verstehst du? Es gibt keine Erklärung! Es widerspricht jeglicher Vernunft. Es widerspricht jeglicher Erfahrung.«
Ich stieß mich von der Bar ab und ging in Richtung Balkon.
»Mark!«, rief May mir nach. Es klang verzweifelt. Als würde es ihr mehr ausmachen als mir, was mit mir geschah.
An der offenen Balkontür blieb ich stehen und machte auf dem Absatz kehrt.
»Ja, es gibt keine Erklärung. Juan-les-Pins ist eine Todesfalle für uns. Mehr noch, Freunde: Für mich hat sich der Gegner etwas ganz Besonderes ausgedacht: Er lässt mich zu einem kümmerlichen Zwerg schrumpfen.«
»Glaubst du denn wirklich, der Prozess schreitet noch fort?«, rief May.
Ich zuckte mit den Schultern. »Es gibt nichts, was dagegensprechen könnte.«
Auch sie stieß sich an der Bar ab. Sie folgte mir, unschlüssig, was sie tun sollte, wie sie sich verhalten sollte. Sie wollte mir helfen, aber wie? Niemand konnte mir helfen. Außer dem Verursacher, dem Drahtzieher im Hintergrund.
Monsieur Cardusch?
Ja, es gab wirklich keine Erklärung für das Phänomen. Nicht einmal für den Alpha Romeo, der uns ganz ohne Fahrer versucht hatte, über den Haufen zu fahren.
Bevor May mich erreichte, wandte ich ihr den Rücken zu und blickte über den Balkon auf das Meer hinunter. Die Brandung rauschte.
Und noch etwas rauschte: Es war das Rauschen von mächtigen Flügeln. Es näherte sich wie Sturm. Ich sah einen Schatten auf dem Balkon.
Unwillkürlich ließ ich mich fallen.
Auch May reagierte so geistesgegenwärtig.
Ein riesiger Vogel stürzte sich herein. Mit den viel zu großen Flügeln, die er nicht schnell genug falten konnte, riss er einen Teil der Wand ein. Ohrenbetäubendes Krachen, ein schrilles Kreischen.
Ich sah den messerscharfen Schnabel über mir und die glühenden Augen des Vogels.
Der Schnabel raste auf mich zu. Der Vogel wollte mich zerhacken.
Blitzschnell rollte ich zur Seite. Die inzwischen viel zu weite Kleidung behinderte mich, aber ich schaffte es.
Mit dem Schnabel riss der Vogel die Dielen auf. Das Holz splitterte.
Wieder das irre Kreischen, das durch Mark und Bein fuhr.
Auch beim zweiten Male verfehlte mich der Dämonenvogel mit dem Schnabel.
Plötzlich zuckte er vor mir zurück.
Nicht ich selbst war die Ursache dafür, sondern etwas anderes: Kathryn! Sie hatte ihren Drudenstein vor die Augen gehoben und durch das kreisrunde Loch verstärkte sie ihre Gedanken.
Es waren vernichtende Gedanken. Sie sollten dazu dienen, den Dämonenvogel zu töten.
Aber es nutzte nicht soviel. Der Vogel wurde nur irritiert. Sofort wandte er sich mir wieder zu.
Neben mir lag ein Stuhlbein. Der Stuhl war von einem Flügel des Vogels zerschmettert worden. Jetzt lag das Stuhlbein da und hatte eine Spitze wie eine Lanze.
Eine Lanze?
Ich packte sie fest und rammte sie dann nach oben, in den Schwarzen Leib des Dämonenvogels.
Diesmal klang das Krächzen eher kläglich als erschreckend.
Pechschwarzes Blut quoll aus der Vogelbrust, lief über meine Arme und brannte dort wie Feuer.
Es war Blut wie heißes Pech.
Der Dämonenvogel hackte ein drittes Mal nach mir. Dabei riss er den messerscharfen Schnabel weit auf.
Für Sekundenbruchteile befand ich mich darin, aber ich krümmte meinen Körper zusammen und entzog mich damit.
Es hat auch seinen Vorteil, wenn man plötzlich kleiner geworden ist!
Jetzt zeigten die verstärkten Gedanken von Kathryn endlich größere Erfolge. Der Dämonenvogel wich zurück.
Ich hatte das Stuhlbein noch in der Hand. Er war schwarz verschmiert, doch das interessierte mich nicht.
Mit einem gewaltigen Satz folgte ich dem Dämonenvogel und rammte das Stuhlbein mit der scharfen Spitze in den schwarzen Leib des Horrorgeschöpfes.
Zum zweiten Male und mit noch größerer Wirkung!
Ein letztes klägliches Krächzen und der Dämonenvogel sank in sich zusammen.
Er zerfiel. Seine Konturen zerflossen zu einem breiigen schwarzen Gebilde. Dicke Tropfen klatschten auf den Balkon, verdampften genauso wie das schwarze Dämonenblut. Und dann war der Balkon wieder leer. Nur die Zerstörungen waren geblieben und zeugten davon, dass etwas Grausiges, Unerklärliches passiert war...
»He!«, rief jemand von draußen. Es wurde gegen die Tür geschlagen.
Ehe jemand von unserer Seite aus öffnen konnte, schwang die Tür auch schon auf.
Der Zimmerkellner mit Nachschlüssel in der Hand erschien. Sein Gesicht war bleich. Auch der Hotelführer erbleichte, als er die Verwüstungen sah.
Beide waren unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.
Neugierige drängten nach. Sie wollten es ebenfalls sehen.
Es war den beiden verdatterten Hotelangestellten nicht möglich, sich dieser Neugierigen zu erwehren. Sie kamen wie eine böse Flut und vergrößerten die Verwüstungen nur noch.
Bis ich laut rief: »Zurück, um Gottes Willen, sonst stürzt hier alles ein!«
Das stimmte zwar nicht, aber es verfehlte nicht seine Wirkung: Vorn schrieen sie und drängten zurück. Die weiter hinten mussten ausweichen. Im Nu war das Zimmer wieder leer. Der Kellner machte schnell die Tür zu.
Der Hotelführer wandte sich an mich. »Mein Herr, was ist hier passiert?«
Ich hob in einer hilflos anmutenden Geste die Arme. »Ich nehme an, eine Verwechslung. Jemand hat eine Bombe geworfen. Wir saßen friedlich beisammen. Auf einmal krachte es fürchterlich. Tja und danach sah es so aus wie es jetzt noch aussieht. Könnte sein, dass das Attentat einem anderen galt, denn wir sind politisch total neutral. Wir sind einfache Touristen, die hier ihren Urlaub verbringen.«
»Ein Attentat?«, echote der Hotelführer. »In meinem Hotel? Mein Herr, wie soll ich das der Zentrale erklären? In der gesamten Hotelkette ist das noch nicht passiert. Ich werde die Polizei rufen und dann...«
Er brach ab, denn Tab Furlong hielt ihm den eigenen Ausweis unter die Nase. »Sehen Sie«, erklärte er sanft, »ich bin selber von der Polizei, wenn auch nicht von der hiesigen. Ich bitte sogar darum, dass die Polizei eingeschaltet wird, denn wir haben nichts zu verbergen. Stellen Sie sich vor, ein Chefinspektor von Scotland Yard reist extra nach Juan-les-Pins, nur damit man eine Bombe auf ihn werfen kann?«
Der Hotelführer war dieser Situation kaum gewachsen. Er wirkte hilflos.
Tab hatte englisch gesprochen. Ich wandte mich auf Französisch an den Etagenkellner: »Bitte, rufen Sie die Polizei! Ihr Chef kann ja in der Zwischenzeit hier Wache schieben.«
Der Kellner gehorchte tatsächlich.
Ich wandte mich an den Hotelführer. »Es wäre besser, Sie würden allein hier bleiben. Ich schlage vor, wir anderen warten draußen irgendwo. Wäre doch möglich, dass noch eine Bombe angesegelt kommt, nicht wahr?«
Damit wandte ich mich zur Tür.
»Halt!«, rief der Hotelführer kläglich.
Ich ließ mich nicht aufhalten. Die Furlongs und auch May folgten mir zögernd.
Ich hatte mich zu einer neuen Taktik entschlossen, gemäß dem Grundsatz, dass Frechheit meistens siegte.
Es nutzte nichts, wenn man hier die Wahrheit erzählte. Dann landete man noch im Irrenhaus. Die Geschichte, die ich erzählt hatte, passte da wesentlich besser. Auch wenn sie genauso unglaubwürdig klang.
Draußen warteten wir auf den gestikulierenden und zeternden Hotelführer.
Ich sagte zu ihm: »Ich würde nicht so einen Lärm machen, denn sonst werden noch mehr darauf aufmerksam. Ich glaube nicht, dass das für das Geschäft gut ist.«
Er verstummte verblüfft.
Die Neugierigen waren noch da. Sie standen hier dicht gedrängt auf dem Flur herum. Ich ging schnurstracks auf sie zu. Widerwillig öffneten sie einen Durchschlupf.
Meinen Gefährten blieb nichts anderes übrig, als mir auch diesmal zu folgen.
Ich dachte die Situation durch: Eine unbekannte Macht, die nicht nur Mordanschläge verübt, sondern meinen Körper schrumpfen ließ. Ich fragte mich ernstlich, warum man diesen Aufwand trieb, wenn man mich doch nur töten wollte.
Denn ich war weiterhin geschrumpft und konnte nur hoffen, dass es nicht zu schnell ging, so dass wir der Polizei diesbezüglich keine Erklärungen geben mussten...
*
Meine Hoffnungen erfüllten sich nicht. Leider. Der Fall schien der örtlichen Polizei immerhin so wichtig zu sein, dass Kommissar Lelouch persönlich kam und nicht irgendeinen Gendarm schickte.
Vielleicht hatten wir die Ehre seines Besuches auch deshalb, weil der Kellner geplaudert hatte?
So war es, denn der Kommissar betrat die Hotelhalle mit theatralischer Geste und den Worten: »Ich habe mir schon immer gewünscht, einen echten Inspektor von dem berühmten New Scotland Yard kennen zu lernen. Sagt man nicht, Monsieur Furlong, dass ihr die besten Polizisten der Welt seid? Ich glaube, wir werden noch genügend Themen haben, nicht wahr? Uns wird die Zeit nicht langweilig werden, wie?«
Ich grinste ihn an und sagte: »Tut mir leid, Kommissar, aber mein Freund versteht kaum Französisch.«
»Sie umso besser!«, sagte er strahlend und reichte mir die Hand.
Ich ergriff sie irritiert. Für einen Augenblick ruhte sein Auge auf meiner Kleidung, die überall schlotterte. Er wunderte sich gewiss, aber ließ sich nichts anmerken.
Jeder wurde von ihm begrüßt, während zwei brave Gendarmen ›unauffällig‹ Stellung bezogen.
Es sah so aus, als hätte der Kommissar so seine eigene Theorie entwickelt und verlasse sich nicht so sehr auf meine Story.
Fürderhin sprach er nur noch englisch. Das erleichterte zwar die sprachliche Verständigung, aber ansonsten...
Kommissar Lelouch war ein überaus angenehmer, freundlicher und zuvorkommender Zeitgenosse. Er trug stolz und mit Würde seine Uniform, nahm trotz der großen Hitze draußen niemals seine Dienstmütze ab, war nicht mehr ganz so schlank, aber überaus vital und aktiv... Kurz, als Privatmann war Kommissar Lelouch eine Freundschaft wert, aber als Polizist waren seine so positiv erscheinenden Eigenschaften eher unangenehm.
Wir saßen zusammen, Lelouch verplauderte die Zeit. Erst nach einer Viertelstunde ließ er mich die ganze Geschichte noch einmal von vorn erzählen.
»Warum sehen Sie sich den Schaden nicht an?«, erkundigte ich mich am Ende.
Er lächelte entwaffnend. »Dafür habe ich einen Spezialisten oben, Mr. Tate. Er benutzte den Hintereingang. Deshalb scheint er Ihrem scharfen Blick entgangen zu sein. Sie sind doch Privatdetektiv, nicht wahr?« Sein Blick wechselte zu Tab hinüber. »Es ist doch erstaunlich, wenn Privatdetektive und Polizisten eine so große Freundschaft verbindet, dass sie mit ihren Frauen sogar gemeinsam in den Urlaub gehen!«
Zu allen seinen Eigenschaften gesellte sich noch eine weitere: Kommissar Lelouch liebte es, blitzschnell das Thema zu wechseln.
Das tat er auch jetzt: »Sagen Sie, Mr. Tate, wie kommt es eigentlich, dass Sie ständig schrumpfen?«
Sein liebenswürdiges Lächeln wirkte jetzt eher hämisch auf mich.
Es dauerte eine Weile, bis ich diese Worte verdaut hatte. Was sollte ich darauf erwidern?
»Ich weiß es nicht!«, meinte ich wahrheitsgemäß.
Sein Lächeln gefror. Jemand kam auf die Sitzgruppe zu. Der Kommissar beachtete ihn gar nicht, sondern hatte nur Augenmerk für mich.
Ich warf Tab einen hilflosen Blick zu. Der Chefinspektor war genauso ratlos wie ich. Er konnte mir nicht helfen. Genauso wenig wie May oder Kathryn.
Der Jemand geriet ins Blickfeld: Ein kleiner, verfetteter Zivilist, der sich zu des Kommissars Ohr hinabbeugte und etwas flüsterte.
Ich hasste es, wenn jemand flüsterte.
May saß neben mir. Jetzt beugte sie sich zu meinem Ohr herab und begann ebenfalls zu flüstern.
Ich knirschte laut hörbar mit den Zähnen.
»Es ist schwierig, die Gedanken des Kommissars zu lesen«, berichtete May. »Er ist sehr misstrauisch.«
Dazu hätte es wahrlich nicht des Gedankenlesens bedurft. Aber ich sagte das natürlich nicht. Es hätte May unnötig verärgert. Sie fuhr fort: »Das andere ist der Spezialist. Spurensicherung! Er erklärt dem Kommissar gerade, dass es für die Zerstörung keine Erklärung geben würde. Eine Bombe schließt er total aus. Ein großer Gegenstand, der aus genauso unerklärlichen Gründen spurlos verschwunden ist, könnte für die Zerstörung verantwortlich sein.«
May beendete ihren Bericht gleichzeitig mit dem Spurenspezialisten.
Lelouch winkte den Mann weg. Er wandte sich lächelnd an mich.
»Gerade hat mir mein Fachmann bestätigt, dass es sich um eine Bombe, also um ein Attentat handelt. Ich glaube, dass ich Sie nicht mehr lange belästigen muss, denn es ist kaum anzunehmen, dass der Attentäter wirklich Sie vier gemeint hat, nicht wahr?«
Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr. Der Kommissar reagierte genau anders als ich es erwartet hatte.
Jetzt stand er sogar auf und reichte jedem zum Abschied die Hand.
»Müssen wir uns zur Verfügung halten?«, fragte Tab verwirrt.
»Aber nein, wo denken Sie hin, Chefinspektor!«, tat Lelouch entrüstet. »Dazu besteht keine Veranlassung. Sie können sich frei bewegen. Wenn ich Fragen habe, werde ich Sie schon irgendwie finden.«
Er gab mir als letztem die Hand, lächelte freundlich und sagte: »Ich hätte zu gern angenommen, ich wäre einer Täuschung erlegen, aber seit ich hier bin, sind Sie bestimmt um fünf Zentimeter geschrumpft. Es geht sehr schnell, mein Lieber!«
Das war alles. Keine Fragen, nichts. Lelouch salutierte, winkte seinen Gendarmen und blies zum Rückzug.
Ich schaute ihm verdattert nach, bis er die Tür erreicht hatte - als letzter nach seinen Leuten.
Die Neugierigen kümmerten mich nicht mehr. Natürlich, sie hatten auch die letzten Worte des Kommissars mitbekommen. Eine Frau lachte. Wahrscheinlich nahm sie an, der Kommissar wäre ein Witzbold.
Das war er nun absolut nicht!
Ich durchschaute endlich seine Hinhaltetaktik.
Ein Blick zu Tab hinüber. Der nickte mir zu.
Also hatte auch Tab jetzt begriffen. May umklammerte meinen Oberarm. Gerade als Lelouch die Halle verlassen wollte, rief ich ihm nach: »Moment noch, Kommissar!«
Er blieb stehen und wandte sich mir langsam zu. Lächelnd wie immer.
»Ich wollte Sie noch fragen, ob Sie einen gewissen Monsieur Cardusch kennen!«
Ich hatte so laut gesprochen, dass es jeder hören konnte. Obwohl meine Stimme inzwischen ein wenig piepsig klang.
Inzwischen ging ich May nicht einmal mehr bis zur Achsel!
Der Kommissar beherrschte sich meisterlich. Oder der Name Cardusch sagte ihm nichts.
Er blieb sekundenlang in der Tür stehen. Dann trat er zwei Schritte näher.
»Cardusch?«
»Ja, Kommissar: Monsieur Cardusch! Wo wohnt er? Wo könnte ich ihn finden?«
»Außerhalb der Stadt!«, sagte Kommissar Lelouch, als hätte ich ganz normal nach einem Weg gefragt.
Niemand im Hotel reagierte sonderlich auf den Namen Cardusch. Aber die Neugierigen bestanden schließlich alle aus Touristen.
Ich suchte einen Einheimischen mit den Blicken. Da war er: Der Etagenkellner! Der Mann war kreidebleich. Jetzt wandte er sich ab und rannte davon, wie von Furien gehetzt.
Wo war eigentlich der Hotelführer? Der hatte sich schon kurz vor der Ankunft des Kommissars zurückgezogen und war nirgendwo zu sehen.
Es gab noch einen, der vor dem Namen Cardusch floh: Noch einen Kellner.
Der Kommissar kam freundlich lächelnd näher und sagte: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Mr. Tate: Fahren wir doch gemeinsam zu Monsieur Cardusch. Einverstanden?«
In meinem Schädel klingelte es Alarm. Das Ganze roch förmlich nach einer Falle.
Wenn man bedachte, wie extrem die Menschen hier auf Cardusch reagierten... Und dann dieser Kommissar... Der tat so, als wäre es selbstverständlich, wenn sich jemand nach Cardusch erkundigte.
Der Kommissar hörte nicht auf zu lächeln. Kathryn spielte mit ihrem Drudenstein. Ich erkannte es aus den Augenwinkeln. Sie betrachtete den Kommissar kurz durch das kreisrunde Loch. Ich schaute zu ihr hin. Sie zuckte die Achseln. Also Fehlanzeige: Keine Magie!
Ich blickte zu May auf. Sie schüttelte den Kopf.
Was meinte sie damit? Dass wir dem Kommissar auf keinen Fall folgen sollten?
Als würde das etwas nützen. Alles, was der Kommissar bis jetzt getan hatte, bewies deutlich, dass er uns zu nichts zwingen wollte. Ganz im Gegenteil: Er machte uns praktisch abhängig von seiner Person! Es musste uns eigentlich wie ein besonderer Glücksfall erscheinen, dass er aufgetaucht war.
Ja, wenn er uns hätte zwingen wollen, hätte er das auch getan. Das sprach eindeutig für ihn. Auch wenn es eine Falle bedeutete. Schlechtenfalls spielte der Mann ein undurchsichtiges, makabres Spiel.
Wir kannten die Spielregeln nicht und mussten das Spiel trotzdem annehmen.
Ich machte den Vortritt, indem ich auf den Kommissar zuging. Hätte ich mir nicht von meinem Zimmer eine kurze Hose mitbringen lassen, die ich auf der Toilette anschließend angezogen hatte, wäre ich über die Hosenbeine gestolpert. Ich fühlte mich jetzt wie ein heranwachsendes Kind. Meine Stimme klang wie die eines Zwerges.
Und das war ich bald auch: Ein Zwerg! Verzweifelt bemühte ich mich, alle Gedanken daran zu verdrängen, aber das gelang mir einfach nicht.
Wie auch, wenn der Schrumpfprozess ständig fortschritt und eher noch stärker wurde?
Bevor wir den Kommissar erreichten, wandte er sich ab und hielt uns die Tür auf. Wir stolzierten hinaus.
Die Gendarmen waren mit einem Mannschaftstransportwagen angerückt.
Dieser Kommissar Lelouch wurde mir immer unheimlicher. Wieso trieb er solchen Aufwand?
Zu allen Ungereimtheiten war jetzt auch noch der Kommissar als weitere Ungereimtheit dazugekommen.
»Ich schlage vor, Mr. Tate, Sie fahren mit mir und Ihre Freunde verteilen sich auf das zweite Fahrzeug.« Lelouch deutete mit ausgestreckter Hand zu den beiden PKW's. Dabei rutschte sein Ärmel hoch.
Es war seine linke Hand und ich sah auf dem Handgelenk, auf der Innenseite, direkt auf der Handwurzel, eine winzige Tätowierung. Die Tätowierung erinnerte mich entfernt an ein kleines Auge.
Auch der Schavall sah aus wie ein Auge!
Ich hatte auf einmal das Gefühl, jemand habe mich an der Kehle gepackt und bemühte sich, mich zu ersticken. Wie in Trance schritt ich mit dem Kommissar zu dessen Wagen.
Erst als ich mit ihm drinnen saß, wurde mein Kopf wieder klarer.
Egal, was hier mit uns und speziell mit mir geschah: Der Kommissar spielte dabei eine wichtige Rolle!
Die drei Fahrzeuge setzten sich in Bewegung. Ich schaute mich um. In dem Auto hätte auch noch May Platz gefunden. Es war ein unverzeihlicher Fehler, dass wir uns hatten trennen lassen, doch jetzt erschien es zu spät zur Reue.
An der nächsten Seitenstraße bogen wir ab.
Der Kommissar hatte mit seinem Wagen geführt. Die anderen beiden Wagen folgten uns nicht.
»Was soll das?«, rief ich aus und wandte mich um.
Es gab keinen Kommissar Lelouch mehr: Der Platz neben mir war leer.
Genauso leer wie die Plätze vorn! Der Wagen war völlig führerlos und dennoch fuhr er sicher durch die Straße.
Ich beugte mich vor und wollte nach dem Steuer greifen, aber da spürte ich aus dem Unsichtbaren einen heftigen Schlag gegen die Brust und wurde zurückgeschleudert.
Im nächsten Augenblick roch es seltsam im Innern des Wagens. Alarmiert wollte ich das Seitenfenster herunterkurbeln.
Es ging nicht!
Auch die Tür ließ sich nicht öffnen.
Mir schwindelte und dann schien in meinem Schädel etwas zu explodieren. Es löschte alle meine Gedanken aus.
*
»Was soll das schon wieder?«, fragte May Harris und blickte verdutzt aus dem Wagen.
Soeben war das Fahrzeug mit dem Kommissar und mit Mark Tate abgebogen.
Sie aber fuhren nach wie vor geradeaus!
May saß neben Kathryn im Fond des Wagens. Rechts von Kathryn saß Tab.
Außer dem Fahrer befand sich noch auf dem Beifahrersitz jener Zivilist, den Kommissar Lelouch als ›seinen Spezialisten‹ vorgestellt hatte.
Der Zivilist wandte den Kopf.
May drohte ihm mit der Faust. »Was haben Sie eigentlich mit uns vor?«, fauchte sie den Zivilisten an. »Wieso ist Kommissar Lelouch mit meinem Freund abgebogen?«
»Wie bitte?«, machte der Zivilist verständnislos. Er warf einen Blick auf die Furlongs, die ihn feindselig betrachteten. May blieb Wortführerin. Sie war auch am wütesten.
Sie schaute kurz zurück. Der Mannschaftstransportwagen mit den Gendarmen folgte ihnen dicht auf. Daraus schloss sie, dass sie die richtige Route fuhren.
Wo aber wurde Mark Tate hingebracht?
May konnte sich nicht länger beherrschen. Ihre Rechte schnellte vor. May packte den Zivilisten am Kragen und zog ihn ein Stück aus seinem Sitz.
Diese Kraft hätte er der eigentlich zierlich erscheinenden Frau nicht zugetraut. Aber May hatte einen durchtrainierten Körper. Schließlich war sie darauf angewiesen, bei diesem gefährlichen Leben, das sie an der Seite von Mark Tate führte.
»Heraus mit der Sprache!«, zischte sie gefährlich leise. »Aber ein bisschen plötzlich, sonst reißt mir der Geduldsfaden.«
Wer May kannte, wusste, wie sanft sie normalerweise war. Aber jetzt schien sich für den Zivilisten ein brodelnder Vulkan zu öffnen.
Er wurde kreidebleich, mit einem Stich ins Grüne um die Nase. Vergeblich versuchte er, sich aus dem harten Griff zu befreien. Hilflos schielte er nach dem Gendarm am Steuer.
Der war so verdattert, dass er zu steuern vergaß. Prompt geriet das Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn.
Ein entgegenkommendes Auto hupte verzweifelt. Der Fahrer besann sich und steuerte den Wagen zurück.
Aber er passte noch nicht richtig auf. Es war eine Frage der Zeit, bis sie irgendwo an einer Mauer oder in einem der parkenden Autos landeten.
»Vorsicht!«, rief Kathryn und klopfte dem Gendarm am Steuer derb auf die Schulter.
Das brachte den Mann endlich zu sich. Und der Zivilist brachte es endlich fertig, einen Ton hervorzuwürgen: »Lassen - lassen Sie mich los!«
May dachte gar nicht daran. Es zeigte sich wieder einmal, dass es ein Fehler war, sich nicht anzuschnallen. Den Zivilisten hielt nichts, weder Gurt noch eigene Körperkraft: May wuchtete ihn halb aus seinem Sitz und zog ihn fast zu sich in den Fond des Wagens.
»Aufhören!«, befahl der Fahrer schrill. »Was erlauben Sie sich?«
Kathryn klopfte ihm wieder auf die Schulter, dass es krachte: »Sie sollen gefälligst auf den Straßenverkehr achten!«
Ihm verschlug es die Sprache. Genauso wie dem Zivilisten.
Mays Gesicht war ganz nahe an seinem. Normalerweise hätte er das gewiss begrüßt. Jetzt war ihm das eher unangenehm.
»Reden wir mal ganz privat: Was habt ihr mit Mark vor? Wer steckt hinter dem Ganzen? Wenn ich nicht bald eine Antwort bekomme, die mich zufrieden stellt, schmeiße ich Sie aus dem Auto - während der Fahrt!«
Niemand zweifelte an ihren Worten. Dem Fahrer stiegen sichtbar die Nackenhaare zu Berg. Ihm war längst aufgegangen, dass sie keine alltäglichen Touristen geladen hatten.
May hatte englisch gesprochen. Doch sie wurde gut verstanden.
Der Zivilist stammelte: »Ich - ich weiß überhaupt nicht, von was Sie sprechen, um Gottes willen. Ich - ich kenne keinen Mark.«
May packte noch ein bisschen fester zu.
»So? Sie kennen natürlich auch keine May Harris, keine Kathryn Furlong und keinen...«
»Aber doch! Das - das sind Sie drei. Aber - aber wer ist Mark?«
May lockerte unwillkürlich den Griff. Sie runzelte die Stirn. Ihre Wut verrauchte für einen Augenblick. Sie schaute in die Augen des Zivilisten - und ahnte etwas. Mit ihren Gedanken drang sie in das Bewusstsein des Mannes ein.
Das bereitete wenig Mühe, obwohl sie in dem Bewusstsein des Mannes nichts erfahren konnte, denn dort ging alles drunter und drüber. Der Mann war völlig durcheinander. Er verstand die Welt nicht mehr.
»Wer sind Sie? Wie heißen Sie?«, fragte sie ahnungsvoll.
Der Zivilist antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Aber, das wissen Sie doch, Mrs. Harris: Mein Name ist Lelouch! Ich bin Kommissar Lelouch!«
May ließ los und schnappte nach Luft - genauso wie der Kommissar. Denn sie hatte im Bewusstsein des Mannes gelesen, dass er die reine Wahrheit sprach.
Wenigstens, was er für die Wahrheit ansah!
Kathryn ließ pfeifend die angestaute Luft aus ihrer Lunge entweichen. So überwand sie den Schock.
»Sie sind der Kommissar?«, vergewisserte sie sich.
Lelouch zupfte sein Jackett zurecht und knurrte ärgerlich: »Wer denn sonst wohl?« Und er fügte genauso ärgerlich hinzu: »Dafür werden Sie sich noch verantworten müssen!«
May lachte trocken: »Wofür? Dafür, dass Sie Lelouch sind? Und wer war dann der in der Uniform?«
»Was für einer in Uniform, mein Gott?« Der Kommissar fuchtelte mit den Fäusten herum. »Jetzt reicht mir dieses Affentheater! Das war Widerstand gegen die Staatsgewalt. Ein tätlicher Angriff sogar in einem Dienstfahrzeug. Dann reden Sie auch noch irre, meine Dame.«
Er klopfte auf die Schulter des Fahrers. Gewiss war die schon blau an dieser Stelle.
»Halten Sie an, sofort!«
Er wandte sich um. »Und Sie drei werden im anderen Wagen mitfahren: bewacht! Ich habe zuerst an eine Verwechslung geglaubt. Politische Attentate sind in aller Welt fast an der Tagesordnung. Ich habe Sie nur mitgenommen, um alles zu Protokoll zu nehmen.«
Er drohte mit dem Zeigefinger. »Jetzt sieht das ganz anders aus. Sie haben sich mit Ihrer Gewalttätigkeit einen sehr schlechten Dienst erwiesen!«
Die drei brauchten nur einen einzigen Blick zu wechseln. Sie waren sich einig.
Das Fahrzeug rollte an den Bürgersteig. Die drei warteten nur noch, bis es stillstand.
Dann sprangen sie wie auf ein Kommando hinaus.
Kathryn, die mitten drin saß, war am langsamsten. Aber sie bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer durchtrainierten Raubkatze und machte damit den Vorsprung der anderen wieder wett.
Ohne Rücksicht auf den herrschenden Verkehr sprinteten die drei über die Straße.
Ein irres Hupkonzert begann. Gottlob waren die Autofahrer reaktionsschnell genug, dass kein Chaos entstand. Nur ein Wagen bremste zu langsam und überrollte beinahe Tab Furlong. Rechtzeitig sprang er empor und landete auf der Motorhaube des Autos. Von dort ging es weiter.
Die drei erreichten die andere Straßenseite und blieben keinen Augenblick stehen.
Auf der Seite, wo sich die Polizisten befanden, ertönten schrille Pfiffe. Der Kommissar reagierte schnell, aber nicht schnell genug. Der Mannschaftstransportwagen hatte ebenfalls gestoppt. Schon verteilten sich die Gendarmen. Sie zogen ihre Pistolen und sprinteten über die Straße. Doch die Fahrzeuge standen so dicht, dass es eher einem Slalomlauf gleichkam und als sie die Pistolen sahen, drehten ein paar durch und gaben Gas - ohne Rücksicht darauf, dass vor ihnen andere Autos standen. Es krachte und schepperte. Jetzt war das Chaos perfekt. Die Gendarmen kamen kaum vorwärts. Vor allem mussten sie so sehr auf die Autos achten, dass sie die Flüchtlinge aus den Augen verloren.
Als sie endlich auf der anderen Seite angelangt waren, blieben die Gendarmen unschlüssig stehen.
»Nach links! Nach links!«, brüllte Kommissar Lelouch - der ECHTE Lelouch!
Sie wandten sich nach links. Dort war eine Seitenstraße. Sie stieg erst allmählich, dann immer steiler an. Dabei war sie fast kerzengerade. Die Gendarmen rannten hinein, stoppten abermals. Die Straße war so gerade, dass sie die Flüchtlinge unbedingt hätten sehen müssen. Vielleicht aber hatte sich der Kommissar getäuscht?
Unschlüssig standen sie herum. Einer lief zurück und winkte dem Kommissar zu: eine hilflose Geste.
Der Kommissar tobte. Er gestikulierte mit den Fäusten.
»Sucht, ihr verdammten Trottel, so sucht doch endlich!«
»Blödmann!«, murmelte der Gendarm vor sich hin. »Du machst die Fehler - und wir können es wieder ausbaden.«
Missmutig wandte er sich ab und ging zu den anderen. »Wir sollen suchen, meint der Alte.«
Ein anderer murrte: »Erst lässt er die drei laufen. Dann müssen wir wie die Dummköpfe hinterher sausen. Wie stehen wir denn da vor der Öffentlichkeit? Jetzt schaut euch doch mal an, was für ein Durcheinander es schon gegeben hat. Nur weil der Herr Kommissar Schwerverbrecher mit dem eigenen Wagen mitnimmt - wie ein Taxiunternehmer!«
Sie waren auf ihren Kommissar nicht so sehr gut zu sprechen. Es war offenbar kein Honigschlecken unter Kommissar Lelouch.
Kein Wunder, dass man die drei völlig übersah, die nur drei Meter weiter sich in eine Einfahrt duckten.
Die Gendarmen suchten, während auf der Hauptstraße gehupt und geschimpft wurde.
In diesem Durcheinander rechneten sich die drei eine gute Chance aus, doch noch ungesehen zu entkommen.
Tab Furlong murmelte nur einmal vor sich hin: »Wenn wir jetzt nur die Polizei am Hals hätten, wäre es ja nicht so schlimm. Aber da sind auch noch andere, die uns ans Leder wollen...«
Die beiden Frauen antworteten nichts darauf: Sie wussten, wie recht er hatte!
Als ich wach wurde, hatte ich Mühe, mich zurechtzufinden. Schockierend war für mich die Tatsache, dass ich anscheinend in einem riesigen Auto saß. Ich befand mich zusammengesunken auf dem Rücksitz. Dabei erreichte ich mit den Füßen nicht einmal den Boden und die Unterkante des Seitenfensters war so hoch, dass ich auf den Sitz klettern musste, um hinauszuschauen.
Das tat ich dann auch.
Mein Blick ging ins Leere. Der Horizont war weit weg. Schweißperlen erschienen auf meiner Stirn. Ich raffte die schlotternde Kleidung und schob meinen Kopf höher über den Fensterrand.
Jetzt war mir klar, warum der erste Blick ins Leere gegangen war: Ich befand mich auf einer steil nach unten gehenden Serpentine. In der Ferne lag das blaue, endlos erscheinende Meer. Ich sah die ersten Ausläufer einer weißen Ortschaft. Alles sauber und idyllisch.
Diese Bauweise erkannte ich: Cote d'Azur! All die parkähnlichen Anlagen, die hängenden Gärten, die architektonisch sehr phantasievoll gestalteten Häuser mit den relativ kleinen Fenstern...
Es war weit entfernt, mindestens fünfhundert Meter Höhenunterschied. Zwischen mir und dem idyllischen Ort an der Mittelmeerküste lagen noch einige steile Serpentinen.
Das veranlasste mich dazu, nach vorn zu blicken.
Es gab keinen Fahrer!
Der Wagen rollte im zweiten Gang bergab. Niemand bremste, niemand steuerte. Weiter unten begann die nächste steile Kurve. Es gab keine Leitplanke. Die hatte man sich erspart. Wenn ich nichts tat, dann sauste ich von der Straße weg wie ein Skifahrer von der Sprungschanze. In die Tiefe! Ich würde mich mindestens zehnmal überschlagen - wenn der Wagen nicht schon vorher explodierte. Von mir würde außer Asche nichts übrig bleiben.
Ich überwand meine Schrecksekunde und hechtete über die riesige Rückenlehne nach vorn. Meine Hände umklammerten das Steuerrad, das mir eher wie das Rad eines Leiterwagens anmutete. Meine Hände waren winzig dagegen - wie die Hände eines Kindes.
Ich hing noch über der Rückenlehne, die ich nicht ganz geschafft hatte zu überwinden.
Die Kurve war heran. Ich drehte am Steuer. Der Wagen brach hinten aus. Die Reifen des Peugeots kreischten protestierend, bis sie den Seitenstreifen erreichten und Dreck aufspritzen ließen. Kleine Steine kullerten den steilen Abhang hinunter, aber der Wagen blieb auf der Straße.
Braver Peugeot!, dachte ich zerknirscht. Wenn sich meine Beine nicht zwischen den Vorderlehnen verheddert hätten, wäre ich weggeschleudert worden und hätte das Steuer verloren.
Es wäre tödlich ausgegangen.
Jetzt zog ich meinen Körper rasch nach und plumpste auf den Fahrersitz.
Der war viel zu groß und der Abstand zum Steuer war einfach zu weit. Außerdem war es mir unmöglich, mit meinen kurzen Beinen die Pedale zu erreichen und dann auch noch gleichzeitig etwas zu sehen. Ich hätte mich fast in den Fußraum kauern müssen.
Wieso war das Auto so riesig? Wieso war die ganze Welt gewachsen? Ich fühlte mich in meine Kindheit versetzt. Nur hatte ich den kleinen Wuchs damals nicht so sehr als Mangel betrachtet.
Die nächste Kurve. Vorhin hatte der Wagen zwangsläufig etwas an Geschwindigkeit verloren. Jetzt war er aber wieder schneller geworden. Kein Wunder, denn die Straße war einfach zu steil. Der Motor heulte auf, dass man meinen mochte, er müsste jeden Augenblick detonieren.
Er hatte auch eine gewisse Bremswirkung, die jedoch nicht ausreichte.
Eine Innenkurve. Gott sei Dank. Falls jetzt keiner entgegenkam...
Ich konnte keine Rücksicht darauf nehmen und steuerte den steilen Abhang an. Nicht zu hoch! Dort standen Bäume und lagen ein paar Felsbrocken herum. Wenn ich damit kollidierte, schleuderte es mich mit aller Wucht durch die Windschutzscheibe. Ich würde mir unweigerlich das Genick brechen. Wenn nicht Schlimmeres geschah und ich elendiglich dahin starb.
Horrorgedanken, die mich störten, die meine Konzentration behinderten. Und Konzentration brauchte ich jetzt dringender als alles andere.
Es zog und zerrte im Lenkrad. Der Wagen kam von der Straße ab, zerriss die dünne Erdschicht über dem Felsgestein, entwurzelte Buschwerk, ließ kleinere Steine spritzen, schrammte an einem Felsbrocken vorbei, erwischte auch noch einen Baum, der sich kräftig schüttelte und den linken hinteren Kotflügel halb abriss.
Dann wieder auf die Straße. Der Wagen war wieder langsamer geworden.
Ein Motorradfahrer kam entgegen. Ich sah das erschrockene Gesicht des Mannes, der nicht einmal einen Sturzhelm an hatte und trotzdem fuhr wie ein Teufel.
Er fuhr viel zu schnell und wollte ausgerechnet in dieselbe Richtung ausweichen, in die der Wagen schoss. Wir würden uns unweigerlich auf halbem Weg treffen. Schon sah ich vor meinem geistigen Auge den Motorradfahrer in die Tiefe sausen.
Ich riss das Steuer gerade. Der Wagen brach hinten wieder aus, mit kreischenden Reifen. Der Motorradfahrer zischte knapp vorbei und hätte beinahe doch den Abgrund erwischt. Für Sekundenbruchteile verlor der Fahrer die Herrschaft über sein Rad und kam aus der Kurve auf die vom Wagen zernarbte Erde. Knapp wich er einem Felsbrocken aus und gelangte wieder auf die Straße.
Was weiter mit ihm geschah, wurde von mir nicht mehr gesehen. Ich schielte nach dem Bremspedal. Dann visierte ich die nächste Kurve an.
Obwohl ich den Wagen doch schon stark verlangsamt hatte, kam er jetzt wieder auf Touren. Die nächste Kurve konnte ich unmöglich schaffen. Völlig ausgeschlossen. Selbst wenn ich ein professioneller Rennfahrer mit einem entsprechenden Fahrzeug gewesen wäre. Die Kurve war haarnadelspitz!
Und das verwitterte Mäuerchen war ein zu klägliches Hindernis. Ich würde es durchstoßen, als wäre es nicht vorhanden und würde...
Abermals diese Horrorvisionen eines in den Abgrund fliegenden Wagens, der krachend aufschlug, sich überschlug, wieder und immer wieder, bis er in einer grellen Detonation zerfetzte...
Ich tauchte in den Fußraum und hielt mich an der untersten Speiche des Lenkrades fest. So blieb der Wagen einigermaßen auf Kurs. Ich konnte ihn nicht mehr dirigieren, sondern sprang mit zwei Füßen auf das Bremspedal.
Zu heftig! Die Räder blockierten. Der Wagen stellte sich quer. Ich hatte nicht die Kraft, das Steuerrad länger zu halten. Es riss mir aus der Hand. Die Kraft der Bremsverzögerung trieb mich in den Fußraum und quetschte mich schmerzhaft gegen die Pedale.
Leider auch gegen das Gaspedal. Der Motor wollte wieder aufheulen, aber die Bremsen waren zu stark. Das würgte den Motor ab.
Ich sah nichts mehr, hörte nur ein fürchterliches Krachen und Bersten und bangte, dass es bald aufhörte, denn das wäre der Beweis dafür, dass der Wagen die Straße verließ und in den Abgrund fiel.
Das Auto driftete seitlich, traf gegen etwas, prallte ab. Ich wurde hin und her geschleudert.
Endlich verlangsamte sich die Schleuderbewegung so weit, dass ich mich wieder hochziehen konnte.
Zwei Räder schleiften an der Karosserie, weil die Achse etwas abbekommen hatte. Hinter mir lagen Äste und Zweige und größere Steine auf der Straße. Vor mir war die Kurve. Ich rollte genau darauf zu. Aber die Fahrt hatte sich soweit verlangsamt, dass ich sie schaffen konnte. Gottlob!
Der Kotflügel, der nur noch an einem schmalen Streifen Blech hing und über den Asphalt schepperte, löste sich vollends, kullerte über die verwitterte Begrenzungsmauer und verschwand nach unten.
Dort wäre ich gelandet, hätte ich nicht verdammtes Glück besessen.
Ein Auto kam entgegen. Ich sah die weit aufgerissenen, erschrockenen Augen des Fahrers, aber das war nicht so interessant. Viel mehr interessierte mich wieder die nächste Kurve. Der Wagen gewann stetig an Geschwindigkeit, wenn auch nicht mehr so stark wie vorher. Die beiden Räder, die an der Karosserie schleiften, begannen zu qualmen. Irgendwann würden sie platzen. Ob das etwas nutzte? Ich bezweifelte das. Wenn die Reifen platzten, dann konnte ich nicht mehr steuern. Es würde noch schlimmer werden.
Die nächste Serpentine war etwas weniger steil. Dafür krümmte sie sich in eine Felswand hinein. Ich hatte also keine Chance, den Wagen von der Straße wegzusteuern.
Aber ich würde den Wagen gegen den Felsen prallen lassen, wenn keiner entgegenkam.
Hoffentlich prallte der Wagen nicht ab!
Es kam im entscheidenden Moment keiner entgegen. Ich erreichte die Kurve und krachte längsseits gegen die Felsenwand. Es fegte mich vom Sitz und gegen die Tür. Die Scheibe zersplitterte. Eine Glasscherbe verfehlte knapp meinen Hals und bohrte sich in das Sitzpolster. Dort blieb sie stecken, mit einer Spitze nach oben. Wenn ich darauf fiel, hatte ich keine Sorgen mehr...
Der Wagen schrammte mit ohrenbetäubendem Lärm an der Felswand entlang und verließ die Kurve als totales Wrack.
Aber er rollte noch - mehr schlecht als recht.
Da war eine Ausweichbucht. Meine Kehle trocknete schlagartig aus.
Eine Chance!
Ich war so auf die Ausweichbucht fixiert, dass ich die beiden offenen Sportwagen zunächst übersah, die mir entgegenkamen. Ich würde die Ausweichbucht genau in dem Moment erreichen, wenn die beiden auch da waren.
Mit anderen Worten: Ich würde mein Vorhaben nicht in die Tat umsetzen können!
Oder vielleicht doch? Die Fahrer sahen das Autowrack und reduzierten automatisch ihre Geschwindigkeit. Sie waren unschlüssig. Der abgewrackte Peugeot bewegte sich wie humpelnd, dabei kreischend und pfeifend bergab, während ich mich wunderte, wieso ich überhaupt noch lebte.
Und er erreichte die Ausweichbucht rechtzeitig vor den Sportwagen.
Ich steuerte das Wrack in die Bucht hinein. Die Nase des Peugeots bohrte sich ins Buschwerk. Sie wurde emporgetrieben, weil es auch hier eine Böschung gab.
Gottlob war die Geschwindigkeit nicht zu groß.
Die Motorhaube platzte auf, begleitet von einer zischenden Dampfwolke.
Es zischte, kochte und brodelte. Im Nu stand ich im Nebel. Aber ich stand! Das war die Hauptsache!
War der Alptraum wirklich zu Ende? Ich wagte es kaum zu glauben. Aber dann kam ich wieder zu mir: Ich musste schleunigst nach draußen, bevor der Wagen doch noch in die Luft ging. Es roch verdächtig nach Benzin. Natürlich, der Tank lief aus! Dann brauchte nur noch ein Funken darauf zu fallen - und alles Bisherige war doch noch umsonst gewesen.
Die Tür klemmte. Sie ließ sich nicht mehr öffnen. Ich musste durch das geborstene Fenster. Dabei musste ich aufpassen, dass ich mich an den Scherben nicht verletzte, die aus dem Fensterrahmen ragten.
Es erwies sich wieder mal als Vorteil, dass ich so stark geschrumpft war. Ich schaffte es einwandfrei, ins Freie zu klettern. Kaum berührten meine Füße den steinigen Boden, als ich zu rennen begann.
Bloß weg von dem zischenden und knackenden und kochenden Ungetüm von einem Autowrack.
Ich erreichte die Straße - und lief genau in die Arme des einen Sportwagenfahrers.
»He!«, rief er und hielt mich auf. Das gelang ihm spielend, denn ich ging ihm gerade bis zum Bauchnabel.
»Ein Kind!«, rief der Zweite. Sie hatten ihre Autos weiter oberhalb geparkt.
»Nein!«, widersprach der erste, »eher ein Liliputaner!«
»Hat wohl auch mal Auto fahren wollen, wie?«, murmelte der Zweite böse.
Ich wollte mich losreißen, aber der Erste hielt eisern fest. Bis ich ihm gegen das Schienbein trat.
»Au!«, schrie er. Ich rannte davon, in die umgekehrte Richtung, die steile Böschung hinauf.
Lieber in die Wildnis fliehen, sagte ich mir, als unangenehme Fragen der Polizei zu beantworten.
Nur zu gut erinnerte ich mich, wem ich die tödliche Falle ursprünglich verdankte: Lelouch! Er war schließlich Kommissar. Ein Grund mehr, der Polizei hier zu misstrauen und lieber mein Heil in der Flucht zu suchen.
»Dem Knirps nach!«, schimpfte der erste Sportfahrer. »Das soll er mir büßen, verdammt!«
Ich dachte bestürzt daran, wie schwer es kleine Leute wohl haben mochten. Ich war jetzt nur noch etwa halb so groß wie vorher, aber ich war im Innern derselbe geblieben. Für die lieben Mitmenschen reichte allein schon die geringere Körpergröße, sich überlegen zu fühlen und mich einen ungezogenen Knirps zu nennen.
Als ›normaler‹ Mark Tate wäre ich niemals geflohen, aber was blieb mir anderes übrig? Ich hielt die viel zu große und deshalb ständig rutschende Hose fest und gab Fersengeld.
Und es gab wirklich auch Vorteile, wenn man nicht mehr so groß war: Ich kam viel schneller voran als meine Verfolger. Ich erkletterte Steigungen, die für die beiden fast unüberwindbar waren. Ich schlüpfte zwischen Felsbrocken hindurch, die die beiden mühsam umgehen mussten.
Und ich stoppte erst, als ich ihre Schimpfkanonaden nicht mehr hörte.
Es war bezeichnend, dass sie mich einen Knirps nannten und dass sie zunächst voraussetzten, dass ich im Fehler war. Sie kamen überhaupt nicht auf die Idee, dass ich möglicherweise Opfer eines üblen Anschlags auf mein Leben war.
Ich hockte mich auf einen Stein und blickte keuchend zu Tal.
Eine gottverdammte Situation!, dachte ich. Der Schrumpfprozess schreitet weiter voran. Bald werde ich so klein sein, dass jedes Kaninchen ein todbringendes Monstrum für mich ist. Und wenn ich die Kaninchen überlebe, kommen bald die Fliegen und Spinnen an die Reihe.
Es wäre besser gewesen, sich der Polizei zu stellen! Hier, in dieser Wildnis, war ich praktisch verloren. Es gab keinerlei Chance, da ich nicht einmal bewaffnet war.
Ich lauschte auf die Stimmen der Verfolger, aber da war nichts mehr.
Grillen zirpten um die Wette, Vögel zwitscherten. Ein großer Raubvogel kreiste hoch über meinem Kopf.
Für mich wie ein schlechtes Omen.
Ich stand auf und überlegte, was ich als Nächstes tun würde. Da wurde mir klar, dass ich den Weg zur Bergstraße nicht so ohne weiteres finden würde.
Ich hatte mich auf der Flucht verlaufen!
Sollte ich bergab steigen, um zum Ort zu kommen? Was für ein Ort war das überhaupt? Juan-les-Pins, wo wir uns mit diesem verdammten Monsieur Cardusch getroffen hatten?
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein!«, entschloss ich mich laut, »ich werde nicht in den Ort hinuntersteigen, sondern lieber den Berg erklettern. Bei allen Gefahren, die mir in der Wildnis drohen, erscheint mir das noch besser als die Gefahren durch - Menschen!«
Ich machte mich an den Aufstieg. Immer wieder dachte ich über das nach, was ich bisher erlebt hatte. Ich sah einfach keinen Sinn darin, denn es gab einen krassen Widerspruch: Auf der einen Seite war Cardusch vom Schavall nicht vernichtet worden, sondern beide waren miteinander verschwunden. Außerdem begann ich zum dem gleichen Zeitpunkt, mich ständig zu verkleinern. Ich schrumpfte im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei blieben meine Körperproportionen voll erhalten. Außerdem fühlte ich mich in keiner Weise körperlich beeinträchtigt. Ich hatte weder Schmerzen noch sonst etwas. Nur Angst vor dem, was da noch auf mich zukommen würde.
Tja, das war also die eine Seite. Die andere Seite war, dass man mir ständig nach dem Leben trachtete und dass man keinen Trick ausließ, das auch zu schaffen.
Ich blieb unwillkürlich stehen und grübelte über einen weiteren Punkt nach: Wieso hatte man mich auf den Berg entführt, total betäubt natürlich, um mich anschließend zu wecken und dann abwärts sausen zu lassen? Wenn man mich töten wollte, wieso machte man das nicht anders? War das nicht wie eine Art Test? Ich schüttelte wieder den Kopf. Nein, so ging das nicht. Nicht einmal auf das konnte ich mir einen Reim machen. Ich kletterte weiter. Aber dann blieb ich wieder stehen, wie angewurzelt.
»Verdammt!«, entfuhr es mir. Ich ballte die Hände zu Fäusten und starrte vor mich hin.
Auf einmal war mir etwas klar geworden. Ich sprach es laut aus: »Es gibt eine Erklärung! Ich habe nicht nur einen Gegner, sondern deren zwei! Genauer: Zwei konkurrierende Gruppen, die sich gegenseitig ausstechen wollen. Die eine Gruppe ist für den Verkleinerungsprozess verantwortlich. Sie hat mich auch entführt. Die andere Gruppe will mich umbringen. Nach der Entführung eroberte sie den Wagen, wahrscheinlich mit magischen Mitteln und ließ mich in den Tod fahren. Vielleicht hat die erste Gruppe sogar dafür gesorgt, dass ich rechtzeitig erwachte? Um mir eine Chance zu geben? Das setzt voraus, dass die eine Gruppe meinen Tod wünscht und die andere Gruppe... Ja, was wünscht die eigentlich?«
Jetzt hatte ich eine plausible Erklärung grundsätzlicher Art, aber damit war nicht das ganze Rätsel gelöst. Es blieben noch Fragen offen wie: »Worin liegt das Motiv? Wer steht hinter den beiden Gruppen?«
Die Gruppe von Monsieur Cardusch schien dabei noch die humanere zu sein. Die sorgte für den Schrumpfprozess, aber wenigstens hielt sie mich am Leben.
Dann erinnerte ich mich an die Panikreaktionen beim bloßen Nennen des Namens Cardusch. Auf Eingeweihte wirkte dieser Name schlimmer als die Erscheinung des Leibhaftigen.
Sprach das nicht eher gegen Monsieur Cardusch und seine möglichen Verbündeten?
Ich gab es auf und kletterte weiter. Es hatte keinen Sinn, hier herumzustehen und sich den Kopf zu zerbrechen, während ich weiter schrumpfte. Irgendwo musste ich ein einigermaßen sicheres Plätzchen finden, obwohl ich nicht einmal ahnte, wie ein solches Plätzchen überhaupt aussehen sollte.
Verzweifelt klammerte ich mich an der Erkenntnis fest, dass es sich um zwei konkurrierende Gruppen handelte. Das war wenigstens ein wichtiger Anhaltspunkt. Darauf ließ sich vielleicht aufbauen. Vielleicht bedeutete es sogar eine geringe Überlebenschance, denn bekanntlich hieß es: Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte! Ich war dieser Dritte und ich kletterte steile Hänge empor und merkte, wie ich immer kleiner wurde.
Auf halbem Wege musste ich eine Rast einlegen. Ich kauerte vor einer Höhle, die ich bald betreten konnte, falls ich noch ein wenig wartete und dabei auf den ständigen Schrumpfprozess vertraute.
Bis mir klar wurde, was das für eine Höhle war: Ein Kaninchenbau!
Es war der größte Kaninchenbau, den ich jemals gesehen hatte und dieses Kaninchen musste für mich die Größe eines ausgewachsenen Bären haben!
Es war den Dreien klar, dass sie nicht lange hier Versteckspielen konnten. Bei diesem Klima fand ein Großteil des Lebens im Freien oder hinter offenen Fenstern statt. Man würde sie bald entdecken und die Polizei rufen, denn inzwischen war jedem Anwohner aufgegangen, dass anscheinend große Dinge in der näheren Umgebung sich abspielten.
Es war eine Frage der Zeit, bis die Leute wussten, dass man Jagd auf Ausländer machte. Dann würden sie rasch ihre Solidarität gegen die Staatsgewalt vergessen und die drei Gesuchten ans Messer liefern.
Trotzdem blieben die Drei vorläufig noch, wo sie waren. Sie nutzten die Zeit zu einem Flüstergespräch.
»Es gibt zwei konkurrierende Gruppen!«, sagte Tab Furlong fest.
Die beiden Frauen sahen ihn erstaunt an.
»Wie bitte?«, machte May Harris.
»Du weißt doch, dass ich quasi immun bin gegenüber Magie. Es ist für einen Magier unmöglich, mich beispielsweise durch Schwarze Magie zu töten.« Er tippte sich gegen die Brust. »Dafür sorgt schon der eintätowierte Drudenfuß auf meiner Brust. Ich bin auf Grund meiner Immunität auch in der Lage, mich sehr leicht gegen suggestive magische Einflüsse zu wehren. Für mich war zum Beispiel der Dämonenvogel, der Mark ans Leder wollte, nur ein Schatten mit scharfen Konturen. Für mich war er durchsichtig, auch wenn sein Angriff so wirkungsvoll verlaufen war. Der Dämonenvogel war eine magische Manifestation, die mir niemals hätte schaden können. Aber Mark war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vom Schavall geschützt.«
»Du meinst, dieser Cardusch hat Mark den Schavall abgenommen, um ihn angreifbar zu machen?«, fragte May gebannt.
Tab schüttelte den Kopf. »Nein, May, das meine ich nicht! Cardusch gehört zur anderen Gruppe. Nennen wir sie erste Gruppe. Die zweite Gruppe bedient sich ganz massiv der Schwarzen Magie. Dahinter befindet sich eine große Macht. Die zweite Gruppe weiß, dass Mark nicht mehr durch den Schavall geschützt wird und wollte die Stunde nutzen.«
»Also unsere Erzfeinde: Magier und Dämonen! Vielleicht sogar Mitglieder der Schwarzen Mafia, hinter der, wie wir inzwischen wissen, niemand anderes als der Schwarze Adel steht. Obwohl die Schwarze Mafia eine relativ neue Organisation ist, an der auch viele Menschen beteiligt sind, müssen wir davon ausgehen, dass unser eigentlicher Feind Schwarzer Adel heißt. Denn den gibt es schon seit Jahrtausenden. Laut Mark war er selten auch nur annähernd so stark wie ausgerechnet heute.«
Tab winkte ab. »Es ist gleichgültig, ob die Organisation des Bösen dahinter steckt oder eine einzelne Gruppe.«