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Ein Herrenhaus und sein düsteres Geheimnis
Juliet ist überwältigt, als sie das alte Familienanwesen Havencross zum ersten Mal sieht. Die junge Historikerin wurde von der Familie Somersby beauftragt, das riesige Haus zu entrümpeln. Der attraktive Noah Bennett bietet ihr seine Hilfe an, und bald bekommt Juliet Herzklopfen, wenn sie an seine grünen Augen denkt … Doch eines Nachts hört Juliet Schritte und glaubt, die Gestalt eines Kindes zu erkennen – sieht sie Geister? Um nicht über die dunklen Seiten ihrer eigenen Vergangenheit nachdenken zu müssen, stürzt sich Juliet in die Geheimnisse von Havencross und stößt auf die Legende vom verschollenen Jungen, die bis zu den Rosenkriegen zurückreicht. Kann es derselbe Junge sein, den Juliet meint in dem hallenden, leeren Haus gesehen zu haben?
Von der Autorin des Publikumserfolgs »Das geheime Turmzimmer«: ein Familiengeheimnis-Roman der Spitzenklasse
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© Laura Andersen 2021
Titel der englischen Originalausgabe:
»The Forgotten Boy«, 2021
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2022
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Redaktion: Kerstin von Dobschütz
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Cover & Impressum
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Ed Murray
Dank
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
November 2018
Dieses Gebäude ist ein St. Pancras in Miniaturformat, dachte Juliet.
Wobei Miniatur wohl kaum ein passendes Wort war, um Havencross zu beschreiben, überlegte sie weiter. Das Herrenhaus war ein Mammutbau, gigantisch und überwältigend. Zwar mochte das ausgedehnte Gemäuer nicht so viel Platz beanspruchen wie St. Pancras mitsamt seinem Hotel, aber dafür war Londons berühmter Bahnhof von Häusern umgeben, von tobendem Stadtleben und wimmelnden Menschen, sodass das Auge in jedem Moment von etwas Neuem angezogen wurde. Hier in Northumberland hingegen gab es nichts weiter zu sehen als Havencross, dieses überladene neugotische Bauwerk, das seine extravagante Silhouette mit den gemauerten Ziegelsteintürmen und den gemeißelten Pinakeln gegen den grauen Himmel warf.
Und erst die Fenster: Havencross hatte spitz zulaufende Fenster mit filigranem Maßwerk, Bleiglasfenster und Giebelfenster, kleeblattförmige Fenster, die sich unter Spitztürmchen versteckten. Hundert Augenpaare konnten Juliets Ankommen aus ebenso vielen Fenstern beobachten.
In den nächsten fünf Monaten würde sie allerdings die Einzige sein, die hier aus den Fenstern schaute. Vor fast zweihundert Jahren war das Haus für eine fünfzehnköpfige Familie samt Personal erbaut worden, und später hatte es als Internatsschule für neunzig Jungen gedient. Als Juliet die Stelle angenommen hatte, war sie nicht auf einen derart einschüchternden Reichtum an Baustilen und auch an Raum gefasst gewesen.
Sie begann sich auszumalen, wie Havencross wohl im Dunkeln wirken würde, brach das jedoch schnell wieder ab, denn sie war Meisterin darin, Unangenehmes so lange zu ignorieren, bis es nicht mehr möglich war.
Feigheit, nannten manche das. »Nicht den Teufel an die Wand malen«, hatte ihre Großmutter dazu gesagt, und dieser Ausdruck gefiel Juliet besser.
Nell Somersby-Sims, Rechtsanwältin und Cousine um ein paar Ecken, die die Beschreibung von Havencross verfasst und Juliet für die nächsten fünf Monate eingestellt hatte, wartete draußen vor der hochherrschaftlichen Doppeltür. Als Juliet hielt und das Fenster ihres Leihwagens herunterließ, sagte Nell: »Fahr bis ganz nach hinten durch und dann nach links, da findest du Platz, um den Wagen abzustellen.«
»Möchtest du einsteigen?«, fragte Juliet.
»Ich gehe durchs Haus, und wir treffen uns dann am Waschkücheneingang.«
Ist mir recht, dachte Juliet, denn ihr war noch nicht ganz wohl dabei, auf der linken Straßenseite zu fahren. Es war zwar unwahrscheinlich, dass sie auf dem Weg zur Rückseite des Hauses Gegenverkehr haben würde, aber trotzdem. Zurzeit fand sie es wichtig, kompetent zu wirken. Bei allem, was sie tat. Ausnahmslos.
Auf der Rückseite des Herrenhauses wurden die gotischen Verzierungen von der nüchternen Struktur des ursprünglichen Gebäudes aus dem fünfzehnten Jahrhundert abgelöst. Nell Somersby-Sims – auch wenn sie eine entfernte Cousine war, Juliet konnte nicht anders, als sie in Gedanken mit ihrem vollen Oberschichtsnamen anzusprechen – wartete jetzt an der soliden Eichentür, die in die Waschküche führte, während Juliet ihre Sachen aus dem Auto holte. Nell trug Stiefel mit zehn Zentimeter hohen Absätzen, die für die City gedacht waren, nicht für Gepäcktransporte über verwilderte Wirtschaftshöfe.
Juliet ließ ihren Koffer und ihre Umhängetasche auf den Fliesenboden der viktorianischen Waschküche fallen und betrachtete die Kupferbottiche und die Gestelle, die man früher mit schwerer, nasser Wäsche behängt und an die Decke hochgekurbelt hatte.
Hastig sagte Nell: »Für die schweren Sachen und für alles, was an den Wänden oder am Fußboden befestigt ist, bist du natürlich nicht zuständig. Wenn du dann wieder fort bist, lassen wir ein Umzugsunternehmen kommen und das ganze Haus ausräumen. Deine Aufgabe ist es, die alten Kommoden, Kleiderschränke und Regale durchzusortieren und solche Dinge.«
»Ja, du hast mir den Job sehr genau beschrieben.«
Eigentlich war es gar kein richtiger Job. Zum einen würde man Juliet nicht bezahlen, oder jedenfalls nicht gleich. Vorerst war es eine Art Tausch. Nach drei Jahren als Lehrbeauftragte für Viktorianische Geschichte in Maine hatte Juliet flüchten müssen – sowohl aus Maine als auch aus ihrer zerbrochenen Ehe. Mit dreißig war sie wieder bei ihren Eltern untergeschlüpft, und ihr Erspartes war nur noch eine ferne Erinnerung … kein schöner Zustand. Sie hatte unbedingt etwas tun wollen, aber nicht die Energie gehabt, selbst die Initiative zu ergreifen, und so war sie in England gelandet, ohne richtig zu wissen, wie sie hergekommen war. Angefangen hatte das alles, als ihre Mutter vor drei Wochen von einer britischen Anwältin – oder Notarin – kontaktiert worden war. Es ging um den Verkauf eines alten, unbewohnten Anwesens, das sich in Familienbesitz befand.
Havencross.
Juliet war zum Teil aufgrund ihres Bewerbungsgespräches über Skype eingestellt worden und zum Teil, weil ihre Mutter angeboten hatte, das Gehalt aus ihrem eigenen Anteil vom späteren Verkaufserlös zu bezahlen. In erster Linie aber hatte man sie angeheuert, weil sie bereit war, allein in einem eintausenddreihundert Quadratmeter großen Haus mitten im Nationalpark Northumberland zu wohnen, an einem rasch dahinströmenden Fluss und zehn Meilen vom nächsten Dorf entfernt. Fünf Monate lang. Fünf Wintermonate.
Havencross sollte in ein exklusives Country Hotel umgewandelt werden, von der Art, die im Herbst Jagdveranstaltungen boten, im Winter Schneeschuhwandern und lodernde Kaminfeuer, im Frühling und im Sommer Angeln und Wandern und dazu einen Küchenchef aus dem Ausland sowie Viersterne-Luxusbetten. Doch bevor die kostspieligen Renovierungen beginnen konnten, musste das Haus von den Hinterlassenschaften einiger Generationen befreit werden.
Nell gab ihr einen kurzen Überblick über das Erdgeschoss, aber als sie anbot, ihr auch den Rest des Hauses zu zeigen, winkte Juliet ab. Sie sah, dass die junge Frau gern wieder loswollte. Und Juliet selbst wollte Nell auch gern los sein, ungeachtet ihrer verwandtschaftlichen Beziehung. Die hätte ebenso gut gar nicht existieren können, denn Juliet hatten den Namen ihrer Cousine vor drei Wochen zum ersten Mal gehört.
Nicht, dass sie etwas gegen Nell Somersby-Sims persönlich gehabt hätte. Mit ihrem schimmernden, schulterlangen Bob, den mit Gel manikürten Nägeln und dem Bleistiftrock in Größe sechsunddreißig war sie wirklich eine nette Frau. Aber Juliet konnte Nells Zweifel förmlich hören: Das geht bestimmt klar, wir haben diese Frau ja nicht eingestellt, um irgendetwas Wesentliches zu tun, sie ist kaum mehr als ein Frühwarnsystem, und es ist ja nicht so, als würde jemand eine unglückliche Wissenschaftlerin vermissen, wenn sie mal fünf Monate lang anderswo ist.
Juliet hatte sich im Umgang mit schönen, beruflich erfolgreichen Frauen schon immer in der Defensive gefühlt. Und nach den letzten drei Jahren, in denen ihre Hormone verrücktgespielt hatten, ihr Mann gleichgültig geblieben war und tiefer Kummer sie bedrückte, war sie überzeugt, dass sie im Grunde unsichtbar war.
»Das ist nur in deinem Kopf«, hatte Duncan ungeduldig gesagt. »Wenn dir dein Aussehen oder deine Emotionen nicht gefallen, wenn es dir nicht passt, dich unsichtbar zu fühlen, dann tu doch was dagegen!«
Im Moment jedoch sehnte Juliet sich geradezu danach, unsichtbar zu sein. Doch, ja, Miss Somersby-Sims, ich komme hier klar, dachte sie. Hier ist ein Grundriss vom Haus, sehr hilfreich, und alle nötigen Schlüssel sind auch da, und es ist sehr nett von dir, dass du für eine Woche Lebensmittel besorgt hast, und ich kann es kaum abwarten, mich in die Arbeit zu stürzen …
Beim Hinausgehen zögerte ihre Cousine an der Waschküchentür. »Rachel Bennett kommt jeden Donnerstag und putzt im Wohnbereich. Sie ist die nächste Nachbarin hier. Auf der Straße sind es fast drei Meilen bis zu ihrer Farm, aber wenn man den Fußweg über die Felder diesseits des Flusses nimmt, ist es nicht so weit. Die Familie Bennett lebt schon ewig hier – wenn du etwas über die Gegend und ihre Geschichte wissen möchtest, ist Rachel genau die richtige Ansprechpartnerin.«
»Das ist schön, danke.«
»Du kannst mich jederzeit mobil erreichen, wenn du Fragen hast oder etwas Unerwartetes auftaucht. Ganz viel Glück.«
Noch bevor Nell in ihrem schnittigen Audi vom Hof gebraust war, machte Juliet die Hintertür zu und lehnte sich dagegen. Sie schloss die Augen und spürte ihr Herzklopfen.
Allein. Genau das hatte sie sich gewünscht.
Oder nicht?
2018
Als Erstes hatte Juliet das vor, was sie immer als Erstes tat, wenn sie auf Reisen war – auspacken und Ordnung schaffen, um nicht im Chaos wohnen zu müssen. Nell Somersby-Sims hatte sie zu ihrer Unterkunft im Erdgeschoss geführt, einem Wohnzimmer und einem Schlafzimmer mit einem Bad aus den 1940er-Jahren, die Clarissa Somersbys letztes Zuhause gewesen waren. Clarissa war 1894 auf Havencross geboren und mit achtundneunzig Jahren in diesen Räumen verstorben. Juliet war zwar in Bezug auf den Tod nicht abergläubisch – in den vergangenen sechs Monaten hatte sie zeitweise kaum an etwas anderes gedacht –, doch in dieser kleinen Wohnung bekam sie Platzangst, daher schleppte sie ihr Gepäck trotzig die Treppe hinauf und erkundete dann auf eigene Faust das zweite Stockwerk. Nein, das erste Stockwerk, korrigierte sie sich, schließlich befand sie sich nicht mehr in den USA, sondern in England, und hier zählte man das Erdgeschoss als Stockwerk nicht mit. Allerdings spielten solche sprachlichen Unterschiede im Moment wohl kaum eine Rolle, denn sie war allein im Haus und musste auch nicht befürchten, im Fahrstuhl auf den falschen Knopf zu drücken.
Juliet hatte das Exzentrische an der englischen Architektur immer geliebt, aber ein Gebäude wie dieses brachte sie mit ihrer Liebe an ihre Grenzen. Es war als Wohnhaus für eine Familie errichtet worden, in einer Zeit, als große Familien und eine noch größere Anzahl an Dienstboten in den Gesindestuben die Regel waren. Später hatte man es den Bedürfnissen eines Jungeninternates angepasst, und im Zweiten Weltkrieg war es dann requiriert und in ein militärisches Ausbildungszentrum umfunktioniert worden. Diese wechselhafte Geschichte führte dazu, dass Juliet ein Weilchen brauchte, um herauszufinden, wofür die einzelnen Räume ursprünglich genutzt worden waren.
Gleich oben an der Treppe lagen zwei sehr große Zimmer, die als eine Art Empfangsräume gedient haben mussten, auch wenn sie nicht so groß waren wie die hallenähnlichen, formaleren Räumlichkeiten im Erdgeschoss. In einem der beiden Räume schmückten Steinreliefs, die verschiedene Instrumente und Noten darstellten, die Kamineinfassung und die Friese, daher vermutete Juliet, dass es sich hier um ein Musikzimmer gehandelt haben musste. Der andere Raum war vielleicht einst ein Morgenzimmer gewesen, jenes den Frauen aus der Oberschicht vorbehaltene Zimmer, in dem sie ihre private Korrespondenz erledigen und sich in weniger förmlicher Kleidung zeigen konnten als in den allgemein zugänglichen Bereichen des Hauses.
In beiden Räumen stand ein buntes Sammelsurium von Möbelstücken, von einem Chippendale Sideboard über den Nachbau einer mittelalterlichen Bank, auf der zehn Schuljungen nebeneinander Platz gefunden hätten, bis hin zu Militärschreibtischen aus Metall. Als Clarissa in den späten Siebzigerjahren nach Havencross zurückgekehrt war, hatte sie sich offenbar entschieden, diese Räumlichkeiten nicht zu nutzen.
Hinter diesen beiden Zimmern erstreckten sich nach Osten und nach Westen hin lange Flure. Im Westflügel befanden sich Schlafzimmer verschiedener Größen und ein riesengroßes Badezimmer, das in voller Art-déco-Pracht ausgestattet war, mit mintgrünen Fliesen sowohl auf dem Fußboden als auch an den Wänden.
Das geräumigste Schlafzimmer lag ganz am westlichen Ende des Gebäudes. Vier der schmalen, nahezu bodentiefen Fenster mit den schweren grünen Damastvorhängen lagen an der Seite des Hauses, und zwei gingen auf den Fluss hinaus. In diesem Zimmer standen ein wuchtiges Mahagonibett, das hier oben zusammengebaut worden sein musste, weil man es im Ganzen niemals die Treppe hätte hinauftragen können, und eine schöne Frisierkommode. Eingebaute Regale flankierten den marmornen Kamin. Eine Tür führte in ein viktorianisches Ankleidezimmer, von dem aus eine weitere Tür in ein kleineres Schlafzimmer abging, das wohl den Ehemännern gedient hatte, die im Bett ihrer Gattin nicht immer willkommen gewesen waren.
In diesen Räumen gab es viele Dinge, die sortiert werden mussten, denn sie waren in jüngerer Zeit erneut vollgeräumt worden, mit Büchern, Papierstapeln und sogar Truhen mit altmodischer Kleidung. Es mussten Clarissas Zimmer gewesen sein, bevor das Alter sie gezwungen hatte, nach unten zu ziehen. Juliet freute sich zwar darauf, das alles durchzugehen, und die vier Fenster an der Seite boten einen wunderschönen Blick auf den ursprünglichen, ummauerten Garten, aber sie verspürte nicht den geringsten Wunsch, hier zu schlafen.
Schließlich entschied sie sich für ein Zimmer im ältesten Teil des Hauses. Es war nicht allzu groß, aber sie fand es bezaubernd. Es hatte unterschiedlich steile Dachschrägen und einen Fenstersitz, und die leuchtenden Farben der handbemalten Tapete waren zu einem freundlich milden Hintergrund verblichen. Die Holztäfelung hatte man irgendwann einmal in einem dunklen Grünblau angestrichen; die Innenausstattung erinnerte Juliet an das House of the Seven Gables in Salem, Massachusetts. Duncan und sie hatten Salem immer geliebt. Auf der anderen Seite des Flurs befand sich ein ähnlicher Raum, den sie als Arbeitszimmer oder kleines Wohnzimmer nutzen konnte.
Die Sonne war schon untergegangen, als Juliet ausgepackt hatte und entschied, dass es ungefährlich war, die nächste Toilette aufzusuchen. Zum Duschen würde sie später allerdings nach unten in die Wohnung wandern müssen. Nell und ihre Chefs hatten in den wichtigsten Teilen des Hauses bereits die Elektrik erneuern lassen. Aber selbst mit den nagelneuen Glühbirnen im Korridor und in der Eingangshalle schien Havencross Licht zu schlucken.
Früher hatte Juliet sich vor Dunkelheit gefürchtet. Eine Nachbarin hatte einmal bemerkt, sie wisse immer, wann Duncan nicht da sei, denn dann brenne die ganze Nacht lang Licht im Haus. Doch seit Mai hatte Juliet im Innern für Angst vor eingebildeten Gefahren keinen Raum mehr. Daher stieg sie, nachdem sie sich in der Küche Suppe warm gemacht hatte, wieder in den ersten Stock hinauf und dann weiter bis ins Dachgeschoss des viktorianischen Gebäudeteils.
Sie wollte sich einen Überblick verschaffen, wo wie viel Arbeit anfiel. Und ja, sie inspizierte eine ganze Reihe kleiner Dienstbotenkammern, die mit Kartons und ausrangierten Haushaltsutensilien vollgestellt waren. Am meisten aber überraschte sie ein luftiger Raum mit hoher Decke, der, nach dem schnurlosen Telefon zu urteilen, noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg benutzt worden war.
Das konnte nur Clarissa gewesen sein, denn soweit Juliet wusste, hatte seit sechzig Jahren niemand anderes mehr auf Havencross gewohnt. Voller Neugier betrachtete sie die Regale und den Schreibtisch. Das hier war nicht das Zimmer oder das Büro einer traurigen, exzentrischen Einsiedlerin gewesen; obwohl es seit vielen Jahren nicht mehr benutzt wurde, strahlte es immer noch so viel Lebendigkeit und geistige Eigenständigkeit aus, dass Juliet vermutete, sie hätte sich gut mit Clarissa verstanden. Und warum auch nicht? Clarissa war die Großtante ihrer Mutter gewesen. Damit war sie selbst Clarissas … na ja, jedenfalls war sie irgendwie mit ihr verwandt.
Hier oben hing bloß eine trübe Funzel an der Decke, daher sah Juliet sich nur flüchtig um. In den Schubladen entdeckte sie sowohl getippte als auch handgeschriebene Seiten, und der kurze Blick auf die Regale erweckte den Eindruck, dass sich hier jemand sehr für englische Geschichte interessiert hatte.
Gerade wollte Juliet das Licht wieder ausschalten, da sah sie aus dem Augenwinkel auf einem der unteren Bücherbretter etwas schimmern. Es war ein Silberrahmen, in dem ein altes Foto von einem kleinen Jungen steckte.
Dunkles Haar, runde Wangen, ein gestärktes weißes Hemd und Kniebundhosen aus einer Zeit noch vor dem Ersten Weltkrieg; selbst in der Erstarrung auf der Schwarz-Weiß-Fotografie besaß der Junge einen unwiderstehlichen Charme. Als würde er Juliet jeden Moment mit breitem Lächeln in die Arme springen wollen.
Juliet betrachtete den Jungen viel länger, als die Aufnahme selbst es rechtfertigte. Erst als der Kummer sie zu ersticken drohte, floh sie in die Sicherheit ihres Schlafzimmers und zu ihren Schlaftabletten.
2018
Schon immer war Juliet aufgefallen, dass sie in der ersten Nacht an einem fremden Ort schlecht schlief. Doch in der letzten Zeit war es normal gewesen, dass sie trotz der Tabletten nicht richtig schlafen konnte, daher war sie nicht müder als sonst, als der Wecker klingelte. Sie checkte ihre Nachrichten und antwortete auf eine SMS, die ihre Mutter um Mitternacht in Pennsylvania abgeschickt hatte:
Was macht das Spukhaus?
Juliet schrieb zurück:
Bisher noch keine Gespenster, bloß viel Staub und eine Menge Kartons.
Als Juliet der Job angeboten worden war, hatte ihre Mutter einen ganzen Nachmittag lang in Erinnerungen an die Großtante Clarissa geschwelgt. Juliets englische Großmutter war im Alter von zehn Jahren aus England nach Philadelphia umgezogen, und anschließende Familienbesuche in der Heimat hatten sich meistens auf London beschränkt. Aber mit vierzehn hatte Juliets Mutter, während ihre Eltern die Schweiz bereisten, eine Augustwoche bei ihrer Tante Clarissa auf Havencross verbracht.
»Brillant«, hatte ihre Mutter gesagt. »Ich meine, wirklich brillant, Clarissa war ein Genie. Sie hatte in Cambridge einen Master of Arts erworben und in Deutschland Mathematik studiert. 1940, als Frankreich in den Waffenstillstand mit den Deutschen einwilligte, hielt sie sich in Paris auf, aber was sie im weiteren Verlauf des Krieges gemacht hat, wusste niemand. Sie wollte nicht darüber sprechen. 1974 habe ich sie besucht, und sie war erst im Jahr zuvor nach Havencross zurückgekehrt. Damals muss sie schon fast achtzig gewesen sein.«
»Und das Haus?«, hatte Juliet gefragt, denn das würde ja ihr Arbeitsfeld sein.
Ihre so gesprächige Mutter hatte sich mit der Antwort Zeit gelassen. »Es erschien mir nicht wie ein Haus, das jahrelang leer gestanden hatte. Außer Clarissa und mir hielt sich niemand darin auf, und trotzdem wirkte Havencross … bewohnt. Als hätte das Haus ein Eigenleben, oder als würde es sich an das Leben in seinen Mauern erinnern. Man spürte, dass das Haus aus sich heraus weiterlebte, egal, wer es gerade bewohnte.«
Und obwohl ihre Mutter alle Geschichten über Geistererscheinungen lachend abgetan hatte, war in Juliet ein unbestimmtes Gefühl von … Möglichkeiten geweckt worden. Wäre sie vor sechs Monaten nicht komplett abgestürzt, dann hätte sie sich vielleicht sogar für Möglichkeiten interessiert. Jetzt aber wollte sie einfach nur arbeiten.
Das Schönste an der einsamen Arbeit in einem unbewohnten Haus war, dass sie bedenkenlos in Leggings und einem alten Highschool-Sweatshirt herumlaufen konnte, das sie auf dem Dachboden ihres Elternhauses aus einem Karton gefischt hatte. Sie frühstückte in Clarissas kleiner Küche im Stehen Toast und Joghurt und beschloss, dort anzufangen, wo sie sich gerade befand, nämlich in den letzten Wohnräumen ihrer Großtante.
Die Küche war so unpersönlich gehalten wie in einer Mietwohnung, bis auf das blau-weiße Porzellan, das bei einem Antiquitätenhändler einen guten Preis erzielen würde. Oder vielleicht wollten auch entferntere Verwandte einige Stücke davon haben? Juliet notierte sich auf dem Handy, dass sie Nell deswegen fragen wollte, und ging dann rasch sämtliche Schränke und Schubladen durch. Als sie in der Küche weiter nichts Interessantes fand, begab sie sich in Clarissas Schlafzimmer.
Selbst mehr als fünfundzwanzig Jahre nach Clarissas Tod hatte der Raum den Geruch nach hohem Alter bewahrt, eine Mischung aus gepuderter Haut und muffiger Wärme. Die Matratze war in eine Art Segeltuch eingewickelt, das kleines Getier fernhalten sollte, aber das Bettgestell war eine schöne Arbeit aus Kirschholz, mit geschnitzten Girlanden aus Ranken und Blumen. Der Kamin war mit glasierten viktorianischen Fliesen umrandet, und oben auf dem Sims standen zwei leere Kristallvasen.
Juliet öffnete einen Kleiderschrank, der offenbar von dem gleichen Schreiner hergestellt worden war, der auch das Bett angefertigt hatte, und machte ihre erste faszinierende Entdeckung: eine Unmenge an Vintage-Kleidung.
Tolle Wollsachen in Grau und Elfenbein und mit Hahnentrittmuster, feines Kaschmir, Samt und geblümte Baumwollkleider im Schrägschnitt, mit hoch angesetzter Taille und Schmetterlingsärmeln nach der Mode der 1930er-Jahre. In einer Hutschachtel, die selbst schon ein Sammlerstück war, lagen mehrere Modeartikel, die auch auf einer Hochzeit der Royals nicht fehl am Platze gewesen wären. Juliet entschied, dass sie ebenso gut hier in Clarissas Schlafzimmer beginnen konnte, jene Stücke zu sammeln, die einzeln für einen Verkauf geschätzt werden sollten.
Juliet hatte reichlich Packmaterial zur Verfügung, das in der Waschküche lagerte. Die nächste Stunde verbrachte sie damit, Kartons zu falten und die robusteren Stücke in säurefreies Papier einzuwickeln. Sie notierte sich, dass sie Nell anrufen und um Kleiderschutzhüllen bitten wollte. Nachdem sie einige Kartons ordentlich an einer Wand aufgereiht hatte, wandte sie sich der Frisierkommode zu.
Sie sah nicht so teuer aus und war nicht so schön verziert wie das Bett und der Kleiderschrank, doch mit den elegant geschwungenen Beinen und den Wellenkanten hatte sie viel Charme. Die kleine Frisierkommode erinnerte Juliet an den Schreibtisch, den ihre Eltern ihr zum zwölften Geburtstag geschenkt hatten, ebenfalls ein Möbelstück für ein Mädchen im Übergang von der Kindheit zur Jugend. Hatte Clarissa bis zum Schluss an diesem Stück aus ihrer Kindheit gehangen?
Die Schubladen enthielten nur edles Briefpapier, auf dem oben Clarissas Initialen eingeprägt waren, und verschiedene schöne Füllhalter, die Juliet als mögliche Verkaufsobjekte beiseitelegte. Oben auf der Frisierkommode standen drei Fotografien, in den gleichen silbernen Rahmen wie die Aufnahme, die Juliet am vergangenen Abend im ersten Stock entdeckt hatte.
Das mittlere Foto zeigte eine Familie, aufgenommen in der gleichen Zeit wie der Junge auf dem Foto oben. Es hätte den Titel tragen können: »Erfolgreicher viktorianischer Gentleman, umgeben von seiner Bilderbuchfamilie«. Neben einem Herrn mittleren Alters mit Koteletten saß eine jünger wirkende Frau, deren kerzengerade Haltung vermuten ließ, dass sie ein Fischbeinkorsett trug. Sie hatte vier Kinder – ein pummeliges Kleinkind, das sie auf dem Schoß hielt, ein kleines Mädchen von etwa drei Jahren mit einer riesengroßen Schleife um den Kopf, ein deutlich älteres Mädchen und einen Jungen –, es war eben der strahlende, schelmische Junge, den Juliet oben schon gesehen hatte. Sie spürte einen Schmerz in der Brust, als würde Stacheldraht um ihr klopfendes Herz festgezurrt, und legte das Familienfoto mit der Vorderseite auf die Frisierkommode.
Auf dem größten Foto war Havencross abgelichtet, so, wie man es von der langen, geschwungenen Auffahrt aus sah. Plötzlich sah Juliet ein Bild von Clarissa vor sich, wie sie mit den Fingern das Glas des Fotos berührte, als sie zu alt wurde, um ohne große Mühe nach draußen zu gehen und sich an diesem Anblick zu erfreuen.
Die dritte Aufnahme wirkte am wenigsten gestellt. Sie kam einem Schnappschuss so nah, wie es damals möglich war. Der Kleidung nach zu urteilen, musste die Fotografie um den Ersten Weltkrieg herum entstanden sein. Zwei junge Frauen saßen auf der Vordertreppe des Gebäudes. Beide trugen helle Blusen und dunkle Röcke, die ihnen eben bis zu den Knöcheln reichten. Eine der Frauen hatte ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß, und mit ihrem offenherzigen, großzügigen Lächeln sah sie aus, als würde sie gern und häufig lachen. Auf dem Schwarz-Weiß-Foto konnte man nur erkennen, dass ihr Haar heller war als das ihrer Gefährtin. Feine Strähnen und Löckchen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und umschwebten ihre Wangen und ihren Hals.
Das Haar der anderen Frau war ordentlicher hochgesteckt. Selbst dieses hundert Jahre alte Foto ließ erahnen, dass es dunkel geschimmert hatte. Etwas an den ausgeprägten Wangenknochen und dem markanten Kinn erinnerte Juliet an ihr eigenes Spiegelbild. Es war jedoch keine physische Ähnlichkeit, sondern eher das Leid, das ihre Züge prägte. Das Lächeln dieser Frau war weniger offen und schüchterner als das ihrer Gefährtin, und sie hatte die verschränkten Arme auf die Knie gestützt.
Nachdem Juliet die Fotos eine ganze Weile ergebnislos betrachtet hatte, sagte sie sich, dass die Personen darauf sich ihr wohl kaum vorstellen würden, und betrat das letzte Zimmer der Suite im Erdgeschoss. Es war eine kleinere Version des Arbeitszimmers, das sie am Vorabend im Dachgeschoss entdeckt hatte. Sie konnte sich vorstellen, dass Clarissa, alt und nicht mehr sicher auf den Beinen, gezwungen gewesen war, ihre wichtigsten Bücher und Dokumente nach hier unten mitzunehmen. Daher vermutete Juliet, dass die Auswahl in diesem Raum ihr einen guten Überblick über Clarissas Gedankenwelt zum Ende ihres Lebens hin verschaffen würde.
Die Bücher bestätigten, dass sie sich für englische Geschichte interessiert hatte. Allerdings beschränkten sich die Nachschlagewerke und Geschichtsbücher jetzt auf das fünfzehnte Jahrhundert. Juliet überflog die Titel auf dem kleinen Regal neben dem weinroten Ledersessel. Es waren vor allem Sachbücher, viele davon über die Rosenkriege. Aber Juliet fand auch ein zerlesenes Exemplar von Alibi für einen König, dem berühmten Kriminalroman von Josephine Tey, der sich der Rehabilitierung von König Richard III. widmete, dessen Ruf in der Tudorzeit so gelitten hatte.
Außerdem gab es ein Regal mit Schriften zur Regionalgeschichte, darunter ein Büchlein über Havencross. Manche dieser Werke waren kaum mehr als zusammengeheftete Fotokopien.
Julia saß im Schneidersitz vor den Bücherregalen auf dem Fußboden und fragte sich, was der Grund für Clarissas Interessen war. Das Haus, natürlich, und das Interesse an der Geschichte des Familiensitzes war absolut nachvollziehbar. Aber warum hatte sie sich ausgerechnet auf den Konflikt zwischen den Adelshäusern York und Lancaster konzentriert? War Havencross in die lange zurückliegenden Rosenkriege verwickelt gewesen? Juliets Spezialgebiet war die Sozialgeschichte der Viktorianischen Epoche und der Regierungszeit von Eduard VII. Ihr Wissen über frühere Jahrhunderte war bruchstückhaft.
Spontan wählte sie einige Geschichtsbücher aus, um sie bei den Mahlzeiten und im Bett zu lesen. Wenn sie fünf Monate hier verbringen wollte, brauchte sie neben dem Putzen und Aussortieren auch etwas zum Nachdenken. In dieser Stimmung nahm sie auch das Foto von den beiden Frauen mit. Nell Somersby-Sims hatte gesagt, die Reinigungskraft gehöre zu einer Familie, die seit Generationen in der Gegend lebte. Vielleicht konnte diese Frau Juliet die Geschichte hinter diesem überraschend bewegenden Schnappschuss erzählen.
September 1918
Noch bevor Havencross in Sicht kam, hatte Diana Neville bereits ungute Vorahnungen. Wer lebt denn mitten im Niemandsland?, dachte sie ärgerlich, erkannte jedoch, dass ihr Ärger im Grunde Angst war. Und gerechterweise musste man sagen, dass Havencross bereits eine ganze Weile nicht mehr als privater Wohnsitz genutzt worden war, auch wenn die Familie Somersby, als sie das Anwesen in eine Schule umgewandelt hatte, ihre Wohnräume für sich behalten hatte. Trotzdem …
Eine schmale Brücke verband das Westufer des Flusses mit dem Ostufer. Hätte Diana ein Fahrzeug gelenkt, das schwerer und breiter war als ihr Motorrad, dann hätte sie vielleicht Bedenken gehabt. Und selbst während sie jetzt ihre Douglas vorsichtig über die Brücke steuerte, betrachtete sie besorgt das stahlgraue Wasser unter sich. Sie konnte zwar schwimmen, doch den eisigen Gewässern des Nordens war nicht zu trauen.
Internatsschule Havencross verkündete das schmucklose Schild auf der anderen Seite der Brücke, und nach kaum einer Minute tauchte das Gebäude auf. Aus einer kleinen Bodensenke ragten zuerst Türme und Türmchen hervor, die sich wie ein mittelalterliches Märchenschloss gegen das verwaschene Blau des Himmels abhoben. Dann kam rasch das ganze Haus zum Vorschein, und obwohl Diana sich vorgenommen hatte, sich nicht beeindrucken zu lassen, staunte sie mit offenem Mund. Neunzig Schüler? Dieses Herrenhaus konnte dreimal so viele Jungen beherbergen. Es zu heizen, musste ein Vermögen kosten.
Diana hatte ihr Gepäck vorausgeschickt, zusammen mit der Warnung, dass sie per Motorrad anreisen würde. Niemand sollte erschrecken, wenn die neue Schulkrankenschwester in Drillichhosen, kniehohen Stiefeln und Lederhandschuhen erschien. Sie hatte sich einige Sätze zurechtgelegt, um sich vorzustellen und auch gleich zu verteidigen, aber die Frau in der Eingangstür begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln.
»Miss Neville? Ich bin Beth Willis, die Schulsekretärin. Willkommen auf Havencross.«
Die Eingangshalle war drei Stockwerke hoch, und auf jedem Stockwerk teilte die Prunktreppe sich in offene Treppenabsätze rechts und links. Die Wände waren in einem cremeweißen und dunkelgrünen William-Morris-Muster gefliest, und eine Mahagonitäfelung reichte bis in Kopfhöhe.
Mrs Willis wirkte so munter und adrett wie ein englischer Sperling. »Ich führe Sie schnell herum, damit Sie einen Eindruck vom Haus bekommen, und dann zeige ich Ihnen Ihr Zimmer«, sagte sie. »Und natürlich auch die Krankenstation. Wenn Sie nicht zu müde sind.«
Aus dem Mund einer anderen Frau hätten diese Sätze leicht herablassend klingen können. Aber Mrs Willis war jung, vielleicht Anfang bis Mitte dreißig, sie hatte sanfte braune Augen, lächelte viel, und an ihrer Bluse steckte eine schwarze Schleife. War sie Witwe? Heutzutage gab es in England ja so viele Witwen. Diana fragte sich, ob Beth Willis wohl Kinder hatte.
Wie sich herausstellte, hatte sie zwei Söhne auf der Schule. »Nach den Sommerferien ist mein Jüngster dann auch dabei«, vertraute sie Diana an. »Übrigens, wollen wir uns nicht duzen? Ich bin Beth.« Diana willigte gern ein.
Das Gebäude war so gut aufgeteilt, wie es in diesem besonderen Fall nur möglich war. Alle Räume rechts von der Eingangshalle gehörten zur Schule: Im Erdgeschoss befand sich ein Speisesaal mit fünf langen Tischen, im ersten Stock, der sich über einen Verbindungsflur bis hin zu dem langen Ostflügel hin erstreckte, lagen die Klassenzimmer und im zweiten Stock die Schlafsäle.
Das oberste Geschoss des Mittelbaus war für die Zimmer der Angestellten reserviert. »Aber du bist in einem privateren Teil untergebracht«, sagte Beth. Getrennt von den männlichen Mitarbeitern, hieß das. Außer Beth, die in einer Wohnung im Westflügel lebte, und Diana selbst wohnten hier nur noch zwei weitere Frauen: die Köchin, die ihr Zimmer in der Nähe des Küchenbereiches hatte, und Clarissa Somersby. Miss Somersby war nicht nur die Direktorin der Schule, sondern auch das letzte Familienmitglied, das noch auf Havencross lebte. Es war ja klar, dass sie keine Mansarde bewohnte.
Die Krankenstube lag im zweiten Stock am Ende des Ostflügels. Der luftige Raum hatte eine hohe Decke und frisch geweißte Wände, und eine lange Fensterreihe gab ihm etwas von einer Miniatur-Kathedrale. Vier Betten standen darin, aber falls nötig würde der Platz für doppelt so viele reichen. Diana lachte vor Freude auf, als Beth ihr das angrenzende Sprechzimmer zeigte, das ihr auch als Büro dienen würde. Es lag in einem der Rundtürme, und von hier aus hatte man den Blick über die Dächer bis zum Fluss. Wenn Diana sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie eben gerade einen Teil der Brücke sehen, über die sie gekommen war.
»Ich hoffe, es gefällt dir«, sagte Beth. »Unsere letzte Krankenschwester war ein bisschen altmodisch. Sie hatte seit der Eröffnung der Schule, also seit 1898, hier gearbeitet, und das sah man den Räumen an. Miss Somersby hat mich im Büro beurlaubt, damit ich hier renovieren konnte. Ich hoffe, das ist annehmbar so.«
»Annehmbar? Ich habe die letzten drei Jahre in Feldlazaretten und Armeezelten verbracht. Danach ist das hier wunderschön.« Diana wandte sich vom Fenster ab und betrachtete den hellen Eichenschreibtisch, den cremeweiß und blau gestreiften Läufer auf dem frisch gestrichenen Dielenboden und die Untersuchungsliege mit dem weißen Überwurf. Er wirkte so strahlend sauber, als könnte er aktiv alles abweisen, was mehr war als ein schlichter Schnupfen oder ein verstauchter Fuß. Leiser fügte Diana hinzu: »Ich bekomme hier fast ein schlechtes Gewissen.«
»Bitte nicht.« Die Sekretärin mit dem sanften Gesicht stieß diese Worte überraschend heftig aus. »Du darfst kein schlechtes Gewissen haben. Mein Mann ist in einem Feldlazarett bei Verdun gestorben. Nach seiner Verwundung hat er noch drei Tage gelebt, dann kam die Infektion – ich weiß, was die Krankenschwestern dort für ihn getan haben. Ich weiß, dass sie bei ihm gesessen und ihm geholfen haben, einen Abschiedsbrief an mich und die Jungen zu schreiben. Ich weiß, dass er nicht allein war, als er gestorben ist. Deswegen darfst du dich nicht schuldig fühlen, wenn du jetzt ein besseres Leben hast. Du hast es verdient.«
Diana zwinkerte eine Träne fort, dann drückte sie Beth die Hand. »Wir alle haben es verdient.«
Von der Krankenstation aus führte Beth sie durch eine Tür in einen Flur mit niedrigeren Decken und unebenem Fußboden. Auch wenn Beth nicht darauf hingewiesen hätte, wäre Diana klar gewesen, dass sie einen deutlich älteren Teil des Hauses betreten hatten.
»Ein Herrenhaus aus dem fünfzehnten Jahrhundert«, sagte Beth. »Es ist so solide gebaut, dass sich die Erhaltung über die Jahrhunderte hinweg lohnte.«
Nach der Tiefe der Fensternischen zu schließen, mussten die Mauern hier sehr dick sein. Dianas Zimmer ging von einem kurzen Flur mit vier Räumen ab und wurde als Einziges bewohnt. Eins der Zimmer war zu einem großen Bad umgebaut worden, und selbst jetzt im September zitterte Diana vor Kälte und hoffte bloß, dass das Wasser für die Badewanne richtig heiß sein würde. Die niedrige Balkendecke in ihrem Zimmer, die charmanten Winkel und die Faltwerk-Täfelung waren viele Generationen älter als die Ausstattung des Haupthauses, aber der große Kamin und die helle Bettwäsche machten den Raum gemütlich.
Zum Glück waren Dianas Koffer bereits eingetroffen. Nachdem sie sich von Beth verabschiedet und ihr versprochen hatte, mit ihr und ihren Söhnen zu Abend zu essen, begann sie mit dem Auspacken. So bequem ihre Motorradkleidung auch war, sie konnte die Sachen nicht ewig anbehalten.
Doch ihre Verwandlung in eine respektable Krankenschwester, der man bedenkenlos die Gesundheit von neunzig Knaben anvertrauen konnte und die sich von einem Lehrerkollegium aus fünfzehn Männern nicht irritieren lassen würde, wurde jäh unterbrochen. Sie trug zwar schon ihre schickliche, blau-weiß gestreifte Hemdbluse und den grauen Flanellrock, aber sie hatte ihre festgeflochtenen Zöpfe, die unter dem Motorradhelm praktisch waren, aufgelöst und stand in einer Wolke aus wirren Locken mitten im Zimmer, als jemand mehrmals rasch hintereinander an die Tür klopfte.
»Herein«, rief Diana in dem Glauben, Beth habe noch etwas vergessen.
Aber die Frau, die nun eintrat, war eindeutig keine Sekretärin. Diana hatte Clarissa Somersby zwar noch nicht persönlich kennengelernt, aber es bestand kein Zweifel, dass die Direktorin von Havencross vor ihr stand. Sie sah jünger aus, als Diana erwartet hatte, und sie war hübscher. Hatten Schuldirektorinnen denn nicht immer graue Haare und kräftige Augenbrauen? Miss Somersby hatte ihr dunkles Haar in seidenglatten Schlingen wie einen Rahmen um ihr zartes Gesicht mit den hohen Wangenknochen gelegt. Um Letztere beneidete Diana sie glühend, denn selbst während sie als überarbeitete Front-Krankenschwester abgenommen hatte, war ihr Gesicht unbeirrt rund geblieben. Wenn sie ihr Aussehen hätte beschreiben sollen, hätte sie eine durchschnittliche Größe genannt, ein durchschnittliches Gewicht und eine unauffällige Haarfarbe irgendwo zwischen Braun und Mittelblond … aber meistens machte sie sich keine Gedanken darüber. Außer, wenn sie einer Frau wie dieser Schulleiterin gegenüberstand.
Mit vornehmer Oberschichtsstimme sagte die Eingetretene jetzt: »Ich bin Miss Somersby. Ich weiß, dass wir eigentlich erst für später verabredet sind, aber ich wollte sichergehen, dass alles in Ordnung ist. Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie bisher gesehen haben?«
Diana besann sich auf ihre hart erarbeiteten Lektionen in Würde und Stärke, auch wenn man vierundzwanzig Stunden durchgearbeitet hatte und bis zu den Ellbogen mit Blut verschmiert war. Sie richtete sich gerade auf und antwortete: »Mehr als zufrieden. Havencross ist eine schöne Schule, und die Krankenstation ist wunderbar modern. Vor allem, wenn ich daran denke, wo ich herkomme.«
»Gut.« Dianas wilder Haarschopf und die Motorradjacke auf dem Bett waren Miss Somersby nicht entgangen. »Gegen Ihr Motorrad habe ich nichts einzuwenden, aber die Jungen haben selbstverständlich nichts daran zu suchen.«
Als würde Diana riskieren wollen, dass ihrer Douglas ein Leid geschah. »Natürlich nicht.«
»Dann erwarte ich Sie also in einer Stunde in meinem Büro, Miss Neville.« Miss Somersby hielt inne und fügte in weniger kühlem Tonfall hinzu: »Neville ist ein Name aus Nordengland. Sind Sie mit dem Haus Neville verwandt?«
»Sie meinen, die Nevilles aus den Rosenkriegen? Das Adelsgeschlecht, aus dem der Graf von Warwick, der Königsmacher, stammte? Wenn überhaupt, dann bin ich nur sehr entfernt mit den nordenglischen Nevilles verwandt. Meine Familie lebt seit Generationen in London, und der einzige Krieg, den wir kennen, ist der gegenwärtige.«
Doch von Plaudereien hielt Miss Somersby offenbar nichts. So plötzlich, wie sie eingetreten war, war sie auch wieder verschwunden. Die Tür hatte sie offen gelassen. Diana atmete auf und trat an die Frisierkommode, um ihr Haar zu bändigen.
Da schlug die Tür hinter ihr so plötzlich zu, dass sie ihre Haarbürste fallen ließ. War das ein Windstoß gewesen, der unerwartet durch das eben geöffnete Fenster hereingekommen war? Oder aber Clarissa Somersby, die sich entschieden hatte … zu was? Ihre neue Angestellte zu ermahnen, sie solle stets auf der Hut sein?
Aber auf der Hut, wovor?
September 1918
Drei Tage später, nach dem Frühstück, trudelten die Jungen ein. Im ganzen Haus waren die Lehrer damit beschäftigt, Schüler aufzunehmen, sich um Gepäck zu kümmern, Eltern taktvoll, aber möglichst schnell von ihren jüngeren Sprösslingen zu trennen und die älteren Jungen vom Herumtoben abzuhalten. Diana arbeitete fast sechs Stunden lang ohne Unterbrechung in ihrem neuen Sprechzimmer.
Sie hatte die Aufgabe, die Krankenakten der zurückkehrenden Schüler zu aktualisieren und für die neuen Schüler mit den Eltern zusammen eine gründliche Krankengeschichte zu erstellen. Diesen Luxus hatte sie sich bisher kaum leisten können, aber nun notierte sie sich auch unbedeutendere Krankheiten, wie Masern und Windpocken sowie kleinere Verletzungen, etwa einen Knöchelbruch beim Sturz von einem Baum oder einen Fahrradunfall, nach dem eine Wunde hatte genäht werden müssen. Der ängstlichen Mutter eines asthmatischen Neunjährigen versicherte sie, dass seine körperlichen Aktivitäten genau überwacht werden würden, und sie wiegelte höflich ab, als sie einem Vater versprechen sollte, dass sein Sohn, obwohl er im letzten Winter einen Anfall von rheumatischem Fieber gehabt hatte, nicht verweichlicht werden würde.
Manche Eltern hatte ältere Söhne im Krieg verloren; manche der Jungen hatten ihre Väter verloren. Geduldig hörte Diana einer Mutter zu, deren einziges Kind jetzt im Herbst auf Havencross anfangen sollte.
»Ich wollte ihn eigentlich nicht wegschicken«, gestand die Mutter. »Mein Mann hat seit 1915 in Frankreich gekämpft, und gerade erst wurde er wegen seiner geschädigten Lunge zum Invaliden erklärt. Aber mein Sohn hat darum gebettelt, ein Jahr lang auf ein Internat gehen zu dürfen. Ich habe gesagt, er kann es sich jederzeit anders überlegen, und ich würde ihn sofort abholen, wenn er das möchte. Ich wünschte bloß, ich wüsste, was das Beste für ihn ist.«
»Es wird ihm hier bestimmt gut gehen«, sagte Diana aufmunternd. »Wir passen auf ihn auf.«
»Ehrlich gesagt«, sprach die Mutter mit viel leiserer Stimme weiter, »ich glaube, Luke ist froh, dass er von zu Hause wegkommt. Sein Vater ist … nicht mehr so wie früher. Zu viel Lärm, zu viel Theater, die kleinsten Kleinigkeiten lassen ihn aus der Haut fahren.«
Diana dachte an ihren älteren Bruder, der früher so unbeschwert gewesen war und den sie seit Monaten nicht mehr hatte lächeln sehen. »Das tut mir sehr leid. Der Krieg fordert einen furchtbaren Preis, auch von denen, die ihn überleben.«
Im Flüsterton, der ihre Verzweiflung nicht verbarg, fragte die Mutter: »Wird es jemals wieder besser?«
»Die Zeit heilt viele Wunden.« Doch das war so ungefähr das Überflüssigste, was sie je gesagt hatte, dachte Diana bedrückt. Ja, die Zeit konnte heilen. Aber nicht immer und nicht jeden Menschen. Als die besorgte Mutter wieder fort war, machte Diana sich eine Notiz, dass sie persönlich auf Luke achtgeben wollte.
Im Laufe des Nachmittags ebbte der Strom von Eltern und auch einigen Großeltern ab, und Diana sorgte dafür, dass auf der Krankenstation peinliche Ordnung herrschte und der Vorratsschrank mit Medikamenten und Verbandszeug für kleinere Verletzungen gefüllt war. Dann begann sie ihre Notizen zu einem kurzen Bericht für Clarissa Somersby zusammenzustellen, mit der ein Treffen anberaumt war, bevor die ganze Schule sich zum Abendessen versammelte.
Während des Nachmittags hatte Diana ständig auf Schritte gelauscht, die zu ihrem Sprechzimmer unterwegs waren. Doch die Schritte, die sie jetzt hörte, klangen anders als alle vorherigen. Männlich, kräftig, aber mit einem leichten Zögern in der Bewegung, sodass ihr medizinischer Verstand den Neuankömmling sofort unter »Soldat, verwundet« einordnete.
»Schwester Neville? Diana Neville?«
Sie wandte sich zur Tür, um auch diesen Vater mit einem professionellen Lächeln zu begrüßen.
Er hatte braunes Haar, war von schlankem Wuchs und hielt sich aufrecht wie, ja, wie ein Soldat. Aber er war noch zu jung, um einen Sohn an dieser Schule zu haben. Also musste er vermutlich einer der Lehrer sein. Diana hatte sie noch nicht alle kennengelernt.
Doch während ihr diese Gedanken und Eindrücke durch den Kopf schossen, nahm ihr Körper intuitiv etwas wahr, das sie aufspringen ließ. Sie ging auf den jungen Mann zu, und er lächelte ihr entgegen.
»Sie sind es wirklich«, sagte er. »Ja, Schwester Neville, von Thiepval bis hierher ist es ein weiter Weg.«
Diana hatte in den drei Jahren ihrer Schwesterntätigkeit im Krieg viele Soldaten kennengelernt, trotzdem musste sie sich jetzt nicht auf den Namen besinnen. »Oberleutnant Murray! Was machen Sie denn hier?«
»Ich? Ich stamme aus Northumberland. Ich bin keine fünf Meilen von hier entfernt aufgewachsen. Die Frage ist, was eine Krankenschwester aus London so weit oben im Norden macht. Und nennen Sie mich nicht mehr Leutnant. Ich bin Joshua Murray.«
»Wie heißen Sie?«, hatte Diana den Soldaten gefragt, aus dessen linkem Unterschenkel ein Knochen herausragte. Damit hatte sie zu verhindern versucht, dass der Schock ihm das Bewusstsein raubte. Er sollte sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
»Joshua«, hatte er mit zusammengebissenen Zähnen hervorgestoßen. »Joshua Murray.«
»Bleiben Sie wach, Joshua. Wir bringen Sie sofort in den OP. Wir kümmern uns um Sie.«
»Versprochen?«
Es war nicht das erste und auch nicht das fünfhundertste Mal gewesen, dass Diana diese Frage hörte. Aber als sie ihm in die Augen sah und sagte: »Ich verspreche es Ihnen«, klangen diese Worte tief in ihrer Brust nach. In ihrem Herzen? Wo auch immer. Im Kriegsgebiet war kein Platz für Herzen. Und so hatte sie bei seiner Operation assistiert, ihn durch die ersten achtundvierzig Stunden danach begleitet und ihn auf den Transport zurück nach England vorbereitet, wo er sich erholen sollte. Genau so hatte sie auch alle anderen Soldaten behandelt, die überlebt hatten.
Aber jetzt stand er hier vor ihr, er stand auf beiden Füßen, statt auf einem Feldbett zu liegen, und er war mindestens eine gute Handbreit größer als sie. Er war frisch rasiert, seine Wangen waren nicht mehr eingefallen, und er trug weder eine zerfetzte Uniform noch Lazarettkleidung, sondern einen Dreiteiler, und das alles war so merkwürdig. Träumte sie vielleicht?
Seine Miene veränderte sich, er runzelte besorgt die Brauen. »Alles in Ordnung? Wollen Sie sich nicht wieder setzen?«
Diana fing an zu lachen. »Ob ich mich setzen will? Ich kann kaum glauben, dass Sie wieder auf den Beinen sind. Als ich Sie das letzte Mal gesehen habe …«
»Sie hatten mir versprochen, dass Sie sich um mich kümmern würden. Wollen Sie mir jetzt sagen, dass das einfach Ihr Standardsatz für alle Soldaten war? Und dass Sie eigentlich damit gerechnet haben, dass ich sterben würde?«
In Feldlazaretten wurde nicht viel gelächelt, wenigstens nicht so, wie Joshua Murray sie jetzt anlächelte. Auf einmal hielt Diana es doch für eine gute Idee, sich wieder hinzusetzen. Aber er sollte nicht das letzte Wort behalten.
»Jedenfalls habe ich nicht damit gerechnet, dass Sie in die Krankenstation eines Jungeninternats hereinspaziert kommen, so, als gehörte die ganze Schule Ihnen. Was machen Sie hier?«
Joshua deutete auf Dianas Stuhl, und sie setzte sich dankbar, während er sich einen Stuhl von der Wand heranzog. Er drehte ihn um, ließ sich rittlings darauf nieder und stützte die Ellbogen auf die Rückenlehne. Diana warf rasch einen Blick auf sein Bein, aber unter den gut sitzenden Hosen war nichts zu sehen. Sie war sich ziemlich sicher, dass er keine Stützschiene trug, und das war wahrhaftig mehr, als sie erwartet hatte.
»In Anbetracht der Tatsache, dass ich in der Zeit, als Sie mit mir zu tun hatten, meistens nur mehr oder weniger bei Bewusstsein war, will ich Ihnen Ihr Unwissen verzeihen. Bevor ich zu Oberleutnant Murray wurde, war ich Joshua Murray und hatte einen Magister in Altertumswissenschaften und Geschichte. Nach meinem Abschluss wollte ich eigentlich in Oxford bleiben, aber dann hatte mein Vater einen Schlaganfall, und ich wurde zu Hause auf der Farm gebraucht. Zum Glück ist Havencross unser nächster Nachbar, und die Somersbys waren so freundlich, mich einzustellen. Ich hatte gerade erst ein Jahr lang hier unterrichtet, als der Krieg ausbrach.« Er sah Diana aufmerksam an. »Jetzt sind Sie dran. Wie kommt es, dass eine Krankenschwester, die in London geboren und aufgewachsen ist, sich hier oben in der Wildnis wiederfindet?«
»Es gibt nicht viele Stellen für Krankenschwestern, jedenfalls nicht, wenn man den Krieg hinter sich lassen möchte. Ich weiß, das ist selbstsüchtig, aber –«
»Das ist nicht selbstsüchtig.«
»Vielleicht nicht. Aber meine Mutter versteht es nicht. Und schon gar nicht die Geschichte mit Northumberland. Ihrer Ansicht nach endet die Zivilisation irgendwo um Coventry herum.«
Diana hatte noch weitere Gründe für ihre Entscheidung gehabt, aber davon brauchte Murray nichts zu wissen. Niemand brauchte zu wissen, dass es in London einfach viel zu viele Menschen gab. Nachdem Diana jahrelang in überfüllten Zelten und Feldlazaretten gelebt hatte, nach der ständigen Belastung durch Verwundete, die sich in den Krankenstationen drängten, nach dem unerbittlichen Donnern schwerer Geschütze, die nie weiter als drei Meilen entfernt waren und Tag und Nacht feuerten, hatte sie Stille herbeigesehnt. Einsamkeit. Ein Internat mit neunzig Jungen mochte zwar nicht wie der ideale Zufluchtsort erscheinen, war aber bestimmt besser als das, was sie bis in ihre Träume hinein verfolgte.
Joshua Murrays braungrüne Augen erschienen ihr allzu wissend. Aber sie war ihm dankbar für sein Taktgefühl und wohl auch ein gewisses Verständnis, denn er sagte nur: »Sie werden hier sehr beliebt sein, Miss Neville. Neunzig Jungen und fünfzehn Lehrer … Die Hälfte davon wird sich bis Michaeli in Sie verlieben.«
»Und die anderen?«
Murray grinste. »Die anderen sind Dummköpfe.« Und damit stand er auf und stellte schwungvoll seinen Stuhl zurück an die Wand. »Wir sehen uns beim Essen.«
Diana lauschte seinen verklingenden Schritten. Ja, er zog das linke Bein eindeutig ein wenig nach. Es musste immer noch deutlich schwächer sein als das rechte, aber das verbarg er gekonnt. Wer im Krieg gewesen war, verstand es, vieles zu verbergen.
Es hatte keinen Sinn, sich noch einmal an die Arbeit zu machen. Diana räumte ihre Akten und ihren Schreibtisch auf und schaute auf die Uhr. Noch zehn Minuten bis zu ihrer Unterredung mit Miss Somersby. Als sie ihr Notizbuch, das sie überallhin begleitete, an sich nahm, erklangen erneut Schritte im Flur.
Zuerst machte ihr Herz einen Satz, weil sie dachte, Joshua Murray käme zurück, aber diese Schritte waren zu leicht. War es einer der Jungen? Aber nein, Diana meinte, ein leises Rascheln zu vernehmen, wie von einem längeren Kleid.
In der Erwartung, dass Beth Willis gleich anklopfen würde, stand sie auf. Obwohl Beth sogar noch mehr zu tun hatte als Diana, hatten die beiden Frauen seit ihrer Ankunft jeden Tag ein wenig Zeit miteinander verbracht.
Als die leichten Schritte vor ihrer Tür stehen blieben, öffnete Diana mit einem Lächeln zur Begrüßung.
Doch ihr Lächeln erstarb sofort. Vor der Tür stand nicht Beth. Vor der Tür stand niemand.
Der Flur war menschenleer.
2018
Nachdem Juliet monatelang im Bett gelegen und Netflix geguckt hatte, bot körperliche Arbeit jetzt den großen Vorteil, dass sie davon problemlos müde wurde. An ihrem ersten richtigen Arbeitstag war sie abends um sieben schon im Schlafanzug, was ihr allerdings gar nicht so früh erschien, weil es draußen schon seit drei Stunden stockfinster war. Eigentlich wollte sie noch lesen, schreckte aber Stunden später plötzlich hoch, weil ihr das Buch, auf der ersten Seite aufgeschlagen, auf die Brust gefallen war. Während Juliet sich die Stelle auf dem Brustbein rieb, wo eine Ecke sie getroffen hatte, überlegte sie, dass es wenigstens niemanden gab, der den blauen Fleck sehen würde. Sie drehte sich auf die Seite und sah auf ihr Smartphone. Vier Uhr morgens. Als sie merkte, dass sie auf die Toilette musste, stand sie mit einem Seufzer auf.
Warum waren schöne alte englische Häuser bloß so verdammt kalt? Selbst in Thermoshirt und Wollsocken zitterte Juliet, als sie endlich die Toilette am anderen Ende des Flurs erreichte. Sie zog an der Kette des Spülkastens und flitzte zum Klang der stöhnenden Rohre in ihr Zimmer zurück.
Es waren nicht nur die Rohre. Als deren Klopfgeräusche zusammen mit dem Wasserrauschen verklangen, hörte Juliet, dass etwas wie ein sanftes Flüstern durch die Luft wehte. Wie ein Luftholen vor dem Sprechen oder wie das Echo nach einem Schritt.
Juliet fuhr herum, aber natürlich war alles leer. Das gesamte Gebäude mit seinen dreizehnhundert Quadratmetern war menschenleer. Draußen war es eisig kalt, und wenn sie sich das Geräusch nicht eingebildet hatte, mussten es Mäuse sein, die sich auf der Suche nach Wärme und Obdach durch die Wände arbeiteten. Bitte mach, dass es bloß Mäuse sind, dachte Juliet, als sie sich wieder ins Bett flüchtete. Bitte keine Ratten. Und auch keine Waschbären.
Sie hörte nichts mehr, bis sie im Morgengrauen schließlich wieder einschlief.
Als sie irgendwann wach wurde, staunte sie, denn sie hatte ohne Schlaftablette bis zehn geschlafen – und sie verspürte einen Bärenhunger. Beides war schon so lange nicht mehr vorgekommen, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte. Rasch zog sie Jeans und einen Wollpulli an, und sie war schon mitten auf der Haupttreppe, da hörte sie eindeutig Geräusche im Haus. Menschengemachte Geräusche, es sei denn, die Gespenster hatten gelernt, mit einem Staubsauger umzugehen.
Als sie das Erdgeschoss erreicht hatte, setzte Juliet ein Lächeln auf. Sie fand die Frau mit dem Staubsauger im Raum rechts von der Eingangshalle. Das musste Rachel Bennett sein, die Nell zufolge einmal in der Woche zum Putzen kam. Juliet schob sich vorsichtig in ihr Blickfeld, um sie nicht zu erschrecken.
Rachel Bennett sah sie und schaltete sofort den Staubsauger aus. Sie war jünger, als Juliet erwartet hatte, höchstens Mitte dreißig, und sie hatte ein offenes, fröhliches Gesicht mit runden Wangen und den entsprechenden Grübchen.
»Ms Stratford, ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört.«
»Bitte nennen Sie mich doch Juliet. Natürlich nicht. Ich wollte nur kurz Hallo sagen, dann bin ich Ihnen nicht mehr im Weg.«
»Möchten Sie frühstücken? Ich mache Ihnen gern etwas fertig.«
»Nein, nein«, sagte Juliet bestürzt. »Sie sind doch nicht … ich meine, kochen kann ich selbst.«
Mit einem Klicken stellte Rachel den Staubsauger hochkant. »Sie würden mir einen Gefallen tun. Kochen ist mir viel lieber als Staubsaugen. Außerdem bin ich fürchterlich neugierig, und Ihnen Frühstück zu machen gibt mir die Chance, Ihre dunkelsten Geheimnisse zu erfahren.«
Sie wollen meine dunkelsten Geheimnisse nicht wissen, dachte Juliet, dafür sehen Sie viel zu glücklich aus. Aber ihr fiel keine elegante Art ein, Rachels Angebot weiterhin abzulehnen, ohne dass es klang, als wäre sie die Chefin der jungen Frau.
»Danke, Ms Bennett, gern. Wenn ich sage, ich kann selbst kochen, will das wenig heißen.«
Ende der Leseprobe