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In Nantes verschwindet eine ganze Familie, Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Die Polizei, die in den ersten Tagen von einem Urlaubsaufenthalt der Familie ausgeht, wartet ab. Später kommen Zweifel auf, denn der Polizei gelingt es, eine Blutspur sicherzustellen. Ein Verbrechen ist nicht mehr auszuschließen. Wochen vergehen, dann tauchen plötzlich im Finistère, in der Umgebung von Concarneau, Gegenstände der verschwundenen Familie auf, mehr als 200 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. Anaïk Bruel beginnt mit den Ermittlungen, obwohl es keine Leiche gibt, die auf ein Verbrechen hindeutet. Der Roman basiert auf einer wahren Begebenheit, einem Verbrechen von unglaublicher Brutalität, dessen gerichtliche Aufarbeitung auch im Jahr 2020 noch nicht abgeschlossen ist.
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Seitenzahl: 259
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Jean-Pierre Kermanchec
Das kalte Herz von Concarneau
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Vorankündigung
Bisher erschienen von Jean-Pierre Kermanchec:
Impressum neobooks
Wenn Mutter Simone ihr gegrilltes Hähnchen zubereitete, dann waren nicht nur die Kinder pünktlich am Esstisch. Auch Vater Emile, der als Fischer nur manchmal anwesend war, freute sich über Simones Spezialität. Ihr gegrilltes Hähnchen mit Pommes frites konnte nur sie so köstlich zubereiten, da waren sich alle einig. Simone und Emile hatten zwei Söhne, Marc war ihr erstgeborener und Erwenn der jüngere.
Als Marc am 20. April 1956 zur Welt kam, war der zweite Weltkrieg gerade seit 11 Jahren vorbei. Die Fischer der Île de Sein hatten den Kriegsdienst wieder mit der Fischerei getauscht, genauso wie alle anderen Fischer an der bretonischen Küste. Auch Emile Solliec war vom Marineeinsatz zurückgekehrt und hatte seine Arbeit im Hafen von Concarneau wieder aufgenommen. Concarneau gehörte einst zu den größten Fischereihäfen Frankreichs, und was den Thunfischfang betraf, war der Hafen die Nummer eins. Emile gehörte zur Bestatzung eines Thunfisch-Trawlers, der von Concarneau zum Fang auslief. Seinem Sohn Marc hatte er alles über den Thunfischfang erzählt, und Marc war ein aufmerksamer Zuhörer.
Für Marc gab es nichts Interessanteres als die Arbeit seines Vaters. Schon im Alter von sechs Jahren stand für ihn fest, dass er später einmal ein großer Thunfischfischer werden würde, wie sein Vater. Seine Sicht veränderte sich mit zunehmendem Alter etwas. Er wollte nicht mehr Fischer werden, sondern Kapitän, natürlich auf einem Thunfischfänger.
Marc hatte nur wenige Freunde oder Freundinnen. Sein jüngerer Bruder, Erwenn, heiratete früh und zog aus Trégunc fort. Die beiden Brüder hatten kaum noch Kontakt. Mutter Simone hatte den Grund nicht herausfinden können.
Marc steuerte nach der Schule sofort sein Kapitänspatent an. Er erwarb es problemlos und arbeitete einige Jahre als zweiter Offizier. Dann erhielt er endlich ein eigenes Schiff. Er hatte sein Ziel erreicht. Er war Kapitän eines Thunfisch-Trawlers, einem 7.000 Tonnen schweren Schiff, eine schwimmende Fabrik. Der Thunfisch wurde an Bord bis zur Dose verarbeitet. Die Crew des Schiffes waren Afrikaner, und der Heimathafen des Schiffes lag auf der Insel Réunion, im Indischen Ozean. Marc hatte kein gutes Wort für seine Crew. Seine Afrikaner waren unzivilisiert, dumm und faul, kein Vergleich mit europäischer Zivilisation und Kultur, geschweige denn Bretonischer.
Marc war jeweils für zwei Monate auf dem Schiff, danach lebte er zwei Monate lang in der Bretagne. Sein Verdienst als Kapitän war hervorragend. Schon bald sah er sich nach einem eigenen Haus um. Er fand ein schönes bretonisches Haus in Melgven, nur wenige Kilometer von seinem Elternhaus entfernt. Zum Haus gehörte ein großes Grundstück von mehreren Hektar, ein kleiner Wald und ein Bach, der zu einem See aufgestaut worden war, auf dem herrliche Seerosen wuchsen.
Marc legte Wert auf Äußeres, sodass er stets auch exklusive Kleidung trug. Aber nicht nur die Kleidung musste erstklassig sein, alles Äußere pflegte er. Anfangs fuhr er einen großen Peugeot, mit der besten Ausstattung. Später wechselte er zu Mercedes und leistete sich alle drei Jahre einen neuen Wagen.
Als Vater Emile starb, wohnte Simone Solliec alleine in ihrem Haus in Trégunc. Zum Haus gehörte ein gepflegter Gemüsegarten, mit Obstbäumen und Blumen, den Simone nun alleine pflegte. Simone lebte bescheiden und zurückhaltend. Sie kümmerte sich um ihren Hund und ihren Sohn Marc. Selten bekam sie Besuch von Verwandten und noch seltener von Freunden.
Wenn Marc in der Bretagne weilte, kam er täglich zum Mittagessen zu Simone. Das war selbstverständlich. Marc besaß auch keine Waschmaschine, Mutter Simone kümmerte sich um seine Wäsche. Unterwegs, auf dem Schiff, waren die Arbeiter in der schiffseigenen Wäscherei für seine Wäsche zuständig.
Auch Marc führte ein recht zurückgezogenes Leben. Er hatte durch seine Überheblichkeit dafür gesorgt, dass nur wenige Menschen seine Nähe suchten. Er prahlte gerne, wusste und konnte alles besser, kaum ein Nachbar konnte ihm das Wasser reichen. So hatte er auch schon den einen und anderen von Simones Nachbarn vergrault. Mutter Simone wünschte von Herzen, dass ihr Sohn Marc eine Frau fürs Leben finden würde. Aber das war bisher ein schwieriges Kapitel.
Simone ging gerne an der Küste spazieren und sah dem Meer zu. Aber Simone besaß keinen Führerschein, auch kein Auto und war also auf Marc angewiesen. Ihre Einkäufe erledigte sie zu Fuß. Das Zentrum von Trégunc war für sie gut zu erreichen.
„Marc, ich würde so gerne einmal wieder einen Spaziergang entlang der Küste machen. Lass uns nach Pendruc fahren und ein wenig den sentier côtier entlanggehen“, bat sie ihren Sohn einmal nach dem Mittagessen.
„Wenn du das willst, dann fahren wir nach Pendruc“, meinte Marc, wischte sich den Mund ab und genoss den Espresso, den seine Mutter ihm nach dem Essen gereicht hatte.
Pendruc lag nur wenige Kilometer von Trégunc entfernt. Marc lag nicht viel an einem Spaziergang entlang der Küste. Sonnenbaden, Schwimmen und andere Vergnügen im Sand lehnte er völlig ab, das war verschwendete Zeit in seinen Augen. Marc fuhr auch nicht in Urlaub. Ein halbes Jahr freie Zeit in der Bretagne war sein Privileg. Warum sollte er einen Aufenthalt in irgendeinem Hotel verbringen, für das er auch noch bezahlen müsste?
Simone zog sich ein paar feste Schuhe an und folgte Marc zum Wagen, den er vor dem Haus geparkt hatte. Nach wenigen Minuten hatten sie den kleinen Parkplatz hinter dem Plage von Pendruc erreicht und spazierten über den schmalen Weg nach Pouldohan. Sie passierten die Pointe de la Jument und hatten einen Blick auf die Glénan-Inseln.
„Hast du das Herz dort drüben gesehen?“, fragte Simone ihren Sohn.
Marc sah sich um und suchte vergeblich ein Herz.
„Nein, wo soll hier ein Herz liegen?“, fragte er.
„Dort drüben der Felsen, der sieht doch aus wie ein Herz, ein auf den Kopf gestelltes Herz.“
Jetzt sah auch Marc den Felsen. Er musste zugeben, dass der große Stein einem Herzen ähnelte. Obwohl er schon mehr als hundert Male an dieser Küste vorbeispaziert war, war ihm der Stein noch nie aufgefallen.
„Das kalte Herz von Concarneau“, sinnierte Simone.
„Gib acht, mein Sohn, dass du nicht auch ein steinernes Herz entwickelst, such dir eine Frau. Wer kocht dir dein Essen und macht deine Wäsche, wenn ich mal nicht mehr da bin?“
„Soweit ist es noch nicht, darüber machen wir uns jetzt keine Gedanken. Aber, damit du dir nicht unnötig Sorgen machst, ich habe eine Frau kennengelernt. Sie kommt aus Quimperlé. Ich werde sie dir in den nächsten Wochen mal vorstellen.“
„Ich habe mir so etwas schon gedacht, mein Junge, du bist besser gelaunt in der letzten Zeit. Hoffentlich lerne ich sie kennen, bevor du wieder auf die Réunion fliegst?“, meinte Simone und strahlte. Ohne weitere Worte spazierten sie nebeneinander her, folgten der Küste in Richtung Concarneau, bis sie beinahe Lanriec erreicht hatten.
Die Dame war noch gut zu Fuß. Mit ihren 68 Jahren legte sie ein strammes Tempo vor, das Marc manchmal herausforderte. Auf dem Weg zurück begann Simone erneut über Marcs Zukunft zu sprechen.
„Wie stellst du dir dein Leben mit einer zukünftigen Frau vor? Bleibst du an Land? Das wechselhafte Leben wirst du nach einer Hochzeit nicht mehr führen können. Nur wenige Frauen akzeptieren heute noch, dass der Mann regelmäßig zwei Monate abwesend ist.“
„Meine Arbeit als Kapitän werde ich nicht aufgeben, niemals! Das ist mein Leben!“, antwortete Marc entschieden, und damit war das Gespräch für ihn beendet.
Simone insistierte nicht weiter und ging schweigend neben ihm her. Sie kannte ihren Sohn, er würde ihr jetzt nichts Weiteres mehr über seine neue Freundin sagen. Sie müsste sich gedulden, bis er das Thema wieder ansprechen würde. Sie fuhren zurück nach Trégunc.
Hoffentlich würde seine zukünftige Frau ein solches Leben hinnehmen. Sie hatte das Leben als Frau eines Fischers akzeptiert. Es war nicht immer einfach gewesen. Damals, als die Kinder klein waren, hätte sie gerne abends manchmal einen Mann an ihrer Seite gehabt. Vor allem in den Zeiten, in denen die Kinder krank waren. Aber sie hatte es geschafft. Sie hatte ihre Kinder stets gut versorgt, so gut sie es konnte.
Für Marc stand fest, dass er nie eine Frau heiraten würde, die seine Arbeit als Kapitän nicht unterstützte. Er verließ seine Mutter und fuhr zurück nach Melgven. Marc würde Loana beim nächsten Treffen nach ihren Vorstellungen von einem Zusammenleben fragen.
Loana Fournel hatte er bei einem Fest Noz in Quimperlé kennengelernt. Eigentlich gehörte ein solcher Tanzabend zu den Dingen, die Marc mied. Er war nur zu diesem Fest Noz gegangen, weil ein bekannter bretonischer Bombarde-Bläser dort auftreten sollte. Eine vombard oder talabard zu spielen, wie das Instrument auf Bretonisch hieß, zählte für Marc zu den wenigen Dingen, die es mit der Tätigkeit eines Kapitäns aufnehmen konnten.
Loana war ihm auf dem Fest aufgefallen, weil auch sie Begeisterung für den Bläser gezeigt hatte. Er hatte sie angesprochen und ihr von seiner Leidenschaft für das Instrument erzählt. Loana hatte erwähnt, dass dieses Instrument auch sie verzauberte. Sie verbrachten den ganzen Abend miteinander, den Klängen der Bombarde hingegeben. Danach hatten sie sich noch einige Male getroffen. Marc hegte Sympathie für die Frau. Ob es Liebe war, konnte er nicht sagen. Marc sah eher die pragmatische Seite, eine Frau im Haus wäre praktisch, sie kochte, machte seine Wäsche, hielt das Haus in Ordnung und konnte seine körperlichen Bedürfnisse befriedigen. Marc verschwendete keinen Gedanken an die Erwartungen oder Wünsche einer Frau. Seine Frau musste die Aufgaben übernehmen, die bis jetzt seine Mutter für ihn erledigte. Am besten fände er eine zukünftige Frau wie seine Mutter.
Der Tag neigte sich dem Ende entgegen, und Marc schloss, wie an jedem Abend, die Klappläden seiner Fenster, schaltete den Fernseher ein, nahm eine Flasche Bordeaux aus seinem Vorrat und schenkte sich ein Glas ein.
Die Sonne war gerade aufgegangen und schickte ihre ersten Strahlen durchs Schlafzimmerfenster. Anaïk Bruel streckte sich gemütlich in ihrem Bett. Sie lag alleine im Bett, ihr Verlobter, Brieg Pellen, war für drei Tage nach Marseille gefahren. Die Werft hatte einen größeren Auftrag erhalten, und Brieg musste mit dem Auftraggeber verschiedene Einzelheiten klären, damit der Bau des Forschungsschiffes problemlos verlaufen könnte.
Anaïks Hochzeitstermin rückte immer näher und damit auch der Umzug ins neue Haus. Brieg hatte sie vor einem Monat damit überrascht. Ein Freund und Kollege, der eine neue Aufgabe bei einer deutschen Werft in Hamburg übernommen hatte, hatte ihnen sein herrlich gelegenes Haus in Beg Meil verkauft. Brieg hatte keinen Augenblick gezögert, das Haus zu kaufen, nachdem er Anaïks Zustimmung eingeholt hatte.
Fröhlich stand sie auf, zog ihre Joggingklamotten an und machte sich noch vor dem Frühstück auf ihren täglichen Weg. Wie oft war sie den Weg jetzt schon gelaufen? Sie wusste es nicht mehr. Es war ein herrlicher Weg am Meer entlang, vorbei an mächtigen alten Pinien und einer herrlichen Dünenlandschaft. Ein einziges Mal hatte sie auf dem Weg eine unliebsame Begegnung, ein Mann hatte sie mit einem Messer attackiert.
Anaïk atmete die frische Meeresluft ein, hörte dem gleichmäßigen Auftreffen der Wellen zu, dem Gekreische der Möwen und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Seitdem sie und ihre Kollegin, Monique Dupont, die Morde in Douarnenez aufgeklärt hatten, war es wieder deutlich ruhiger im Kommissariat geworden.
Die ersten Häuser von Île Tudy tauchten in der Ferne auf. Anaïk hatte das Gefühl, als ob der Weg in den letzten Monaten kürzer geworden sei, oder ihre Kondition hatte sich erheblich verbessert. Sie fügte einen kleinen Umweg hinzu und verlängerte den heutigen Morgenlauf. Sie durchquerte den kleinen Ort, folgte dem GR 34, passierte den Étang de Kermor, lief an der kleinen Austernzucht vorbei bis zur Kreuzung der D 144. Dann folgte sie der kleinen Straße zum Naturschutzgebiet. Anaïk hatte auch diesen idyllischen Weg schon mehrmals eingeschlagen. Über den schnurgeraden Weg, der westlich von Kermor Bihan hinunter an den Strand von Kermor führte, kam Anaïk wieder auf ihren üblichen Küstenweg zurück.
Verschwitzt und zufrieden erreichte sie ihre Wohnung. Sie stellte sich unter die Dusche und genoss das warme Wasser auf der Haut. Sie zog sich an, sah auf die Uhr und stellte fest, dass es schon kurz vor acht war. Es würde noch für eine Tasse Milchkaffee und ein Stück aufgebackene Baguette reichen. Dann setzte sie sich ins Auto und fuhr ins Kommissariat.
Marc Solliec verblieben noch zwei Wochen an Land, um seine weitere Lebensplanung mit Loana Fournel zu besprechen. Die Aussage seiner Mutter, dass nur wenige Frauen ein Leben ständiger mehrmonatiger Abwesenheit auf Dauer akzeptierten, ging ihm immer wieder durch den Kopf. Das Leben, wie er es jetzt lebte, erschien ihm so richtig. Wenn Loana das nicht mit ihm teilen wollte, wäre sie eben nicht die Richtige für ihn, Bombarde hin, Bombarde her.
Am späteren Nachmittag hatte er sich mit ihr verabredet. Um viertel vor 12 setzte er sich in seinen Mercedes und fuhr zu seiner Mutter zum Mittagessen. Simone hatte ihm ihre Spezialität zugesagt, das beliebte Grillhähnchen mit Pommes.
Marc strahlte wie ein kleines Kind, als das Hähnchen auf den Tisch kam.
„Du hättest deine Freundin mitbringen sollen, Marc“, meinte die Mutter, die neugierig war, die junge Frau kennenzulernen.
„Das nächste Mal, Mutter, ich sehe sie heute Nachmittag, dann lade ich sie ein.“
„Du kannst sie ja fürs nächste Wochenende einladen, ich brate dann nochmal ein Hähnchen. Ich möchte deine zukünftige Frau gerne kennenlernen“, meinte Simone lächelnd.
„Ich werde sie fragen, maman“, erwiderte Marc und bediente sich. Er ließ sich das Essen schmecken. Seine Mutter, die selbst selten Wein trank, hatte stets einen gut gefüllten Weinkeller, um den sich ihr Sohn kümmerte, damit er immer einen erstklassigen Tropfen zum Essen hatte. Marc füllte sein Glas wiederholt auf. Der Pomerol, den seine Mutter heute auf den Tisch gestellt hatte, war ausgezeichnet.
Marc verließ seine Mutter gegen halb zwei und fuhr zurück nach Melgven. Für das Treffen mit Loana wollte er sich noch umziehen. Sollte er einen kleinen Blumenstrauß kaufen? Es kam selten vor, dass Marc sich in den kleinen Blumenladen von Melgven verirrte. Die Besitzerin des Ladens war erstaunt, den Kapitän zu sehen, wie er im ganzen Ort genannt wurde.
„Bonjour, Monsieur Solliec, was kann ich für Sie tun?“, begrüßte sie Marc.
„Ich hätte gerne einen Blumenstrauß, oder verkaufen Sie auch andere Dinge?“, scherzte Marc.
„Welche Blumen hätten Sie gerne?“
Marc war mit dieser Frage überfordert. Was für Blumen? Darüber hatte er nicht nachgedacht, er sah sich um. Er las die Preisschilder. Marc war nicht kleinlich, er entschied sich schließlich für die dunkelroten Rosen. Es waren die teuersten Schnittblumen im Laden. Damit würde er nichts falsch machen.
„Geben sie mir ein Dutzend von diesen hier“, sagte Marc und zeigte auf die prächtigen dunkelroten Rosen.
Marie Trion lächelte Marc freundlich an und ging zur Vase mit den Rosen. Sie waren erst vor wenigen Stunden geliefert worden, und wegen des hohen Preises hatte sie nicht viele davon verkauft. Die Hälfte ihres Bestandes würde Marc jetzt mitnehmen. Marie war erfreut.
„Eine wunderschöne Rose! Eine Liebeserklärung an die Beschenkte!“, meinte Marie und band die Blumen zu einem Strauß.
Marc ging nicht auf die Äußerung ein. Er blieb ruhig vor der Verkaufstheke stehen und sah Marie Trion zu, wie sie die Dornen entfernte, die Rosen abschnitt und den Strauß anschließend mit grünen Blättern dekorierte.
„Gefällt er Ihnen so?“, fragte sie und zeigte Marc den fertigen Strauß. Marc nickte und griff in seine Jackentasche. Er holte sein Portemonnaie heraus und entnahm ihm 50 Euro. Marie packte den Strauß ein und klebte noch ein Geschenkband und einen -aufkleber darauf.
„Damit werden Sie bestimmt einen guten Eindruck machen“, meinte Marie und überreichte ihm den Strauß.
„Das macht 48 Euro“, sagte Marie und griff nach dem 50 Euroschein. Er steckte das Wechselgeld ein und verließ mit einem knappen au revoir den Laden.
Er fuhr nach Quimperlé. Die voie express war an diesem Nachmittag stark befahren. Eine lange Schlange Wohnwagen fuhr in Richtung Lorient. Vor Loanas Haus nahm er den Blumenstrauß vom Rücksitz und ging zur Eingangstür. Loana musste ihn kommen gesehen haben, denn sie öffnete die Tür bereits.
„Bonjour Marc“, begrüßte Loana den Kapitän herzlich.
„Bonjour Loana“, erwiderte Marc den Gruß und überreichte ihr die Rosen.
„Ich habe dir ein paar Blumen mitgebracht“, fügte er hinzu.
„Herrliche Rosen! Marc du verwöhnst mich!“ Loana ließ Marc eintreten.
Marc war ein Mensch von schnellen Entschlüssen, er fiel gleich, nachdem sie sich aufs Sofa im Wohnzimmer gesetzt hatten, mit der Tür ins Haus.
„Loana, wir müssen uns über unsere Zukunft unterhalten.“
Loana schien überrumpelt vom abrupten Beginn des Gesprächs.
„Was meinst du, Marc? Wir haben doch noch nicht einmal an ein gemeinsames Leben gedacht?“, fragte Loana und sah Marc mit großen Augen an.
„Nun, ich will mit dir darüber sprechen, ob du dir vorstellen kannst, mit mir zusammenzuleben, auch wenn ich als Kapitän arbeite.“
„Soll das ein Heiratsantrag sein, Marc?“ Loana hatte sich noch keinerlei Gedanken über eine gemeinsame Zukunft gemacht.
Sie hatten sich bisher einige Male getroffen und gemeinsame Stunden verbracht. Für Loana kam die Frage sehr überraschend. Sie mochte Marc durchaus, aber was sollte sie ihm jetzt antworten? Könnte sie sich ein Leben an der Seite dieses Mannes vorstellen? Bestimmt war Marc ein großzügiger Mann, der sich ihren Wünschen vielleicht nicht verschließen würde. Er war bisher immer sehr entgegenkommend und zärtlich gewesen. Sie könnte alles ertragen, nur keinen brutalen oder respektlosen Menschen. Als einen solchen hatte sie ihn noch nicht kennengelernt. Die Gedanken und Überlegungen schwirrten nur so durch ihren Kopf. Sie saß dem Mann gegenüber und suchte nach einer Antwort auf seine Frage.
„Loana, ich kann mir ein Leben mit dir vorstellen. Warum also nicht heiraten? Ja, betrachte es als einen Antrag. Würdest du mich heiraten?“
Loana hielt immer noch den Rosenstrauß in der Hand. Sie musste die Blumen unbedingt ins Wasser stellen. Es schien ihr eine gute Gelegenheit zu sein, ihre Gedanken zu ordnen.
„Marc, ich stelle deinen herrlichen Rosenstrauß in eine Vase. Ich bin gleich wieder zurück.“ Sie stand vom Sofa auf und ging in die Küche.
Sie legte die Blumen auf den Küchentisch und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Was würde sie dem Mann gleich antworten? Ja? Sie hegte Zuneigung zu ihm. Sollte sie ihn um Bedenkzeit bitten? Sie müsste sich über ihre eigenen Gefühle Klarheit verschaffen. Sie war verwirrt.
Loana nahm eine Vase vom Bord über dem Spülstein, füllte Wasser ein und stellte die Rosen hinein. Es war ein prächtiger Rosenstrauß. Kleinlich war Marc nicht. Aber wie würde er sich im Alltag verhalten? Sie hatte ihn immer nur für wenige Stunden erlebt. Loana nahm die Vase und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie wollte Marc nicht unhöflich warten lassen.
Sie stellte die Blumen auf den Esstisch und kam zurück zum Sofa.
„Marc, dein Heiratsantrag ehrt mich, aber ich fühle mich etwas überrumpelt. Ich bin mir sicher, dass ich dich sehr mag, aber wir kennen uns erst seit einigen Wochen. Ich kann eine Entscheidung solcher Tragweite nicht so spontan fällen. Gib mir einige Tage Zeit, ich denke darüber nach.“
„Okay, Loana. Du kannst mir in drei Tagen deine Entscheidung mitteilen. Ich möchte dich jedenfalls am nächsten Wochenende meiner Mutter vorstellen. Sie will dich unbedingt kennenlernen. Sie wird bei der Gelegenheit für dich ihre Spezialität zubereiten, ihr Grillhähnchen mit Pommes frites, das hast du so noch nicht gegessen.“
Loana nickte, war aber über das Ultimatum, so betrachtete sie die Vorgabe von drei Tagen, nicht erfreut. Sie schob es auf die spezielle Situation, dass Marc sie seiner Mutter vorstellen wollte. Nach einer weiteren Stunde verabschiedete sich Marc von Loana und fuhr zurück nach Melgven. Er hatte das Gespräch mit Loana geführt, mehr wollte er an diesem Tag nicht erreichen. Er dachte keinen Augenblick darüber nach, dass Loana es vielleicht gerne gesehen hätte, wenn sie den restlichen Tag gemeinsam verbracht hätten.
Die drei Tage Bedenkzeit, die Marc Loana eingeräumt hatte, waren schnell vergangen. Am vierten Tag rief Marc an, und Loana musste ihre Entscheidung mitteilen. Sie war im Grunde ihres Herzens nicht bereit, aber sie wollte Marc nicht verärgern. Also sagte sie seinem Antrag zu. Es war eine seltsame Situation, sie hatte einen Heiratsantrag erhalten, der eher wie eine beiläufige Frage geklungen hatte, und hatte ihre Zusage am Telefon gegeben, das hatte wenig mit Romantik zu tun. Vielleicht, so tröstete sie sich, war das die Romantik eines Kapitäns, der nur für zwei Monate zuhause war.
Marc nahm die Zusage für die Heirat entgegen, als handelte es sich um die Antwort auf eine Einladung.
„Danke, Loana, dann sehen wir uns am Samstag zum Mittagessen bei meiner Mutter. Soll ich dich abholen, oder kommst du nach Trégunc?“
„Ich weiß nicht wo deine Mutter wohnt, Marc. Ich würde mich freuen, wenn du mich abholst.“
„Kein Problem, Loana, ich komme gegen elf bei dir vorbei. Dann sind wir pünktlich bei meiner Mutter. Sie hat es nicht gerne, wenn ich mich zum Essen verspäte.“
Loana schluckte bei der Antwort. War Marc wirklich so abhängig von seiner Mutter? Welche Rolle würde die Mutter in ihrem zukünftigen Leben spielen? Sie würde die Frau kennenlernen und sich dann eine eigene Meinung bilden.
Loana legte den Hörer auf. Ihre Verwirrung war in eine unerklärliche Angst umgeschlagen. Marc war bestimmt kein Romantiker. Er war der Kapitän, er gab die Befehle. In ihrer kurzen Beziehung war es immer Marc gewesen, der ihre gemeinsamen Unternehmungen beschlossen hatte, ob Fest-Noz oder Ausflug, er hatte entschieden. Loana schätzte einen entscheidungsfreudigen Mann mit Initiative. Aber war er auch beziehungsfähig? Sie spürte die Furcht, in einer zukünftigen Ehe in frühere Zeiten zurückzufallen und Frau am Herd zu sein. Sie schob die Bedenken erst einmal zur Seite.
Als Marc am Samstag pünktlich um 11 Uhr vor der Tür stand, waren die düsteren Wolken der letzten Tage verschwunden. Marc begrüßte seine zukünftige Frau mit einem für seine Verhältnisse langen Kuss und geleitete sie zu seinem Wagen. Marc hatte den Mercedes frisch gewaschen und einer Innenreinigung unterzogen. Loana erkannte, dass Marc viel auf den äußeren Schein gab.
Überpünktlich kamen sie in Trégunc an. Loana stieg aus dem Auto und betrachtete das schmucke gepflegte Haus. Auch der Vorgarten war sehr gepflegt. Sie stiegen die wenigen Treppenstufen hoch und Marc schloss die Tür auf.
Beinahe wäre ihnen Simone zuvorgekommen, sie hatte die beiden erwartet und stand strahlend vor ihnen. Sie begrüßte Loana herzlich.
„Ich freue mich so, dich endlich kennenzulernen, Loana. Marc hat mir nicht gesagt, wie hübsch du bist. Erst vor einigen Tagen hat er mir beim Mittagessen deinen Namen verraten. Aber so ist er eben. Ich habe schon gedacht, dass Marc ein ewiger Junggeselle bleibt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich ihm gesagt habe, dass er sich nach einer Frau umsehen soll. Aber jetzt bist du ja da!“
Loana freute sich über die herzliche Begrüßung.
Simone hatte einen Aperitif vorbereitet. Sie brachte eine Flasche Champagner, die Marc öffnete. Dazu reichte sie diverse köstliche amuse-geules. Dann entschuldigte Simone sich und ging in die Küche, um die letzten Vorbereitungen für das Mittagessen zu erledigen.
„Ach Marc, deine Mutter ist so lieb!“, meinte Loana und schmiegte sich erleichtert an ihn.
„Sie kann sehr streng sein. Wenigstens war sie das häufig mit uns Kindern.“ Marc griff zu seinem Champagnerglas und nahm einen kräftigen Schluck.
„Marc, öffnest du bitte schon einmal den Wein, die Flasche steht auf dem Sideboard“, rief seine Mutter aus der Küche.
Marc stand auf, holte die Flasche und öffnete sie. In diesem Augenblick kam Simone wieder ins Zimmer. Sie trug eine Platte mit der Vorspeise und stellte sie auf die Mitte des Tisches.
„Ihr könnt zu Tisch kommen“, sagte Simone und sah Loana lächelnd an.
„Ich habe einen kleinen Salat als Vorspeise gemacht“, erklärte sie.
„Meine Mutter macht einen guten Salat aus Erbsen, Karotten und Spargel. Bestimmt wird sie dir das Rezept geben“, meinte Marc und zog Loana höflich den Stuhl zurück.
Loana setzte sich, und Simone bediente die junge Frau.
„Loana, bei Marc geht die Liebe durch den Magen. Er ist ein Gourmet!“
„Dein Salat sieht gut aus, Simone, wie machst du ihn?“
„Ach, der ist ganz einfach. Marc hat dir das Wesentliche schon gesagt. Ich nehme die Zutaten, Spargel, gekochte Erbsen und Karotten und vermische sie mit Mayonnaise. Es ist kein Hexenwerk, der Salat schmeckt Marc, und deshalb wünscht er ihn sich immer wieder. Den kannst du das ganze Jahr über zubereiten, mit frischen Zutaten im frühen Sommer oder sonst aus dem Glas. Am Abend ist er mit einer Scheibe Schinken eine gute kleine Abendmahlzeit.“
Nach der Vorspeise trug sie das Grillhähnchen und die Pommes frites auf. Loana musste zugeben, dass sie noch nie ein besseres Hähnchen mit frites gegessen hatte. Marc schlug kräftig zu.
Nach dem Hauptgang servierte Simone noch ein Dessert, und Marc ging an den Wohnzimmerschrank, nahm eine Flasche Lambig heraus und schenkte sich einen Kleinen ein. Loana fragte er nicht. Danach setzten sie sich in den Garten und plauderten noch ein wenig.
Loana verbrachte einen angenehmen Nachmittag. Plötzlich brachte Marc das Gespräch auf eine baldige Hochzeit. Loana fühlte sich übergangen, wie konnte er jetzt von ihrer Hochzeit sprechen, ohne mit ihr etwas abgesprochen zu haben? Als Marc hinzufügte, dass er ja bald wieder zwei Monate lang auf See sein würde, entschuldigte sie seine übereilte Überlegung.
„Wir haben jetzt nicht mehr viel Zeit für eine vernünftige Planung, Marc. Wir müssen Räumlichkeiten für eine Feier suchen, und die sind oft lange im Voraus ausgebucht. Wir haben auch nicht überlegt, wen wir zur Hochzeit einladen wollen. Wir sollten uns etwas mehr Zeit lassen und nichts überstürzen“, meinte Loana und sah, dass Simone ihr mit einem Kopfnicken zustimmte.
„Papperlapapp, wir brauchen keine große Feier. Wieso sollen wir Menschen einladen, die sich anschließend nur das Maul darüber zerreißen, dass das Essen nicht gut war, der Anzug des Bräutigams schlecht gesessen hat, oder der Brautstrauß zu klein war? Wir heiraten auf dem Standesamt und gehen anschließend mit deinen Eltern und meiner Mutter in ein Restaurant.“
Loana war überrascht. Bisher hatte Marc sich stets großzügig gezeigt, jetzt schien er plötzlich kleinlich. Sie wünschte sich eine schöne Hochzeit mit einer Feier. Loana war hin- und hergerissen zwischen ihren Gefühlen.
Simone ergriff das Wort, bevor Loana etwas erwidern konnte.
„Marc, du solltest eine Ehe nicht so starten. Ich hätte deinen Vater nicht geheiratet, wenn er mir das vorgeschlagen hätte. Eine Hochzeit ist ein besonderes Ereignis und nicht irgendeine Feier. Ihr müsst doch nichts überstürzen. Geh du erst einmal wieder auf dein Schiff, und Loana kann in aller Ruhe die Hochzeit vorbereiten. Ich unterstütze sie, falls sie Hilfe braucht.“
Loana atmete auf. Sie sah Marc fragend an.
Marcs Gesichtsfarbe wechselte. Seine Wangen glühten, und seine Augen funkelten.
Simone sah die Veränderung und fügte ihrer Aussage knapp hinzu:
„Sag nichts Unüberlegtes, Marc, wir sind hier nicht auf deinem Schiff!“
Marc entspannte sich, seine Mutter schien großen Einfluss auf ihn zu haben. Nach einigen Sekunden antwortete er.
„Gut, dann heiraten wir eben noch nicht. Dann muss die Hochzeit warten, bis ich in zwei Monaten zurück bin.“
Loana sah ihren zukünftigen Mann dankbar an.
„Deine Mutter hat einen vernünftigen Vorschlag gemacht. Wir werden alles vorbereiten, und wenn du wieder hier bist, heiraten wir und fahren anschließend sofort auf unsere Hochzeitsreise.“
Hochzeitsreise? Für Marc klang das wie eine Drohung! Wohin sollten sie denn fahren? Sie könnten doch nach der Hochzeit auch in der Bretagne bleiben. Die Bretagne ist ein herrlicher Ort. Was brauchten sie mehr? Warum also eine Hochzeitsreise? Er beließ es dabei und antwortete nicht auf Loanas Aussage.
Marc brachte Loana am späten Nachmittag nach Hause. Während der Fahrt nach Quimperlé blieb er auffallend ruhig und einsilbig. Loana dachte über den Nachmittag nach. Marcs Wutanfall beschäftigte sie. War er wirklich der Richtige? Sollte sie sich die Hochzeit noch einmal überlegen? Loana holte sich ein Glas Wasser, setzte sich auf ihre kleine Terrasse und genoss die letzten Sonnenstrahlen.
Anaïk Bruel saß über den Formularen von Nourilly. Sie wollte sie rasch ausfüllen, um nicht mehr daran denken zu müssen.
Welche Möglichkeiten gibt es, die Zusammenarbeit mit anderen Diensten zu verbessern?
Wie viele Stunden haben Sie mit Fahrten zu Einsatzorten verbracht?
Wie lange dauerte die durchschnittliche Tatortbegehung?
Wie viele Stunden wurden mit Zeugenbefragungen verbracht? (ungefähre Angaben reichen!)
„Ungefähre Angaben reichen! Was können wir denn sonst in dieses blöde Formular schreiben?“, donnerte Anaïk über den Schreibtisch hinweg und schrie die leere Pinnwand an. Sie ließ den Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte fallen. Welche Erkenntnisse konnte Nourilly aus solchen Fragen gewinnen? Sie hielt es für eine Ersatzbefriedigung, der Mann schien außer Pressekonferenzen und Interviews keine erfüllenden Aufgaben zu haben.
Anaïk griff zum Ouest-France, der neben ihr lag, und las die Schlagzeile des Tages.
Familie immer noch verschwunden!
Sie vertiefte sich in den Artikel, der ausführlich von der vierköpfigen Familie aus der Umgebung von Nantes berichtete, die seit mehr als 15 Tagen verschwunden war.
Die Gendarmen waren zum Haus gerufen worden und hatten das große Einfamilienhaus der Familie Le Guiffant verschlossen vorgefunden, mit herabgelassenen Rollläden und einem überquellenden Briefkasten. Eine Nachbarin hatte die Gendarmerie informiert. Wie die Zeitung weiter berichtete, haben die Nachbarn ausgesagt, dass die Familie noch nie verreist war, ohne eine Nachbarin zu informieren. Die Familie hatte zwei Kinder, einen erwachsenen Sohn und eine fast erwachsene Tochter. Die Sicherheitsorgane waren von einer kurzfristigen Reise ausgegangen. Aber das Auto der Familie stand in der Garage, einzig der Wagen des Sohnes fehlte. Als es nach drei weiteren Tagen immer noch kein Lebenszeichen der Familie gab, wurde man auch bei der Gendarmerie unsicher und begann mit den Nachforschungen. Die Gendarmen hatten sich Zugang zum Haus verschafft und versucht, Hinweise auf den Aufenthalt der Familie zu finden. Sie hatten das Haus in einem ordentlichen Zustand vorgefunden. Kein ungespültes Geschirr stand in der Küche, das Badezimmer war sauber, es gab keine Schmutzwäsche und keine herumliegenden benutzten Handtücher. Die Betten waren gemacht und nirgends hatten sich größere Mengen Staub angesammelt. Die Reisekoffer der Familie standen in einem Abstellraum, sodass die Gendarmen nicht von einer Urlaubsfahrt ausgehen konnten. Auch die Zimmer der Kinder sahen aus, als habe hier jemand aufgeräumt, selbst auf den Schreibtischen lag kein Blatt Papier. Das Haus machte beinahe einen unnatürlich aufgeräumten Eindruck. Niemand verreiste kurz und hinterließ sein Haus so tadellos. Nein, hier stimmte etwas nicht. Die Gendarmerie bat die police judiciaire aus Nantes um Hilfe. Die Spurensicherung ging durch das gesamte Haus. Mit viel Mühe fanden sie einige Fingerabdrücke, die aller Wahrscheinlichkeit nach den Familienmitgliedern zuzuordnen waren, und eine kleine Blutspur, die eine DNA-Analyse ermöglichte und abschließend eindeutig dem Vater zugeordnet werden konnte. Eine weitere DNA konnte nicht sofort geklärt werden. Der Artikel schloss mit der Frage, ob es sich hier um ein Verbrechen handelte.