Das große Glück - Alex Gfeller - E-Book

Das große Glück E-Book

Alex Gfeller

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Beschreibung

Albrecht Dürer nannte seine Darstellung der griechischen Göttin Nemesis aus dem Jahre 1501 "Das Grosse Glück". Dieses Mal befasst sich Nemesis mit der Stadt Biel an der Schüss. Nur die Götter wissen, warum. Wahrscheinlich hat es mit der Städtischen Kehrrichtverbrennung zu tun.

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für Hermann Burger

Wie die böse Direktorin die Göttin Nemesis in der Gestalt ihrer rachsüchtigen Freundin Artemis aus dem kleinen, hellblauen Auto steigen sieht, das verzerrte Gesicht kotzgrün, die Augenhöhlen leer und schwarz, mit flatterndem Haargewürm und einem blutigen Büschel dampfender Stierhoden auf entblößter Brust, schreit sie erst einmal in akuter Panik auf; ihr durchdringend hohes Kreischen hallt gellend durch die ganze vierte Etage des Karpfens. Danach dreht sie sich blitzschnell um, rennt mit ausgestreckten Armen in ihrem flatternden, gelben Jackenkleid weg, verliert auf der kurzen Strecke bis zum Ende des Fahrbahn-Korridors ihre Handtasche und einen Schuh und stürzt blindlings über die Abschrankung aus billigem Plastikband vier Parkhaus-Stockwerke tief ins Leere.

Im versteckten, engen Hinterhof gegen die Schuss hin kracht sie rücklings auf den regennassen Motorfahrrad-Anhänger eines ahnungslosen Aushilfe-Postboten, der dort unten, vermeintlich fern aller neugierigen Blicke, soeben umständlich sein Gefährt abgestellt hat. Er hat sich auf seinem täglichen Rundgang wie jeden Morgen eine kleine Pause gönnen und sich in aller Ruhe einen Selbstgedrehten mit seinem liebevoll gezogenen Balkongras genehmigen wollen. Doch daraus wird jetzt wohl nichts werden, kapiert er sofort, denn die ältere Frau in ihrem grellgelben Kleid, die vor seinen Füßen quer über dem Anhänger auf dem Rücken liegt, ist mit gebrochenem Genick und Rückgrat mausetot.

Verblüfft kehrt Nemesis zu ihrem unscheinbaren, hellblauen Kleinwagen zurück, den sie sich erst vor drei Tagen angeschafft hat, schließt ihn ordnungsgemäß ab und geht vorsichtig über den von einer schweren Baumaschine schon gänzlich aufgehobelten Asphaltbelag hinweg, an der zerfetzten provisorischen Bauabschrankung, die im kräftigen Durchzug lautlos flattert, vorbei zur großen Öffnung in der schuppenartigen Milchglasfassade des neuen Parkhauses hinüber. Dort schaut sie vorsichtig, sehr überrascht und neugierig zugleich in den kleinen, versteckt gelegenen Hinterhof hinunter, wo das verhasste Weibsstück wie eine geknickte Kakerlake unvorteilhaft quer auf dem kleinen, plattgedrückten Postanhänger zu liegen gekommen ist.

Der bedauernswerte, versteinerte Postbote hat immer noch das brennende Feuerzeug in der einen und den kleinen Joint, den er sich heute Morgen vor Arbeitsantritt zärtlich gebastelt hat, in der anderen Hand und starrt verständlicherweise völlig sprachlos, verstört und käsebleich auf die unschöne, dunkelrote Blutlache vor seinen Füßen, die sich soeben unter den beiden jetzt ganz unfunktionell gespreizten Speichenrädern seines Anhängers langsam breit macht und sich mit den Regenpfützen auf dem unebenen Untergrund aus nachlässig verlegten Betonplatten vermischt.

Nemesis schaut sich verwundert das große Loch in der Fassade an. Die Arbeiter der heftig angegriffenen Erstellerfirma haben tags zuvor ausgerechnet an dieser Stelle die Milchglasfassade des neu erstellten innerstädtischen Parkhauses wieder entfernt und so eine übermannshohe Öffnung geschaffen, die vom Boden bis fast zur Decke reicht, um den Arbeitsplatz besser belüften und um den abgehobelten Asphaltabfall leichter wegschaffen zu können. Sie haben den erst neulich asphaltierten Boden genau dort, wo der breite Korridor zwischen den Parkreihen endet, schon halbwegs wieder aufgerissen, denn gestern sind hier endlich die in der örtlichen Tagespresse, das heißt, die im Beiler Tagblatt längst angekündigten, in vielen hämischen Leserbriefen teils erbittert und überaus kontrovers diskutierten, teils polemisch angeprangerten, jedenfalls schon seit langem lauthals geforderten, kostspieligen Nachbesserungsarbeiten in Gang gekommen, diese erst nach langwierigen juristischen Vorgeplänkeln beschlossenen, durch die Ersteller-Garantie indes vollauf gedeckten Korrekturarbeiten am überteuerten Neubau, lästiges Flickwerk auf Garantiebasis also, das allerdings ausgerechnet heute, an diesem kühlen, arbeitsfreien und regnerischen Samstagmorgen, ruhen muss.

Nemesis indes, immer noch in der vierten Etage des neuen Parkhauses, ist mit ihrem einfachen Vorgehen und dem unerwartet effizienten Ergebnis überaus zufrieden und wendet sich bald erleichtert um. Sie geht aufrecht, jetzt wieder in der Gestalt eines untersetzten, älteren Herrn mit Vollglatze, zu den neuen, noch ganz ungewohnt unverschmierten und unzerkratzten Aufzügen aus poliertem Aluminium und rostfreiem Edelstahl hinüber, drückt ohne zu zögern auf die Leuchttaste mit dem grünen Pfeil, der nach unten zeigt, und wartet geduldig. Sie hat keine Eile, und sie will nicht, dass später ein unerwünschter Zufallszeuge der Polizei zu Protokoll geben könnte, er habe an besagtem Samstagmorgen gesehen, wie sich eine überaus verdächtig wirkende Person, die überdies dem ehemaligen sowjetischen Staats-, Regierungs- und Parteichef Nikita Chruschtschow aufs Haar geglichen habe, eilig, geduckt und verschämt aus dem neuen Parkhaus verdrückt habe.

Die allseits bekannten, weil im Beiler Tagblatt genüsslich breitgeschlagenen, baubedingten und trotz vieler gegenteiliger Behauptungen durchaus vorhersehbaren Nachbesserungsarbeiten am Großen Karpfen haben Nemesis unverhofft geholfen, ihren ersten delikaten Auftrag auf unerwartet einfache Weise zu erfüllen. Einzig auf Grund hässlicher Belagsverformungen sind diese baulichen Korrekturen nötig geworden, hat das Tagblatt gestern geschrieben, hervorgerufen angeblich durch die ungewöhnlich intensive Sonneneinstrahlung und durch die starke Erwärmung in der unmittelbaren Nähe der durchaus kühnen, schuppenartigen Milchglasfassade auf der im Sommer zeitweise stark besonnten Südseite gegen den Schuss-Kanal hin, also gegen den kümmerlich mickerigen Fluss hin, der die kleine Doppelstadt Beil-Benne in zwei etwa gleich große Hälften teilt.

Die für das hässliche Gesamtbild des grauen Stacheldraht-und Zeitzünderzentrums entschieden ungewöhnliche Fassade der beiden englischen Stararchitekten mit ihren mittlerweile stadtbekannten violetten Pudeln, die sich bis über das versteckte Flachdach hinzieht, verleiht dem neuerstellten Parkhaus - allerdings nur von außen und aus einer gewissen Distanz betrachtet - tatsächlich den Anflug eines silbernen, mitten im belebten Stadtzentrum gestrandeten Riesenfisches, und die durch die Sonneneinstrahlung wellenartig aufgedunsene, also eindeutig beschädigte Zone am Ende des Fahrbahnkorridors ist ordnungsgemäß und korrekt durch übliche, signalfarbene Plastikbänder vom übrigen, vom stets eiligen Publikum bereits eifrig genutzten Teil des neuen Parkhauses deutlich sichtbar abgesperrt und somit klar und eindeutig erkennbar abgegrenzt worden, wie die polizeilichen Ermittlungen im Anschluss an den eher ungewöhnlichen Unfall schnell ergeben werden. Den Arbeitern der Baufirma kann also kein juristisch relevanter Vorwurf der Nachlässigkeit gemacht werden; allenfalls der abrupte, besonders bei direkter Einstrahlung der Morgen- und Mittagssonne unvermeidlich brüske Übergang von hell zu dunkel, respektive von dunkel zu hell im Bereiche des Korridors gegen die Glasfassade hin könnte unter ungünstigen Umständen, so der spätere, vielleicht etwas vorschnelle, aber ganz ausführliche Untersuchungsbericht, eine der möglichen Ursachen für die fatale Täuschung gewesen sein, die leider zum bedauerlichen, aber sturzeshalber unvermeidlichen Unfalltod der gewesenen, überaus verdienten Direktorin des „Beiler Instituts für forensische Euthanasie“, des BIFFE, geführt habe, starke Sonneneinstrahlung also, obschon jedermann weiß, dass gerade zu jener Zeit der Himmel seit Wochen grau verhangen war und es an besagtem Samstagmorgen zudem unablässig geregnet hat.

Nemesis hat sich also, nach ihrem überraschend kurzen, doch überaus wirksamen und vor allem erfolgreichen Auftritt als rachsüchtige und gerechtigkeitsbewusste Gottesübermuttergottes Artemis, ihrer vielleicht doch noch etwas mangelhaften und noch nicht ganz befriedigenden Vorstellung gemäß, lediglich in die vermeintlich bescheidene und unauffällige Person eines durchschnittlichen Stadtbewohners zurückverwandelt, in diejenige eines untersetzten, älteren, glatzköpfigen Mannes, eines ganz gewöhnlichen Rentners, der an diesem Samstagmorgen, wie viele hundert andere Rentner auch, seinen bescheidenen Kleinwagen im neuen, zentralen Parkhaus geparkt hat, um einkaufen zu gehen.

Ein normaler, alltäglicher Vorgang also; sie, Nemesis, also er, Chruschtschow, sei in dieser Gestalt, so hat sie zuvor ahnungslos gefunden, nicht nur unauffällig, sondern auch unverdächtig. Sie hat zudem nicht die kontraproduktive Absicht gehabt, diesen wenn auch etwas ungewöhnlichen, so doch recht banalen und eindeutigen Unfall der gelben Kakerlake vor den Untersuchungsorganen, die hier sicher bald eintreffen werden, wie ein Verbrechen aussehen zu lassen, denn das kann ganz bestimmt nicht im göttlichen Interesse gelegen haben. Die giftgelbe Glubschäugige sei einfach, dämlich wie sie nun mal in ihrer inhärenten Hysterie gewesen ist, über die unwirksame Absperrung gestürzt, wird man sich in den vielen Cafés der Stadt später genüsslich erzählen; sie habe sich im neuen Park haus einfach verlaufen, die blöde Kuh, habe sich in der Richtung geirrt, die schreckliche Tante, habe nicht mehr gewusst, wo sich der Ausgang befinde, die hässliche Torte, wird man hämisch annehmen; sie habe zwischen den Autoreihen die Orientierung verloren, habe die neuen, blitzblanken und noch ungewohnten, modernen Aufzüge am falschen Ende des Korridors gesucht, erklären die einen schadenfreudig, und jetzt sei sie halt mausetot, die furchtbare Schlampe, meinen die andern achselzuckend und betont beiläufig, doch nicht ohne erkennbare Schadenfreude. Schließlich sei ihr jetzt das zugestoßen, was sie längst verdient habe, finden dritte verschmitzt, jedoch ohne dies laut auszusprechen, versteht sich, denn das laute Sprechen hat man sich im Scheinland längst abgewöhnt, gerade als Arbeitnehmer, und dies völlig zu Recht, ebenso wie das unbedachte Äußern eigener Ansichten, sofern man welche hat und sofern sie sich nicht einwandfrei mit der Haltung der Freiheizlichen Bewegung treffen, denn zu groß ist die Zahl der Mitbürger, die einzig auf die Möglichkeit einer lukrativen Denunziation warten.

Der bedauernswerte Aushilfe-Postbote indes, der einzige Zufallszeuge des Geschehens, ein braver und fleißiger Astrophysik- und Philosophiestudent im späten achtzehnten Semester, der zur ambulanten Schockbehandlung vorsichtshalber in Polizeigewahrsam genommen worden ist, wird bald einmal als ein in flagranti ertappter Drogenproduzent und Drogenkonsument in einen schweren und schier ausweglosen Erklärungsnotstand geraten, das arme Schwein. Das hat man davon.

Zwei alte Männer haben Nemesis gestern, als sie beim Frisör gesessen ist und sich hat rasieren und kopfmassieren lassen, zwar bereits ganz indiskret darauf hingewiesen, dass sie, also er, exakt wie der längst historisch gewordene Nikita Sergejewitsch aussähe, untersetzt, sinnlich, goldzahnig, stämmig, lebenslustig und markant glatzköpfig, also vital wie ehedem. Aus einer sehr abgelegenen Gehirnwindung muss Nemesis dieses ungewohnte Bild unbewusst hervorgenommen haben, als sie sich seit langem wieder einmal in eine sterbliche Person verwandelt hat, nur um sich diesen billigen, hellblauen Kleinwagen auf Pump beschaffen zu können. Dass dieser weltberühmte, aber längst verstorbene Sterbliche vielen alten Leuten auch in diesem doch recht abseitigen Land immer noch in Erinnerung ist, hat sie allerdings nicht gewusst und auch nicht ahnen können. Wie auch?

Doch sie beschließt nach kurzer Überlegung, diesem urkomischen Umstand, wie Nikita Sergejewitsch Chruschtschow auszusehen, keine besondere Bedeutung beizumessen, denn es muss ja jedermann sofort klar sein, dass dieser kleine, dicke Mann, der wie Chruschtschow aussieht und der soeben auf seinen kurzen, dicken Beinen zügig ins Straßencafé gegenüber dem neuen Parkhaus schreitet, um endlich in Ruhe die örtliche Tageszeitung lesen und einen Kaffee trinken zu können, gewiss nicht der ehemalige, schlaue und cholerische, muntere und stets hellwache sowjetische Staats-, Polizei-, Geheimdienst-, Militär-, Partei- und Regierungschef mit dem schüchternen, halbherzigen, völlig wirkungslosen und deshalb sehr russischen Reformwillen sein kann. Er ist ja, wie gesagt, längst verstorben, obwohl man natürlich nie genau wissen kann, ob diese Typen nicht doch in einer schönen, alten Villa am Schwarzen Meer oder gar in einer schicken Seniorenresidenz im sonnigen Florida drüben völlig unerkannt, weil gesichtsbereinigt, eine ruhige Kugel schieben und somit die Weltgeschichte weiterhin gründlich verarschen.

Sollte ich zur Sicherheit vielleicht das Auto wechseln? fragt sich Nemesis plötzlich, und, überrascht von diesem Gedanken, schaut sie, immer noch als alternder, bereits etwas nackensteifer Chruschtschow, über die randlose, halbrunde Lesebrille von ihrer Zeitung, dem Beiler Tagblatt (viele Beiler sagen zu ihrem freiheizlichen Käseblatt abschätzig „Beiler Kackblatt“), der einzigen Tageszeitung in der kleinen Stadt, hoch. Sie denkt immer noch an die unmittelbar bevorstehende polizeiliche und vielleicht auch labortechnische Untersuchung des ungewöhnlichen Vorfalls, schaut unschlüssig durch die Regenschauer zum Fenster hinaus über die Straße zum Parkhaus hinüber, und sie guckt sich in ihrer Liebe für schöne Autos voller Neid und Bewunderung ein schickes Coupé der Luxusklasse aus, einen eleganten Ferrari 599 GTB, gefahren von einer stadtbekannten, sehr erfolgreichen Edeldomina, ein feuerrotes, sauteures und sauschnelles Gefährt, das soeben mit viel Schwung in den frisch geteerten Einfahrtsbereich des Karpfens mit den leuchtend weißen Bodenmarkierungen einbiegt.

Im gleichen Augenblick hört man schon von weitem die schrillen Signalhörner von Polizei, Feuerwehr und Ambulanz, die mit einer etwa viertelstündigen Verspätung am Ort des Geschehens auftauchen. Doch wo ist jetzt das rote Sportcoupé hingefahren? Nemesis legt zögerlich die aufgeschlagene Tageszeitung hin, beugt sich weit vor, blickt sich ratlos um und späht schließlich angestrengt durch die regennassen Schaufensterscheiben auf die belebte Straße hinaus.

Dies ist exakt dasselbe, was soeben, wenn auch eine Spur aufgeregter, alle übrigen Gäste im recht gut besetzten Frühstückscafé auch tun. Sie sind zum Teil sogar beunruhigt aufgestanden, sind zu den hohen, gardinenlosen Fenstern geeilt und müssen sich nun über das ungewohnte und auffällig laute Geschehen auf der gegenüberliegenden Straßenseite wundern. „Waz mag nur pazziert zein?“ fragen sich alle erschrocken und aufgeregt. „Izt im neuen Parkhauz womöglich etwaz eingeztürzt?“ „Eine Zwizchendecke?“ „Izt ein Treppenhauz eingebrochen?“ „Izt ein Aufzug abgeztürzt?“ „Izt die zchwere Milchglazfazzade nun doch heruntergefallen, wie manche befürchtet oder gar prophezeit haben?“ „Aber nein! Zie zteht ja noch!“ „Waz izt ez dann?“ „Izt ez vielleicht die Fazzade auf der Rückzeite gegen die Zchuzz hin, dort, wo die Bauarbeiter daz Loch für die Baumazchinen und den Zchutt gemacht haben?“ „Waz könnte denn zonst noch Zchrecklichez gezchehen zein?“ „Oder izt daz Ganze nur eine kombinierte Rettungzübung von Polizei, Feuerwehr und Zanität?“

Niemand könnte sich jetzt vorstellen, dass ausgerechnet der kleine, ältere, dicke, unscheinbare, glatzköpfige Gast, der zudem als einziger im Café nicht sichtlich überrascht ist, genau weiß, was auf der gegenüberliegenden Straßenseite abgeht. Auch er hat seine Zeitung hingelegt und ist mittlerweile wie alle andern aufgestanden und zu den Fenstern hinübergegangen, und auch er schaut jetzt, wie alle anderen Gäste, gespannt nach links und nach rechts. Er will jedoch nicht wissen, was Polizei, Feuerwehr und Ambulanz hier machen, sondern sucht vergeblich den auffälligen Ferrari, der ihm so gefallen hat. Doch das Objekt seiner Begehrlichkeit ist nirgendwo zu sehen; es ist spurlos verschwunden, respektive vom Karpfen verschluckt, nimmt er an. Es ist aber auch möglich, dass die eilig herbeilaufenden, ungewohnt aufgeregten Polizisten, die den längst heillos ins Stocken geratenen Verkehr vor der Parkhaus-Einfahrt umständlich umzuleiten versuchen, damit die roten Feuerwehr-, die weißen Ambulanz- und die blauen Polizeifahrzeuge endlich freie Zufahrt haben, den schönen Ferrari haben wegweisen müssen, ohne dass es Nemesis bemerkt hat. So ein attraktives Fahrzeug wie diesen eleganten Renner wird sie hier nie wiederfinden, bedauert sie, denn nur zu gerne hätte sie das rasante Fahrzeug unter anderen, ruhigeren, also günstigeren Umständen unauffällig an sich genommen.

Sie hat nun mal eine antikgriechisch gesehen völlig unkorrekte Schwäche für schöne und schnelle Autos, auch wenn dies heutzutage, wo man den Personenkraftwagen leichterdings die ganze Schuld am schleichenden Untergang der Welt geben kann, nicht mehr ganz einwandfrei sein mag. Ein Wermutstropfen bleibt ihr: Aus Sicherheitsgründen kann sie es sich nicht mehr gestatten, im Parkhaus nach ihrem eigenen Auto Ausschau zu halten, glaubt sie zu wissen, denn das ungewöhnliche Gebäude wimmelt jetzt natürlich von Polizisten aller Art, die zudem sicher alle Personen und alle geparkten Wagen systematisch überprüfen werden, vor allem auf der vierten Etage. Die städtische Liegenschaft wird zudem von jetzt an bestimmt Tag und Nacht überwacht werden, und deshalb muss sie sich als erstes nach einem neuen Auto umsehen, findet sie aufgeräumt.

Die grellgelb gekleidete Direktorin ist bereits mausetot gewesen, noch bevor Nemesis sie im Halbdunkel des Mittelkorridors mit einer großen, glühenden Zange hätte erwürgen können, was sie ursprünglich vorgehabt hat, und sie erinnert sich der eigenartig geschliffenen Gläser der randlosen Brille, welche die wässerigen, blassblauen, vor Falschheit strotzenden Augen der giftgelben Ex-Direktorin und Ex-Diktatorin grotesk vergrößert haben. Genau so, also mit diesem wässerig-kalten, ausdruckslosen Blick, hat sie jeweils leidenschafts-, gnaden- und wortlos ihre Opfer über den breiten, hässlichen Kunststoff-Schreibtisch hinweg gemustert, bevor sie die bedauernswerte Person hat verheizen lassen, wie eine Giftschlange, die gelassen auf den unausweichlichen Tod ihres Opfers wartet, nachdem sie blitzschnell und fast beiläufig ihren tödlichen Biss angebracht hat.

Es ist nicht auszuschließen und auch nicht undenkbar, dass sie in ihrer schrankenlosen Machtbesessenheit ein stets ver heimlichtes und allenfalls vehement abgestrittenes Vergnügen daran gefunden hat, Herrin über Leben und Tod zu sein. Als Direktorin des örtlichen Instituts für forensische Euthanasie ist sie eine wahre und effiziente Meisterin der psychologischen Kriegsführung geworden, die an ihrer delikaten Aufgabe zudem sichtlich gewachsen ist. Ihr angeborener, bösartiger Intrigenreichtum hat ihr dabei immer einen uneinholbaren Vorsprung gegenüber ihren wehrlosen Opfern verschafft. So hat sie unzählige Menschenleben ohne jede Gewissensbisse zerstört, hemmungslos, uneinsichtig und selbstgerecht, zum Ruhme ihres eigenen Lebenswerkes, des BIFFE, und somit ihrer selbst, und sie ist dabei in ihrer ganzen Gier nach Macht immerzu unersättlicher geworden.

Ein typischer Fall von weiblicher Hysterie, hat auf Anfrage Hippokrates achselzuckend gemeint, also ein eindeutiger Fall von klimakterischer Uteruswanderung (Hystera!), denn diese ihre Machtbesessenheit wiederum müsse ihren Ursprung in einem perfiden Racheakt gehabt haben, in einer verspäteten Rache der bösartigen Tochter an ihrer warmherzigen Mutter, der liebenswürdigen Frau Bankdirektorin selig. Als einzige habe diese ihre hasserfüllte und unersättliche Brut, ihre undankbare Tochter also, jemals zu mäßigen und zu beschwichtigen versucht. Doch die Tochter, ehedem per Geburtszange aus dem gequälten Mutterleib gezogen, soll, der Tochter eigener Einschätzung gemäß, schon als Kind nie gekriegt haben, was sie eigentlich hätte kriegen müssen und was ihr als Tochter eines Bankdirektors zugestanden hätte, nämlich stets angemessen, al-so ausreichend Taschengeld, dazu ein schickes, weißes Kabriolett, sowie einen ausgesucht attraktiven, maskulinen Freund aus der gleichen gesellschaftlichen Klasse wie sie selber, der aber hätte Gitarre spielen und singen können müssen, womit sie bei ihren damaligen Klassenkameradinnen hemmungslos hätte auf-schneiden können. So sah damals ihr ehrgeiziges, doch nie verwirklichtes Teenager-Programm aus, und jetzt rächt sie sich dafür an der ganzen scheinländischen, also beil-bennerischen Gesellschaft, und dies mit der ihr eigenen Effizienz.

Wenn die giftig Glubschäugige also jemals etwas beherrscht hat in ihrem verdorbenen Leben, dann ist es das Machtspiel in all seinen Unterspielarten gewesen, das sie schon als ungezo genes Kind an ihrer eigenen, geplagten Mutter ausführlich geschult hat. Sie ist schon immer eine Meisterin des Druckmachens und Unter-Druck-Setzens gewesen, und niemand im ganzen Institut für forensische Euthanasie, ja, niemand in der ganzen Stadt hat die hohe Kunst, Unschuldige derart gnadenlos gegeneinander auszuspielen, so dass ihnen anschließend der eigene Tod wie eine erlösende Belohnung oder wie eine unverdiente Vergünstigung vorgekommen ist, derart perfekt beherrscht wie sie selbst. Eine mustergültige Machiavellin.

So hat sie auch die Lautersten unter ihren Opfern innert kürzester Zeit spielend zur Verzweiflung und somit in ihr Institut zur finalen Elimination und energetischen Umwandlung bringen können. „Weibliche Tücke“ hätte man unter anderen Umständen diese äußerst zweifelhafte Begabung verharmlosend nennen mögen, wenn diese wahrhaft wenig erfreuliche charakterliche Veranlagung nicht weit über jede bekannte weibliche Tücke Sterblicher hinausgegangen wäre. Die furchtbare Frau ist in der Tat nur mörderisch gewesen, und dieser wahrlich ekelerregende Umstand hat denn auch den Entscheid der Götter, allen voran der Göttermutter Artemis, der Rachsüchtigen, diese schandbare Figur umgehend aus ihrem Angesicht, also vom Globus und somit vom Orbis terrarum, vom Antlitz der Erde zu entfernen und somit endgültig zu beseitigen, enorm erleichtert.

Kopfschüttelnd muss man in der Götterwelt zur Kenntnis nehmen, welch unheimliche Folgen menschliche Bösartigkeit haben kann, denn die meist schicksalshaften, oft unübersehbar gewordenen Folgen menschlicher Dummheit sind, so weiß Nemesis, enorm nachhaltig, heute erstaunlicherweise mehr denn je, und man kann sich über den verheerenden, gänzlich unüberschaubar gewordenen, tödlichen Einfluss, den zum Beispiel die gelbe Kakerlake auf ihre geplagte und geschundene Umwelt ausgeübt hat, eigentlich nur wundern. Dass der giftgelbe Dreck aber auf das zugegebenermaßen etwas ungewöhnliche Erscheinen von Nemesis in der Gestalt von Artemis derart hysterisch reagieren würde, ist ganz gewiss nicht zu erwarten gewesen, findet sogar Nemesis selbst, und dass sie im Parkhaus keinen Finger hat rühren müssen, um ihren allerersten göttlichen Auftrag zu erledigen, hat sie weder ahnen, noch voraussehen kön nen, auch wenn sie jetzt durchaus zufrieden mit dem Ergebnis ist. Als kahlhäuptiger Chruschtschow findet sie sich hier an ihrem bequemen Fensterplatz im Frühstückscafé wieder, und sie hat gewiss nicht die Absicht, die angenehme Örtlichkeit so bald wieder zu verlassen.

Gelb ist die Farbe bösartiger Insekten; Wespen tragen Gelb und reagieren heftig und aggressiv auf Gelb, und auch die gelbe Direktorin hat zweifellos ihren giftigen Stachel besessen, den sie überall und jederzeit hemmungslos eingesetzt hat, wenn es um die Durchsetzung ihrer ehrgeizigen Pläne und eigensinnigen Ziele gegangen ist. Sie hat immer vorgegeben, „mit Leib und Seele“, „Tag und Nacht“ und „zweihundertprozentig“ einzig im Dienste des BIFFE zu stehen und durch all ihr Tun und Lassen ausschließlich dessen technisches und wirtschaftliches Vorankommen durch eine stete Steigerung der städtischen und außerstädtischen Sterbe- und Selbstmordwilligkeit unter den überflüssigen Teilen einer überalterten und überteuerten Bevölkerung zu befördern.

All ihre überaus gefügigen Mitarbeiter, also all die naturgemäß massiv eingeschüchterten Arbeitnehmer und Angestellten im BIFFE, wollen es jetzt plötzlich längst gewusst haben, jetzt, nachdem sich die sensationelle Nachricht vom rapiden Abgang der gefürchteten Vorgesetzten in Windeseile in der ganzen Stadt verbreitet und auch bestätigt hat. Sie wollen den gewaltsamen, doch durchaus erfreulichen Tod ihrer äußerst unberechenbaren und abgrundtief verhassten Vorgesetzten sogar vorausgesehen haben, wie gesagt, ohne diese Vermutung jedoch jemals laut auszusprechen gewagt zu haben, versteht sich, denn dies ist nicht das Land, wo man sich die Wahrheiten einfach ins Gesicht sagen darf, ohne mit langfristigen, schlimmen Spätfolgen rechnen zu müssen.

„Zie hat ihre Ztrafe bekommen“, nuscheln die Leute deshalb erleichtert auf den abgeschlossenen Klosetts und Pissoirs, Räuspern sich dazu bedeutsam hinter dünnen Trennwänden, um ihre Rede zusätzlich zu verundeutlichen, pissen erleichtert ihre Blasen leer und scheißen genussvoll ihre Därme aus.

„Ztrafe muzz zein“, murmeln sie achselzuckend. „Zie hat zwar daz BIFFE aufgebaut und zu dem gemacht, waz ez heute izt, einverztanden, aber daz war’z auch zchon.“

Das ist völlig richtig: Das einzige Fortkommen, an welchem der bösartigen Glubschäugigen jemals wirklich und wahrhaftig gelegen hat, ist ausschließlich ihr eigenes Fortkommen gewesen, auch wenn sie in der Öffentlichkeit immerzu das Fortkommen des BIFFE, ihres angeblich großen Lebenswerkes, in den Vordergrund geschoben hat. Zum einen hat sie jahrelang, wie alle wichtigen Entscheidungsträger, von allen Seiten ganz banal und steuerfrei massive Zusatz-, Überschuss-, Schweige-, Schmiergeld- und Benefizzahlungen von geradezu unglaublicher Höhe kassiert (man spricht von immerhin 500 Millionen insgesamt, unterste Schätzung), sowie reichlich Schwarzzahlungen aus allen Teilen und Sparten des Scheinlandes, des „Landes des falschen Lachens“, wie man im Ausland sagt, entsprechend des von ihrem raffgierigen Vater, des alten Bankdirektors ererbten Zwanges, sich in äußerlich klaren und reinen, also unbeschmutzten Zahlenreihen von geheimen Kontoabrechnungen positiv bestätigt sehen zu dürfen, ein weit verbreiteter Zwang übrigens, geboren aus einem heftigen und überaus ungesunden Geltungsdrang, der stets in einen Rechtfertigungs- und Beweiszwang auf unwiderruflicher Zahlenbasis hinaus läuft.

Zum andern ist das auch bei ihr ganz einfach numerischer Ausdruck einer schweren moralischen und emotionalen, jedenfalls psychischen Mangelerscheinung gewesen, und zudem ist die Direktorin im Parkhaus, so sagt sich Nemesis im Nachhinein mit einer gewissen Erleichterung, ja ganz freiwillig in ihr eigenes Verderben gelaufen, ohne äußeren Druck, auf ihren eigenen Beinen, denn unaufgefordert, also ohne jede verbale Nötigung oder körperliche Gewalteinwirkung, ist sie allein beim zugegebenermaßen furchteinflößenden Anblick von Nemesis als Artemis, der Rächenden, also beim bloßen Anblick dieser furiosen und furibunden Artemisgestalt, sofort entschlossen ins Leere gerannt und blindlings ins Nichts gesprungen, als hätte sie geahnt, dass sie einer griechischen Rachegöttin gewiss nicht gewachsen ist, doch ohne für einmal auch nur eine einzige Sekunde lang überlegt, abgewiegelt oder sonstwie gezögert zu haben, gerade so, als hätte sie genau gewusst, was sie jetzt erwartet.

Sie hat also für ihre grenzenlose Bosheit in unkontrollierter Hysterie mit ihrem eigenen Leben bezahlt, und das ist gut so, findet Nemesis zufrieden, denn allein darin liegt bereits ausreichend gerechte Vergeltung, stellt sie zudem als Göttin der gerechten Vergeltung befriedigt fest, zum Glück und zur Erleichterung für die gesamte Menschheit, wenn auch nur von derjenigen hier in diesem schäbigen Beil-Benne, in diesem düsteren Industrie- und Sündenkaff mit dem pompösen, offiziellen Namen „Beil an der Schuss und Benne-les-Bains und Umgebung“, doch als klarer Ausdruck einer einmaligen und definitiven göttlichen Abrechnung, also aus reiner Göttlichkeit.

Im großen und durchaus eindrücklichen Gebäude gegenüber, im silbern schimmernden Parkhaus, im Karpfen also, scheint sich die Lage inzwischen zu beruhigen. Die Polizisten rollen die signalroten Absperrbänder wieder ein, die vielen Ambulanzen, die Feuerwehr- und die Polizeifahrzeuge stellen ihre schrillen blauen, roten und gelben Dreh- und Blinklichter endlich ab und verziehen sich, und das Parkhaus mit seiner milchgläsernen Fassade ist für die ganz normale Samstagmorgen-Nutzung endlich wieder geöffnet, wie man auf einer großen, elektronischen Tafel über der Einfahrt lesen kann und was jetzt vom Publikum zur besten samstäglichen Einkaufszeit wie vorgesehen emsig genutzt wird. Viele Fahrzeuge fahren bereits wieder ununterbrochen ein und aus; ein gewohntes, markant hektisches und gleichzeitig zögerliches Kommen und Gehen wie an jedem Samstagmorgen, der wie überall auf der Welt von vielen Leuten fürs wöchentliche Großeinkaufen genutzt wird.

Nemesis, immer noch in der unauffälligen Gestalt von Nikita Chruschtschow, beschließt ganz spontan, sicherheitshalber das Auto zu wechseln. Das kann, objektiv gesehen, allerdings nur ein Vorwand sein; in Tat und Wahrheit will sie dies nicht unbedingt aus Sicherheitsgründen tun, sondern vielmehr aus Langeweile und aus Neugier. Das kleine, blaue Auto im vierten Stock oben will sie einfach stehen lassen, auch wenn dies viel auffälliger sein wird, als es von dort möglichst schnell wieder wegzuholen. Die spontane Absicht zeugt also von wenig Sicherheitsbewusstsein, muss man annehmen, denn spätestens in zwei oder drei Tagen (oder auch erst in zwei oder drei Wochen) wird die vollelektronische Parkhaus-Überwachung auf den hellblauen, bereits leicht verstaubten, fabrikneuen Kleinwagen aufmerksam werden; jedenfalls wird man das vergesse ne oder verlassene Fahrzeug mit Sicherheit polizeilich kontrolliert aufschließen, wird es juristisch einwandfrei aufbrechen und routinemäßig nach verräterischen Fingerabdrücken, Speichelproben, Faserresten, Spermaspritzern, Straßendreck und Ähnlichem absuchen, wird jedenfalls alles daran setzen, den Besitzer des Wagens ausfindig zu machen, und man wird somit schnell merken, dass dieser rätselhafte Besitzer unbekannt, ja, geradezu inexistent ist.

Griechische Götter haben von ihrem ganzen Naturell her ein wenig profiliertes Sicherheitsbewusstsein, und die Vorsicht ist gewiss nicht ihre ausgeprägteste Eigenschaft, muss man wissen; sie haben ja als Götter zum Glück nichts zu befürchten, rein gar nichts, weil sie eben unsterblich sind.

Die überaus wandelbare Nemesis, ergo Chruschtschow, steht also auf, bezahlt ihre vier Tassen Kaffee, die sie im Verlaufe der letzten beiden Stunden konsumiert hat, rollt die Zeitung korrekt zusammen, legt sie ordentlich in den Zeitungsständer zurück und geht danach achtsam und aufmerksam in den Karpfen hinüber, wo sie am Automaten erst mal ihr Parkticket ordnungsgemäß einlöst und den Betrag in lauter kleinen Münzen einwirft. Darauf fährt sie mit dem neuen, leisen Aufzug angenehm schnell hoch, allerdings nur bis ins zweite, statt bis ins vierte Geschoss, wo ihr Kleinwagen steht. Sie guckt sich sehr schnell einen geräumigen und sehr komfortablen Oberklassewagen aus. Kleinwagen sind zwar in der Tat klein und unauffällig, aber sie sind recht unbequem und ziemlich eng, ganz abgesehen von der bescheidenen Motorenleistung, findet Nemesis jetzt abschätzig, ausgerechnet sie, die sie ja als der ehemalige, breit gebaute Staats- und Parteivorsitzende Chruschtschow bekanntermaßen an schwere, schwarze Staatslimousinen mit geklöppelten Vorhängen und gepanzerten Scheiben, extra dicken Blechen, schweren Schnurtelefonen und steifen Wimpeln gewöhnt ist. Deshalb gratuliert sie sich zufrieden zu ihrem neuen Automobil, das sich überdies überraschend leicht fahren lässt, viel leichter jedenfalls als der billige Kleinwagen, den sie jetzt innerlich endgültig aufgegeben hat und dem sie in keiner Weise nachtrauert.

Der ständige Gedanke an den untersetzten, cholerischen, russischen Goldbezahnten fällt ihr allerdings als unübersehbare historische Hypothek langsam schwer, und so beschließt sie bereits an der Ticketschranke, also noch vor der Ausfahrt aus dem Parkhaus, eine diesem Wagentyp angemessene und angepasste äußere Erscheinungsform anzunehmen. Somit fährt sie gleich anschließend in der beeindruckenden Gestalt einer eleganten und äußerst gepflegten Dame aus der hiesigen, sehr dünnen Oberschicht, also in der Gestalt einer Industriellengattin aus dem örtlichen Zeitzündermilieu aus dem neuen Parkhaus und markiert somit gekonnt eine dieser wohlhabenden Personen, die soeben vom Großeinkaufen nach Hause in ihr diskret abgelegenes Villenviertel hoch oben am dicht bewaldeten Schorihang zurückfahren will, an den sich die graue Stadt etwas müde lehnt, in eines dieser kleinen, schicken, gut bewachten Garten- und Villenviertel, die nur ganz knapp unterhalb, manchmal aber doch knapp oberhalb der ständigen Nebelgrenze in einem alten Bergbuchen-, Zwergeichen- und Haselnusswald voller Eichhörnchen, Wiesel, Bergfinken, Haselmäuse, Eichelhäher, Füchse, Igel, Krähen, Dachse, Siebenschläfer und Hasen gelegen sind.

Solcherart steuert Nemesis den neuen Wagen unter der gehobenen Schranke hindurch ins Freie und gleich in den lebhaften Stadtverkehr hinein, der zu dieser Zeit, da es bereits gegen Mittag geht, ganz deutlich zugenommen hat. Sie muss sich jetzt gedanklich von der giftgelben Kakerlake abwenden, denn sie hat noch viel zu tun. Sie habe heute noch viel vor, redet sie sich ständig ein, genau so, wie dies Gattinnen reicher Industrieller unablässig tun, obschon sie in Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun haben.

Doch Nemesis selbst hat tatsächlich viel vor, und sie muss sich allmählich sputen, denn sie muss noch dreizehn oder vierzehn nach den artemisischen Prinzipien ausgesuchte Individuen göttlich bestrafen, genau hier in dieser so grauenhaft langweiligen Industriestadt am Fuße der dunkelgrün gewellten Schorihügel.

Bei dieser unbedeutenden Doppelstadt, in welcher wir uns gegenwärtig befinden, handelt sich um eine der vielen kleinen, landestypischen Industrie- und Bankenstädte, um einen aus zwei allerdings recht unterschiedlichen Teilen bestehenden und deshalb – typisch scheinländisch – seit jeher leicht schizophre nen Ort, nämlich um das fleißige Beil und das lasterhafte Benne. Beil ist der geschäftliche und industrielle Teil mit einem ausgeprägten Bankenviertel, einem geradezu ungesund fleißigen Handwerksviertel und einer alteingesessenen, traditionsreichen Großindustrie, während Benne mit seinen vielfältigen Hotels, Casinos, Bädern und Bordellen vorwiegend und fast ausschließlich den lokalen, regionalen und überregionalen Vergnügungen dient.

Grenzenloser Industriefleiß neben der maß- und schrankenlosen Sünde: Diese bemerkenswert deutliche Auf- und Zweiteilung hat ihre wirtschaftlichen Ursachen, ihre psychologischen Zwänge, ihre historischen Wurzeln und ihre sozialen Hintergründe, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen, weil uns diese Phänomene längst nicht mehr interessieren. Kurz, bei der Doppelstadt Beil-Benne handelt es sich um einen erschreckend phantasielosen, zu billig und zu schnell gebauten Ort ohne jeden Reiz und Charme, ohne jede Sehenswürdigkeit zudem, ohne alle Kultur und ohne nennenswerte Geschichte, wenn man von den zahllosen Großbordellen, den teuren Absteigen, den vielen Spielcasinos, den unübersehbaren Massagesalons, den zweifellos mehrdeutigen Bädern, Pools und Kontaktbars, den Swingerklubs und gemischten Saunen und den mehr als zwielichtigen Dancing-, Varieté- und Kabarett-Betrieben mal absieht. Es ist in Wahrheit ein geradezu tödlich ödes Kaff ohne jeden Tiefgang inmitten dieses quälend freudlosen Scheinlandes, in einem vom übrigen Europa völlig isolierten Territorium ohne besondere oder gar herausragende geistige oder kulturelle Eigenschaften, Merkmale oder Fähigkeiten, in einem überaus engherzigen und egoistischen, politisch abgesonderten und von der übrigen Welt vorsätzlich gemiedenen und bereits vergessenen, winzigen aber ausnehmend bösartigen Binnenland ohne Stil, Klima, Kultur oder Geschichte, kurz, in einem Land ohne Götter. Das ist der Punkt.

Genau diese unattraktive Kleinstadt also, diese beliebig austauschbare, plan- und charakterlose, billige Häuseransammlung ohne authentische Vergangenheit, bedeutungsvolle Gegenwart oder nennenswerte Zukunft, diese überaus hässliche Durchschnitts-Stadt der kulturellen Wüste und des industriellen Zufalls, also des ausschließlichen Geldverdienens, bezeichnet sich selber in ihrer vollmundigen Eigenwerbung seit neuestem als „Stadt des Gesprächs“, weil hier wegen der zentralen Lage und einer zwanzigjährigen Steuerbefreiung seit einigen Jahren drei sich moderat konkurrenzierende Telefongesellschaften ansässig geworden sind und im Bahnhofsviertel ihre steuergünstig gelegenen Hauptsitze eingerichtet haben, von wo aus sie sich eher spaßeshalber einen bescheidenen, nicht allzu ruinösen Preiskampf in diesem kleinen Hochpreisbinnenland liefern, wenn wir mal von all den reichen Steuerflüchtlingen absehen, die auf einer der vielen hiesigen Privatbanken ihr ganzes Geld vor ihrem eigenen Fiskus verstecken, nebst all den obskuren Geldern aus aller Welt, die aus ganz bestimmten, doch ungenannten Gründen so oder so versteckt werden müssen, ganz außerordentlich enorme Summen indes, von denen tunlichst niemand etwas wissen darf, noch wissen soll, aus Gründen also, die uns besser nicht interessieren sollten, wenn uns an unserer eigenen Existenz etwas liegt, in einem wirtschaftlich ungewohnt milden, ruhigen und vor allem rechtlich abgesicherten Umfeld, wo sich richtige Preiskämpfe, sowie andersartige Auseinandersetzungen gar nicht erst lohnen.

Von Gesprächen oder Ähnlichem, was Interaktionen Sterblicher ansonsten zu prägen pflegt, ist allerdings weder in dieser Stadt, noch in diesem Land etwas zu spüren. Ganz im Gegenteil: Sowohl auf den ersten, als auch auf den zweiten Blick beschleicht die unvoreingenommene Beobachterin das äußerst unangenehme und reichlich verstörende Gefühl, einer ungewöhnlich verschlossenen, unfreundlichen und abweisenden, ja hinterhältigen Bevölkerung ausgesetzt zu sein, und die irritierende Gewissheit macht sich breit, dass man sich in einem Land befindet, wo man nicht nur völlig unerwünscht ist, sondern wo aus unverständlichen Gründen alle Bewohner einander pausenlos zu hassen scheinen. Ist es Neid? Geiz? Missgunst? Eifersucht? Habgier? Argwohn? Ist es Kleinkariertheit, oder ist es einfach nur ganz gewöhnliche Bosheit? Schwer zu sagen, wirklich schwer zu sagen; jedenfalls ist das bemerkenswert angespannte Klima unter seinen Bewohnern für Außenstehende doch sehr gewöhnungsbedürftig.

Nemesis selber, die als weitgereiste Göttin wirklich viele einzigartige Städte in vielen großartigen Ländern überall auf dieser vielfältigen Welt kennen und schätzen gelernt hat, ist bislang noch nie eine so bedeutungslose Kleinstadt, noch nie eine so schäbige und von der menschlichen Entwicklung derart vergessene Ortschaft auf einem so verlorenen Flecken des Globus untergekommen, wie sie das kümmerliche Beil-Benne darstellt; nirgendwo gibt es ihres Wissens mehr unfreundliche, träge, verschlossene, unbewegliche, abweisende, misstrauische, abgestumpfte, feindlich gesinnte, hinterhältige, unhöfliche und mürrische Bewohner an einem Haufen zu sehen, als ausgerechnet hier, in dieser grämlich-grauen Nebelstadt, die vorwiegend und fast ausschließlich vom Export von Stacheldraht und von der Massenproduktion von Zeit- und Aufschlagzündern aller Art lebt, sowie von den weltbekannten Army Knifes und Offiziers-Kugelschreibern, die angeblich einen Atomschlag von bis zu 50 Megatonnen aushalten können sollen, ganz abgesehen vom extrem dominanten, exorbitant lukrativen Bankengeschäft, versteht sich, das sich indessen seit jeher still, diskret und unauffällig im Hintergrund zu halten beliebt, so dass es selbst hier in diesem doch recht ausführlichen Bericht kaum Erwähnung finden wird.

Die sauertöpfischen und ungastlichen Einwohner haben es sich in diesem „freiheizlichen und demokrazischen“ Klima längst angewöhnt – und haben es auch seit langem verinnerlicht – einfach mehr oder weniger konsequent den Mund zu halten, auch wenn sie in ganz seltenen Ausnahmefällen vielleicht tatsächlich etwas zu sagen oder zu vertreten hätten – wenn überhaupt. Sie bringen normalerweise kein persönliches Wort über die stets verkniffenen Lippen, und zwar, wie schon erwähnt, aus purer Angst, ungewollt etwas Falsches, Missliebiges, Schädliches, Unerwünschtes, Unpassendes, Unangenehmes oder auch nur Auffälliges zu sagen und anschließend unweigerlich von Hunderten von Nachbarn, Arbeitskollegen, Bekannten, Verwandten oder Vorgesetzten denunziert und von der Polizei, einem traditionell überaus vitalen Zweig dieses ausgeprägten Überwachungsstaates – politisch anfänglich und ursprünglich nur eine banale, winzige Militärdiktatur, übrigens auch heute noch, jetzt aber reichlich veraltet, verblödet und dementsprechend morbid – oder gar von der auch in Friedenszeiten überraschend aktiven und einflussreichen Militärpolizei behelligt zu werden, denn selbst militärische Stand- und Sondergerichte, außerhalb jeglicher Legalität stehend, funktionie ren hier unverständlicherweise immer noch bestens, also auch im tiefsten Frieden – es ist nicht zu fassen. Oder sie werden von einem der zahllosen hiesigen Geheimdienste überwacht, oder gleich von mehreren, welche die anonyme Denunziation mangels richtiger Feinde zu ihrem einzigen und wichtigsten Geschäftsprinzip erhoben haben.

Man wird als grundsätzlich unfreier und deshalb auch unfroher Bürger dieses in seiner selbstgewählten, irrationalen Isolation völlig verdorbenen und verklemmten Landes selbstverständlich ständig überwacht, von der Wiege bis zur Bahre, wie man sagt, von der Mutterbrust bis ins IFFE, zunächst von der Polizei oder von einer dieser vielen äußerst vitalen Geheimpolizeien, einschließlich mehrerer halbprivater, privater und ganz privater Geheimdienste und geheimer Geheimverschwörungsorganisationen, die das defektuöse Innenleben dieses Landes intravenös beleben, dann aber auch und vor allem von der FB, der alles dominierenden „Freiheizlichen Bewegung“.

Man wird als Verdächtiger als erstes umgehend „fichiert“, wie man die Kriminalisierung, also die kriminaltechnische Diskriminierung, die juristische Diffamierung, die amtliche Isolierung, die staatliche Observierung und die lückenlose Registrierung aller angeblichen oder auch wirklichen Gegner dieses morbiden Systems bezeichnet, und deshalb schweigen die Bürger vorwiegend und sicherheitshalber („Ich habe dazu nichz zu zagen!“), die tapferen, aber verstockten Bewohner dieses eigenbrötlerischen Staates („Ich habe nichz gezehen und nichz gehört!“), der, obwohl mitten im europäischen Kontinent gelegen, nicht einmal zu Europa gehören will („Daz geht unz nichz an!“), obschon er ironischerweise in jeder Beziehung einzig vom Wohlwollen dieses nahezu ignorierten, ja, geradezu verachteten Kontinents abhängig ist, („Ich habe damit nichz zu tun!“), und zwar aus gutem Grund („Daz betrifft mich nicht!“). Sie schweigen sich beharrlich aus („Ich will nichz gezagt haben!“), verharren geduldig in der Anonymität („Dazu kann und will ich nicht Ztellung nehmen!“), und das ist vielleicht sogar besser so („Ich will und kann mich zu einem laufenden Verfahren nicht äuzzern!“), umso mehr, als sie sowieso grundsätzlich nichts zu sagen hätten („Daz kommt mir nicht inz Protokoll!“), zumal sie, ganz abgesehen von ihrem katastrophal schlechten, propagandistisch bereits hoffnungslos vermanipulierten und somit geradezu erschreckend tiefen Informationsstand („Ich weizz von nichz!“), meist nicht einmal ihre verhältnismäßig primitive Rudimentär-Sprache beherrschen, wie wir bereits deutlich festgestellt haben mögen, das regional sehr unterschiedlich gefärbte „Kartoffelstockisch“, geschweige denn einer Amtssprache, also einer anerkannten Hochsprache oder sonst einer gängigen europäischen Sprache mächtig wären.

Ihr sprachliches Defizit drückt nichts anderes als ihr mentales Manko aus, aber dies hinlänglich, denn hinzukommt, dass das, was sie sich allenfalls tatsächlich zu sagen hätten, falls sie sich denn überhaupt etwas zu sagen hätten, sowieso nur der blanke Stumpfsinn und die reine Kacke wären; davon kann man sogar unbesehen ausgehen.

Wir stellen, ganz nebenbei, einen flächendeckenden und ganz generellen, lispelartigen Sprachfehler fest, der linguistisch über alle früh-, mittel- und späthochdeutschen Lautverschiebungen hinweg mehr als nur ein Aussprachefehler ist, über den wir uns jedoch aus Diskretionsgründen gar nicht erst äußern wollen, so wie wir uns auch nicht unschicklich über Augenfehlfunktionen, Gesundheitsprobleme, Stottern, Landesverteidigung, O-Beine, Hasenscharten, Einkommen, Nasenbohren, Besitzverhältnisse, Schuppenbefall, Steuerhinterziehung Selbstmordraten, Fußpilz, Beruf, Masturbationsfrequenz, Übergewichtigkeit, Altersflatulenz, Kirchen und Religion äußern wollen.

Nur so viel: Dieser offensichtlich landesweite Sprachfehler ist von unabhängigen, also ausländischen Fachkräften eindeutig als ein klarer Ausdruck einer generellen, inkurablen Gehirndisfunktion diagnostiziert worden. Zwar vergleichen die Phonetiker und Linguisten den landestypischen Laut „z“ mit einem „kurzen, feuchten Furzen“, und die Phonemiker haben ihn bereits in ihre Liste der menschlichen Laute als „Kurzfurz“ aufgenommen, wissenschaftlich „Ventus brevis“, eine weltweit einzigartige Lautform, die nur in diesem abgeschiedenen Land zur Anwendung kommt und die von Aussenstehenden, also Ausländern, vulgo „Aussaßen“, im Gegensatz zu den „Insaßen“, kaum imitiert werden kann. Dessen Ursprünge führen die einen auf Altindisch, wo es vor 12'000 Jahren tatsächlich eine abgeschwächte Form dieses eigenartigen Lautes gegeben habensoll, die andern auf Urafghanisch, die Dritten auf Mesopotamisch-Zwischenstromländisch, andere auf Gebirgsäthiopisch und einige sogar keck auf Zentralafrikanisch-Dschungelkongolesisch zurück.

Doch der wahre Ursprung dieses absonderlichen Lautes bleibt letztlich unbekannt, zumal einige Wissenschafter, insbesondere aus dem humanmedizinischen Bereich, von ganz anderem als von lauthistorischen Wurzeln sprechen: Sie führen diesen ausdrucksstarken, flächendeckenden Sprachdefekt übereinstimmend und stillschweigend auf die angeblich gesunde, in Wirklichkeit aber völlig verdorbene Milch aus einheimischer Produktion zurück, auf die sogenannte Wampenmilch, die allen scheinländischen Kindern von Staates wegen in Kinderhorten und Kindergärten, Schulen, Ferienlagern und Freizeitanlagen, aber auch in den Familien selber, chloriert und jodiert, nitriert und fluoriert, zyankalisiert und liophylisiert, sowie destilliert und homogenisiert verordnet und verabreicht wird.

GEZUNDE KÜHE

GEZUNDE MILCH

GEZUNDE KINDER

GEZUNDEZ LAND

Dies ist seit bald hundertfünfzig Jahren der offizielle, also staatliche Slogan, der die obligatorische Milchabgabe begleitet und den alle Einheimischen, alle „Insaßen“, wie man hier trefflich sagt, von Kindsbeinen an kennen und verinnerlicht haben. Ausgerechnet dieser flächendeckend verordnete Milchkonsum soll also, laut neuester Gehirnforschung, die eigentliche Ursache für die landesweite, anatomisch unerklärliche Disfunktion des hiesigen Lautapparates sein, das „labiodental-gutturale Zerebralsyndrom“, dessen organische Voraussetzung erstaunlicherweise bereits während der Zerebralisation entsteht, also bereits kurz nach der Fekondation, was die herkömmliche Milchthese auf neurologischer Basis allerdings nicht vollumfänglich stützen würde.

Wie auch immer: Das primitive, meist völlig unverständliche Gemurmel und Gebrabbel voller Seufz-, Jammer-, Nörgel-, Knack-, Gurgel-, Fistel-, Mecker-, Motz-, Furz- und Reibelaute, zudem ausgesprochen, als hätte man den Mund voll dicken Kartoffelbreis oder „Kartoffelstocks“, wie man hier sagt, nennt man „Kartoffelstockisch“. Es handelt sich um ein altertümliches Zwischengebirgs-Idiom, das von der sprachlichen und somit auch von der geistigen Entwicklung der letzten fünfhundert oder gar tausend Jahre völlig vergessen worden ist, das indes trotz aller phonetischer Unverständlichkeit und artikulatorischer Unbrauchbarkeit noch heute in unzähligen, lokalen Varianten gesprochen wird.

Dieses merkwürdige Kartoffelstockisch ist im Scheinland somit tonangebend, selbst im privaten Rahmen – oder eben gerade dort. Es kann allerdings – als sein eigenartigstes Merkmal – nur äußerst wenig oder überhaupt gar keine nennenswerte zwischenmenschliche Substanz transportieren, kennt kein einziges Gruß-, Dankes-, Anerkennungs- oder gar Liebeswort, nicht einmal – nur als Beispiel – das emotional fundamentale und in jeder zivilisierten Sprache selbstverständliche „Ich liebe dich“. Dieses ansonsten weltweit bekannte und grundlegend anerkannte Sätzchen von einer unbestreitbaren zwischenmenschlichen Bedeutung und Ausdruck einer dezidierten Emotionalität gibt es im mehrheitlich leise genörgelten, unverständlich genuschelten, greinend gemaulten, unhörbar gemeckerten, meist nur geflüsterten oder undeutlich gemurmelten Kartoffelstockisch tatsächlich nicht, nicht als authentische Formulierung jedenfalls, denn sprachlich und somit intellektuell bewegt man sich, wie gesagt, mehrheitlich immer noch im Hoch- und Spätmittelalter (ohne Renaissance), also in einer längst vergangenen, vom übrigen Europa restlos abgelegten und vergessenen, völlig un-aufgeklärten Epoche voller haarsträubender Phänomene, von denen man sich im Scheinland unverständlicherweise auch in den letzten fünfhundert Jahren nie wirklich abgekoppelt hat. (Siehe Hexenverbrennungen, Wahrsagerei, Fremdenfeindlichkeit, Teufelsbeschwörungen, Zinswucher, Frauenfeindlichkeit, Telefongebühren, Skilaufen, Streckfolter, politische Zensur, heißer Käsebrei, Bücherverbrennungen und Eishockey.)

So leben denn jeglicher Bürger und jegliche Bürgerin in diesem merkwürdigen Land vorwiegend hermetisch abgeschlossen in seiner und ihrer mehr oder weniger autistischen Privatheit, bis er oder sie reif für eine Anmeldung im „Institut für forensische Euthanasie“, also wörtlich in der „wortgewandten Einrichtung des leichten Todes“ ist, weil ihm oder ihr von klein auf beigebracht worden ist, dass er oder sie sich spätestens nach der Pensionierung ein einfaches Leben in dieser maßlos überteuerten Stadt und in diesem überaus kostspieligen Land so oder so nicht mehr leisten könne und dem Staate und der Allgemeinheit dadurch am besten diene, dass er oder sie sich anständigerweise freiwillig möglichst bald und völlig rückstand-und abfallfrei selber entleibe oder sich, viel einfacher noch und gerade heute viel zeitgemäßer, im örtlichen IFFE professionell entsorgen, sich also umweltgerecht und umweltverträglich beseitigen, vulgo verheizen lasse und gleichzeitig zweckdienlich zur modernen städtischen Energieversorgung beitrage, sei dies nun in Form von elektrischem Strom oder von angenehm warmem Heizwasser für die sündigen Whirlpools in Benne-les-Bains drüben.

„Sie müssen nicht meinen, ihr Leben sei nichts mehr wert; Sie haben immerhin noch einen gewissen Heizwert!“ wird allen älteren Bewohnern behördlicherseits tröstend mitgeteilt.

Um angeblich einem übermäßigen Verbrauch von teuren und überflüssigen und unnützen Medikamenten möglichst rechtzeitig vorzubeugen, um also einen kostspieligen und voraussichtlich wirkungslosen Medikamenten-Missbrauch möglichst umgehend unterbinden, also verhindern zu können und um lästige, weil stets kostspielige Scheinerkrankungen zu vermeiden, die statistisch nachweisbar sowieso erst in den letzten drei Jahren eines Menschenlebens gehäuft auftreten, sind in den Anfangszeiten des Instituts für forensische Euthanasie erst mal billige, blaue Einweg-Stricke aus geflochtenem Recycling-Plastik zu bescheidenem Preis verkauft worden, damit sich die Sterbewilligen in aller Ruhe an möglichst stillen und geschützten Orten, also am besten im Institut selber, in einem im Untergeschoss extra dafür vorgesehenen, dezent beleuchteten Raum mit geeigneten Aufhänge-Vorrichtungen, im gekühlten Mortuarium also, nach einer letzten, gründlichen Magen-, Darm- und Blasenentleerung sauber, sicher, schonend und endgültig haben aufhängen können.

Wenn sie diesen kurzen und nach Abgabe von Tranquilizern relativ schmerzlosen Liebesdienst an ihrer eigenen scheinländi schen Gesellschaft, die sie gehegt und gepflegt, die sie ausgebildet, beschäftigt und somit ernährt hat, zum Dank nicht selber geschafft haben, die Nieten, dann hat diese bescheidene letzte Dienstleistung gegebenenfalls gegen eine äußerst geringe Kostenbeteiligung bald einmal von den anerkanntermaßen sehr gut instruierten Hilfskräften des Institutes selber vorgenommen werden können.

Soweit die aus heutiger Sicht gewiss etwas unbeholfenen Auftakte vor knapp vierzig Jahren; so einfach haben also die bescheidenen Instituts-Anfänge in der Gründerzeit des beiler IFFE und die allerersten, pionierhaften Dienstleistungen ausgesehen – man kann es heute kaum noch glauben. Es gibt derzeit verständlicherweise nur noch ganz wenige Personen, die das umständliche Prozedere von damals noch selber miterlebt haben, denn heute sind die technischen Abläufe natürlich viel weiter entwickelt, also erheblich modernisiert, humanisiert, rationalisiert, aktualisiert, optimiert, personalisiert, individualisiert, anonymisiert, liberalisiert und zu einem weitgehend reibungslos funktionierenden, deutlich kundenorientierten Dienstleistungsunternehmen von beachtlicher Größe und Bedeutung ausgebaut worden, so dass das beiler IFFE, also das BIFFE, in seiner ganzen strukturellen und organisatorischen Raffinesse, nicht zuletzt dank der Innovationskraft seiner einfallsreichen Direktion, heute landesweit als mustergültig, beispielhaft und zukunftsweisend gilt. Das liegt vor allem an der rapiden Entfaltung und Entwicklung dieses blühenden und vorbildhaften Betriebes, dem zuletzt bekanntermaßen die gelbe Kakerlake zehn lange und sehr gewinnbringende Jahre vorgestanden hat, genau bis zu ihrem bedauerlichen Absturz aus dem Karpfen, wie wir endlich wissen und verstehen können.

Der potenzielle Kunde oder die potenzielle Kundin, ganz egal, um wen es sich handelt, völlig unabhängig von Alter, Geschlecht und Stand, intern neutral und unverfänglich als „Besucher“, bzw. als „Besucherin“ bezeichnet, soll vom gepflegt auftretenden Empfangspersonal in seinen stets sauberen und frisch gebügelten, schmucken Uniformen und mit seiner ganzen, sichtbar und spürbar positiven und sauberen Ausstrahlung in der überaus großzügigen und hellen Rezeption gleich zu Be ginn aufbauend beeindruckt und vorschriftsgemäß freundlich darauf hingewiesen werden, dass die menschliche Sterblichkeit menschlich, also endlich und somit ganz gewiss keine Schande und eigentlich schon seit jeher und in allen Kulturen durchaus bejahend rezipiert worden sei und gerade hier, in diesem besonders fortschrittlich eingestellten Land überaus positiv akzeptiert werde. Dergestalt soll dem vielleicht etwas verunsicherten Kunden, also Besucher, gleich bei seinem Eintritt ins BIFFE ein angenehmes Gefühl der real empfundenen Sicherheit und der real existierenden Selbstverständlichkeit vermittelt werden, so dass er als nächstes seine meist üblen, aber durchaus üblichen Hemmungen und zudem völlig unnötigen Gewissensbisse möglichst schnell ablegen und zuversichtlich in die kooperative Phase seines kurzen Aufenthaltes im BIFFE übergehen kann.

Doch damit hat der gut vorbereitete Angestellte im Empfang einen „guten Job gemacht“, wie man hier sagt, denn nichts ist dem erfolgreichen Institut für forensische Euthanasie wichtiger als eine freundliche, reibungslose und völlig stressfreie Abwicklung seiner hilf- und segensreichen Geschäftstätigkeit „im Dienste dieser unserer geliebten freiheizlichen Gesellschaft“, so eine weit verbreitete Hochglanzbroschüre der scheinländischen Sterbetourismusförderung. Alles andere würde „keinen Zinn machen“, wie sich die gelbe Kakerlake jeweils auszudrücken beliebt hat.

Das ist verständlich und im Hinblick auf positive Geschäftsbilanzen völlig legitim, kurz, an einem solcherart zügigen, freundlichen und unbestritten angenehmen Betriebsklima ganz im Dienste eines kundenseitigen Kurzaufenthaltes soll jedem motivierten und geschäftsfreundlich eingestellten Mitarbeiter sichtlich und erkennbar gelegen sein, so die unverrückbare Denkungsart und positive Grundeinstellung, direkt aus dem kranken Hirn der giftgelben Direktorin geboren, für die sie sprichwörtlich über Leichen gegangen ist. Täglich sprechen unzählige Sterbewillige aus allen Schichten und jeglichen Alters in der großzügig dimensionierten Rezeption des BIFFE vor, ausschließlich Leute, die eingesehen haben, dass gerade für sie ein Weiterleben „wenig Zinn macht“, wie man sich im Institut, wo man den Duktus der Direktorin anpassungshalber sofort übernommen hat, auszudrücken beliebt. (Dieser ameri kanisch gefärbte Sprachgebrauch, den sie angeblich aus Harvard oder Yale mitgebracht haben will, hat sich sowohl am Institut, als auch in der ganzen, industriell und kommerziell durchaus aufgeschlossenen Stadt, längst durchgesetzt.)

Die vielen aufmerksamen, gut geschulten Mitarbeiter des Instituts sind nicht nur eisern angehalten, freundlich, überaus zuvorkommend und „perfekt gepflegt“ aufzutreten, versteht sich, indem sie allen Besuchern mit einem fröhlichen „Hallo und guten Tag! Ich bin Linda. Waz kann ich für Zie tun?“ entgegentreten und alle Kunden mit einem freundlichen „Hallo und guten Tag! Ich bin Ronald. Womit kann ich Ihnen behilflich zein?“ empfangen – obschon ironischerweise gerade dieser Beweggrund allen klar sein müsste – sie haben sich auch strikte und imperativ an die diesbezüglich ganz präzisen und unmissverständlichen „Allgemeinen Richtlinien für eine zügige und reibungslose Abwicklung der freiwilligen Abgänge“ zu halten. (Von den unfreiwilligen Abgängen sprechen wir aus Gründen der Pietät und der Diskretion gar nicht erst, denn die Zahlen werden aus geschäftlichen Überlegungen geheim gehalten. Doch sie sind bedeutend, also beträchtlich, munkelt man.) „Keine Ausnahmen!“ lautet diesbezüglich die klare Instituts-Devise.

Deren makellose Durchsetzung wird seit Neuestem mittels diskret versteckter und somit kaum erkennbarer, aber flächendeckender Mini-Videokameras zeitlich lückenlos überwacht, also mittels unsichtbarer Hochleistungskameras mit Hochleistungsmikrofonen, die jede noch so kleine Bewegung der Augenbrauen, jedes noch so unscheinbare Zucken der Mundwinkel, jedes noch so verlegene Räuspern und Zögern, jedes noch so winzige, kaum hörbare Geräusch im Empfangsbereich des Instituts Tag und Nacht automatisch aufzeichnen und auf Jahrzehnte hinaus in geeigneten Speichermedien aufbewahren.

Selbstverständlich darf ein sterbewilliger Besucher oder eine sterbebereite Besucherin auch von einem neuen, vielleicht noch etwas unbeholfenen und deshalb tendenziell gefühlsduseligen Mitarbeiter keinesfalls von der geplanten Selbstentleibung abgehalten werden; so etwas würde nun tatsächlich „keinen Zinn machen“, würde von einer in dieser Beziehung überaus rigorosen Geschäftsleitung augenblicklich als klare und eindeutigeGeschäftsschädigung in flagranti klassifiziert werden müssen und hätte umgehend und unausweichlich die fristlose Entlassung des fehlbaren, vielleicht etwas gar begriffsstutzigen Mitarbeiters oder der etwas gar schusseligen Mitarbeiterin zur Folge, verbunden mit der mehr als nur angedrohten Unmöglichkeit, jemals wieder eine Beschäftigung irgendwelcher Art, vulgo eine Arbeitsstelle zu finden – und zwar landesweit, wie dies im Scheinland seit Generationen bewährter Brauch ist.

Dieses tödliche Verdikt wiederum hätte unweigerlich die unbefristete Arbeitslosigkeit und gleich anschließend unabwendbar die Fürsorgeabhängigkeit des schuldhaft schuldig gewordenen Arbeitnehmers zur Folge, denn der mitleidlos und mit Schimpf und Schande entlassene, ehemals „geschätzte Mitarbeiter“ hätte somit leider „keinen guten Job gemacht“, wie man im Institut sagen würde. Er und mit ihm alle seine nächsten Verwandten und Nachkommen gälten fortan als „unehrenhaft aus dem Institutsdienst entlassene, schädliche Elemente“, was, wie wir jetzt allmählich ahnen, auf Grund ungeschriebener Wirtschafts-, Anstellungs- und Beschäftigungsgesetze, wenn auch nicht theoretisch, also juristisch, so doch praktisch einem vorgezogenen Todesurteil mit Spätvollzug gleichkäme.

Auf solch mutwillige Geschäftsschädigung steht zwar nicht explizit die Todesstrafe, auch in diesem Land mit seiner angeblich abgrundtief wurzelnden, humanistischen Tradition nicht, in einem Land, das ja die Todesstrafe angeblich gar nie gekannt haben will, denn auf sichtbare Korrektheit und äußerliche Sauberkeit wird enorm viel Gewicht und Wert gelegt, auch wenn die Wirklichkeit eine ganz andere Sprache spricht. Zahlreiche Schwarze Listen, die, stets eifrig aktualisiert in allen Pultschubladen der Arbeitgeber und auf allen Personalbetreuungsbildschirmen der Personalchefs emsig zirkulieren, um in erster Linie eine gewerkschaftliche Organisation gleich im Keime ersticken zu können, aber auch und vor allem um eine allfällige Konkurrenz rechtzeitig und vorsorglich ausgrenzen, eingrenzen, abgrenzen, ausschließen und schließlich restlos „auzmerzen“ zu können („auzmerzen“ ist ein oft benutzter Lieblingsbegriff im Scheinland), haben unweigerlich zur Folge, dass das soeben unehrenhaft entlassene „Inztitutzchwein“, das feige „Bürozchwein“ oder das gemeine „Betriebzchwein“, wie man die unglückliche Person fortan nennen würde, einfach Pech gehabt hätte und, wie umgehend dargebracht, als eine Art negativer Geheimnisträger im ganzen Land garantiert nie mehr Arbeit finden würde und somit als arbeitslose Person selber bald einmal reif für das Institut wäre, womit sich gleichzeitig ein weiterer Zyklus harmonisch geschlossen hätte. (Man nennt dies hochoffiziell einen „natürlichen Kreizlauf“; die Evangelische Landeskirchensekte spricht sogar von einem „prädeztinativen Gottezgebot“.)

Jeder abgebrühte Angestellte, der es im BIFFE mehr als nur einige wenige Jahre hat aushalten können, hat in der Zeit seiner unauffälligen Anstellung als, sagen wir mal, einfacher Empfangsassistent oder als banaler Reinigungsdienstler, als ganz gewöhnlicher Hilfsleichentransporteur oder auch nur als Vizeleichenverheizer, als simpler Turbinenbetreuer, als untergeordneter Filterstaubentsorger, als temporärer Feuerungsmaschinist, als einfacher Zahnfüllungenrecyklierer oder auch nur als angelernter Druckventilüberwacher, also als spezialisierter Temperaturist oder gar als Leitungsentlüftler, oder aber als ausgebildeter Technischer Überwacher, wenn nicht gar als administrativer Restguthabenverwalter, als Erbvollzugsbevollmächtigter oder als wissenschaftlich geschulter Datenanalytiker überaus viele der „treuen Mitarbeiter“ kommen und gehen sehen, doch nie hat er einen „natürlichen Abgang“ unter den „geschätzten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern“ erlebt, wie man früher gesagt hätte. Nie hat er das mitbekommen, was man früher einen „natürlichen Todesfall“ genannt hat, allenfalls einen „bedauerlichen Abgang“, höchstens als einen „verdienten Hinschied im hohen Alter“.

Nicht einmal eine ordentliche Pensionierung unter der Belegschaft hat er jemals erlebt, auch wenn das BIFFE überhaupt erst seit zehn Jahren voll ausgelastet und somit gewinnbringend funktioniert, umso mehr, als das ordentliche Rentenalter von der Regierung letzthin „in Eigenverantwortung“ von 75 auf 85 erhöht worden ist, um allfällige, vollkommen unnötige, also überflüssige Rentenzahlungen elegant und sicher einsparen zu können. „Lieber eine gezunde Arbeizlozigkeit alz eine ungezunde Vollbezchäftigung“, erklärt der Wirtschaftsminister vor dem Parlament treuherzig und beharrlich, „daz fördert daz gezunde Konkurrenzverhalten unter den Arbeitnehmern.“ Wei ter im Originalton: „Gezunde Konkurrenz izt in einem freiheizlich-demokrazischen Ztaat immer gut, bezonderz unter den Arbeitnehmern, denn wo kein Wille izt, izt auch kein Fleizz, und jeder izt zeinez eigenen Glückez Zchmied!“

Im Übrigen weiß man auch in der jüngeren Öffentlichkeit im Allgemeinen längst nicht mehr, was ein „natürlicher Todesfall“ überhaupt ist, weil die Insaßen unter vierzig Jahren so etwas noch gar nie mitbekommen haben, und sie könnten sich deshalb unter diesem doch reichlich missverständlichen Begriff ehrlicherweise gar nichts mehr vorstellen, ganz unabhängig davon, dass man über den Tod gar nicht erst spricht, denn der Tod ist generell und umfassend verdrängt und aus dem kollektiven Bewusstsein gestrichen worden. Und zudem: Was soll ein „natürlicher Tod“ schon sein? Ein Tod ist doch unnatürlich, nicht wahr?

Doch die generelle und kollektive Selbsttäuschung geht bereits viel weiter: „Mit 85 hat man noch daz halbe Leben vor zich!“ hat der muntere Innenminister neulich am Fernsehen strahlend erklärt, und wörtlich genau dasselbe hat folglich auch die gelbe Kakerlake mit schneidender Stimme vor versammelter Belegschaft selbstsicher behauptet, als jemand Unvorsichtiges sich tatsächlich unbedacht und schüchtern nach dem Stand der laufenden Beitragszahlungen und nach den eventuell zu erwartenden Rentenleistungen zu erkundigen gewagt hat. Da sich eine betriebliche Pensionskasse im IFFE trotz der erheblichen obligatorischen Beitragszahlungen der Arbeitnehmer auf Grund der zur Regel gewordenen frühen Abgänge längst erübrigt hat, tauchen die gesetzlichen Zahlungen der Belegschaft seit Jahren in keiner betrieblichen Bilanz mehr auf, noch in einer außerbetrieblichen. Wozu auch und warum wohl? Das Geld versickert einfach irgendwo, wie alles Geld, denn das ist sein bedeutendstes Wesensmerkmal, und niemand weiß genau wohin, denn niemand fragt danach, und niemand möchte es wirklich wissen. Man ist nicht blöd; man will nicht vorzeitig verheizt werden, man hat schließlich noch viele Jahre bis 85 vor sich, die man bestenfalls zu überstehen hat. Und Kapital löst sich halt einfach auf. Je mehr, desto schneller. In nichts. Ein finanzielles Mirakel.

Die über dem breiten, etwas zu pompös geratenen Haupteingang des Instituts nicht etwa direkt in den falschen Marmor gemeißelte, sondern nur als kalligrafisches Trompe l’oeil von einem durchaus begabten örtlichen Pinsel-Künstler aus finanzieller Not täuschend echt hingemalte, übergeordnete Devise des Instituts, die betriebliche Zielvorstellung, das institutionelle Leitmotiv oder die „Corporate identity“, wie das giftgelbe Stück Scheiße wichtigtuerisch gleich zu Beginn ihrer mit insgesamt zehn Jahren doch recht kurzen Ära zu bezeichnen festgelegt hat, um gleichzeitig ihren gegenüber den „lieben, teuren und gezchätzten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern“ rundweg uneinholbaren Informationsvorsprung zu demonstrieren, lautet denn auch MORITURI AD UNUM OMNES SUMMUS, was uns zeigt, dass die Glubschäugige, als eine typische Angeberin ihrer gehobenen gesellschaftlichen Herkunft, seinerzeit eine völlig nutz-, sinn-, ergebnis- und zwecklose Ausbildung in der „Städtischen Höheren Töchterschule“ von Beil-Benne (Vergessen Sie Yale und Harvard!) genossen und damit anschließend auf der Suche nach ihren persönlichen und beruflichen Vorteilen lange hemmungslos herumgeprahlt hat, um mit ihren wenigen lateinischen Brocken möglichst viel Eindruck zu schinden. Denn sonst ist in ihrem kleinen Kanarienvogelköpfchen mit den bedrohlich hervorstehenden und übergroßen, ungesund rötlich getönten, wässerig unbeweglichen Froschaugen, die überdies – nur ganz nebenbei – einen beginnenden Morbus Basedow signalisiert haben, ja gar nichts gewesen, und sie hätte auch kein altphilologisches Interesse oder Ähnliches vorweisen können, was Nemesis annähernd als Bildung hätte akzeptieren können. Nichts davon! Mit ihrem amerikanisch und lateinisch gefärbten Sprachentick haben sich einzig ihre ausgeprägte Egozentrik, ihre grenzenlose Raffgier und vor allem ihre hemmungslose Machtbesessenheit ausgedrückt – und sonst gar nichts.

Die lange Nebelphase, welche die Sommersmogphase jeweils ablöst und sich vom Spätsommer bis in den nächsten Frühsommer hinziehen wird, scheint längst angekommen zu sein, obwohl sich auch dieser kurze Sommer endlich seinem verdienten Ende entgegen neigt. Bald wird die ganze Gegend um die mürrische „Stadt des Gesprächs“, um die abweisende In dustriestadt voller Idiotinnen und Idioten, am Rande einer weiten, leeren Sumpf- und Schwemmebene gelegen, angelehnt an die sanften Flanken einiger welliger, dunkelgrün bewaldeter Vorhügel der langgezogenen Schorihänge, die das Land gegen Norden abschotten, noch stärker in eine undurchdringliche, graubraune Nebelsuppe getaucht werden, welche die städtebaulichen Geschmacklosigkeiten und manifesten Hässlichkeiten aufs wahrhaft Unvorteilhafteste herausstreichen wird. Die einzigen, leider viel zu deutlich erkennbaren Charakterzüge der definitiv unsympathischen Einwohnerschaft der „Stadt des Gesprächs“, dieses falschspielerisch Hinterhältige, dieses so unangenehm rechthaberisch Miesepetrige, verbunden mit dieser selbstsicher vorgetragenen Ahnungslosigkeit und dieses selbstgerecht Analphabetische, kurz, diese missgünstige Arglist, diese zerstörerische Gleichgültigkeit und diese intrigenreiche Heimtücke treten im Herbst für alle unangenehm berührten Außenstehenden noch viel deutlicher sichtbar und noch eindeutiger erkennbar hervor, kommen also noch gemeiner und noch unheilvoller zum Vorschein – und nicht nur das: Die ganze Niedertracht der Einwohnerschaft wird Nemesis ihr unausweichliches Werk mit ungewohnter Leichtigkeit vollbringen lassen, denn gerade diese betrüblichen Charaktereigenschaften erleichtern ihr, wenn auch unfreiwillig, wie wir noch sehen werden, die Erledigung ihrer Aufgabe außerordentlich. Die mächtige Göttin kennt dieses bemerkenswerte Charakteristikum mittlerweile; sie hat das gleich zu Beginn ihres Aufenthaltes in Beil-Benne durchschaut.

Sie hat sich von der vornehmen Dame aus dem Zeitzündermilieu in einen frohen, rotgesockten, pausbäckigen Rentner, in einen eingefleischten Infanteristen und freudeglühenden Freizeit-Wandersmann, und zwar in einen ehemaligen, langjährigen, allerdings nur subalternen Dienstkollegen des Obristen verwandelt, von dem jetzt ausführlich die Rede sein wird, in einen pensionierten Oberstleutnant der Versorgungstruppen. Er ist in eine geeignete, gut gefütterte, wasserdichte und amtlich geprüfte, dunkelblaue Polar-Windjacke aus alten Armee-Beständen gekleidet, in altmodisch braune Knickerbockers aus solidem Manchesterstoff und trägt massive, wildlederne Wanderschuhe mit atmungsaktivem Innen- und Außenfutter und grobstolliger Ganzjahres-Sohle, und er trägt am Rücken einen leichten, praktischen Rucksack aus glänzendem Wachstuch, wohlwissend, dass ausnahmslos alle Militärpersonen dieses Landes ausschließlich ihresgleichen trauen können, wenn überhaupt, jedenfalls niemand anderem sonst, nicht einmal den eigenen Ehefrauen, nicht einmal den einzelnen Regierungsmitgliedern, und dies allein im Interesse der materiellen und geistigen Landesverteidigung als solcher. Eine lebendige Verteidigungs-Religion.

Eigentlich haben sie damit recht, denn der Oberst, um den es jetzt geht, kann beim besten Willen nicht wissen, dass er mit Nemesis nicht etwa einen alten Dienstkameraden aus dem Städtischen Zeughaus vor sich hat, wie er selbst völlig arglos annimmt, zuständig für Feldküchen und Marschverpflegung, sondern niemand anderes als die Mutter der schönen Helena, aber auch die Mutter von Klytaimnestra, der vom eigenen Sohn ermordeten Gattenmörderin. Die beiden einzigen Töchter von Nemesis sind aus je einem Ei von der Farbe des blauen Hyakinthos geschlüpft, die Nemesis damals nach einer üblen Vergewaltigung durch Zeus als schneeweiße Gans gelegt hat. Gleich zwei befruchtete Eier aufs Mal, und beide, Klytaimnestra und Helena, sind somit niemand Geringeres als die machtvollen Töchter von Zeus, aufgewachsen bei Leda, der Frau des Königs Tyndareos von Sparta. Aber hallo!

Wenn ihm, besagtem Obersten der nationalen Verteidigungswehrfriedensmachtarmee (VWFMA) also, dieser ziemlich bemerkenswerte Umstand ganz unerwartet und trotz restlos fehlender Allgemeinbildung jemals hätte bekannt sein können, dann wäre er jetzt bestimmt nicht mit offenen Armen derart vertrauens- und erinnerungsselig auf Nemesis in der Person des älteren Dienstkollegen zugegangen, o nein! Er hätte auf der Stelle die Armee, die Polizei und sämtliche Geheimdienste alarmiert! Seine kitschig wirkende Rührseligkeit und seine billige Sentimentalität hätten ihre eindeutigen Grenzen, ja, ihr abruptes Ende gefunden, und er hätte sie, also Nemesis, respektive ihn, seinen altbekannten und altvertrauten Dienstkollegen ganz bestimmt nicht lachenden Gesichts und völlig arglos militärisch kurz und überaus herzlich begrüßt und sogleich spontan an seine alljährlich „nur einmal, dann aber richtig“ stattfindende Gartenparty eingeladen, o nein! Er hätte wohl eher gleich auf der Stelle seine liebevoll gepflegte, stets geladene und schussbereite Dienstwaffe hervorgeholt! Aus der obersten Schublade des Nachttischchens! Aber subito!

Diese stadtweit berühmt berüchtigte, alljährlich zum Glück nur einmal an einem möglichst sommerlich warmen Samstagnachmittag stattfindende Gartenparty ist er soeben im gepflegten Garten vor seinem schönen Hause an erhöhter Hanglage vorzubereiten zugange, wie Nemesis als guter, alter Dienstkollege in geeigneter Wanderbekleidung, roten Socken und Rucksack völlig unangemeldet und sichtlich ahnungslos an seine schmiedeeiserne Gartentür mit den beiden gekreuzten Hellebarden klopft. Der Oberst steht breitbeinig vor seinem sehr solide gemauerten, äußerst voluminösen Gartengrill, schüttet eben weitere Anzündwürfel in großen Mengen in die kokelnden Holzkohleberge und wartet gleichzeitig ungeduldig auf seine zahlreich geladenen Gäste.

Zuweilen verlaufen nämlich die Geschehnisse so banal, so gradlinig, so überblickbar und so einfach, dass man selbst als überaus skeptische und seit jeher atheistische griechische Göttin an höhere Mächte glauben möchte, und Nemesis kann sich jetzt gut vorstellen, dass unsichtbar hinter ihr ihre gute, alte Freundin Aidos, die Göttin der Scham steht, die sie schon so lange durch die Unbill der Zeiten begleitet hat und ihr nach Bedarf jederzeit unaufgefordert den einzig richtigen Weg weist. Nemesis weiß, dass Aidos ihr immer den geeigneten und stets naheliegenden Ausweg aus jeder undenkbaren, aber durchaus möglichen Sackgasse zeigen möchte und auch bedenkenlos zeigen würde, wo immer sich Nemesis befinden, in welch verzwickter Lage sie immer stecken und wohin sie sich auch immer wenden möchte. Nemesis selbst muss keine komplizierten Rückzugspläne ausarbeiten; das ist für eine vielbeschäftigte griechische Götterexistenz überaus nützlich, weil sie ganz genau weiß, dass die gute, alte Aidos als distanzierte, aber immerzu aufmerksame Beobachterin sie jederzeit bewacht, behütet, beschützt und beschirmt und Nemesis sofort warnen, aufhalten und sanft zurücknehmen würde, falls es ihr notwendig erschiene.

Nehmen wir den unberechenbaren Fall dieses schießwütigen und anerkennungssüchtigen Obristen: Aidos könnte Nemesis schnellstens aus der verdorbenen Welt der Sterblichen auf den Olymp zurückholen, falls Nemesis in ihrer ganzen Schusselig