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Vergessene Lieben. Verlorene Spuren. Alte Geheimnisse.
Die junge Krankenschwester Laura kann ihr Glück kaum fassen. Hals über Kopf hat sie sich in einen wunderbaren Mann verliebt, und nach einer Blitzhochzeit folgt sie ihm nun auf seinen Landsitz. Wie ein verwunschener Ort liegt er inmitten einsamer Wälder an einem See. Doch schon bald fallen Schatten auf das Idyll. Nacht für Nacht wird Laura von Alpträumen geplagt, in denen ihr eine fremde Frau erscheint. Wer ist sie? Laura macht sich auf, das Geheimnis zu lüften und kommt dabei einer großen Liebe auf die Spur – und einem schrecklichen Verrat …
Eine spannende Liebesgeschichte in der Einsamkeit der Wälder und Seen Ostdeutschlands.
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Seitenzahl: 484
Buch
Dieser weite Himmel. Die unendlichen Seen. Die glühend bunten Wälder. Eine wunderbare Landschaft, in der Laura sofort die Seele aufgeht. Die junge Krankenschwester kann ihr Glück kaum fassen: Neben ihr, am Steuer des Cabrios, sitzt der Mann ihres Lebens, der attraktive Witwer Jan Plathe. Er nimmt sie mit in seine Heimat. Gemeinsam wollen sie ein neues Leben auf seinem Landsitz beginnen, der idyllisch inmitten einsamer Wälder an einem See liegt. Doch Laura ahnt nicht, dass das Haus ein dunkles Geheimnis birgt– und dass die Schatten der Vergangenheit sie bald einholen werden…
Autorin
Christiane Sadlo arbeitete als Regie- und Dramaturgieassistentin, Dramaturgin und Journalistin. Seit 1991 schreibt sie äußerst erfolgreich für Film und Fernsehen. Aus ihrer Feder stammen unter anderem viele Drehbücher für Fernsehserien wie Familie Dr. Kleist (ARD) und die Inga-Lindström-Verfilmungen im ZDF.
Außerdem von Christiane Sadlo bei Blanvalet lieferbar:
Wilde Wellen (37780)
Christiane Sadlo
Das Jahr der Kraniche
Thriller
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Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
Copyright © 2014 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Das Zitat am Anfang des Buches wurde entnommen aus: Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, deutsche Ausgabe in der Neuübersetzung von Vincent von Wroblewsky: © 1999 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.
Umschlaggestaltung: bürosüd, München
Umschlagmotiv: Plainpicture/Eddie Granlund
Redaktion: Rainer Schöttle
ES · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-10976-9V002
www.blanvalet.de
»Es gibt kein Licht ohne Schatten,
und man muss auch die Nacht kennen.«
Albert Camus
Die junge Frau schlug die Augen auf. Es war dunkel um sie herum.
Als sie versuchte aufzustehen, bemerkte sie, dass sie an Händen und Füßen gefesselt war. Die Kabelbinder waren fest zugezogen und schnitten ihr ins Fleisch. Panik überfiel sie. Sie musste hier weg. Mühsam rollte sie sich zur Seite, rutschte über den feuchten Boden, bis sie an eine Bretterwand stieß.
»Hilfe! Hört mich jemand? Hilfe!«
Sie lauschte in die Dunkelheit. Nur das Rauschen des Windes war zu hören. Sie schrie noch einmal um Hilfe und wusste doch, dass niemand sie hören würde. Sie schob sich mit dem Rücken an der Wand hoch. Schwindel überfiel sie. Jetzt nicht wieder ohnmächtig werden. Mühsam um ihr Gleichgewicht kämpfend, rutschte sie an der Wand entlang, bis sie die Türklinke in ihrem Rücken spürte. Hoffnung stieg in ihr auf. Mit dem Ellbogen gelang es ihr, die Klinke hinunterzudrücken. Die Tür war abgeschlossen. Es gab keine Chance zu entkommen. Ihr Schluchzen ging in den hellen Schreien der Kraniche unter, die mit tosenden Flügelschlägen auf der Insel landeten.
So fühlt es sich also an, wenn man glücklich ist.
Laura blinzelte, den Kopf in den Nacken gelegt, in den knallblauen Himmel, der sich über die Uckermark spannte. Ein paar weiße Kumuluswolken segelten über die durchsichtige Bläue. Wie Sahnehäubchen sahen sie aus.
Sahnehäubchen auf meinem Glück.
Sie hätte singen wollen, jubeln, die Welt umarmen– hinausschreien, dass sie selig war.
Ich habe den Mann meines Lebens gefunden, habe ihn geheiratet und will für immer und ewig mit ihm im siebten Himmel leben.
Unwillkürlich griff Laura nach Jans Hand. So, als wolle sie sich vergewissern, dass dieser Mann neben ihr, in dessen altem Cabrio sie seit Stunden an kristallenen Seen vorbeifuhr– ruckelnd über schmale gepflasterte Landstraßen, die von uralten Eichen gesäumt waren, deren knorrige blattlose Äste sich zu einem filigranen Dach über ihnen verbanden–, auch wirklich real war.
»Na, Frau Plathe, geht’s dir gut?«
Jan legte den Arm um sie und zog sie an sich. Sie spürte seine Lippen auf ihrem Haar, sog den Duft seines Rasierwassers ein.
»So gut wie noch nie in meinem ganzen Leben.«
Sie drückte einen Kuss auf die Stelle über seinem Herzen, lauschte auf das Pochen in seiner Brust. Ruhig und gleichmäßig, beruhigend. Wie konnte sie sich nur dermaßen sicher fühlen bei jemandem, den sie vor vier Monaten noch nicht einmal gekannt hatte?
»Du bereust es noch nicht?«
Sie hob den Kopf, und ihr Blick tauchte in das Blaugrau seiner Augen ein. Zwar fand sie ein Lächeln darin, aber im Vordergrund stand ein ernsthaftes Forschen, vielleicht sogar ein wenig Besorgnis. Das war nicht die schnell dahingeworfene, verspielte Frage eines Liebenden, der die Antwort schon wusste. Nein, das war ernst gemeint.
»Ich habe doch gesagt, dass ich deine Frau sein will. Erinnerst du dich nicht? Ja, dass ich bei dir sein will, bis der Tod uns scheidet, in guten und schlechten und überhaupt in allen Zeiten.«
Sie schob sich näher an ihn heran und küsste ihn auf die Lippen.
»Ich bereue nichts.«
Im nächsten Augenblick steuerte Jan das Cabrio an den Straßenrand. Er zog sie an sich, seine Zunge öffnete ihre Lippen. Der Kuss war voller Leidenschaft.
»Laura.«
Es klang wie eine Beschwörung.
»Ich werde alles tun, was ich kann, damit du es nie bereust.«
Sie hätte ewig so in seinen Armen liegen können: festgehalten, geborgen, geliebt.
War die Katastrophe mit Thomas, den sie mehr als drei Jahre ihren »Lebensmann« genannt hatte, bis zu dem geradezu klischeehaften Moment, als sie ihn in den Armen ihrer besten Freundin ausgerechnet in ihrem Bett gefunden hatte, tatsächlich erst ein Jahr her? Ihr Leben und ihre Zukunft mit dem Internisten, der auf der gleichen Station gearbeitet hatte wie sie und mit dem sie nicht nur Kind, Hund und Haus geplant hatte, sondern auch einen gemeinsamen Lebensabend, hatten damals von einer Minute zur anderen in Trümmern gelegen. Der Schmerz und die Enttäuschung darüber hatten sie in die Knie gezwungen. Sie hatte einen einsam verheulten Tag nach dem anderen in ihrer hastig bezogenen winzigen Wohnung verbracht, Wut und Verzweiflung waren in Wellen über sie hinweggeschwappt, um schließlich in den Entschluss zu münden, so etwas nie mehr erleben zu wollen. Kein Mann sollte ihr jemals wieder so wehtun können. Sie würde sich einfach nie mehr auf einen Mann einlassen, keinem Mann jemals wieder die Chance geben, ihr nahezukommen. Ihr Herz, das so lange gebraucht hatte, um zu heilen, würde niemals wieder von einem Mann gebrochen werden. Es war ihr schlagartig besser gegangen, als sie diesen Entschluss gefasst hatte. Das Leben war durchaus auch interessant und lebenswert ohne einen Kerl an ihrer Seite. Sie hatte sich in ihre Arbeit gestürzt, hatte mehr Nacht- und Sonntagsdienste übernommen als jede andere Krankenschwester auf ihrer Station. Sie hatte angefangen, Sport zu treiben: Joggen, Schwimmen, Radfahren. Und langsam war es ihr wieder gut gegangen. Sie war sich selbst genug, und sie hatte eine spannende Zukunft. Es gab so viel, was sie erleben, was sie sehen wollte, worauf sie neugierig war. Männer aber gehörten nicht mehr dazu.
Bis an jenem denkwürdigen Freitagnachmittag vor drei Monaten– München war seit Wochen in den Wassermassen eines sich über Bayern einkringelnden Januar-Tiefs versunken– Jan Plathe aus dem Nichts in ihr Leben gesprungen war und sie mit einem entschlossenen Griff davor bewahrt hatte, von einem aus einer grauen Regenwand heranpreschenden Golf überfahren zu werden. Zehn Wochen später hatte sie ihn, zu ihrem eigenen Erstaunen und zu dem ihrer Mutter und ihrer Freundinnen, geheiratet. All die wütenden Schwüre, die sie sich selbst gegenüber abgelegt hatte, waren in jenem Moment Makulatur geworden, als sie sich in den Armen dieses Fremden wiedergefunden hatte, dem der Schrecken über die Vorstellung ihres vorzeitigen Ablebens– das er verhindert hatte– in die Augen geschrieben stand. Es war nichts anderes gewesen als Schicksal. Dessen war sie sich von diesem ersten Moment an sicher gewesen, in dem es schien, als hätte die Welt um sie herum aufgehört zu existieren. Sie hatte den Regen nicht mehr gespürt, der unaufhörlich auf sie herunterprasselte, der Verkehrslärm der nahen Lindwurmstraße war verstummt, das aufgebrachte Toben des Fahrers, dessen Auto mit quietschenden Bremsen genau da zum Stehen gekommen war, wo sie die Straße hatte überqueren wollen, war nicht bis an ihr Ohr gedrungen. Nur den Herzschlag ihres Retters, an dessen Brust sie lag, hatte sie gespürt, die Wärme seiner Arme, die sie umschlungen hielten, und seinen Atem an ihrer Wange, auf der sich die Regentropfen mit ihren Tränen mischten.
»Sie müssen besser auf sich aufpassen«, hatte sie seine belegte Stimme flüstern hören.
Wieso eigentlich? Das könntest doch du übernehmen. Du, der du mir das Leben gerettet hast, könntest doch einfach für den Rest meiner Tage dafür sorgen, dass mir nichts mehr passiert.
Es war alles so einfach gewesen. Und so richtig: dass dieser Mann sie nach Hause brachte, dass er ihr Tee kochte und ein heißes Bad einließ, dass er sie in ihr verblasst-rotes Lieblingsbadetuch wickelte und ihre Haare trocken föhnte. Und dass er, nachdem er sie wohlbehalten im Bett wusste und ihr eine gute Nacht gewünscht hatte, zwar seine nasse Jacke genommen und sich mit einem Lächeln und der Ermahnung, in Zukunft wirklich besser auf sich aufzupassen, verabschiedet hatte, zwei Minuten später aber wieder vor ihrer Tür stand mit der Frage, ob es nicht vielleicht doch besser sei, wenn er sie in dieser Nacht nicht allein ließe. Möglicherweise stand sie ja unter Schock.
»Ja«, hatte sie gemurmelt, »Sie haben recht. Ich glaube, ich stehe wirklich unter Schock.«
Wie anders hätte sie sich sonst diesen merkwürdigen schwebenden Zustand, in dem sie sich befunden hatte, erklären sollen? Er hatte die Nacht in dem verschlissenen Sesselmonster, das sie als Studentin auf einem Flohmarkt erstanden und seitdem durch ihr ganzes Leben geschleppt hatte, verbracht. Und auch am nächsten Morgen, als sie wie gerädert aufgewacht war aus ihren unruhigen Träumen, die von Autos handelten, die auf sie zuschossen, und von Regenschwällen, die sie wegzuspülen drohten, war er nicht weggegangen.
»Ich heiße übrigens Jan Plathe.«
Als hätte er ihren Blick in seinem Rücken gespürt, hatte er auf ihre unausgesprochene Frage geantwortet, während er in ihrer Puppenküche Kaffee machte.
»Guten Morgen, Jan Plathe. Ich weiß nicht, ob ich mich schon bei Ihnen bedankt habe.«
Er hatte sich zu ihr umgedreht. Dieser Blick… Wie unabsichtlich tastete sie nach einem Küchenstuhl, in der Hoffnung, dass es ihm nicht auffallen würde, dass sie sich an dessen Lehne geradezu festkrallte, weil ihre Knie zitterten. Einen Moment lang musste sie die Augen schließen, als die Erinnerung daran, wie sie tags zuvor im strömenden Regen an der Brust dieses Mannes gelegen hatte, über sie hereinbrach.
Peinlich! Sie fühlte sich wie ein Teenager vor seinem ersten Date. Nein, sie fühlte sich deutlich schlimmer. Als Fünfzehnjährige war sie entschieden cooler gewesen als in diesem Moment. Sie war zu ihren Dates gegangen in der Gewissheit, dass ihr nichts passieren konnte. Wenn es nicht der Typ von heute war, dann würde morgen ein anderer kommen. Und wenn der auch nicht zu ihr passen sollte, dann würde es noch viele geben, denen sie begegnen würde. Herzklopfen, Magendrücken, Kniewackeln, rauer Hals, gerötetes Gesicht– diese Symptome hatte sie allenfalls bei ihren Freundinnen registriert, wenn es um Jungs ging. Sie dagegen hatte nie etwas erwartet und war deshalb umso entspannter geblieben, was sowohl ihre Freundinnen als auch die betroffenen Jungs in Ratlosigkeit versetzte. Thomas war der erste Mann gewesen, der sie nervös gemacht hatte. Vor dem ersten Date mit ihm hatte sie den halben Tag vor dem Kleiderschrank verbracht, hatte dessen Inhalt auf Bett, Sessel und Fußboden verteilt und war dann doch in Jeans und T-Shirt zu dem Kino gegangen, vor dem er auf sie wartete. Ja, Thomas war der erste Mann gewesen, in den sie sich verliebt hatte. Der ihr wichtig gewesen war. Aber was aus dieser Liebe geworden war, hatte sie ja gesehen. Noch gestern hätte sie– wäre sie gefragt worden– im Brustton der Überzeugung gesagt, dass Männer und die Beziehungen zu ihnen völlig überbewertet seien und dass sie sich nichts Schöneres vorstellen könnte als ein selbst bestimmtes Leben, und zwar ohne Mann. Und vermutlich hätte sie hinzugefügt, dass der Typ, auf den sie sich eventuell einmal einlassen würde, erst noch geboren werden müsste.
Und dann hatte er in ihrer Küche gestanden: Jan Plathe, ihr Lebensretter. Da stand er in seinen schwarzen Jeans und dem dunklen Hemd, mit seinen braunen Locken, die von ein paar grauen Fäden durchzogen waren, mit seinen unergründlichen Augen, die jetzt im Sonnenlicht– ja, der Regen hatte in der Nacht aufgehört– einen Grünschimmer hatten. Er stand einfach nur da, mit der italienischen Zwei-Personen-Espressokanne, die er gerade mit Kaffeepulver befüllt hatte, in der Hand.
»Soll ich Sie vielleicht zum Arzt bringen? Möglicherweise brauchen Sie etwas für…«
Ich brauche überhaupt nichts. Nur dich.
In diesem Moment hatte sie wirklich nichts anderes gewollt, als seine Lippen auf den ihren zu spüren.
Wieso steht er nur da? Wieso küsst er mich nicht? Wieso trägt er mich nicht ins Bett und…
Ihre Gedanken hatten sich überschlagen und mit einer aufsteigenden Panik gemischt: Was, wenn ihr Retter möglicherweise einfach nur freundlich und besorgt gewesen war? Lediglich ein guter Mensch, der sich um jede andere Person genauso gekümmert hätte? Der in keiner Weise das Gefühl gehabt hätte, dass hier das Schicksal mit aller Wucht in das Leben zweier Menschen eingegriffen hatte? Vielleicht hatte er ja Frau, Kind und Hund zu Hause und überhaupt keinen Platz für eine Zufallsbekanntschaft.
»Sind Sie eigentlich verheiratet?«
Bevor sie den Satz zu Ende gedacht hatte, waren die Worte ihrem Mund entschlüpft. Wie entsetzlich peinlich! Und die Situation wurde durch ihr Gestammel auch nicht besser.
»Ich meine, was denkt sich eigentlich Ihre Frau, nachdem Sie heute Nacht nicht nach Hause gekommen sind? Also, was ich sagen wollte… Es wäre mir nicht recht, wenn Sie meinetwegen vielleicht Probleme kriegen… Aber… Sie haben sie wahrscheinlich informiert, nicht wahr? Dass Sie auf mich aufpassen mussten, weil…«
Er hatte sie einfach geküsst, hatte mit seinen Lippen ihren Redeschwall unterbrochen.
»Mach dir keine Gedanken.«
Ich soll mir keine Gedanken machen? Ist er verrückt geworden? Hilfe– ich kenne ihn gerade mal vierzehn Stunden, und ich bin ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
»Vielleicht müssen Sie ja gehen? Ins Büro, meine ich. Oder…«
»Willst du, dass ich gehe?«
Jan hatte sie ein wenig von sich weggeschoben. Ein Lächeln lag in seinem Blick. Er wusste die Antwort, das war klar. Er wusste, dass sie nichts mehr wollte, als dass er bei ihr bliebe. Jetzt. Später. Morgen. Und in aller Zukunft.
Hol Luft und nimm dich zusammen!
»Nein«, hatte sie gesagt und darüber gestaunt, wie ruhig ihre Stimme plötzlich klang, ernst und erwachsen. »Nein, ich will nicht, dass du gehst.«
»Gut! Das will ich nämlich auch nicht, Laura.«
Und er war geblieben. An diesem Tag, den sie im Bett verbracht hatten, am nächsten und auch an allen darauf folgenden. Seit drei Monaten waren sie nie mehr als acht Stunden getrennt gewesen, jene acht Stunden, in denen Laura ihren Dienst im Krankenhaus tun musste. Eine Woche nach ihrer ersten Begegnung– der Regen war endlich in Schnee übergegangen und hatte München den ersehnten Winter gebracht– hatte Jan ihr gesagt, dass er sich nicht mehr vorstellen könne, ohne sie zu leben.
»Willst du mich heiraten?«
Sein Mund hatte gerade ihre Nackenlinie erforscht. Laura hatte im ersten Moment gedacht, sie hätte ihn nicht richtig verstanden. Es konnte doch nicht sein, dass er ihr einen Heiratsantrag machte, nachdem sie sich gerade mal sieben Tage kannten!
»Wenn dir das zu schnell geht, können wir natürlich auch noch warten. Und wenn du zu den Frauen gehörst, die überhaupt nicht heiraten wollen, auch gut. Dann leben wir eben einfach nur zusammen. Bis ans Ende unserer Tage.«
Seine Lippen hatten nach jedem seiner Worte einen Kuss auf ihren Arm gedrückt. Angefangen von der Handinnenfläche, über das Handgelenk, den Unterarm hinauf, mit einer kleinen Rast in der Ellenbogenbeuge, über den Oberarm hin zu ihrer Schulter.
»Ich dachte nur, vielleicht geht es dir wie mir.«
»Wie geht es dir denn?«
Sie hatte ihren Arm weggezogen, ein T-Shirt über den Kopf gestreift und sich in ihren alten Sessel gedrückt. Sie musste einen klaren Kopf behalten. Oder besser, sie musste endlich wieder einen klaren Kopf bekommen. Nach dieser Woche, die sie im siebten Himmel verbracht hatte.
»Du weißt, wie es mir geht.«
Ihr Hirn hatte gerattert. Gab es so etwas also wirklich? Liebe auf den ersten Blick? Die Sicherheit, den einzig Richtigen getroffen zu haben?
Das ist doch irre. Absolut verrückt. Ich kann mich doch nicht auf einen Typen einlassen, den ich überhaupt nicht kenne.
Sollte sie wirklich all ihre Vorsätze über Bord werfen und ihr gesamtes Leben dazu und mit diesem Mann mitgehen? Wenn eine ihrer Freundinnen ihr gesagt hätte, dass sie so etwas vorhätte, hätte sie ihr den Kopf zurechtgerückt. Hätte verlangt, dass sie über ihre aus dem Ruder laufenden Hormone hinwegsah, dass sie die rosarote Brille absetzte und ihren Verstand einschaltete. So was kann doch niemals gut gehen, hätte sie gesagt. Du weißt doch nichts über diesen Mann. Er könnte ein Heiratsschwindler sein. Oder ein Massenmörder. Oder einfach nur der Falsche. Lass dir Zeit, hätte sie gesagt. Lern ihn erst mal richtig kennen. Vielleicht hat er tausend unangenehme Eigenschaften. Bohrt in der Nase oder wäscht sich nur einmal in der Woche die Füße. Vielleicht entpuppt er sich als häuslicher Tyrann, der dich als bessere Putze haben will. Oder er hört einfach nur die falsche Musik und mag Filme, die du nicht ausstehen kannst. Du kennst ja noch nicht mal seine Freunde, hast keine Ahnung, ob du mit denen überhaupt zurechtkommen wirst. Also, denk nach, würde sie sagen. Entscheidungen, die man Hals über Kopf trifft, sind im Allgemeinen falsch.
Oder sie sind absolut richtig. Was soll daran falsch sein, wenn man sich einfach sicher ist?
»Ich liebe dich, Laura. Ich liebe deine Augen und deinen Mund. Ich liebe, wie du gehst und wie du lachst. Ich liebe jede Faser deines Körpers. Ich liebe es, dir nahe zu sein und will das für den Rest meines Lebens.«
Vielleicht war das ja alles nur ein Traum. Vielleicht würde sie jeden Moment aufwachen und feststellen, dass sie verschlafen hatte. Sie würde in ihre Klamotten springen und in die Klinik rasen. Und ihr Leben würde weitergehen wie bisher.
»Wenn du willst, lasse ich dich ein paar Tage allein, damit du nachdenken kannst.«
Nein. Du sollst nicht weggehen. Ich muss nicht nachdenken.
»Wieso bist du dir so sicher, dass es gut gehen wird?«
»Was denkst du, wie oft es im Leben vorkommt, dass zwei Menschen sich begegnen, und alles fühlt sich richtig an? Glaubst du nicht, dass man, wenn so etwas passiert, alles tun sollte, um es sich zu erhalten?«
Er hatte sich vor sie hingekniet, hatte ihre Arme, die sie krampfhaft um sich geschlungen hatte, gelöst. Ihre Hand hatte er in die seine genommen und Laura nur angesehen. Und das, was sie mühsam als Widerstand aufzubauen versucht hatte, war in sich zusammengeknickt. Einfach weggeschmolzen. Dieser Mann legte ihr sein Herz zu Füßen. Er liebte sie, und sie liebte ihn. Nach sieben Tagen konnte sie es sich nicht mehr vorstellen, ohne ihn zu leben. Sie wollte in seinen Armen einschlafen und aufwachen, wollte seine Hand an ihrer Hüfte spüren, wenn sie durch die Straßen gingen. Sie wollte bei ihm sein, ihr Leben mit ihm teilen, jede Stunde, Tag für Tag.
»Ja«.
Mehr gab es nicht zu sagen. Einfach nur: »Ja, ich will dich heiraten.« Das Schicksal oder ein guter Geist oder vielleicht auch nur der Zufall, an den sie nicht glaubte, irgendwas oder irgendwer hatte diesen Mann wie einen Meteor in ihr Leben krachen lassen. Nichts war mehr, wie es vor ihm gewesen war. Und nichts sollte je wieder so sein wie ohne ihn.
Die Sonne verdunkelte sich. Wind zerrte an Lauras Haaren. Ein Rauschen dröhnte in ihren Ohren. Grelle Schreie ließen die Luft vibrieren und stülpten sich über die Erinnerungen, in die Laura gerade noch so beglückt versunken gewesen war. Von einer Sekunde zur anderen verwandelte sich die eben noch frühlingshelle Stimmung in Düsternis. Laura fröstelte und zog die Schultern zusammen. Sie wollte sich noch näher an Jan heranschmiegen, als würde sie bei ihm unwillkürlich Schutz vor einer Bedrohung suchen. Da sah sie es: Ein dunkler Schwarm riesiger Vögel hatte sich vor die Sonne geschoben und überflog gerade in einer eleganten Runde den See, an dessen Ufer Jan und Laura parkten. Als eine große dunkle Fläche spiegelte sich der Schwarm im klaren Wasser, bevor ein Vogel nach dem anderen zur Landung auf der kleinen Insel ansetzte, die auf der ruhigen Wasserfläche zu schwimmen schien.
»Du weißt schon, dass man Kraniche von alters her auch Glücksvögel nennt?«
Jans Blick war den Kranichen gefolgt. Die großen, schwarzgrauen Vögel, deren Flugfedern sich zu einem buschigen Schwanz formierten, der wie ein Spitzenschleier fast kokett bei jedem ihrer Schritte wippte, wurden immer mehr. Fast schien es, als bebte die kleine Insel, die sie sich als sicheren Schlafplatz auserkoren hatten, unter ihren lauten Trompetenschreien. Laura hielt den Atem an. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Natürlich wusste sie, dass es Kraniche gab. Auch, dass sie sich im Norden Deutschlands sammelten, wenn sie auf ihren langen Flügen in den Süden, wo sie den Winter verbrachten, oder in den Norden, wo sie sich im Sommer paarten und ihre Jungen aufzogen, Rast machten. Doch gesehen hatte sie so etwas noch nie.
»Glücksvögel?«
Sie konnte den Blick nicht von dem Schauspiel wenden. Jetzt, da sie alle auf der Insel gelandet waren, hörte das Rauschen auf, das sie gerade eben noch so irritiert hatte. Die Sonne schien wieder, als wäre nichts passiert. Trotzdem fühlte Laura noch die Kälte, die in ihr aufgestiegen war. Sie rieb sich die Arme, um wieder warm zu werden.
»Eigentlich sollten sie schon lange auf dem Weg nach Skandinavien sein. Aber in den letzten Jahren sind immer mehr von ihnen einfach hier geblieben.«
»Vielleicht wollten sie einfach auf uns warten, deine Glücksvögel. Um uns zu gratulieren.«
Sie zwang sich zu einem kleinen Lachen und versuchte, dieses schale Gefühl von Unbehagen, das sie immer noch in seinem Griff hielt, zu verdrängen. Jan zog sie enger an sich. Erleichtert stellte sie fest, dass er nicht mitbekommen hatte, wie sehr sie sich erschreckt hatte.
»Du bist wirklich eine Romantikerin. Aber natürlich hast du recht. Die Kraniche sind nichts anderes als die Krönung dieses wunderbaren Tages.«
In Jans Armen löste sich Lauras Starre. Sie ergab sich der Faszination, die die Vögel in ihr auslösten. Wie anmutig sie trotz ihrer Größe waren! Einige der Vögel bogen den Hals auf den Rücken und streckten klappernd ihre Schnäbel in die Luft.
»Sie fangen schon mit dem Balztanz an. Sie haben es eilig, denn der Sommer ist kurz. Sie müssen ihre Jungen rechtzeitig bekommen, bevor sie sich dann wieder auf den Weg in den Süden machen.«
Laura lauschte Jans Erklärungen, doch ihre Gedanken machten sich auf eigene Wege. Sie hatte sich nie sonderlich für die Natur interessiert. Blumen fand sie hübsch, klar. Und Bäume, wenn sie blühten oder im Herbst mit ihren bunten Blättern prahlten. Aber so weit, dass sie sich für Namen interessiert hätte, war es nie gegangen. Und die Fauna– wenn sie mal von Haustieren, allem voran ihrem heiß geliebten Kaninchen Egon, das sie als Kind gehabt hatte, absah– war ihr eher egal gewesen. Im Gegenteil, morgendliches Vogelgezwitscher im Frühjahr hatte sie schon immer als störend empfunden, und was da so kreuchte und fleuchte oder schwamm oder flog, war ihr eigentlich immer nur dann nahe gewesen, wenn es sich als Steak oder Fischfilet auf ihrem Teller wiedergefunden hatte.
Und jetzt fand sie, die sich selbst immer nur als Stadtpflanze betrachtet hatte, sich an der Seite ihres Mannes auf dem Weg zu einem Haus, das, wie er ihr erzählt hatte, ein paar Kilometer vom nächsten Ort entfernt lag, mitten in der Pampa.
»Du willst aufs Land ziehen?«
Ihre Mutter hatte sich ziemlich gewundert, als Laura ihr mitgeteilt hatte, dass sie München verlassen und mit Jan in die Uckermark gehen würde. Ja, sicher, Fuchs und Hase sagten sich dort Gute Nacht, wo Jans Familie seit Generationen lebte. Sie hatte ihm gestehen müssen, dass sie keine Ahnung hatte, wo dieser Landstrich lang, aus dem er kam. Irgendwo im Osten. So viel hatte sie gewusst. Aber nicht, wie es dort aussah. Und noch viel weniger, was für ein Leben sie dort erwarten würde.
»Und du hast keine Angst, dass es dir da langweilig werden könnte?«
Karin Nordmeyer hatte in dem Moment, in dem sie ihrer Tochter diese Frage gestellt hatte, auch schon gewusst, wie die Antwort lauten würde. Seit Laura Jan begegnet war, war sie wie ausgewechselt. Wild entschlossen, das Glück, das so unvermutet über sie gekommen war, mit beiden Händen festzuhalten. Und wenn es eben sein musste, dann auch in dieser Uckermark. Denn das war schnell klar gewesen: Jan wollte, dass sie mit ihm in seinem Haus lebte, in der Gegend, in der er aufgewachsen war. So sehr Karin ihrer Tochter ihr Glück gönnte– es hatte ihr das Herz gebrochen, als sie mit ansehen musste, wie traurig Laura nach der Trennung von Thomas gewesen war– wünschte sie sich doch, dass Laura nicht alle Vernunft über Bord warf. Wieso nicht erst mal eine Fernbeziehung?, hatte sie gefragt. Wieso sich nicht noch Zeit lassen, um einander besser kennenzulernen? Wieso den Job kündigen und das Leben in München sofort aufgeben?
»Du könntest erst mal Urlaub nehmen und ein paar Wochen mit Jan in seinem Haus verbringen. Sehen, ob ihr zusammen auch alltagstauglich seid. Prüfen, ob deine Verliebtheit auch dem täglichen Leben an seiner Seite standhält.«
Aber Karin hätte genauso gut schweigen können. Laura hatte ihre Argumente mit einem Strahlen weggewischt. Mit der trotzigen Sicherheit, dass es vor Jan nie jemanden gegeben hatte, den sie so liebte. Genauso wenig, wie es nach ihm jemanden geben würde. Wobei es natürlich kein »nach ihm« geben konnte, denn Laura war fest entschlossen, mit Jan für den Rest ihres Lebens zusammenzubleiben. Und glücklich zu sein.
»Findest du es schrecklich, dass ich keine Ahnung von Kranichen habe?«
»Entsetzlich finde ich das. Ich denke, ich werde morgen zum Scheidungsrichter gehen.«
Jan lächelte, als er den Motor wieder anließ. Diese Frau, die eigentlich fast noch ein Mädchen war, hatte sein Herz vom ersten Moment an berührt.
Es war ihm, als hätte er nur auf sie gewartet. Nur einen kurzen Moment lang hatte er überlegt, ob sie nicht zu jung war. Immerhin war er fast zwanzig Jahre älter als sie. Konnte er so einer jungen Frau, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatte, das bieten, was sie sich wünschte, was ihr zustand? Aber da war dieses Gefühl gewesen, diese Gewissheit, dass sie die einzige Chance für ihn war, dass es ihnen bestimmt war, einander zu begegnen.
Er hatte sich in den letzten Jahren auf keine Frau mehr eingelassen, obwohl es Gelegenheiten genug gegeben hätte. Der große, ein wenig schlaksige Mann mit den unergründlichen Augen und dem zurückhaltenden Charme hatte nicht wenige Frauen gereizt, mit denen er zu tun hatte. Er gehörte zu dieser Spezies Männer, wie Frauen sie erobern wollten. Vielleicht, weil er zwar aufmerksam und zuvorkommend, aber in keiner Weise aktiv interessiert war. Möglicherweise auch, weil er das Gefühl vermittelte, ein wenig verloren in der Welt zu sein. Nicht, was seinen Beruf betraf. Er war ein anerkannter Architekt, der seit Langem viel beachtete Gebäude entwarf und der in der ganzen Welt gefragt war. Aber wenn er nach den Besprechungen mit Bauherren und Geldgebern alle abendlichen Einladungen freundlich, aber bestimmt ablehnte und sich lieber in sein Hotelzimmer zurückzog, als einen alkoholseligen Abend in angesagten Luxusrestaurants und Bars zu verbringen, fragte sich manch eine der Frauen, die er tagsüber mit seiner Kreativität fasziniert hatte, ob nicht vielleicht gerade sie es sein sollte, die Jan Plathe aus seiner Einsamkeit befreien musste. Sie fühlten sich berufen, die Wehmut, die in seinen schönen Augen lag, zu vertreiben. Die Melancholie, die ihn in ihren Fängen zu haben schien, rührte sie und fachte ihren Ehrgeiz an, diesen Mann zu retten und in das »wahre« Leben zurückzuführen.
Es waren schöne Frauen gewesen, attraktive, interessante, kluge Frauen, die sich um Jan bemüht hatten. Reizvolle Frauen, die normalerweise keine Schwierigkeiten hatten, einen Mann in ihr Bett oder in ihr Leben zu bekommen. Und ein- oder zweimal hatte Jan sich auch auf eine eingelassen. Doch zu mehr als zu einer flüchtigen, unverbindlichen Bettgeschichte, die spätestens dann endete, wenn Jan den Ort seines Auftrags verlassen musste, war es nie gekommen. Jan hatte das nicht bedauert. Er war sich sicher gewesen, dass es keine Frau auf der Welt gab, die den Erinnerungen, die er mit sich trug wie einen schweren Rucksack, standhalten könnte. Längst war die Last seiner Vergangenheit zu einem selbstverständlichen Teil seines Lebens geworden. Er hatte sich an sie gewöhnt, hatte sie akzeptiert als etwas, das zu ihm gehörte, das er bis ans Ende seiner Tage mit sich herumtragen würde. Er hatte aufgehört, über das, was passiert war, nachzudenken. Auch wenn es ständig präsent war.
Anfangs hatte er noch versucht, den Erinnerungen zu entfliehen, hatte sich in seine Arbeit gestürzt, mehr Aufträge angenommen, als ein einzelner Architekt eigentlich schaffen konnte. Er hatte sein Haus verschlossen und sich in die Welt begeben. Aber dabei hatte er die bittere Erfahrung machen müssen, dass es keinen Ort gab, an dem ihm nicht ständig die Erinnerung an das Geschehene präsent geblieben wäre.
»Sag mir, was du denkst.«
»Ich denke, was ich für ein glücklicher Mann bin. Und– ich bin ein wenig aufgeregt.«
Laura kuschelte sich an seine Schulter. Er spürte, wie ein kleines Lachen sie beben ließ. Natürlich war er nervös. Würde sie sich wohl fühlen in seinem Haus? Würde sie sich wohl fühlen in seinem Leben?
»Du bist aufgeregt? Frag mich mal, was ich bin? Meine Knie zittern wie tausend Lämmerschwänze.«
Sie legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel, der sich fest und warm anfühlte.
»Was ist, wenn ich doch nicht in dein Leben passe? Vielleicht mag mich dein Haus ja gar nicht. Oder deine Freunde finden mich langweilig. Oder… zu bayerisch.«
Sie rieb ihre Nase an seinem Arm. Die Wärme ihrer Lippen, als sie einen Kuss darauf drückte, ließ ihn schaudern. Wenn es auf dieser Welt eine Frau gab, von der er sich vorstellen konnte, dass sie zu ihm und in sein Leben passte, dann war sie es. Ihre Jugend, ja auch diese ein wenig naive Entschlossenheit, sich auf ihn einzulassen, die Fröhlichkeit, mit der sie auf die Welt zuging, würden es schaffen, die Schatten, die über seinem Leben hingen, zu vertreiben.
»Du bist ein Geschenk des Himmels. Nicht mehr und nicht weniger. Und da darf man schon ein wenig nervös sein und sich fragen, ob dir das, was ich dir zu bieten habe, auch gerecht wird.«
Gott, wie ich ihn liebe.
»Wenn nicht, werde ich dir einfach davonlaufen. Vielleicht kann ich ja unsere Ehe annullieren lassen, weil du mir etwas vorgemacht hast.«
Wenn sie gewusst hätte, dass es genau das war, was er fürchtete! Dass sie einfach wieder verschwinden würde und ihn noch einsamer zurückließ, als er es vor ihrer Begegnung gewesen war.
»Wenn du weglaufen willst, musst du das tun. Ich weiß, dass ich dich nicht werde halten können.«
Wie düster dieser Satz klang. In dem Moment, in dem er ihn ausgesprochen hatte, bereute ihn Jan schon. Laura schob sich ein wenig von ihm weg. Ihr Blick lag prüfend auf dem Gesicht des Mannes, dessen Ehefrau sie seit einem Tag war. Da war er wieder, der kleine Schatten, den sie schon ein paar Mal gespürt hatte. Sie hatte nicht ausmachen können, was er bedeutete, ihn aber auch sofort wieder vergessen, wenn sie Jans Hände auf ihrem Körper, seine Lippen auf den ihren gespürt hatte.
Was auch immer dich bedrückt, ich werde es vertreiben, mein geliebter Ehemann.
»Ich werde nicht weglaufen«, flüsterte sie an seinem Arm. »Es gibt nichts, was mich aus deinem Leben vertreiben kann.«
Das große Haus sah aus, als läge es in einem tiefen Schlaf. Dunkelrote Holzläden bedeckten die Fenster wie schwere Augenlider. Sie verliehen dem zweistöckigen Holzbau mit dem spitzen Giebeldach eine abweisende, hermetische Aura. Eine Kletterrose, deren erste Blättchen gerade zu sprießen angefangen hatten, rankte an der Südseite, die zum See hin gewandt war, bis zum Dach, während an der Eingangsseite glänzender Efeu fast die ganze schwarz getäfelte Fassade bedeckte.
Hanno Dorfmann öffnete die Fensterläden und ließ Licht in das große Wohnzimmer. Der See schimmerte dunkel zwischen den alten Buchen, die das Grundstück begrenzten.
»Ich komme nach Hause«, hatte Jan am Telefon gesagt. »Übermorgen bin ich da.«
Was war passiert, dass Jan sich entschlossen hatte, in das Haus zurückzukehren, das sein Urgroßvater, der Förster gewesen war, gebaut hatte? Nachdenklich schaute Hanno auf den See und gab sich seinen Erinnerungen hin.
Ein Lachen schwebte durch die Luft.
»Sieh mal, Hanno. Sieh doch her!«
Die Stimme des mageren Jungen mit den braunen Locken überschlug sich vor Begeisterung, als er sich mit der Schaukel immer weiter über die glatte Oberfläche des Sees hinausschwang. Hanno konnte förmlich den Kitzel im Bauch des Jungen spüren, den aufgeregten Herzschlag unter dem blauen Sommerhimmel. Noch einmal holte er kräftig Schwung, um sich dann, als die Schaukel sich am Scheitelpunkt befand, mit einem Juchzer in das dunkle Wasser fallen zu lassen. Hanno hatte den Rechen, mit dem er das gemähte Gras um das Haus herum sorgsam zusammengerecht hatte, einen Moment lang fester umklammert. Wieso blieb der Kleine so lange unter Wasser? Gerade als er losrennen wollte, um sich in den See zu stürzen und nach dem Jungen zu suchen, tauchte Jan aus den Fluten wieder auf. Seine Augen glühten vor Stolz, als er ans Ufer schwamm.
»Das waren mindestens zwanzig Meter. Rekord!«, schrie er, nach Luft ringend. »Hast du es gesehen, Hanno? Hast du gesehen, wie ich geflogen bin?«
Eine sorglose Zeit war das gewesen. Wie ein endloser Sommer. Wolkenlos. Strahlend. Glücklich. Was war es für eine Freude gewesen, diesen Jungen aufwachsen zu sehen, der sich wie eine Klette an ihn gehängt und ihn bei allen seinen Tätigkeiten begleitet hatte. Neugierig, mit vor Wissbegierde glänzenden Augen, immer in Bewegung, immer auf der Suche nach einem neuen Abenteuer. Furchtlos hatte er ihm geholfen, wilde Bienenschwärme einzufangen. Auf dem Bauch war er in verlassene Fuchsbauten gerobbt, so weit, dass Hanno ihn an den Beinen wieder herausziehen musste. Er hatte nach Flusskrebsen getaucht, bis ihm die Luft ausging, und in warmen Sommernächten hatte er neben ihm auf dem Rücken gelegen und sich die Sternbilder erklären lassen. Und wenn an eiskalten Herbstabenden die untergehende Sonne den Himmel in türkis-rosafarbene Seidentücher gehüllt hatte, hatte er bibbernd vor Kälte die Ankunft der Kranichschwärme erwartet.
»Wo sind sie den ganzen Sommer gewesen? Woher wissen sie, welchen Weg sie fliegen müssen? Wo fliegen sie hin?«
Seine Hand hatte sich fest in seine Hosenbeine gekrallt, als das Rauschen der Flügel und das Schreien der großen Vögel die Luft zittern ließ.
»Wenn ich groß bin, fahre ich nach Spanien. Und dann suche ich den Platz, wo sie im Winter sind.«
Seine Stimme hatte vor Abenteuerlust gezittert. Dass eine Mauer das Land, in dem er lebte, umschloss, wusste er nicht. Und dass sie kaum zehn Jahre später fallen und sich die Welt verändern würde, noch weniger.
Eines Tages war Jan weggeflogen. Kurz nachdem die Kraniche sich auf die Reise nach dem Süden gemacht hatten war er einfach verschwunden. Hanno hatte einen Winter lang gehofft, dass er im Frühjahr ebenso zurückkehren würde wie die gefiederten Glücksboten. Doch die Kraniche kamen allein. Jan hatte den Weg nach Hause nicht mehr gefunden.
»Ich hab gesehen, dass die Fenster offen sind.«
Elkes Stimme riss Hanno aus seinen Gedanken. Seine Tochter hielt einen dicken Bund Kirschzweige, deren glänzende Knospen bald aufbrechen würden, in den Armen. Die Sonne, die durch die Fenster schien, ließ ihr blondes Haar aufleuchten.
»Jan kommt nach Hause. Da will ich vorher noch schnell Ordnung machen und vor allem Luft und Sonne ins Haus lassen.«
Er ignorierte den Schatten, der einen Moment lang Elkes hellblaue Augen verdüsterte.
»Wie schön«, sagte sie. »Dann kommt endlich wieder Leben in das Haus. Es war ein Jammer, dass es so lange leer stehen musste.«
Ja, es war wirklich ein Jammer. Aber es war auch richtig gewesen, dass Jan fortgegangen war. Zu viel hatte er in diesem Haus erlebt, das ihn nicht losließ. Zu schwer hatte die Erinnerung an das Geschehene auf ihm gelastet.
»Weißt du, wie lange er bleiben wird?«
Auf Elkes Gesicht war die Spannung, unter der sie stand, deutlich zu sehen. Nervös strich sie sich diese widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich weder durch Haarklammern noch durch Spray oder Gel bändigen ließ. Es war Jan gewesen, der eines Tages einfach zur Schere gegriffen und die Strähne kurzerhand abgeschnitten hatte, die der damals Achtjährigen immer in die Augen hing. Ganz kurz über der Kopfhaut hatte er sie abgesäbelt, sehr zu Elkes Freude, die jubelnd schrie, dass sie nun wie ein richtiger Punk aussehen würde. Hanno hatte Jan die Leviten gelesen. In seinen Augen hatte der Junge seine hübsche kleine Tochter geradezu verschandelt.
»Ach komm, Hanno, stell dich nicht so an. Haare wachsen wieder. Und bis die Strähne das nächste Mal zu lang ist, hat Elke eine ganze Weile Ruhe.«
Das kleine Mädchen hatte den Achtzehnjährigen für seinen Schneid bewundert, hatte glückstrahlend neben ihm gestanden und die Hand in die seine gelegt. Nichts, was Jan je tat, hatte ihr missfallen. Er war der Held ihrer Kindheit gewesen, der große Junge, der sie liebte wie eine kleine Schwester. Und an dem sie klebte wie Pech. Fast so, wie Jan als kleiner Junge damals an ihrem Vater geklebt hatte.
»Wenn ich groß bin, werde ich Jan heiraten.«
Das hatte für Elke festgestanden. Und Jan hatte die Kleine vergnügt an Armen und Beinen genommen und sie durch die Luft geschwenkt, bis sie keuchend um Gnade bat. Er hatte ihr versprochen, dass Elke seine große Liebe sei und es auch immer bleiben würde.
Doch es war anders gekommen. Natürlich war es anders gekommen; das Leben hält sich nicht an Kinderträume. Jan war nach dem Mauerfall zum Studieren nach München gegangen. Zwar war er, solange seine Eltern noch lebten, einmal im Monat gekommen, um sie zu besuchen. Doch der Kontakt zu seiner kleinen Freundin, die sich in dieser Zeit gerade in schwierigen Pubertätswellen befand, war nie mehr so innig und liebevoll geworden, wie er es zur Zeit ihrer Kindheit gewesen war.
Und als er schließlich mit wechselnden Freundinnen aufgetaucht war, hatte sich Elke regelmäßig geweigert, auch nur ein Wort mit ihnen zu sprechen. Sie war einfach abgehauen und erst wieder aufgetaucht, als Jan und seine Freundin wieder nach München abgefahren waren. Hanno erinnerte sich gut an die glühende Wut, mit der Elke Verwünschungen gegen Jan ausgespuckt hatte. Die Vierzehnjährige, die zu seiner großen Freude ein kluger, sehr hübscher Teenager geworden war, dem das Lernen nicht schwerfiel, hatte Jans Freundinnen alles Böse an den Hals gewünscht. Diese Münchner Flittchen würden Jan nur unglücklich machen. Dass er sich überhaupt auf solche Frauen eingelassen hatte, würde sie ihm nie verzeihen. Nie, nie, nie!
»Was will er denn hier? Meinst du, er will das Haus verkaufen?«
Hanno hatte sich das auch schon gefragt. Fast zehn Jahre lang hatte sich Jan hier nicht blicken lassen; dennoch war der Kontakt zu ihm nie abgebrochen. Er hatte Mails aus allen Teilen der Welt geschickt, in denen er arbeitete, und sich stets erkundigt, ob Hanno wohlauf war. Hin und wieder hatte er auch nachgefragt, ob es Elke und ihrem Mann Marius, mit dem sie seit mehr als zehn Jahren verheiratet war, gut ging, und ob mit dem Haus alles in Ordnung war. Von seiner Arbeit hatte er nur in kurzen Sätzen berichtet, aber Hanno hatte im Internet und in Architektur-Fachzeitschriften, die er sich hin und wieder besorgte, einiges über Jans Erfolge gelesen. Und er war heimlich stolz darauf gewesen, was für eine tolle Karriere der Junge gemacht hatte.
Die Jahre waren ins Land gegangen, und das Haus hatte weiterhin in seinem Dornröschenschlaf gelegen. Hin und wieder war jemand aufgetaucht, der sich erkundigt hatte, ob man es nicht kaufen könne. Doch wenn Hanno das Kaufinteresse an Jan weitergeleitet hatte, war jedes Mal umgehend die Nachricht gekommen, dass das Haus nicht zum Verkauf stand.
»Glaubst du, dass er vielleicht hierbleiben will?«
Elkes Blick lag forschend auf dem Gesicht ihres Vaters. Was wollte sie von ihm hören? Dass er es sich wünschte, dass Jan hier wieder wohnte? Dass er sich freuen würde, den Mann, mit dem ihn so viel verband, wieder in seiner Nähe zu wissen? Dass es immer gut sei, zu seinen Wurzeln zurückzukehren?
»Das Haus ist doch viel zu groß für einen allein.«
Elke gab sich die Antwort, bevor Hanno dazu kam, ihr zu sagen, dass er sich eigentlich nicht vorstellen konnte, dass ein viel beschäftigter Mann wie Jan, der noch dazu hauptsächlich im Ausland arbeitete, sich hierhin, in die Abgeschiedenheit der Uckermark, zurückziehen würde. Und natürlich, was sollte er allein in diesem großen Haus, in dem die Erinnerung ihn aus jeder Ecke anspringen würde? Er hatte sich innerlich schon mit dem Gedanken abgefunden, dass Jan nur zurückkommen würde, um den Verkauf des Hauses zu betreiben. Was wirklich vernünftig gewesen wäre. Nicht nur, weil solche schönen Häuser in so herrlichen Lagen inzwischen sehr gutes Geld brachten. Es war doch auch eine Schande, dass es leer stand. Vielleicht würde ja eine Familie das Haus kaufen. Mit ein paar Kindern, die hier, wie Jan und Elke damals, eine glückliche, unbeschwerte Kindheit würden verleben können. Dass Hanno dann möglicherweise auch das kleine Verwalterhäuschen am Ende des Waldwegs, das er seit mehr als fünfzig Jahren bewohnte, würde verlassen müssen, war ein Wermutstropfen, der in seine Überlegungen fiel. Aber das war der Lauf der Dinge. Er würde etwas anderes finden auf seine alten Tage, vielleicht in der kleinen Stadt Templin, die nur zwanzig Kilometer entfernt lag und in der Elkes Mann seine Arztpraxis hatte. Natürlich würde es ihm schwerfallen, das Haus, in dem er Elke nach dem frühen Tod ihrer Mutter allein großgezogen hatte und das mit wunderbaren Erinnerungen gefüllt war, zu verlassen. Aber noch war er rüstig genug für einen Neuanfang. Jedem Anfang lag schließlich ein Zauber inne. Und er würde einfach das Beste daraus machen.
»Vielleicht zieht ja eine junge Familie ein.«
Es war, als hätte Elke seine Gedanken mitgedacht.
»Ich würde mich über Nachbarn wirklich freuen.«
Elke hatte nie darüber geredet, dass sie sich in dem hübschen Holzhaus, das sie und ihr Mann ganz in der Nähe bewohnten, vielleicht einsam fühlen würde. Sie wirkte auf ihn zufrieden und ausgeglichen, angekommen in ihrem Leben.
Ihr Häuschen hatte sie mit den Jahren zu einem kleinen Schmuckstück gemacht, das inmitten eines blühenden Gartens stand, um den sie sich mit Hingabe kümmerte.
»Es könnte ja sogar sein, dass ich endlich mal eine richtige Freundin kriege. Mit der ich Kaffee trinken und mich über die Männer auslassen kann. Oder Rezepte austauschen. Oder vielleicht sogar mal nach Berlin fahren, um durch die Klubs zu ziehen.«
»Ich wusste gar nicht, dass du solch verwegene Begehrlichkeiten hast.«
Hanno hatte immer gedacht, dass Elke gern allein war, dass sie das Großstadtleben, das sie als Biologiestudentin in Berlin kennengelernt hatte, nicht vermissen würde. Ihre Ehe und ihr Beruf als Lehrerin am Gymnasium in Templin waren ihr doch immer über alles gegangen.
»Hab ich eigentlich auch nicht.«
Sie schmiegte sich lächelnd in den Arm ihres Vaters.
»Du weißt, dass ich zufrieden bin mit dem, was ich habe. Nur Marius zieht mich immer damit auf, dass ich hier lebe, als wäre ich schon fünfundsechzig. Er meint immer, ich solle mir mal was gönnen.«
Hanno drückte seine Tochter an sich. Wie immer dachte er, dass sie einfach zu dünn war, als er ihre Schulterknochen an seiner Brust spürte.
»Wir könnten ja auch alle zusammen nach Templin ziehen. Wir suchen uns ein großes Haus. Ihr unten und ich oben. Oder umgekehrt. Vorausgesetzt natürlich, es graust dir nicht schon bei dem Gedanken, mit deinem alten Vater zusammenzuleben.«
Sie hob den Blick und sah ihm lächelnd in die Augen.
»Mein alter Vater. Ich kenne kaum jemanden in deinem Alter, der jünger ist als du. Wahrscheinlich wirst du dir, wenn du endlich aus deinem Einsiedlerhäuschen raus bist, eine flotte Freundin suchen. Und dann wirst du es sein, der keine Lust hat, mit seiner Familie zusammenzuleben.«
Er lachte leise. Natürlich würde er seine Tochter nie verlassen. Sie war sein Augenstern gewesen, von ihrem ersten Schrei an bis heute– das Einzige, was ihm nach Ullas Tod geblieben war. Sie war nicht mehr und nicht weniger als das Wichtigste in seinem Leben. Nie würde er sie aus den Augen lassen, nie von ihr wegziehen. Ganz im Gegenteil: Er würde sich bis zu seinem letzten Atemzug um sie sorgen und alles dafür tun, dass ihr kein Leid geschah. Wie er es immer getan hatte.
»Weißt du was? Wir lassen es einfach auf uns zukommen. Und dann entscheiden wir, was passieren soll.«
Vielleicht hatte das Schicksal ja auch etwas ganz anderes mit ihnen vor. Er hatte gelernt, dass Pläne zwar wichtig und durchaus auch inspirierend waren, dass das Leben aber seine eigenen Wege ging. Wege, die ursprünglich wie schnurgerade Autobahnen vor einem zu liegen schienen, die sich aber unversehens in holperige Pflasterstraßen verwandelten, in deren Kurven die Gefahr genauso lauern konnte wie das Glück.
Er hatte gelernt, auf das Unerwartete zu reagieren, egal, wie es beschaffen war. Er hatte gelernt, dass morgen schon alles ganz anders sein konnte als heute. Und dass auch das Ausweglose immer einen Ausweg bot.
Was geschehen musste, würde geschehen. Und er würde sich voller Demut fügen. Wie er es immer getan hatte.
Eigentlich hatte Jan vorgehabt, Laura auf eine romantische Hochzeitsreise in die Karibik zu entführen. Das volle Programm: Luxushotel am Strand, Segeltörns, Nächte unter dem Sternenhimmel, gepflegte Dinners auf von Bougainvilleas umrankten Terrassen. Er hatte sie erst im Frühling in seine Heimat bringen wollen. Dann, wenn die Wiesen voller Blumen standen, wenn die Buchen ihr dichtes Blätterdach ausgebildet hatten, wenn die Seen und Tümpel warm genug waren, um in ihnen zu schwimmen. Doch Laura hatte sich nur gewünscht, endlich den Landstrich kennenzulernen, in dem Jan aufgewachsen war, und das Haus, in dem sie den Rest ihres glücklichen Lebens mit ihm verbringen würde. Reisen würden sie später noch können. Jetzt wollte sie nur endlich ankommen an dem Ort, den ihr ein gütiges Schicksal offensichtlich bestimmt hatte.
Neugierig ließ Laura ihren Blick über die vorbeiziehende Landschaft schweifen. Der Wald war in der letzten halben Stunde immer dichter geworden, die Straße, auf der sie fuhren, immer schmaler. Schon seit einer Weile waren sie durch kein Dorf mehr gekommen und auch an keinem Haus mehr vorbei. Dass es derartig einsame Gegenden in Deutschland gab, hatte sie nicht geahnt. In Oberbayern, wo sie ihre Freizeit mit Radfahren und Schwimmen verbracht hatte, im Winter auch mit Skifahren, kam man ständig durch hübsch aufgerüschte kleine Dörfer, die alle aussahen, als hätten sie gerade bei einem Wettbewerb um das schönste Dorf mitgemacht. Überall sah man schöne Bauernhöfe, auf deren Weiden unzählige Kühe und Pferde standen, und selbst in den einsamsten Ecken fand sich ein Gasthaus, in dem durchaus auch der eine oder andere Sternekoch am Herd stand. Der viel besungene weißblaue Bayernhimmel hatte sich weit über die sanft gewellte Voralpenlandschaft gespannt. An manchen Tagen im Frühjahr und im Herbst hatte das Licht der tief stehenden Sonne eine fast mediterrane Stimmung gezaubert.
Es kann doch nicht sein, dass ich jetzt schon Heimweh habe.
»Du sagst ja gar nichts mehr, Kleine.« Jan griff nach ihrer Hand. »Und dein Händchen ist auch eiskalt.«
»Ach was.«
Sie zog die Hand aus der seinen und versteckte sie in der Achselhöhle.
»Hab ich dir nicht gesagt, dass ich immer kalte Hände habe? Das bedeutet gar nichts. Höchstens ein kleines Kreislaufproblem, wenn ich mich zu lange nicht bewege.«
Jans Blick lag forschend auf ihr.
»Ist es so, wie du es erwartet hast?«
»Viel schöner.«
Sie beeilte sich zu sagen, wie sehr es ihr hier gefiele. Dass sie ja keine Ahnung gehabt habe, wie wunderschön die Buchenwälder, selbst jetzt, da sie noch winterlich blattlos waren, hier seien. Und diese dunklen Seen, in deren Spiegel die weißen Wolken zu segeln schienen. Hier also war der kleine Jan damals auf seinem Pferd über die Wiesen gejagt. Hier hatte er im Herbst Drachen steigen lassen, war er im Winter auf den zugefrorenen Seen Schlittschuh gelaufen. Hierher war er nach seinem Architekturstudium zurückgekommen, hatte ein paar Jahre hier gearbeitet, bevor ihn seine Aufträge in die Ferne geführt hatten.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass du hier glücklich gewesen bist. Ein kleiner, glücklicher Junge in zerschlissenen Hosen, der im Wald die tollsten Abenteuer erlebt hat.«
»Meine Hosen waren nie zerschlissen. Darauf hat meine Mutter schon geachtet. Aber mit den Abenteuern hast du recht. Es gibt keinen Fuchsbau, den ich nicht erforscht hätte, keinen See, in dem ich nicht nach Biberburgen gesucht, und keinen Apfelbaum, den ich nicht erklommen hätte.«
Jan zog sie an sich. Würden die Kinder, die er mit Laura haben wollte, genauso sorglos und glücklich aufwachsen können wie er? Würde es ihm gelingen, für sich und Laura einen Zipfel dieses vergangenen Glücks erhaschen zu können?
Das Einzige, was er mir nicht erzählt hat, ist, warum er von hier weggegangen ist. Wie es gekommen ist, dass er das alles hinter sich gelassen hat. Sein Haus, sein Büro, seine Freunde.
Tatsächlich hatte Jan ihr in den letzten Wochen hauptsächlich von seiner Zeit im Fernen Osten erzählt. Von den Hochhäusern, die er in Malaysia gebaut hatte und in Japan. Dem Hotel in Dubai, dem Opernhaus in Perth. Sie hatte alle Informationen über diesen Mann, der jetzt ihr Ehemann war, gierig in sich aufgesogen. Stundenlang hatten sie im Bett gelegen und die Fotos auf seinem iPad angesehen: Baustellen, Gebäude, die er gebaut hatte, tobende japanische Städte und einsame vietnamesische Strände. Sie hatte sich in die kühlen, strengen Einzelheiten seiner Bauten vertieft, über die Klarheit seiner Entwürfe gestaunt und sich gewundert, dass dieser Mann, dem Struktur und Einfachheit so wichtig waren, sich in ihrer winzigen, überladenen, vor Buntheit schreienden Wohnung, in die sie sich nach der Trennung von Thomas eingekuschelt hatte, so wohl fühlen konnte. Er hatte nicht einmal gezuckt, als sie ihm eröffnet hatte, dass sie mindestens neunzig Prozent der Sachen, die sie in ihrer Wohnung um sich hortete, mitnehmen musste in ihr neues Leben. Angefangen bei ihrem Sesselmonster über die Wanduhr ihrer Oma, den großen Spiegel mit dem übertriebenen Goldrand bis hin zu ihrem Klavier, ihrem hellblauen Küchentisch und sämtlichen Kleinigkeiten, die davon erzählten, was für einen verspielten Blick Laura auf das Leben hatte. Sie hatte ihn prüfend beobachtet, als sie einen Tag lang all ihre Habseligkeiten in Kisten gepackt hatten. Immer darauf wartend, dass sich um seinen Mund ein amüsiertes Lächeln einstellen würde, in seinen Augen der Spott des Älteren, Lebenserfahrenen, der insgeheim davon ausging, dass ihre Siebensachen für immer im Dunkel der Umzugskartons schlummern würden. Doch nichts dergleichen war geschehen. Sie hatten die Wohnung leer geräumt, und wenn nicht etwas wirklich Schreckliches dazwischenkam, würden die Kartons in den nächsten Tagen in Jans Haus ankommen.
Vielleicht hätte ich ja doch alles in München lassen sollen, statt mein neues Leben mit dem Kram aus der Vergangenheit zu beschweren.
Ach, es war doch egal. Sie würde sich erst einmal umsehen an dem Ort, der ihr fortan Heim und Heimat sein sollte. Und eventuell würde sie all ihre alten Sachen einfach in den Kisten lassen oder irgendwo unterstellen. Und dann vielleicht irgendwann vergessen. Sie war nicht mehr das Mädchen Laura, sondern Jans Ehefrau. Ein neues, anderes, aufregendes Leben lag vor ihr, auf das sie sich freute und in dem sie glücklich werden würde.
Ein wettergebleichtes altes Holzschild zeigte nach rechts.
Die Schrift, die auf das Jägerhaus hinwies, war kaum mehr zu entziffern. Jan bog sacht in den kaum mehr als einen Meter breiten Weg ein. Brombeerzweige rankten weit in die Fahrspur. Sie machten ein kratzendes Geräusch auf dem Lack, schlugen wie Peitschen gegen die Windschutzscheibe. Jan fuhr langsam den sandigen Weg entlang, darauf bedacht, den tiefen Schlaglöchern ebenso auszuweichen wie den aufdringlichen Brombeerzweigen.
Wahrscheinlich landen wir gleich vor einer Mauer aus Rosen, die mein tapferer Ritter erst mal durchtrennen muss, bevor er mich in sein Schloss trägt.
Laura setzte sich aufrecht hin, den Blick gespannt auf den schmalen Weg gerichtet. Jetzt mussten sie doch jeden Moment da sein. Ihr Herz klopfte ihr nun doch bis zum Hals. Es musste ihr gefallen. Jans Haus musste ihr einfach gefallen. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen oder tun würde, falls das nicht der Fall war. Fest entschlossen, sich ein eventuelles Entsetzen nicht anmerken zu lassen, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Noch eine Kurve. Noch eine. Jan wurde immer langsamer.
»Bist du bereit?«
Sie räusperte sich, brachte dann aber doch nur ein Nicken zustande.
Bitte, lieber Gott, mach, dass es herrlich ist.
»Gut. Aber du weißt es, Laura: Wenn es dir nicht gefällt– du musst nicht lügen. Wenn dir mein Haus nicht gefällt, werden wir auf der Stelle umdrehen und uns etwas anderes suchen. Du musst nicht hierbleiben, nur weil es der Ort ist, an dem ich aufgewachsen bin.«
»Langsam machst du mir wirklich Angst.«
Sie versuchte ein Lachen. Er würde sie doch nicht in so ein altes Stasihaus bringen, in dem der Geruch der DDR-Schrecken noch in den Wänden hing? Er hatte doch gesagt, dass seine Familie seit Generationen in diesem Haus gelebt hatte. Es konnte doch überhaupt nicht schrecklich sein.
Fahr endlich weiter. Lass es uns hinter uns bringen.
Als Jan wieder anfuhr, gab er unversehens zu viel Gas, sodass die Reifen im Sand kurz durchdrehten und der Motor aufheulte. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, war er doch fast so nervös wie Laura. Zehn Jahre lang war er nicht hier gewesen. Plötzlich wusste er nicht, was der Anblick seines Hauses mit ihm machen würde. War es wirklich richtig, hierher zurückzukommen? Würde er das Licht und die Liebe, die so viele Jahre zu diesem Haus gehört hatten, tatsächlich wiederfinden können. Oder…?
Egal, jetzt war er so weit gekommen, da gab es kein Zurück mehr. Er musste sich seinen Erinnerungen stellen. Den guten wie den schlechten. Nur so würde er mit Laura eine Zukunft haben können.
Er bemerkte nicht, dass Laura unwillkürlich die Augen schloss, als er um die letzte Kurve bog. Es war ihm auch nicht bewusst, dass er den Atem anhielt, als sein Elternhaus in Sicht kam. Aber er spürte augenblicklich, wie seine Anspannung nachließ, als er die dunklen Schindeln sah, die die letzten Sonnenstrahlen aufleuchten ließen. Ein tiefes Gefühl der Erleichterung sprang in sein Herz, ein Gefühl der Dankbarkeit, des Zuhause-Seins. Ein Gefühl des Endes und des Anfangs.
Wieso sagt sie nichts? Hat ihr der Anblick die Sprache verschlagen? Kann sie mir nicht sagen, dass sie es fürchterlich findet?
Als er sich zu Laura drehte, sah er, dass sie immer noch mit geschlossenen Augen dasaß. Dieses Kind! Er nahm ihre Hand, drückte einen leichten Kuss darauf.
»Willst du die Augen öffnen, oder sollen wir gleich wieder umdrehen?«
Sie zögerte.
Lieber Gott, hilf.
Zaghaft öffnete sie die Augen, blinzelte durch die Wimpern. Und dann riss sie nicht nur die Augen auf. Sie sprang aus dem Auto, ging ein paar Schritte auf das Haus zu, blieb abrupt stehen und starrte es an.
Danke, lieber Gott. Danke, danke, danke.
Es war ihr, als würden alle Nerven, die gerade noch so gespannt waren wie Violinsaiten, jetzt gleichzeitig einen stummen Jubelschrei zu jeder Faser ihres Körpers übertragen.
Dieses Haus war der Wahnsinn. Ein veritables Dornröschenschloss, wunderschön. Einladend mit den weit geöffneten Fenstern, stand es in einem gepflegten Garten und schien nur darauf zu warten, dass sie es in Besitz nahm. Mein Haus, schrie es in ihr.
»Sag was, Laura. Bitte.«
Jan stand jetzt neben ihr. Ihr Schweigen jagte ihm einen tiefen Schrecken ein. Sie fand es bestimmt furchtbar, vielleicht sogar Furcht erregend, wollte nichts wie weg. Sie würde keinen Schritt hineintun. Anders konnte es doch nicht sein. Sonst hätte sie doch etwas gesagt. Aber sie stand stumm da. Stumm und still wie eine Statue.
»Könntest du mich vielleicht endlich über die Schwelle tragen?«
Ihre Stimme war heiser. Jan verstand sie nicht gleich. Was hatte sie gesagt? Hatte er es richtig verstanden?
Sie sah ihm ins Gesicht. Strahlend.
»Du sollst mich in unser Haus tragen. Das ist doch so der Brauch, wenn Eheleute ihr gemeinsames Leben beginnen wollen, oder?«
Ohne ein weiteres Wort hob er sie hoch. Sie legte den Arm um seinen Hals und schmiegte ihr Gesicht an seins. Er spürte ihr Gewicht kaum, als er die drei Stufen auf die Haustür zuging und den schweren alten Schlüssel aus der Tasche fummelte, in deren Futter er sich verhakt hatte.
Wie aufgeregt er ist. Wie süß. Wie lieb. Er hat genauso große Angst gehabt wie ich. Aber das war unnötig. Es ist alles gut. Alles, alles, alles.
Endlich hatte Jan den Schlüssel in der Hand. Er zitterte ein wenig, als er ihn in das eisenbeschlagene Türschloss steckte und umdrehte. Die doppelte Flügeltür, die ebenso wie die Fenster rot lackiert war, schwang weit nach innen auf.
»Okay, Frau Plathe. Herzlich willkommen im Jägerhaus.«
Er trug sie mit einem feierlichen Schritt über die altersschwarze Eichenschwelle.
»Und herzlich willkommen in unserem Leben.«
Nur einen kurzen Moment lang ließ Laura ihre Augen durch die großzügige Eingangshalle mit den dunklen Eichenbalken und der geschwungenen Treppe schweifen, dann wandte sie ihr Gesicht ihrem Ehemann zu und küsste ihn. Es war alles gut. Und es würde immer gut sein. Dieses Haus, das sein Haus war, würde auch ihr Haus werden. Sie hätte sich keinen wundervolleren Ort ausmalen können, an dem sie ihr Leben mit Jan verbringen wollte.
Die Lilien würden Jan gefallen.
»Lilien sind die einzigen Blumen, mit denen ich was anfangen kann. Alles andere ist doch irgendwie Kikikram.« Er hatte ihr, die an ihrem ersten Schultag kaum über den Tisch gucken konnte, einen dicken Strauß Lilien in die Arme gedrückt. Die Stiele der Blumen waren fast so lang wie das kleine zarte Mädchen, dessen bester Freund er vom Tag seiner Geburt an gewesen war.
»Lilien für eine Sechsjährige? Jan, du spinnst doch total«, hatte Hanno ihn damals ausgelacht und seiner Tochter auf der Stelle den unangemessenen Strauß abgenommen und in eine Bodenvase gestellt.