Das grüne Auge - Katrine Marie Guldager - E-Book

Das grüne Auge E-Book

Katrine Marie Guldager

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Beschreibung

Hanna Darting, Pferdezüchterin und Reitlehrerin aus gutem Hause, lebt mit ihrem zweiten Mann auf einem Gut in Südengland. Ihr Leben wird überschattet von finanziellen Problemen, als überraschend ihr Ex-Mann Thomas auftaucht, der die Urne ihrer gemeinsamen Tochter mit in seine kanadische Heimat nehmen will. Die Wucht der mit seinem Besuch ausgelösten Gefühle ist für Hanna der Anlaß für eine Reise in die eigene Vergangenheit, in der sich amüsante Anekdoten, skurrile Figuren und ihre private Tragödie zu einem geschichtenreichen Roman verdichten.Mit Raffinesse, Ironie und wunderbarer Leichtigkeit webt Katrine Marie Guldager aus den Spuren, Begegnungen und Schicksalen vergangener und lebender Menschen ein dichtes Netz der Gleichzeitigkeit, in dem das Vergessen keinen Platz hat. Niemand stirbt wirklich - selten hat uns jemand beiläufiger und zugleich literarischer zu verstehen gegeben, daß die Erinnerung eine Herausforderung der Gegenwart ist.Pressestimmen"Lebendig, scheinbar sorglos, dabei aber ironisch."- Litteraturnet Danmark"Mit Hilfe verschiedener Symbole und einer Fülle von Anekdoten, die auf staunenswerte Weise mit dem Plot verbunden sind, deckt Guldager die Seiten von Hannas Geschichte auf, für die sie selbst als Erzählerin keine Worte findet." - Kristeligt Dagblad"Die Erzählweise, in der Anekdoten und kleine Geschichten miteinander vermischt werden, erinnert an Karen Blixen. Von Fay Weldon hat sie diesen lebendigen, scheinbar sorglosen, dabei aber ironischen Ton."- Erik Skyum-Nielsen, Litteraturnet Danmark-

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KATRINE MARIE GULDAGER

Das grüne Auge

 

Aus dem Dänischen von Knut Krüger

 

Lindhardt & Ringhof

1

Das Treffen in der Bank

Bereits vor Thomas’ Ankunft war eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich meiner Reise auf die Bahamas entstanden, denn meine finanzielle Lage erwies sich plötzlich als ziemlich prekär. Als ich gerade nach Dratford fahren wollte, um Einkäufe zu erledigen, erhielt ich einen Anruf meines neuen Bankbetreuers Mr Hollerby, der zwar nicht von einer Katastrophe sprechen wollte, doch ich hörte seiner Stimme an, daß etwas faul war.

Aus irgendeinem Grund öffnete ich beide Glastüren gleichzeitig, der Luftstrom hob leicht meine Frisur, in einer Hand hielt ich meine Krokodillederhandtasche. Unter den zahlreichen Kunden und Bankangestellten erblickte ich einen jungen Mann, der Mr Hollerby sein mußte. Ich zögerte ein wenig, doch der junge Mann ging im nächsten Moment auf mich zu und stellte sich vor. Zu diesem Zeitpunkt war ich immer noch von einem Routinetreffen ausgegangen und hegte deshalb auch keinen Verdacht, als mich Mr Hollerby in einen abseits gelegenen, diskreten Raum bat; ich war immer noch nicht alarmiert, als er sich mir gegenübersetzte und mich mit sonderbarem Ernst anblickte.

Doch dann senkte er den Kopf und spähte über die Brillenkante.

»Sind Sie sich eigentlich über Ihre wirtschaftliche Lage im klaren, Mrs Darting?«

»Wenn ich einen Überblick über meine Finanzen hätte, Mr Hollerby, worüber sollte ich dann mit Ihnen reden?« entgegnete ich freundlich.

Der junge Mann hatte mich vor den Kopf gestoßen.

»Ihre finanzielle Situation hat sich erheblich verändert, seit Ihr Mann Sie verlassen hat. Sie könnten sehr leicht in Schwierigkeiten geraten, Mrs Darting, wenn ich mich so ausdrücken darf.«

»Schwierigkeiten, Mr Hollerby?«

Ich betonte das Wort, als hätte ich es gerade in einer unaufgeräumten Schublade gefunden.

»Schauen Sie, Mrs Darting«, er zeigte mir eine Aufstellung, »die Verluste beginnen hier.«

Ich straffte meinen Rücken und lehnte mich etwas vor, sah auf mein Kleid hinunter und entdeckte einen Fleck.

Mr Hollerby fuhr fort:

»Das größte Problem sind Ihre Investitionen. Sie haben sehr einseitig investiert, Mrs Darting, äußerst riskant.«

Ich schwieg immer noch. Meine Augen ließen sich vom Schlips des jungen Mannes gefangennehmen. Er war nicht nur von lausiger Qualität, sondern auch überaus häßlich. Tatsächlich untergrub der Schlips nach und nach mein Vertrauen zu Mr Hollerby.

»Ihr Vermögen hat sich beträchtlich vermindert«, fügte er hinzu.

Plötzlich änderte sich sein Tonfall.

»Natürlich bin ich empört darüber, Mrs Darting, daß die Bank solch leichtsinnige Investitionen überhaupt zugelassen hat. Bei Ihrer Finanzlage hätte ich ein so hohes Risiko niemals befürwortet. Als ich die Betreuung Ihres Vermögens übernahm, war ich zunächst fassungslos, daß Mr Farsom es nicht einmal für nötig befunden hatte, Sie auf die fortlaufenden Verluste aufmerksam zu machen. Er hat inzwischen die Abteilung gewechselt. Sie sind alte Freunde?«

»Ja, Mr Hollerby, das sind wir.«

Mr Hollerby richtete seinen Schlips.

»Sie können die Unterlagen selbstverständlich mit nach Hause nehmen, um sie in Ruhe durchzugehen. Vielleicht sollten wir einen zweiten Termin …«

»Ich glaube, das wird nicht nötig sein, Mr Hollerby.« Eine Eingebung ließ mich hinzufügen:

»Sind Sie neu hier, oder bin ich Ihnen durch Zufall noch nicht begegnet?«

»Ich bin neu hier, Mrs Darting. Aber wenn ich Ihnen in irgendeiner Form behilflich sein kann … sollte es Einzelheiten geben, die Ihnen noch nicht völlig klar …«

Mir wurde schwindelig.

»Das ist sehr freundlich. Danke.«

Der junge Mann begleitete mich hinaus und öffnete mir galant beide Glastüren. Er konnte das Lächeln einfach nicht lassen.

Ich fand Vincent im Garten. Er beschnitt gerade seinen geliebten Weißdorn.

»Es kann sein«, sagte ich und betrachtete die Zweige, die er bereits abgeschnitten hatte, »daß ich unsere Reise auf die Bahamas absagen muß.«

Er war die Leiter hinaufgeklettert; ich sprach in seinen Rücken.

»Was sagst du?«

Er drehte den Kopf. Sein Haar fiel ihm vor ein Auge, das andere schaute mich an und leuchtete wie Glas. Es glich einem Glasauge.

»Ich komme gerade von einem Gespräch mit meiner Bank«, sagte ich. »Ich habe große Verluste gemacht.«

Ein weiterer Zweig fiel neben die anderen auf den Boden, bevor er hinunterkletterte.

Er stand neben mir und betrachtete die kleinen Knospen eines Zweiges.

»Aber wir haben doch schon unsere Tickets. Was ist eigentlich passiert?«

Er schaute mich forschend an.

»Ich habe wohl etwas leichtsinnig investiert«, sagte ich. Vermutlich klang ich nicht besonders schuldbewußt. Ich folgte Vincents Blick und sah, daß die Hälfte der Krone schon ausgedünnt war.

Ein Rückblick

Eines Nachmittags während der Ferien, Vincent und ich sind von unseren Internaten nach Hause gekommen, laufen wir durch den Garten. Ich kann mich nicht erinnern, warum wir laufen, jedenfalls rennen wir zwischen den Kirschbäumen hindurch, als wir plötzlich meine Großmutter auf der Terrasse erblicken. Vermutlich betrachtete sie einfach den frisch geschnittenen Rasen. Wir bleiben abrupt stehen und warten darauf, daß die Vorwürfe auf uns niedersausen wie gespannte Lineale. Wir stellen uns vor die Terrasse. Meine Großmutter schaut auf uns herab und sagt:

»Habt ihr euren Spaß, Kinder.«

Eine Antwort ist nicht nötig.

»Hanna, ich glaube, du solltest mit dem Packen beginnen. Wolltest du nicht morgen abreisen?«

»Ich habe heute morgen schon gepackt.«

»Ausgezeichnet.«

»Und was ist mir dir, Vincent, bist du bereit, morgen zur Schule zurückzukehren?«

»Ich habe noch nicht zu Ende gepackt, Mrs Darting.«

»Gehst du gern zur Schule, Vincent?«

»Ja, Mrs Darting, sehr gern.«

»Dann solltest du jetzt unbedingt zu Ende packen.«

»Ja, Mrs Darting.«

»Begleitest du mich hinunter zur alten Eiche, Hanna?« sagt meine Großmutter.

Vincent, der nicht mehr willkommen ist, verschwindet so spurlos wie ein Atem.

Man kann sagen, daß ich für meine Großmutter besondere Zuneigung empfinde. Das war schon immer so und ist sicher gänzlich unbegründet und ohne jedes Maß, aber so ist es nun mal; über meine Gefühle diskutiere ich nicht.

Meine Großmutter stammt nicht aus England, sondern aus Dänemark, und als sie meinen Großvater, Harold Darting, das erste Mal sieht, steht er im Mittelpunkt eines kleinen Kreises in einem Garten in Faaborg. Der Flieder blüht. Noch bevor sie ihn kennenlernt, denkt sie, dies ist der Mann, den sie heiraten wird.

Daher überrascht es sie keineswegs, als er fünf Jahre später bei der bescheidenen Wohnung ihrer Eltern vorfährt und um ihre Hand anhält. Nach der Hochzeit führt mein Großvater meine Großmutter hierher nach Pinton, und noch bevor das erste Jahr vorüber ist, erwartet sie ein Kind. Meine Mutter wird geboren, und es dauert nicht lange, bis sie eine kleine Schwester bekommt. Meine Großmutter verfolgt die Kindheit ihrer beiden Töchter mit allen Sinnen; jeden Schritt, den sie unternehmen, betrachtet sie im Lichte einer neuen, ungeklärten Bedeutung.

Als meine Mutter, Jennifer, das schulpflichtige Alter erreicht, ist meine Großmutter der festen Überzeugung, es sei das beste, sie sogleich auf ein Internat zu schicken. Und genau drei Jahre später, nachdem Jennifer an einem Morgen im August darauf wartete, nach Hoppercliff gebracht zu werden, wird sie von ihrer kleinen Schwester Dorothy begleitet, die schon jetzt ganz anders ist als ihre Schwester.

Sie kennen sicher den Fall, daß in einer ganz normalen Familie ein Familienmitglied völlig aus der Art schlägt. Betrachtet man die betreffenden Geschwister und Eltern, stellt man nicht die geringste Ähnlichkeit fest und ist beinahe ein wenig schockiert, da man es doch gewohnt ist, den einzelnen Menschen als Teil eines größeren Ganzen zu betrachten.

Dorothy war einer dieser Menschen, der von Beginn an anders war. Vielleicht läßt sich auch sagen, daß Henrietta, von der ich Ihnen später erzählen werde, anders war. Man kann sogar behaupten, daß ich, in einer gewissen Zeit, anders war.

Ich erinnere mich an die Zeit, in der mich meine Mutter als einigermaßen selbständig zu betrachten begann. Ich war siebzehn, achtzehn Jahre alt. Gerade hatte ich Hoppercliff verlassen, und wenn ich jetzt daran denke, kann ich mich eines Lächelns nicht erwehren.

Ich kam also von Hoppercliff nach Hause, es war im Sommer 1961, und schon damals gab es hier nur drei Hausangestellte sowie einen Gärtner und einen Chauffeur. Meine Eltern waren im großen und ganzen immer daheim, wenngleich mein Vater natürlich seinen Geschäften in London nachging, aber das geschah nicht sehr oft.

Aus verschiedenen Gründen gab es in unserem Haus zahlreiche Verhaltensregeln. Eine von ihnen bestand darin, daß ich nach dem Essen zu meiner Mutter hinübergehen, sie auf die Wange küssen und ihr für das Essen danken sollte. Aber nicht, weil sie es zubereitet hatte, denn das tat natürlich der Koch.

Eines Abends im Sommer 1961 vergaß ich es. Ich hatte eben die Hand auf die innere Türklinke der Speisezimmertür gelegt, als mich die Worte meiner Mutter von hinten trafen:

»Du hast etwas vergessen!« sagte sie. In ihrem Tonfall lag ein unverkennbarer Vorwurf.

Ich drehte mich langsam um.

»Bitte?«

»Du weißt genau, was du vergessen hast.«

»Du sagtest doch, ich könne aufstehen.«

»Stell dich nicht dumm, Hanna!«

»Was soll ich denn vergessen …«

»Du hast vergessen, für das Essen zu danken.«

»Danke für das Essen.«

»Du hast noch etwas vergessen.«

Mein Vater starrte auf seine Serviette.

»Ich kann mir nicht vorstellen, was das sein sollte.«

»Du hast vergessen, mich zu küssen«, sagte sie. Mit Schärfe.

Ich konnte mich nicht länger beherrschen.

»Das hatte ich auch nicht vor.«

Ich sah, daß sie in Wallung geriet.

»Du wirst!«

»Warum? Ich habe keine Lust.«

»Lust!« Sie spie das Wort aus. »Wer in aller Welt hat dir eingeredet, du könntest tun, wozu du Lust hast?«

»Ich tue es nicht.«

Ich kann mich tatsächlich nicht mehr daran erinnern, was dann geschah, nur daran, daß ich später zu einem Gespräch in die Bibliothek zitiert und die Atmosphäre zunehmend ernster wurde, denn meine Mutter legte auf die Einhaltung ihrer Regeln allergrößten Wert.

Als ich die Bibliothek betrat, stand meine Mutter am Fenster, es war immer noch hell, und die Passionsblume rankte sich – wie sie es heute noch tut – um die Fensterbank.

»Disziplin«, sagte meine Mutter und schaute mir in die Augen, »ist ein Charakterzug, der für dich unentbehrlich ist.«

»An Disziplin fehlt es mir nicht.«

»Aha. Und an was fehlt es dir?«

»Es fehlt mir an nichts, danke.« Ich sah aus dem Fenster, um ihrem Blick zu entgehen.

Draußen führte eines der Stallmädchen ein gesatteltes Pferd am Fenster vorbei.

»Hanna, was, glaubst du, tun wir, wenn wir ein Pferd zureiten?«

»Wir disziplinieren es«, antwortete ich treuherzig.

»Und warum, glaubst du, tun wir es?«

»Ich bin kein Pferd, Mutter, und auch nicht blöd.«

»Warum tun wir es?«

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte.

»Wir tun es, um seine Kräfte richtig einsetzen zu können.«

»Hm …«, sagte ich. Sie irritierte mich. »Muß ich dich denn nach jedem Abendessen küssen?«

»Ja«, sagte sie.

Ich durfte gehen.

Wie Sie verstehen werden, war ich meiner Mutter in einer gewissen Periode nicht direkt feindlich gesonnen, verhielt mich ihr gegenüber jedoch ziemlich abweisend. Im übrigen bin ich mir nicht sicher, ob ich mich jemals mit diesen erzwungenen Küssen abgefunden habe. Jedenfalls schien ich, nach einer Weile, die Verhältnisse akzeptiert zu haben. Eine Zeitlang spielten wir sogar ein kleines Spiel miteinander, in dem es darum ging, wer von uns sich korrekter verhielt. Mein Vater nahm an diesem Wettbewerb nicht teil. Er hatte ein völlig anderes Wesen.

Aber ich habe ganz vergessen, daß ich Ihnen ja von Tante Dorothy erzählen wollte. Dorothy war ein wenig so wie ich an diesem Abend des Sommers 1961, sie war anders, und sie war es bereits, bevor sie sieben Jahre alt wurde. Heute wohnt sie in London, doch viele Jahre hindurch war sie ein von der Darting-Familie abgeschnittener und verwelkter Zweig.

Thomas kommt an

Es war nur wenige Tage nach meinem Gespräch in der Bank, als mir – mit merkwürdiger Präzision – ein weiteres Unglück zustieß: Thomas kam an. Thomas kam an, weil ich so leichtsinnig gewesen war, ihn von meinen Plänen, auf die Bahamas zu reisen, telegrafisch in Kenntnis zu setzen. Hätte ich geahnt, daß er acht Tage später vor meiner Haustür im Kies stehen würde, hätte ich das Telegramm ganz gewiß nicht aufgegeben. Warum habe ich es überhaupt getan? Stellen Sie sich vor, ich fühlte mich dazu verpflichtet.

Doch der Gedanke, ihm irgend etwas schuldig zu sein, kommt mir zunehmend unsinnig vor. Thomas war kaum länger als ein paar Stunden bei mir, als er mit seinem eigentlichen Anliegen herausrückte: Er wollte Iris’ Urne mit nach Kanada nehmen! Was sagen Sie dazu?

Da ich auf die Bahamas reisen wolle, meinte er, gäbe es keinen Grund mehr, Iris hier – »unter Fremden«, wie er sich ausdrückte – liegenzulassen.

»Thomas«, entgegnete ich und führte ihn auf die Terrasse, um ihn aus dem Haus zu bekommen. »Man transportiert tote Menschen nicht hin und her.«

Er war braungebrannt. Er trug ein synthetisches Hemd.

Plötzlich fragte er mich, wie lange ich fortbleiben wolle. Ich wußte es nicht.

»Dann werde ich mich um Iris kümmern«, sagte er und krempelte die Ärmel hoch.

Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß wir über ihre Asche sprachen. Ich fand seine Handlungsweise nicht gerade angemessen. Mein ganzes Leben habe ich hier auf Pinton verbracht, und nur, weil ich eine Reise plante, sollte Iris partout mit nach Vancouver – Vancouver, Herrgott! Ich sagte zu ihm, das ließe sich nicht machen.

»Nach vier Jahren können wir sie auf keinen Fall hergeben«, sagte ich.

Thomas schaute mich forschend an.

»Ich mache das einfach nicht mit«, sagte ich. »Iris soll bei ihrer Familie liegen.«

»Deiner Familie …«

Er ließ seinen Blick über die Rasenfläche schweifen. Sein synthetisches Hemd war vollkommen durchsichtig.

»Ich glaube, Iris ist lieber, wenn ich auf sie aufpasse«, fuhr er fort. »Sie will sicher nicht hier alleine liegen.«

»Glaubst du etwa, sie möchte nach Vancouver?«

»Ja, ich kann mir gut vorstellen, daß es ihr dort gefallen würde. Das Wetter ist gar nicht so übel.«

»Es regnet ständig!«

Vincent unterbrach uns und war ziemlich überrascht, Thomas zu begegnen.

»Wo regnet es ständig?« fragte er vorsichtig.

»In Vancouver«, sagte ich, während ich einen Riß in den Fußbodenfliesen betrachtete.

»In Vancouver regnet es nicht mehr als an anderen Orten auch.«

Thomas sah mich an, als könne mich ein einziger Blick zum Schweigen bringen.

Diese Diskussionen haben Thomas und ich geführt, seit Iris klein war. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, daß Thomas sich einst weigerte, mich nach London zu begleiten, weil ich an meiner Absicht festhielt, Iris zur Reitstunde zu schicken.

Iris hatte gerade laufen gelernt, und wer laufen kann, der kann auch reiten – das war schon immer die Auffassung meiner Familie gewesen. Aber Thomas wollte sein kleines Mädchen nicht reiten sehen. Er war der Ansicht, Iris könne die enormen Kräfte eines Pferdes nicht kontrollieren, aber wer kann das schon? Ein Pferd, das man völlig unter Kontrolle hat, ist kein Pferd, sondern etwas anderes. Und da ja kein Zweifel bestand, daß Iris reiten würde, warum wollte er seine Tochter dann die Kräfte eines Pferdes nicht so früh wie möglich kennenlernen lassen? Warum wollte er sie nicht mit diesen edlen Tieren vertraut machen, die sie ohnehin lieben lernen würde?

Wir erörterten diese Frage auf dem gesamten Hinweg nach London, und als wir aus dem Auto stiegen, sagte Thomas, ich müsse einräumen, daß Iris zu klein sei, sonst würde er mich nicht begleiten. Ich weigerte mich natürlich, irgend etwas einzuräumen, und da ich zu diesem Zeitpunkt keinen Führerschein besaß, versicherte ich ihm, mit dem Zug zurückzufahren, wenn ich mein Vorhaben erledigt hätte.

Aber wir hatten ja schließlich dasselbe vor, also blieben wir zusammen.

Und natürlich regnet es in Vancouver mehr als zum Beispiel hier. Ich zog Thomas damit auf, er brauche schon eine wasserdichte Urne, wenn er verhindern wolle, daß unser kleines Mädchen im Grundwasser verschwände, auch wenn das eigentlich nicht besonders komisch war.

Fischsuppe

Als Thomas begriff, wie es um meine Finanzen stand, bot er mir sofort Geld an.

»Aber Hanna«, sagte er, indem er mir in die Bibliothek folgte, in der ich in einem schmalen Lexikon unter »Bahamas« nachschlug.

»Du brauchst doch keine finanziellen Schwierigkeiten zu haben, wenn ich dir helfen kann. Wie hoch sind deine Verbindlichkeiten? 50.000? 100.000?«

»Höher, viel höher!«

»Ich schreibe einen Scheck aus, Hanna. Laß mich das doch einfach für dich tun.«

»Nein«, sagte ich. »Nein, danke.«

»Aber wie willst du denn über die Runden kommen? Selbst wenn du alle Pferde verkaufst, reicht es noch lange nicht.«

»Das kannst du gar nicht beurteilen. Außerdem könnte ich anfangen zu arbeiten.«

In meinen eigenen Ohren hörte sich dieser Satz wie ein schlechter Scherz an.

»Arbeiten!« Er gab sich alle Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. »Als was? Etwa als Putzfrau?«

Wie schlecht Thomas mich doch kannte. Natürlich konnte ich mir eine Arbeit suchen, wenngleich ich die erste in meiner Familie wäre. Bei uns ist nie von Arbeit im üblichen Sinn gesprochen worden. Nur von Geschäften. Aber warum sollte mir es nicht glücken? Wer weiß. Vielleicht würde es mir sogar Freude bereiten, Seite an Seite mit Menschen zu arbeiten, die vom Schicksal weniger begünstigt waren als ich! Es bestand zumindest kein Grund zu der Annahme, ich könne womöglich Schaden nehmen.

»Ich schreibe dir einen Scheck aus«, wiederholte Thomas, als uns unter der hohen, bemalten Decke des Speisezimmers die Fischsuppe serviert wurde.

Doch ich wollte sein Geld nicht.

I can’t hear you, Master

Ich war in den Ferien von Cambridge nach Hause gekommen, als meine Mutter und ich hier auf Pinton eine richtige Entdeckung machten, und daß wir sie überhaupt machten, lag an einem grünen Hausschwamm, der sich von einer Speisekammer aus in ein anderes Zimmer ausgebreitet hatte. Das war 1963; ich hatte gerade die Verlobung mit Vincent gelöst. Das hatte ich vielleicht vergessen zu erwähnen: Vincent und ich waren für kurze Zeit verlobt und die Verlobung war sehr hektisch gewesen. Das war, bevor ich Thomas kennenlernte.

Ich war also zu Besuch hier auf Pinton, als die Holztäfelung entfernt werden sollte, damit wir den Schaden begutachten konnten, den der Schwamm bereits angerichtet hatte. Mitten während der Arbeit meldete unser damaliges Dienstmädchen, ein Mr Parker wünsche vorgelassen zu werden. Mr Parkers Auto war unweit unserer Einfahrt liegengeblieben, und er mußte, ging mir durch den Kopf, schon starke Nerven haben, wenn er mit solch einer Lappalie hier vorstellig wurde. Doch Mr Parker erwies sich rasch als noble, ehrenwerte Persönlichkeit mit bemerkenswertem Konversationstalent. Er blieb drei Tage und erzählte uns eines Abends eine Geschichte, die ich nie vergessen werde.

Während des Abendessens hatten wir uns über Afrika unterhalten. Mr Parker hatte früher in Harare gelebt – lange bevor Harare Harare hieß – und in dieser Zeit die folgende Geschichte über einen Farmer namens Anthony Powell gehört, der einst in ein kleines, fernab in der Savanne gelegenes Dorf gezogen war.

Kurz nach seiner Ankunft in dem kleinen Dorf wurde Anthony Powell mit seiner Haushälterin bekannt gemacht, die zum Inventar gehörte. Sie war eine zierliche Frau. Wenn Anthony von der Arbeit nach Hause kam, hörte er sie singen oder Selbstgespräche führen. Doch wenn er sie bat, etwas leiser zu sein, damit er zum Beispiel im Schein der Petroleumlampe ungestört Briefe schreiben konnte, starrte sie ihn bloß verständnislos an und sagte:

»I can’t hear you, master.«

Anthony war ein tüchtiger Farmer, der Hand in Hand mit den Einheimischen arbeitete und mit dem Häuptling auf vertrautem Fuß stand. Eines Tages, nachdem er ein einträgliches Geschäft zum Abschluß gebracht hatte, kam er nach Hause und spürte, daß etwas nicht stimmte. Von seiner Haushälterin war weder etwas zu sehen noch zu hören. Während er seine Arbeitskleidung ablegte und sich eine Tasse Tee machte – er sah, daß er bald in die Stadt mußte, um neuen zu kaufen –, herrschte im Haus vollkommene Stille. Er setzte sich nach draußen auf die Veranda und nahm sich einen Brief vor, den er vor Wochen von einem Jugendfreund bekommen hatte. Der Horizont hatte begonnen, sich zusammenzuziehen. Er erwog, ein Bad zu nehmen. Auf der anderen Seite des Weges ahnte er die Silhouette seiner Haushälterin.

Mehrere Wochen später ereignete sich während des Pflügens ein Unglück. Einer von Anthonys mitgebrachten Ochsen riß sich während der Feldarbeit los, attackierte drei Männer, die versuchten, ihn einzufangen, bevor er brüllend und bebend zu Boden stürzte, daß es Anthony unter seinen Fußsohlen spürte. Daß sich in den nächsten Tagen bei den Eingeborenen die Auffassung durchsetzte, der Ochse sei verhext gewesen, war eine Tatsache, der Anthony hilflos gegenüberstand. Man verwies auf die rollenden Augen des Ochsen und die Farbe des Geifers, der ihm aus dem Maul gequollen war. Mehr und mehr Männer weigerten sich, für den weißen Mann zu arbeiten.

Anthony, der mit seiner Haushälterin bislang nur über die notwendigsten Dinge gesprochen hatte, war bekümmert, faßte sich eines Tages ein Herz und fragte sie, warum man glaube, der Ochse sei verhext gewesen.

»I can’t hear you, master«, antwortete sie, und Anthony dachte, er habe die Frage womöglich falsch formuliert.

Er versuchte es mit einer anderen Frage:

»Wer hat meinen Ochsen verhext?«

Als sie nicht sofort antwortete, wiederholte er seine Frage, diesmal eindringlicher, verzweifelter:

»Wer hat meinen Ochsen verhext?«

Die Haushälterin, die gerade einen Kochtopf scheuerte, trocknete ihre Hände an einem Geschirrtuch ab, drehte sich zu ihm um und sagte:

»I can’t hear you, master.«

Anthonys größtes Problem war zunächst, was er mit dem toten Ochsen anstellen sollte. Ihn zu begraben wäre übertrieben, verspeisen wollte er ihn nicht – vielleicht war er krank gewesen –, und einfach auf dem Feld liegen und verwesen lassen konnte er den Ochsen auch nicht. Er sah sich gezwungen, ihn zu entfernen.

Ein Ochsenkarren wurde bereitgestellt, und ein treu ergebener junger Mann war ihm bei der Arbeit behilflich, die sich als außerordentlich anstrengend erwies.

Der Ochse wurde in Stücke zerlegt, um ihn überhaupt auf den Karren hieven zu können. Auf der Ladefläche floß das Blut in kleinen Kanälen zwischen den Körperteilen, als hinge der Ochse immer noch zusammen, ganz gleich, wie sehr man ihn auch zerteilte. Es war mitten am Tag. Das ganze Dorf war auf einem Fest, so daß Anthony nicht damit rechnete, bei seinem zweifelhaften Vorhaben beobachtet zu werden. Er hatte eine unweit des Dorfes gelegene Schlucht ausgewählt, in die er den Ochsen werfen wollte.

Der Afrikaner saß bei den Ochsenteilen auf der Ladefläche, während Anthony den Karren die zwei notdürftigen Radspuren entlang zog. Der Karren schaukelte wie ein Schiff bei schwerer See.

Plötzlich verloren sie den Kopf des Ochsen.

Der Afrikaner war wie versteinert, er hatte Blickkontakt mit einem toten Auge, das leuchtete wie Glas. Es war Anthony, der den Kopf wieder aufheben mußte. Kurz darauf verloren sie ein Schulterstück. Die Ladefläche war immer stärker von Blut verschmiert, und der junge Mann warnte Anthony, man würde womöglich die Löwen und Hyänen anlocken, die sich stets in der Gegend aufhielten. Anthony ertappte sich bei dem Gedanken, der Ochse könne unter Umständen wirklich verhext gewesen sein.

Als Anthony den Wagen durch ein kleines Waldstück führte und durch etwas lenken wollte, das er für eine kleine Pfütze hielt, steckten die Räder plötzlich fest. Sie legten Zweige unter die Räder, um den Karren freizubekommen, aber ohne Erfolg. Anthony blieb nichts anderes übrig, als jedes Ochsenstück einzeln aus dem Wald herauszutragen.

Doch als er den Karren befreit hatte und den von Fliegen umschwirrten Ochsen wieder aufladen wollte, fiel eines der Räder ab, das sich im Schlamm offenbar verzogen hatte. Anthony mußte den Ochsen stückweise zur Schlucht tragen; der Afrikaner hielt Wache.

Als er von seiner vorletzten Tour zurückkehrte, ihm fehlte nur noch der Kopf des Ochsen, sah er, wie der junge Mann von einem Löwen angefallen wurde. Ohne zu zögern näherte sich Anthony dem Karren, auf dem, gleich neben dem Schädel des Ochsen, ein geladenes Gewehr lag. Doch bevor er es erreichte, hatte der Löwe seine Schulter gepackt, und wäre der Speer des Afrikaners nicht gewesen, hätte dies zweifellos Anthonys Tod bedeutet. Doch er überlebte und wurde, mit klaffenden Wunden am ganzen Körper, zu seinem Haus zurückgebracht, wo ihn seine Haushälterin sofort auf den Küchentisch legte und daran ging, ihn zu verbinden.

Anthony hatte wochenlang mit seinen Verbänden im Bett gelegen, als die junge Tochter seiner Haushälterin zu Besuch kam. Die Tochter übernahm seine Pflege, und er verliebte sich augenblicklich in sie. Es war nicht nur die Art, wie sie ihn anlächelte, sich bewegte oder sein Kissen aufschüttelte, – alles