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Auf der Oberfläche ist es eine 1865 spielende, ganz muntere, nicht selten spannende, gelegentlich verdutzende Erzählung vom herablassenden Besuch des Göttinger Studenten Grünhage im [fiktiven] Städtchen Wanza im Südharz, um eine vor 50 Jahren aus dem Familiengesichtskreis verschwundene Tante wieder aufzutun. Er trifft sie bei guter Gesundheit, wie auch den - für ihn ein stärkeres Motiv zu seiner Fußwanderung - ehedem berühmtesten Senior seiner studentischen Verbindung, jetzt Bürgermeister. Er lernt etliche Leute aus deren Umgang kennen, darunter den Nachtwächter von Wanza - der nicht mehr nachts auf seinem althergebrachten Horn blasen darf - daher der Titel der Erzählung. Erzählerisch geschickt verflochten erfährt er von allen diesen ihre Lebensgeschichte, und über seinen verstorbenen Onkel mehr als gut tut ...
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Seitenzahl: 281
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Das Horn von Wanza
Wilhelm Raabe
Inhalt:
Wilhelm Raabe – Biografie und Bibliografie
Das Horn von Wanza
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebenzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Das Horn von Wanza, W. Raabe
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Germany
ISBN:9783849633752
www.jazzybee-verlag.de
Namhafter Romanschriftsteller, der zuerst unter dem Namen Jakob Corvinus auftrat, geb. 8. Sept. 1831 zu Eschershausen im Herzogtum Braunschweig, studierte in Berlin seit 1855 Philosophie und widmete sich unmittelbar nach seinen Studienjahren der Literatur, in die er mit dem lebendigen, jugendfrischen Idyll »Die Chronik der Sperlingsgasse« (Berl. 1857; 41. Aufl. 1905, auch illustriert) und den Erzählungen und Phantasiestücken »Halb Mähr, halb Mehr« (das. 1859) eintrat. Es folgten dann großenteils in mehreren Auflagen: »Ein Frühling« (Braunschw. 1858); »Die Kinder von Finkenrode« (Berl. 1859); »Nach dem großen Kriege«, Geschichte in zwölf Briefen (das. 1861); »Der heilige Born. Blätter aus dem Bilderbuche des 16. Jahrhunderts« (Prag 1861); »Unsers Herrgotts Kanzlei«, historischer Roman (Braunschw. 1862, 2 Bde.); »Verworrenes Leben«, Skizzen und Novellen (Glog. 1862); »Die Leute aus dem Walde« (Braunschw. 1863, 3 Bde.); »Drei Federn« (Berl. 1865); »Der Hungerpastor«, Roman (das. 1864, 3 Bde.; 25. Aufl., das. 1906); »Ferne Stimmen«, Erzählungen (das. 1865); »Abu Telfan, oder die Heimkehr vom Mondgebirge« (Stuttg. 1867, 3 Bde.); »Der Regenbogen«, sieben Erzählungen (Stuttg. 1869, 2 Bde.); »Der Schüdderump«, Roman (Braunschw. 1870, 3 Bde.); »Der Dräumling« (Berl. 1872); »Deutscher Mondschein«, vier Erzählungen (Stuttg. 1873); »Christoph Pechlin, eine internationale Liebesgeschichte« (Leipz. 1873, 2 Bde.); »Meister Autor, oder die Geschichten vom versunkenen Garten« (das. 1874); »Horacker« (Berl. 1876, 11. Aufl. 1906); »Krähenfelder Geschichten« (Braunschw. 1879, 3 Bde.); »Wunnigel« (das. 1879); »Deutscher Adel« (das. 1880); »Alte Nester« (das. 1880); »Das Horn von Wanza« (das. 1881); »Fabian und Sebastian« (das. 1882), »Prinzessin Fisch« (das. 1883); »Villa Schönow« (das. 1884); »Pfisters Mühle« (Leipz. 1884); »Zum wilden Mann« (das. 1885); »Unruhige Gäste« (Berl. 1886); »Im alten Eisen« (das. 1887); »Das Odfeld« (Leipz. 1888); »Der Lar, eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte« (Braunschw. 1889); »Stopfkuchen, eine See- und Mordgeschichte« (Berl. 1891); »Gutmanns Reisen« (das. 1892); »Kloster Lugau« (das. 1894); »Die Akten des Vogelsangs« (das. 1896); »Gesammelte Erzählungen« (das. 1896–1900, 4 Bde.); »Hastenbeck« (das. 1899). In seinen größern wie seinen kleinern Erzählungen verbindet R. frischen und echten Humor mit einer elegischen und bittern Darstellung des Lebens, einen energischen Realismus mit einer gewissen phantastischen, traumhaften Erfindung. Am stärksten treten seine Eigentümlichkeiten wohl in den Romanen: »Der Hungerpastor«, »Abu Telfan« und »Der Schüdderump« hervor; wahrhafte Genialität des Humors offenbart auch die kleine Meistererzählung »Horacker«. In den spätern Dichtungen (»Pfisters Mühle«, »Stopfkuchen« u. a.) liebte er eine barocke Einkleidung, Einschachtelung der Erzählung, die ihren tiefen und gediegenen dichterischen Gehalt mehrverhüllte als heraushob. R. siedelte 1862 von Wolfenbüttel nach Stuttgart über und nahm 1870 seinen dauernden Wohnsitz in Braunschweig; 1901, zu seinem 70. Geburtstag, der ihm viele Auszeichnungen brachte, wurde er von der philosophischen Fakultät der Universität Göttingen zum Ehrendoktor ernannt. Vgl. Gerber, Wilhelm R. (Leipz. 1897); Schriften von W. Jensen (Berl. 1901), W. Brandes (2. Aufl., Wolfenb. 1906), Eug. Wolff (Berl. 1902), Hans Hoffmann (das. 1906).
Den Possenturm bei Sondershausen in weiter Ferne vor Augen, wanderte der Student auf der Landstraße dahin. Auf einem der Berggipfel des südlichen Abhanges des Harzes hatte man ihm gesagt: "In der Richtung liegt die Ortschaft; aber zu sehen ist sie von hier nicht. Na, Sie werden schon hinkommen, wenn Sie sich so in der Mitte zwischen der Goldenen Aue und dem Eichsfelde halten und dann und wann unterwegs nachfragen. Da unten im Lande sind sie ganz bekannt damit. Glückliche Reise."
"Wie die alte Tante ausfallen wird, soll mich wundern. An mir soll's nicht liegen, wenn sie mich nicht zum Haupterben einsetzt oder doch ein angenehmes Kodizill an ihr Testament meinetwegen hängt", sagte der Student. "Was aber das ›alte Haus‹ sagen wird, darauf bin ich wirklich gespannt. Wenn sie den alten Knaben auch dort den weisen Seneka nennen und ihn seiner Weisheit wegen bei sich zum Bürgermeister gemacht haben, so ist das in der Idylle dort die einzige Philisterbande, die jemals eine vernünftige Idee gehabt und sie in die Erscheinung geführt hat. Ganz riesig ist's aber unter allen Umständen von ihr."
Damit war er abwärts gesprungen vom Rabenskopfe durch den Tannenwald und den frischen, sonnigen Septembermorgen, dem ihm augenblicklich noch so wenig bekannten Ziel seiner Wanderschaft entgegen. Es ist aber jedenfalls immer sehr hübsch und herzerfreuend, wenn einem ein solches Ziel so – bald nach Sonnenaufgang – in einer so bunten, flimmernden, schimmernden, taublitzenden Ferne gezeigt wird und noch dazu mit dem Wort:
"Sie werden einen schönen Tag behalten, Herr Student."
Es war ein erkleckliches Stück weiter gegen Norden hin, wo dieser Studiosus der Philologie, Herr Bernhard Grünhage, zu Hause war. Zum erstenmal hatte er am gestrigen Abend von den südlichen Harzbergen in die Gegend zwischen dem Kyffhäuser und der Porta Eichsfeldika hinausgesehen, und wie es eigentlich kam, daß er heute diese Gegend nunmehr durchwanderte, das muß jetzt vor allen Dingen erzählt werden. Die alte Tante läuft weder dem Studenten noch uns weg. Es ist eine seßhafte alte Tante, die schon fast an die siebenzig Jahre durch die Dinge hat an sich herankommen lassen und – wie wir finden werden – noch lange nicht die Absicht hat, ihnen auszuweichen. Sophie Grünhage hieß sie mit Vor- und Hausnamen, und "Frau Rittmeistern" wurde sie tituliert, und dies war eigentlich alles, was die Familie in Gifhorn an der Aller von ihr wußte. Im Familieninteresse befand sich der Student auf dem Wege zu ihr, und das war das Lange und das Kurze von der Sache. Daß er das "alte Haus", den weisen Seneka, dort gleichfalls seßhaft wußte, war ihm ein Trost.
Der junge Philologe war der zweite in einer Reihe von fünfen, doch nicht lauter Philologen. Die übrigen allesamt waren Mädchen, und die Mutter war tot, und die vier Mädchen führten dem Papa den Haushalt; der Papa aber ging mit diesem Haushalt, wie Friedrich Hölderlin sich ausdrückt, "auf schmaler Erde seinen Gang".
Der Vater Grünhage war ein Landarzt in einer sehr gestanden Gegend der norddeutschen Ebene; und wie sie in seinem Hause "anständig durchkamen", wußten sie manchmal eigentlich selber nicht ganz genau anzugeben. Doch sie kamen lustig durch, und das ist immer die Hauptsache. Rezepte gegen ihre irdischen Bedrängnisse und Beschwerden brauchten sie sich nicht von irgendeinem Philosophen verschreiben zu lassen, bis jetzt hatten da immer noch die allergewöhnlichsten Hausmittel ihre Wirkung getan.
"Kinder, macht mir den Kopf nicht warm", pflegte der alte Doktor bei außergewöhnlich andringlichen Gelegenheiten zu sagen. "Hippokrates ist ein großer Mann, aber hiervon schreibt er nichts. Seht zu, wie ihr fertig werdet; aber das bitte ich mir aus, hippokratische Gesichter will ich heute abend an euch vier Gänsen nicht sehen, wenn ich von der Praxis komme und vom Gaule steige. Wer zieht ihn mir heute in den Stall? Immer die Fidelste! Nun, an welcher ist denn diesmal die Reihe?"
Das fröhliche Gesichtchen, das sich dann stets aus der Schar der Grazien dieses Doktorhauses verdrängte und "An mir! an mir, mir!" rief, genügte schon allein, um dem zu Klepper steigenden Pater familias des schmalen Haushaltes und der vielköpfigen Familie die berechtigtste Anwartschaft auf einen verdrießlichen, seufzer- und sorgenvollen Abend in die nebelweiteste Ferne zurückzudrängen.
Nun war aber in den letzten Zeiten und vorzüglich im letztvergangenen Winter, wenn nach einer mühseligen Tagfahrt der Gaul von einem der Mägdelein in den Stall gezogen worden war, mehr als einmal die Rede auf "die Tante in der Güldenen Aue" gekommen, und so mitten in der Torf- und Heidegegend hatte das Wort stets einen ungemeinen Wohllaut an sich gehabt. Doch allerlei Bedenklichkeiten knüpften sich gleichfalls daran, und davon trug wohl der selige Herr Rittmeister Grünhage die meiste Schuld, doch nicht alle. Vom Hörensagen kannten alle vier Mädchen im Doktorhause den Onkel Rittmeister und wußten, was für ein gefährlicher Mensch er gewesen war, und der Doktor selber hatte nur zu oft gesagt: "Kinder, seid mir nur still von ihm; ich habe das Vergnügen, ihn persönlich gekannt zu haben, meinen Herrn Bruder." – Aber die Tante! Die hatte der Papa nur ein einziges Mal, und zwar auf ihrer Hochzeit Anno achtzehnhundertneunzehn in Halle an der Saale zu Gesichte bekommen, und er kratzte sich jedesmal, wenn die Rede darauf kam, hinteren Ohr, und das war fast noch unheimlicher.
"Ja, grade fünfzig Jahre müssen es her sein heute, als der Bruder Hochzeit mit ihr machte", sagte der Doktor. "Na, hoffentlich werden sie besser zueinander gepaßt haben, als es sich an jenem vergnügten Abend anließ. Sie war aber um ein ziemliches jünger als der Bruder Dietrich, und an ihrem Hochzeitstage schien sie wirklich selber noch nicht recht zu wissen, wie sie eigentlich zu dem Pläsier kam, von dem tollen, exwestfälischen Kürassier auf den Sattel genommen zu werden. Übrigens, was geht uns hier das alles eigentlich an? Es ist immer Käthe, welche alle Augenblick die Unterhaltung darauf bringt. Hat das Mädchen mehr Familiensinn als wir anderen, oder will das gute Kind erben? Was meint ihr, Gesindel, sollen wir unsere Alte einmal von wegen der letzteren angenehmen Phantasie auf die Post setzen und nach Wanza an der Wipper schicken, mit Vollmacht, alles zu nehmen, was man ihr geben will?"
Nun war "unsere Alte", das gute Mädchen, die Käthe, in der Tat die Älteste von den fünfen, und die Verständigste war sie unbedingt auch. Sie allein wußte ganz genau, was der Haushalt heute kostete, gestern gekostet hatte und morgen kosten werde, und den größten Familiensinn in der Familie hatte sie gleichfalls. Es war eben nur "eine von des Vaters gewöhnlichen Redensarten", wenn er sie damit aufzog.
"Lacht nur", sagte sie, "das Vergnügen habt ihr wenigstens billig, und so gönne ich es euch von Herzen. Wenn ich übrigens unser Bernhard wäre, so probierte ich es doch einmal und wendete einen Teil meiner Ferien dazu an, um mich zu erkundigen, ob die Grünhages dort hinter den Bergen dem lieben Gott als ebenso kurioses Volk wie wir hier aus der Kiepe gehüppt sind. Ist es keine Sünde, ein Gericht Kohl aufzuwärmen, so kann es auch keine Sünde sein, eine entfernte Verwandtschaft wieder aufzufrischen. Und was nun die gegenseitige mögliche Beerbung anbetrifft, so hat es doch keiner von uns hier schriftlich, ob die Tante sich nicht da gleichfalls ihre Illusionen in betreff unserer macht und wir ihr nicht auch manchmal in ihren angenehmsten und liebsten Träumen vorkommen."
Allgemeiner Jubel hatte diese letzte "großartige Wendung" des guten Mädchens begleitet. Halb und halb hatte man sie immer im Verdacht, daß sie die Kapitalistin in der Familie sei und bei ihrer Haushaltsführung stets ein Erkleckliches in der mysteriösesten Weise "auf die Kante lege".
Dem sei nun, wie ihm wolle, auf ein unfruchtbar Feld fielen die Worte der Alten selten. Da schlug manches im Frühjahr Wurzeln, was im Sommer in die Blätter schoß und im Herbste Frucht trug.
"Kinder, an mir soll es nicht liegen, wenn ich unserer Alten die alte Schachtel in der Güldenen Aue nicht in den Haushalt schlachte!" rief der Student. "Schon seit einem Jahre ist unsere Couleur in Göttingen darüber aus Rand und Band: sie haben das alte Haus, den weisen Seneka, unsern Exsenior, richtig bei sich zu Hause zum Bürgermeister gemacht, nachdem er durch jedes andere Examen gefallen war; und die Regierung hat ihn wahrhaftig auf seinem kurulischen Stuhl bestätigt, nachdem sie sich freilich eine erkleckliche Weile darob bedacht hat. Es ist zu gottvoll! Und – kaum glaublich, daß er selber dran glaubt! Ich aber muß das sehen!... Morgen bin ich auf dem Wege zum weisen Seneka; die Tante Grünhage nehmen wir mit, wie sie sich gibt. Hurra!"
"Jawohl, hurra", brummte der Doktor und Hausvater. "Gefragt werde ich bei der Sache natürlich mal wieder gar nicht, aber – dagegen habe ich nichts, würde ja auch doch nur überschrieen. Na, die Tante! Uh, die Tante Sophie! Auf das Nachhausekommen des Jungen freue ich mich ausbündig, wenn auch auf nichts Weiteres!"
"Auf den weisen Seneka freue ich mich ausbündig", lachte der Student. "Das wäre ein Mann für unsere Alte! Zumal jetzt, wo er Bürgermeister geworden ist und eine Frau ernähren kann. Welche von euch Mädchen will mir sonst noch ihre Photographie für ihn mitgeben?"
"Dummes Zeug!" sprach das gesamte Vierkleeblatt bis zur neunzehnjährigen Martha herunter wie aus einem Munde. "An unsere Tante Sophie Grünhage in der Goldenen Aue, aber nicht an deinen abgeschmackten, dummen weisen Seneka wirst du expediert. Schade, daß keine von uns gehen kann."
"I, seht mal!" grinste der liebe Bruder.
O schöne Zeit, wo der Mensch dem falschen Pathos weder im Leben noch in der Literatur aus dem Wege geht, wundervolle Zeit, wo er, der Mensch, nicht einmal eine Ahnung davon hat, daß etwas, was er selber später falsches Pathos nennen wird (dies Tier war noch nicht unter denen, welchen Adam einst Namen gab), überhaupt in der Welt existiert!
O bittere Zeit, wo der Mensch auf der abwärtssteigenden Bahn seines Lebens ganz genau anzugeben weiß, wo in ihm und um ihn das falsche Pathos anfängt!
Bittere Zeit? Wohl, dann und wann recht bitter oder zum wenigsten sehr sauersüß! Aber doch auch nicht ohne ihre Vorzüge der andern gegenüber – sagt der weise Seneka – der Lucius Annäus aus Corduba nämlich –, der uns aber an dieser Stelle nicht das geringste kümmert und der sich dazu sein falsches Pathos seinerzeit ebenfalls recht wohl hat bekommen lassen.
Wir steigen mit dem Studenten durch die schöne Natur seinem weisen Seneka zu. Der alte Senior der Caninefatia imponiert ihm mit vollem Recht immer noch riesig, wenn auch mehr aus den Erzählungen der ältesten Leute in der Verbindung als eigenem längern Verkehr mit ihm. Persönlich wirft die einstige große Leuchte der Caninefaten ihr Licht nur in sein erstes Fuchssemester; aber die alte Tante läuft nichtsdestoweniger wirklich nur beiläufig so mit in seinen Gedanken, wie das in dieser Welt mit den besten Dingen leider so häufig der Fall ist.
Am Nachmittage des andern Tages, nachdem er von den herzynischen Bergen niedergestiegen war, stiegen die Türme seines Wanderzieles vor ihm empor. In der Tat, das Städtchen richtete mehr als eine Nase zum Himmel auf. Sein Kirchenturm war nicht die einzige. Eine mittelalterliche Warte hatte sich wohl erhalten durch die Jahrhunderte. Ein stattlich Amtsgebäude zeigte desgleichen einen hochragenden, schiefergedeckten Uhrturm. Manche große Stadt hätte viel darum geben können, wenn sie eben solch ein Gesicht aufzuweisen gehabt hätte, wie es die winzige ackerbürgerliche Schwester dem Wanderer von ferne her über das Hügelland, die Wiesen und Ackerfelder und dann und wann auch über den Wald zeigte oder besser emporhob.
Es war ein heißer, wolkenloser Spätsommernachmittag. Eine gute Meile Weges lag noch unbedingt zwischen Wanza, dem gegenwärtig in Wanza regierenden Bürgermeister, der Tante Sophie Grünhage und dem Studenten der Philologie Bernhard Grünhage. Und ein Dorf lag gleichfalls noch zwischen ihnen und ihm. Der Weg des Studenten führte aber nicht etwa vorsichtig um dieses Dorf herum, sondern grade durch. Der Bauernkrug aber war am äußersten Ende des Dorfes gelegen, und zwar der Stadt zu, – anlockend daneben ein Bauerngarten voll Stockrosen und Sonnenblumen; Tisch und Bank unter dichtbelaubtem Baume vor der Pforte und über der Pforte die angenehme Inschrift:
Witwe Wetterkopf. Ausspann, Restauration und Speisewirtschaft!
"Was sieht mein Auge?" sprach dumpf nicht etwa von der Bank in dem wohligen Lindenschatten aus, sondern hervor unter dem emporgeschobenen Fenster der Schenkstube eine Stimme, die den Studenten zum augenblicklichsten Anhalten im Marschschritte brachte. "Täuscht mich ein Traum oder sehe ich recht durch des Philisteriums öden Nebel?... Die alten Farben!... Wohin wandert dieser Knabe aufs Geratewohl?... Hierher, junger Mensch!"
"Dorsten?!" rief der Student, und aus der Gaststube des Bauernkruges scholl es zurück:
"Ja, Dorsten! Ganz derselbige! Nun, bei dem Buche de tranquillitate animi – über die Gemütlichkeit –, wenn das nicht gemütlich ist!... Tritt heran! Reiche deine Rechte! Beim Zeus, das Phantom löst sich nicht auf im Dunste der Heerstraße. Es hat Fleisch und Knochen. Alle Teufel, nicht so innig, Sohn der nahrhaften Erde! Und vor allen Dingen komm jetzt mal rein in die Bude, nenne mir deinen Namen und laß dich genauer besehen!"
Mit beiden Händen hatte der Student die ihm aus dem Fenster dargereichte weichliche Hand des einstigen Seniors der Caninefaten und jetzigen Bürgermeisters von – von – nun, den Namen des Nestes haben wir doch schon einige Male hingeschrieben – von Wanza an der Wipper gefaßt:
"Dorsten! Ist das wirklich Ihr – dein Name?" rief er noch einmal, und der andere sprach:
"Das ist unbedingt mein Name. Wie gesagt, komm herein, fabelhaftes Landstraßenphänomen, und erhole dich lieber hier in der Kühle von deinem nicht ungerechtfertigten Erstaunen."
Rückwärts in die Stube gewendet, rief er:
"Junge Frau, es kommt wahrhaftig noch ein Mensch!"
"Ach Herrje, Herr Burgemeister, nun reden Sie doch nur nicht so! So schlimm bestellt ist das doch nicht mit dem Verkehr bei der Witwe Wetterkopf, wie Sie auch wohl recht gut wissen, Herr Burgemeister."
"Quellnymphe, kippen Sie gefälligst mal Ihre Urne um, das heißt, junge Frau, stellen Sie diesem Jüngling einen Frischen hin und – mir auch! Du aber, mein Sohn, komm noch einmal, und zwar jetzt ganz in meine Arme und sodann auf die Bank hier mir gegenüber. Menschenkind, das ist ja ein ganz verrückter, ein ganz glorreicher Einfall von dir, da auf der Chaussee so mir nichts dir nichts mit den alten Farben daherzuwandeln. Steigt dir ein Halber! Und nun – wie kommst du denn eigentlich auf diese wahnsinnige Idee und, noch einmal, wer bist du eigentlich, enthusiastische jugendliche Kreatur?"
"Man hat mich geschickt, und da ich dich hier sitzend wußte, so bin ich halb und halb von selber gekommen. Sonst aber falle ich leider nur in dein letztes Semester, und mein Name ist Grünhage."
"Dafür kommt dir der Rest!" sprach der weise Seneka würdig gerührt. "Witwe, legen Sie Ihren Strickstrumpf noch einmal für einen Moment nieder."
Die Witwe tat das, ohne daß die Aufforderung im Grunde nötig gewesen wäre. Als sie mit den beiden gefüllten Krügen wiederkam, seufzte der Bürgermeister von Wanza:
"Ein wenig lak; aber doch von zarter Hand kredenzt." Und zu dem Kommilitonen hinüberblinzelnd, zitierte er:
"Du bist das schönste Weib auf dieser Erde."
Ärgerlich lachend aber versetzte die Witwe:
"Herr Burgemeister, das hat mir noch kein Mensche gesagt! Sie aber, junger Herr, wenn Ihnen der Herr Burgemeister wirklich schon von länger her bekannt ist, so wissen Sie auch wohl, wie man sich mit ihm in acht nehmen und mit ihm Geduld haben muß."
"Geduld, Geduld! wer sollte sie nicht haben? Hat doch der Himmel selbst Geduld!"
zitierte der Weise von neuem, wenn auch das Seinige hinzugebend. "Übrigens, liebliche Witib, kannst du itzo für einen gewissen unbestimmten Ausschnitt der Ewigkeit deinen Strumpf dreist wiederaufnehmen und noch dreister hier auf der Bank näher rücken; wir reden jetzt nur von Familiengeschichten. Und nun rücke auch du heraus, heiterer Knabe, und teile uns mit, wie du grade heute auf den korrupten Einfall fällst, zu Fuß deinen Leichnam durch den Sonnenbrand gen Wanza zu tragen. Wahrlich, du dämmerst mir von Moment zu Moment mehr aus dem Sonnenuntergangsrot meiner bessern Tage auf! Ohne Flausen, Grünhage! Du pilgerst daher, und ich wünsche nunmehr Verstand in diese deine Pilgerschaft zu bringen."
Die Witwe Wetterkopf rückte mit ihrem Strickzeug ("Geben Sie dreist um die Wade noch einige Maschen zu!" sagte der Bürgermeister) wirklich näher; doch setzte sie sich jetzt lieber auf die Bank des Studenten, als daß sie auf der des Bürgermeisters von Wanza an der Wipper mit Platz genommen hätte. Der Philologe aber hatte vor keinem von den beiden Geheimnisse. Er erzählte einfach, wie sich die Sache gemacht habe, gab ziemlich ausführlichen Bericht über seine Zustände zu Hause, und als er geendet hatte, bemerkte der weise Seneka ebenso einfach:
"Einen gloriosen Einfall nenne ich dieses also nicht mehr, wohl aber eine höchst behagliche Verkettung der menschlichen Schicksale. Würde die Witwe mitreiben, so würde ich dir den Vorschlag machen, sofort einen Salamander auf deinen Alten, deine vier Schwestern und vor allem auf jene unter ihnen, die du Katharina nennst und nicht ohne Grund zu loben scheinst, zu reiben. So aber trinke ich nur andächtig einen Ganzen auf ihr Wohl. Ländliche Schöne, lege das für deine verführerischen musculi peronei bestimmte Gespinste noch einmal hin –"
"Wenn Sie noch einen Schoppen haben wollen, bitte, so sagen Sie es deutsch!" sagte die Wirtin ein wenig sehr spitzig.
"Denn auf deine Tante Sophie trinke ich speziell noch einen Halben!" brachte der Herr Bürgermeister seine Rede zu Ende, ohne sich stören zu lassen.
"Du kennst sie also, liebster Dorsten?" fragte der Student.
"Kennen? Noch lange nicht genug! Aber jedenfalls habe ich sie im gegründetsten Verdachte, daß sie mich ganz genau kennt und – weiß, was Wanza an mir haben konnte und – jetzo wirklich hat. Wenn einer was dazu getan hat, daß ich das Konsulat dort, die Liktoren und Faszes erlangte, so ist's die Frau Rittmeistern. ›Jetzt blamiere du mich nur nicht zu arg, lieber Ludewig‹, hat sie mir wenigstens oft genug vorgehalten, mich, nachdem die Regierung meine Wahl bestätigt hatte, am Ohr nehmend. ›Hätte deine selige Mutter dich mir nicht so sehr auf die Seele gebunden, so hätte ich mir doch vielleicht einen noch etwas mehr zur Vernunft gekommenen und zu sonst nichts zu gebrauchenden Auskultator ausgesucht.‹ Jaja, außer mir ist sie, deine brave Tante Grünhage nämlich, die einzige anständige Person in dein Neste dort."
"Dies hätte nun mal wieder unsere Kegelgesellschaft vernehmen sollen, Herr Burgemeister!" lachte die Witwe Wetterkopf.
"Siehst du, Bruder", seufzte der weise Seneka. "So weiß selbst dieses einfache Weib in der hiesigen Welt- und Kulturgeschichte Bescheid! Aber die Sonne sinket, Neffe Grünhage; wie ist's, sollen wir den Mondenaufgang abwarten oder der Hähne widerwärtig Gekrähe wie – schon sonst mehrere Male? Oder sollen wir gehen? Willst du im rötlichen Abendgold Arm in Arm mit mir in Wanza einwandern, oder wünschest du dich lieber allein einzuschleichen, sowohl in die Stadt wie auch in der Tante Testament? Vier Schwestern! Reizende Besen selbstverständlich allesamt; aber auch allesamt mit einem unergründlichen Backfischappetit begabt und auch sonst etwas kostspielig zu erhalten für einen weißhaarigen Erzeuger! Als mein Alter mich in die Welt gesetzt hatte, muß ich wohl alle seine Wünsche in dieser Hinsicht befriedigt haben. Jedenfalls hat der verdrießliche alte Hahn an mir vollkommen genug gehabt, und ich bin – unser Einzigstes geblieben. Dessenohngeachtet aber kann ich mich vollständig in deine Situation hineinversetzen, Knabe. Vier Schwestern! So ungleich verteilt das Glück seine Gaben. Ich habe Augenblicke, wo ich viel für eine einzige von so vielen geben würde."
"Holen Sie sich doch eine davon!" sprach die Witwe Wetterkopf. "Übrigens, junger Herr, habe ich es schon gesagt, Sie kennen den Herrn Burgemeister; aber glauben Sie nur ja nicht, daß er immer so ist und spricht wie hier bei mir, wenn er so einmal einen Nachmittag bei mir allein sitzt. Und was die Frau Rittmeistern betrifft, so läßt keiner in Wanza und Umgegend was auf sie kommen."
"Mach deine Rechnung mit – dem Konsul von Wanza, Wirtin!" brummte der Bürgermeister von Wanza. "Und du, Grüner, zahle auch und leihe mir deinen Arm. Wir wandern leise, bedachtsam und langsam durch jene Pappelallee unserm fernern Geschicke entgegen. Bist ein famoser Kerl geworden, Grüner, und jetzt erinnere ich mich deutlich daran, daß ein sympathisches Etwas mich durch alle Biernebel einer schönern Vergangenheit zu dir hinzog und mir ins Ohr raunte: dies Kind wird noch einmal dein Trost in einer Zeit, von der du heute abend und hier auf der Kneipe noch nicht die blasseste Ahnung hast, liebster Ludwig!"
Dies taten sie nun, das heißt sie wandelten Arm in Arm wanzawärts, und zwar durch die vorhin bereits angedeutete Pappelallee; und wie die Pappeln warfen sie länger und immer länger werdende Schatten über die abgeernteten Felder zu ihrer Rechten.
"Und dessenungeachtet wird er mir immer kürzer!" seufzte der Bürgermeister von Wanza mit einem Blicke zur Seite.
"Wie sagst du?... Wieso, Dorsten?... Was sagst du da?" fragte der Student.
"Von meinem Schatten rede ich natürlich zu dir, naiver Knabe", erfolgte düster die Antwort. "Ich glaube es auch gar nicht, Grüner, daß der arabische Wunsch lautet: ›Möge dein Schatten nie länger werden!‹ – Möge dein Schatten nie kürzer werden, heißt's, oder ich lasse mich hängen. – Grünhage, meiner wird kürzer! So lang er da auch mit sinkender Sonne neben mir herlaufen mag – laß dich durch das Phänomen nicht täuschen: – er nimmt ab. Noch im vergangenen Jahre auf diesem Pfade, zu dieser Stunde und bei diesem Stande der Sonne warf ich einen längern. Ich habe mich grimmig genug gegen die bittere Überzeugung gewehrt, auf Ehre; aber seit den letzten Hundstagen hat das ein Ende. Ich schrumpfe ein, Grünhage; ich krieche zusammen (guck nur nicht so – mein Bauch tut nichts zur Sache!), vor einem Jahre noch glitt ich einen guten Zoll länger über die Stoppeln dort. Du betrachtest mich lächelnd. Auf der Weender Straße würde ich mich vielleicht etwas näher nach der Bedeutung dieses frivolen Lächelns erkundigt haben; aber als Bürgermeister von Wanza sage ich nur einfach: lache nicht, junger Mensch; auch du wirst mal ein recht altes Haus geworden sein, und in cadente domo wird auch dein Gestirn stehen!"
"Na, Dorsten!" sagte der Student.
"Ja – Dorsten!... Hättest du mich eben den weisen Seneka genannt, so hätte das vielleicht zum erstenmal, seit ich mit dem Biernamen auf dem Hardenberge getauft wurde, einen gewissen Sinn gehabt. Ich rede die Wahrheit – klägliche, katerhafte, melancholische Wahrheit! Und du sagst natürlich ›Na, Dorsten!‹ und weiter nichts. Knabe, man ist nicht ungestraft Bürgermeister von Wanza an der Wipper."
"Aber bester, weisester Seneka, lieber alter Freund, verzeihe mir, wenn ich dir –"
"Verzeihe mir, mein Junge, wenn ich dich auf den siebenundzwanzigsten Brief an den Lucilius und auf einen gewissen wohlbegüterten, wahrscheinlich auch mit einer angehenden Glatze und einem angegangenen Bäuchlein begabten Freigelassenen, mit Namen Calvisius, hinweise. Der soi-disant Stoiker mokiert sich über ihn natürlich, und natürlich nur aus reinem blassen Neide; ich aber, wenn ich je mich in die Haut eines andern Menschenkindes hineingedacht und hineingewünscht habe, so ist's dieses beneidenswerte Individuum. Uh, der hatte es gut! Ein Freigelassener war er, ich aber bin das Gegenteil. Geld hatte er, ich aber habe höchstens ein Schock mit auf meinen Gehalt angewiesene Gläubiger. Calvus bin ich, der Teufel weiß es, so ziemlich; aber Calvisius möchte ich mit Wonne gänzlich sein. Das war mein Mann! Von sämtlichen Heroen der Vorzeit dieser allein!"
"Und was tat er, um dich zu diesem Enthusiasmus für ihn von deiner Bude abzuholen? Entschuldige, wenn ich nicht denselben Biernamen wie du bekam und also noch dann und wann eine kindlich simple Frage stelle."
"Er blieb stets ruhig auf seinem Sofa liegen und hielt sich für alles (nur einiges ausgenommen) einen Sklaven."
"Freilich famos!" rief der Student, den Hut abnehmend und sich den Schweiß abtrocknend.
"Nun, siehst du wohl!... Studiere du nur ruhig auch den Seneka. Wie gesagt: im siebenundzwanzigsten Briefe stößt du auf den Calvisius Sabinus, von dem der stoische Narr sagt: ›Nie sah ich einen Menschen mit seinem Wohlstande so wenig Würde verbinden!‹ – Nämlich dieser in Wirklichkeit und Wahrheit Freigelassene hatte natürlich auch ein Gedächtnis, in dem nichts hängenblieb. Eigentlich war es eine Dummheit von ihm; aber für das sogar hielt er sich 'nen andern! Heute entfiel ihm der Name des Ulysses, morgen der des Achilles, übermorgen Priamos seiner. Und so, grade so, bei jedem Geschäfte geht es mir dort in Wanza. Liebster Himmel, die Kommune da und die Kerle dort und die Geschäfte, die sie bei mir haben!... So aber, der Calvisius kaufte sich für alles einen Sklaven. – Ich zitiere wörtlich, Grüner: einer derselben mußte den Homer innehaben, ein anderer den Hesiodus; an neun andere wurden die neun Lyriker verteilt; – ah, schönen guten Abend, Herr Tresewitz!"
Es war zu drollig, der Abfall aus dem klassischen Altertum in die unmittelbarste Gegenwart, aus den Episteln des Lucius Annäus Seneka in die freundschaftliche Begrüßung mit dem Seifenfabrikanten und Lichtzieher Herrn Johann Tresewitz dicht vor dem Tore von Wanza an der Wipper. Auch der jüngere Studiengenosse hob höflich den Hut, und, wir müssen es ihm zur Ehre seiner Auffassungsgabe anrechnen, er wußte auf einmal ganz genau Bescheid in den Zuständen seines Wanzaer einstigen Verbindungsbruders.
"Was wäre das nun der Sache angemessen, wenn ich dem öden Philister durch einen andern den von ihm beanspruchten guten Abend hätte wünschen lassen können", seufzte der Bürgermeister. "Sieh, Grüner, das ist grade das Scheußliche an diesen Klassikern: von Weisheit quellen sie über, die wunderbarsten, praktischsten Ratschläge geben sie einem – aber gebrauchen kann man nichts davon. Es ist zu lange Zeit her, seit sie verständige Menschen waren; und wir – wir sind vermittelst unserer höhern Bildung, Tugend, Sitte und gottverdammten, verfluchten modernen Feinfühligkeit allzusehr in das ausgeartet, was sie mit dem Sammelwort ›pecus‹ bezeichneten."
"Du siehst die Sache doch wohl etwas schroff an und bist vielleicht auch noch nicht lange genug oberste Magistratsperson am hiesigen Ort –"
"Sieh dir den Biedermann an, wie er mit seinem Regenschirm unteren Arm durch den Abendsonnenschein und in dem Gefühl, mich mit gewählt zu haben, dahinzieht, und – wandle mal in seinem Schatten, bei fünfhundert Taler Gehalt, ohne Aussicht auf Verbesserung, in seinem Schatten ungestraft – unter Palmen. Er ist Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, sogar Bürgervorsteher, Vizepräsident des Bürgervereins, einer der festesten Stämme im hiesigen Palmenhaine und nicht umsonst Lichtzieher und Seifenfabrikant. Datteln trägt er aber nicht, und am wenigsten für mich. Ich sage dir, man muß vom ersten Chargierten der Caninefaten zum in Wahrheit ersten Chargierten in Wanza herabgekommen sein, um zu erfahren, daß es wirklich eine ewige Gerechtigkeit gibt. Knabe, Knabe, hier wandele ich, dir zum warnenden Exempel; denn dieser eine Philister rächt täglich vollkommen sämtliche Sünden, die ich vordem an seinesgleichen begangen habe!"
"Großer Gott, fasse dich nur, alter guter Kerl!" stammelte der junge Freund, wahrhaftig ganz überwältigt durch das innigste Verständnis für die Zustände seines Führers.
Sie näherten sich jetzt allmählich der Stadt. Gartenmauern, Gartenhecken und Gartenhäuschen traten an die Stelle der Ackerflächen; und mit dem Bürgermeister ging etwas Merkwürdiges vor. Er wurde von Schritt zu Schritt mehr ein ganz anderer! Mit immer wachsendem Erstaunen beobachtete der jüngere Studiengenosse stumm das sich entwickelnde Phänomen. Der weise Seneka fing an, mit steifen Schritten seinen nicht wegzuleugnenden Bauch vorwärtszutragen. Er rückte seinen Halskragen zurecht, er schlug sich mit dem Taschentuch den Staub von den Stiefeln, er stieß den Stock gravitätisch auf, und das drolligste war, daß er sich des erstaunlichen Eindrucks, den er auf den jüngern Kommilitonen machte, bis ins Innerste seines Gemütes bewußt war und – gar keine Freude daran hatte.
Äußerlich mit würdigster Miene, wimmerte er leise zur Seite hin:
"Anständig, Grünhage! Es ist schauderhaft, aber – ich sitze ja doch nun mal drin. Grüner, bleib du so lange als möglich draußen; aber betrage dich jetzo auch – so anständig als möglich – uhhh!"
Ein alter Torbogen warf nun seinen Schatten auf die beiden Wanderer. In diesem Schatten packte der Bürgermeister von Wanza noch einmal den Arm seines Begleiters und flüsterte weinerlich:
"Ohne die Witwe Wetterkopf lebte ich gar nicht mehr! Das Weibsbild mit seiner einsamen Kneipe ist mein einziger Trost – bei Tage. Bei Nacht gehen wir in den Großen Bären – na, du wirst schon sehen, Grüner; tu mir aber den einzigen Gefallen und betrage dich jetzt anständig; hier sind wir denn in Wanza und – mich haben sie zu ihrem Bürgermeister gemacht – uh! O Calvisius!"
Sie waren in Wanza, und der frühere Senior der Caninefatia war augenblicklich nichts weiter als Bürgermeister von Wanza. Man grüßte ihn als solchen von den Fenstern und Haustüren aus, und er grüßte mit Grabesernst wieder.
"Sie hatte meiner seligen Mutter versprochen, mit für mich zu sorgen", seufzte er noch einmal. "Und siehst du, sie hat ihr Wort gehalten, und so hat sie mich besorgt! Deine Tante Grünhage nämlich. Und so wird sie dich möglicherweise ebenfalls versorgen! Uh – u – h! Ich gratuliere – uh!"
"Wie willst du's nun machen?" fragte der Bürgermeister. "Willst du ihr sofort ins Haus fallen und es drauf ankommen lassen, ob sie dich auf der Stelle wieder hinauswirft oder dir um den Hals fällt und dich augenblicklich zu ihrem Universalerben einsetzt? Oder wünschest du ihr lieber leise auf den Leib zu rücken, von hintenherum an sie heranzuschleichen und dich mehr diplomatisch einzuschmeicheln? Ihre Nücken und Tücken hat sie, und wenn ich sie auch so ziemlich kenne, so habe ich sie doch noch nie ganz kennengelernt. Und solche versunkenen Familienbezüglichkeiten wie hier in diesem Falle zwischen euch und ihr sind immer eine heikle Sache. Dazu wenigstens habe ich genug Jus von der Universität mit nach Wanza gebracht, um zu wissen, daß alles, was ins Erbrecht und die Verwandtenliebe schlägt, von jedwedem nicht Dazugehörigen mit verdammt spitzen Fingern anzufassen ist. Also mach es ganz, wie du willst, Grünhage. Bist du überzeugt, daß die erstere Art, dich vorzustellen, vorzuziehen ist, so rate ich dir dazu, mein Sohn. Gegenteils schlage ich dir vor, diese Nacht hindurch in meinem stillen Heim, auf meinem Sofa über dich und die Tante noch einmal nachzudenken und sodann morgen früh zur anständigsten Wanzaer Visitenzeit, wohl ausgeschlafen habend, mit der heitern Greisin deine Klinge zu binden, und meinetwegen drauflos bis zur Abfuhr! Dieses hier ist übrigens die Wipper, und hier stehen wir vor meinem friedlichen Hause. Komm unter allen Umständen jedenfalls noch 'nen Moment mit rauf."