Das Konzept Sozialraum: Vielfalt, Verschiedenheit und Begegnung -  - E-Book

Das Konzept Sozialraum: Vielfalt, Verschiedenheit und Begegnung E-Book

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Beschreibung

Das Konzept der Sozialraumorientierung gewinnt in der Sozialen Arbeit vehement an Bedeutung. Die Autoren verdeutlichen seine Funktionalität und Leistungsfähigkeit am aussagekräftigen Beispiel der Bahnhofsmission. Dabei werden nach jedem Kapitel die prüfungsrelevanten Bezüge in Arbeitsfragen und Praxisbeispielen gesichert.Endstation Bahnhof? Inwiefern ist die Bahnhofsmission ein Sozialraum? Welche Bedeutung kommt einem Sozialraum in der Sozialen Arbeit zu? Wie hat sich die soziale Hilfe der Bahnhofsmission bis heute gewandelt? In welchem Zusammenhang stehen soziale Hilfesysteme wie Bahnhofsmission und Wohnungslosenhilfe? Wie gestaltet sich Migration im sozialräumlichen Kontext? In welchem Zusammenhang stehen inklusive Sozialräume und milieuübergreifende Freundschaften? Welche Rolle kommt der Ökonomie im Sozialraum zu? Die Autoren geben Antworten auf diese und weitere relevante Fragen der Sozialen Arbeit.

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Frank Dieckbreder/Sarah Dieckbreder-Vedder (Hg.)

Das Konzept Sozialraum:Vielfalt, Verschiedenheitund Begegnung

Soziale Arbeit lernen am Beispiel Bahnhofsmission

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 8 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99780-3

Umschlagabbildung: © beeboys – Fotolia

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

Vorwort

Teil 1: Grundsätzliches

Frank Dieckbreder

Sozialraum und Sozialraumorientierung

Thomas Zippert

»Bahnhof« – als (sozialer) Raum?

Bruno W. Nikles

Die Geschichte der sozialen Hilfe am Bahnhof

Christian Bakemeier

Die Aufgaben der Bahnhofsmission

Teil 2: Sozialräume der Bahnhofsmission in Handlungsfeldern

Jonas Meine unter Mitarbeit von Karen Sommer-Loeffen

Zum Ehrenamt in der Bahnhofsmission

Andreas Wolf

Endstation Bahnhof? Die Zwiespältigkeit des Sozialraums für wohnungslose Menschen

Frank Dieckbreder/Sarah Dieckbreder-Vedder

Eingliederungshilfe als sozialräumliche Handlungsoption in Bahnhofsmissionen

Michael Schulz/Michael Löhr/Pascal Wabnitz

Die Arbeit der Bahnhofsmission als Beitrag der psychiatrischen Versorgung vor dem Hintergrund von Community Mental Health

Alla Koval

Migration im sozialräumlichen Kontext am Beispiel der Flüchtlingsarbeit

Christian Oelschlägel/Claudia Graf

Kirche und Seelsorge

Jonas Meine

Milieuübergreifende Freundschaften durch inklusive Sozialräume am Beispiel der Bahnhofsmission in Hamm

Frank Dieckbreder

Ökonomie und Solidarität

Stichwortverzeichnis

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Vorwort

Der Buchmarkt ist in Bezug auf Lehrbücher zur Sozialen Arbeit gut gefüllt. Auf angenehm hohem Niveau erscheinen regelmäßig Texte zu Spezialthemen wie Alter, Behindertenhilfe, Jugendhilfe, Wohnungslosenhilfe oder – derzeit verstärkt – Migration und Flucht. Zudem gibt es Standardwerke zur Geschichte, den Theorien und den Methoden der Sozialen Arbeit. Besonders für Studierende ist es zu Beginn des Studiums und erfahrungsgemäß auch noch zum Ende hin schwierig, den Überblick zu behalten. »Was ist wichtig und richtig?«, die Frage wird nach Veranstaltungen, oft mit einem durchaus verzweifelten Blick auf die bevorstehende Hausarbeit, nicht selten gestellt. Und dann kommen noch Zeitschriften, Datenbanken und internationale Recherchemöglichkeiten im »weltweiten Netz« hinzu. Den bereits im Bereich Soziale Arbeit Tätigen geht es nicht anders. Jedoch kommt bei ihnen hinzu, dass die tägliche Arbeit wenig »Raum« gibt, sich grundsätzlich und hinsichtlich aktueller Entwicklungen in der Forschung mit Themen auseinanderzusetzen. Die Empirie des Bewährten ist hier von zentraler Bedeutung. Und dann gibt es den dritten Personenkreis, der sich ohne Fachausbildung oder -studium aus unterschiedlichen Motiven ehrenamtlich im Kontext Sozialer Arbeit engagiert. Mit diesem Buch wollen wir alle drei Personenkreise ansprechen und erreichen.

Doch damit nicht genug. Denn die drei skizzierten Personenkreise ergeben zusammengefasst, wenn auch auf unterschiedlichen fachlichen Niveaus, die »Expertokratie« der Sozialen Arbeit. In einem Buch, das den Begriff Sozialraum im Titel führt, ist dies eine unzulässige Verengung der Perspektive. Würde man es dabei belassen, wäre die Folge, dass letztlich ausschließlich diese ExpertInnen gestaltungs- und handlungsfähig wären. Den AdressatInnen Sozialer Arbeit würde zumindest implizit eine Rolle zugewiesen, in der sie in der Hierarchie von Wissen und Nicht-Wissen die Nichtwissenden wären. Da dies zumindest methodisch im Widerspruch zu sozialräumlichen Ansätzen in der Sozialen Arbeit steht, richtet sich das Buch auch an AdressatInnen, die immer auch selbst AkteurInnen sind.

Wer sind die AdressatInnen Sozialer Arbeit?

Diese Frage steht im Kern sozialräumlicher Auseinandersetzung. Da das Wort »sozial« Teil der Berufsbezeichnung und/oder Tätigkeit ist, kann postuliert werden, dass alle Menschen gemeint sind. Soziale Arbeit bedeutet in Schlichtheit und überfordernder Herausforderung zugleich – am und im Sozialen (Gesellschaft) zu arbeiten. Somit sind Tätige in der Sozialen Arbeit letztlich immer auch AdressatInnen ihrer Arbeit, da auch sie Teil der Gesellschaft sind. Was das bedeutet, wurde und wird schon mit den Ambulantisierungsprozessen in der so genannten Eingliederungshilfe (Behindertenhilfe/Psychiatrie) deutlich, wenn Mitarbeitende einer stationären Einrichtung Nachbarn bekamen und bekommen, die sie sonst in der Rolle Fachkraft/AdressatIn erlebten und erleben. Die Arbeit mit geflohenen Menschen ist ein weiteres Beispiel. Aus diesem Grund geht Soziale Arbeit tatsächlich alle an. Es geht darum, gemeinsam Gesellschaft zu gestalten. Darin ist absolut Expertise gefragt. Allerdings nicht dahingehend, besser zu wissen, wie andere ihr Leben gestalten sollten, sondern Anstöße gebend unter der sozialraumorientierten Prämisse, dass jede und jeder eigene Vorstellungen davon hat, ihr oder sein Leben zu leben. Das ist der »rote Faden«, der sich durch dieses Buch zieht.

Dass hierfür als Beispiel die Bahnhofsmission gewählt wurde, geht auf Beobachtungen der Herausgeberin zurück, die sie als Leitung der Bahnhofsmission in Hamm gemacht hat. Ihr fiel nach vielen Berufsjahren in allen zentralen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit auf, dass diese in der Bahnhofsmission vereint zum Tragen kommen. Mit sozialräumlichem Blick kommt hinzu, dass hier aber auch Menschen angetroffen werden und Begegnungen stattfinden, die deutlich über die sonst üblichen Tätigkeiten Sozialer Arbeit hinausweisen. Das betrifft sowohl die Gäste der Bahnhofsmission als auch die dort überwiegend ehrenamtlich Tätigen. So entstand die Idee zu diesem Buch nach einem Weihnachtsessen mit dem Team der Bahnhofsmission. Wer berufstätig ist, kennt diese Tradition, einmal im Jahr mit den KollegInnen und ggf. auf Kosten des Arbeitgebers zur Weihnachtszeit essen zu gehen. Erst bei diesem Essen wurde deutlich, dass hier Menschen Zeit miteinander verbringen, die sich ohne das Bindeglied der Bahnhofsmission nicht kennen würden. Sichtbar wurde dies besonders in der Differenz, dass Menschen am Tisch saßen, für die »Essengehen« nichts Besonderes war, für andere war es ein Ausnahmehighlight. Diese Differenz war zuvor in der Bahnhofsmission zwar bekannt, aber nicht bedeutsam gewesen. Nach dem Essen wurde nicht begonnen, die Unterschiedlichkeiten, die wesentlich materiell waren, zu schärfen. Vielmehr entstand ein Bewusstsein über die Tatsache, dass die Bahnhofsmission dafür sorgt, dass sich Menschen begegnen, die sich sonst nicht begegnen. Das ist eine Bereicherung für alle Beteiligten.

Die Erkenntnis nach dem Essen, an dem auch der Herausgeber als ehrenamtlich Tätiger teilgenommen hat: Die Bahnhofsmission ist ein Ort, mit dessen Hilfe dargestellt werden kann, was Sozialraum und sozialräumliches Handeln bedeutet. Geschrieben wurden die Beiträge des vorliegenden Bandes dann doch von Menschen aus der Wissenschaft und der Praxis. Die dabei eingenommenen Perspektiven decken jedoch alles ab, was wir in diesem Vorwort dargestellt haben. Daher ist es – zumindest dem Anspruch nach – ein Buch für alle.

Das Buch ist in zwei Teile, »Grundsätzliches« (Teil 1) und »Sozialräume in Handlungsfeldern« (Teil 2), gegliedert. Da mehrere Begriffe zusammenwirken, stellt Frank Dieckbreder zunächst den aktuellen wissenschaftlichen Stand zu den Theorien und Methoden im Kontext zu Sozialraumorientierung im Kapitel Sozialraum und Sozialraumorientierung vor. Thomas Zippert verwebt in Bahnhof – als (sozialer) Raum? persönliche Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse zu einer in Teilen erzählerischen Reflexion über den Bahnhof. In der Folge zeichnet Bruno W. Nikles Die Geschichte der sozialen Hilfe am Bahnhof nach, die Christian Bakemeier dann in Die Aufgaben der Bahnhofsmission in die Gegenwart fortschreibt.

Der zweite Teil beginnt mit der zentralen Säule der Bahnhofsmissionen, dem Ehrenamt. Jonas Meine hat diese Aufgabe unter Mitarbeit von Karen Sommer-Loeffen in Zum Ehrenamt in der Bahnhofsmission beschrieben. Andreas Wolf nimmt in seinem Beitrag Endstation Bahnhof? – Die Zwiespältigkeit des Sozialraums für wohnungslose Menschen ein zentrales Thema der Bahnhofsmissionen in den Blick. Hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Handlungsfeldern schließen Frank Dieckbreder und Sarah Dieckbreder-Vedder mit Eingliederungshilfe als sozialräumliche Handlungsoption in Bahnhofsmissionen an den vorangegangenen Beitrag an. Erweitert wird das, was mit Eingliederungshilfe möglich und nicht möglich ist, von Michael Schulz, Michael Löhr und Pascal Wabnitz in ihrem Text Die Arbeit der Bahnhofsmission als Beitrag der psychiatrischen Versorgung vor dem Hintergrund von Community Mental Health. Alla Koval nimmt mit Migration im sozialräumlichen Kontext der Bahnhofsmission am Beispiel der Flüchtlingsarbeit ein Kernthema in den Blick, das, wie sie zeigt, schon immer für Bahnhofsmissionen bedeutend war. Christian Oelschlägel und Claudia Graf zeigen in Kirche und Seelsorge ganz konkret, was die heutige Arbeit der Bahnhofsmissionen aus dieser Perspektive bedeutet. In Milieuübergreifende Freundschaften durch inklusive Sozialräume am Beispiel der Bahnhofsmission in Hamm stellt Jonas Meine eine Studie vor, die er im Rahmen seiner Bachelorarbeit durchgeführt hat. Abschließend setzt sich Frank Dieckbreder in Ökonomie und Solidarität mit Finanzierungsmodellen von Bahnhofsmissionen auseinander.

Zu den Texten ist anzumerken, dass sie ein Spektrum dessen darstellen, was unter dem Begriff »Sozialraum« in der gegenwärtigen Diskussion verstanden wird. Bei der Lektüre des Bandes zeigt sich somit ein ganzheitliches Bild der Einheit und gleichzeitigen Vielschichtigkeit der Diskussion. Es ist jedoch auch möglich, einzelne Beiträge zu lesen. Um dies zu ermöglichen, wurden bei der Gesamtlektüre auftretende Redundanzen bewusst belassen, die zudem unter dem Aspekt des Lernens als Vorteil zu werten sind. Am Ende eines jeden Kapitels fasst die Seite Wichtiges in Kürze den (prüfungs-)relevanten Ertrag noch einmal übersichtlich zusammen, sodass sich der Band auch vortrefflich seminarbegleitend und zur Vorbereitung auf Examina nutzen lässt.

Das Buch wäre nicht entstanden, wenn nicht Frau Dr. Gießmann-Bindewald vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht den entscheidenden Anstoß gegeben hätte. Gemeinsam haben wir das Konzept entwickelt und in angenehmster Weise kontinuierlich das Manuskript zur Druckreife gebracht. Für den Anstoß, die unkomplizierte Zusammenarbeit und hohe Professionalität bedanken wir uns als HerausgeberInnen und freuen uns über das Ergebnis.

Das Buch wäre auch nicht entstanden, ohne dass die AutorInnen sich auf das Projekt eingelassen sowie fristgerecht und auf hohem Niveau ihre Beiträge eingereicht hätten. Sozialräumlich hat sich in der Zusammenarbeit unser Netzwerk erweitert, und inhaltlich gehen wir mit deutlich mehr Wissen als zuvor aus dieser Zeit hervor. Wir danken den AutorInnen daher persönlich und wünschen ihren Beiträgen eine breite LeserInnenschaft.

Bielefeld, im April 2016

Frank Dieckbreder und Sarah Dieckbreder-Vedder

Teil 1: Grundsätzliches

Sozialraum und Sozialraumorientierung

Frank Dieckbreder

1. Einleitung

Soziale Räume sind wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass sie über Grenzen, wie sie z. B. in Form von Quartieren in einem Stadtplan verzeichnet sind, hinausweisen können. Soziale Räume sind auch Räume, die sich nicht auf Räumlichkeit im Sinn eines geschlossenen Zimmers reduzieren lassen. Sie können alles überschreiten, was z. B. geografisch einschränkt. Denn soziale Räume können ebenso frei sein wie die sprichwörtlichen Gedanken.

Der Vergleich von Sozialräumlichkeit und Gedanklichkeit ist insofern möglich, als die menschliche Sehnsucht nach Sozialität, wie sie schon bei Aristoteles beschrieben wird (Aristoteles 1995, S. 88), dazu führen kann, dass ein Mensch an einem Ort an einen anderen Menschen an einem anderen Ort denkt.

Diese Überlegung ist auch abstrakter möglich. So z. B., wenn jemand eine Reise in eine fremde Stadt oder ein dieser Person unbekanntes Land plant. Vielleicht gibt es räumliche Assoziationen mit der Stadt und/oder dem Land. Der Eiffelturm in Paris oder die Freiheitsstatue vor New York sind Beispiele dafür. Solche erschaffenen Räumlichkeiten sind insofern Ausdruck von Sozialität, als sie nicht »nur« von Menschen erdacht und gebaut wurden, sondern die reale Konstruktion das Ergebnis eines gemeinsamen Handelns ist. Und die Tatsache, dass solche Bauwerke symbolisch für etwas stehen, wie im Fall des Eiffelturms – bei allem Unwillen besonders der Pariser Kunstszene gegen diese »monstrueuse tour Eiffel« (Bermond 2002, S. 275) zur Zeit der Erbauung – sozusagen nachträglich für die Stadt der Liebe. Für die ebenfalls aus Frankreich stammende Freiheitsstatue (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) in New York – das Erste, was die EinwanderInnen vom Land ihrer Sehnsucht erblickten – kann als Stützung der These einer Nichtbegrenzbarkeit des Sozialen Raums geltend gemacht werden.

Räumlich gesehen stehen auch Bahnhöfe in sozialräumlicher Beziehung zueinander. Wenn ich mich entscheide, mit dem Zug zu fahren, so führt mich mein Weg zu einem Bahnhof, von dem aus ich weitere Bahnhöfe erreiche, bis zu jenem, an dem ich aussteige.

Im Kontext der Sozialen Arbeit wird das Thema »Sozialraum« wesentlich so gefasst, wie es in den vorangegangenen Zeilen beschrieben wurde. Als Handlungswissenschaft folgt daraus eine problembezogene Theoriebildung, wie sie von Staub-Bernasconi (2007, S. 271) definiert wird:

»Problembezogene Arbeitsweisen konkretisieren ein Postulat, über das in den Natur- und Humanwissenschaften wie in professionellen Kreisen Einigkeit besteht, ohne dass es immer verwirklicht wäre, dass nämlich nicht die Methoden oder Verfahren die Inhalte, Fragestellungen und Probleme, sondern die Inhalte und Probleme die Wahl der Verfahren bestimmen sollten.«

Um dieses Diktum zu »verwirklichen«, wird im weiteren Verlauf zunächst ein Überblick über die theoretischen Auseinandersetzungen zum Thema »Sozialraum« gegeben. Aufgrund der inzwischen zahlreichen Publikationen wird eine repräsentative Auswahl von AutorInnen gewählt, die zum einen (nach der Einschätzung des Verfassers) wesentliche »Player« der Diskussion sind und zum anderen die letztlich geringe Varianz der Auseinandersetzung zeigen. Wie in der Sozialen Arbeit üblich, wird auch auf Bezugswissenschaften wie Soziologie und Geschichte eingegangen, die in diesen Beispielen die von Staub-Bernasconi geforderten Problembezogenheiten erfüllen.

In der Folge werden dann Zusammenhänge zu Methoden aufgezeigt, die ebenfalls aufgrund der Vielfalt des Angebots lediglich einen Ausschnitt darstellen können. Sie sind sowohl bezogen auf die vorangegangenen Theorien als auch auf das dem Gesamtbuch zugrunde liegende Beispiel der Bahnhofsmission, das im vierten Kapitel dargestellt wird. Im Fazit und Ausblick sowie in den Literaturhinweisen werden darüber hinaus Vertiefungsmöglichkeiten aufgezeigt und ein Grundsatz sozialräumlichen und sozialraumorientierten Handelns festgelegt.

2. Allgemeine Darstellung: Sozialraumtheorie

Sozialraumtheorien liegen Theorien des Sozialen und des Raums zugrunde. Es handelt sich somit um die Zusammenführung zweier Begriffe, um die jeweilige Bedeutung in einen Zusammenhang zu bringen, aus dem heraus etwas Eigenes entsteht. Dialektisch gesprochen entsteht aus der These Sozial und der Antithese Raum dann synthetisch Sozialraum.

Während der Begriff des Raums zumindest in seiner physischen Form z. B. als Zimmer sehr konkret ist, ist der des Sozialen ungleich herausfordernder. Zwar ist das Wort sozial namensgebend sowohl für wissenschaftliche Disziplinen wie Soziale Arbeit, Sozialpädagogik und Soziologie, als auch alltagssprachlich für positiv verstandenes menschliches Verhalten, aber darin zunächst a priori als Sinn gebend. Mit anderen Worten, was sozial ist, dafür wird gemeinhin Konsens vorausgesetzt.

Alltagsweltlich ist dieser unreflektierte Umgang mit dem Sozialen Bedingung, um miteinander auszukommen. Theoretisch grundgelegt ist diese These in der Sozialisationsforschung. Diesbezüglich schreibt Biermann (2013, S. 63) übereinstimmend mit dem Forschungsstand:

»Von grundlegender Bedeutung für die soziale Entwicklung eines Menschen sind dabei sicherlich jene zentralen kulturellen Inhalte – Basis-Werte, -Symbole und -Wissen –, deren Beherrschung nicht nur Bedingung gesellschaftlicher Tüchtigkeit in einem kulturellen Milieu ist, die vielmehr zunächst einmal Grundlage für sekundäre Sozialisationsprozesse in diversen sozialen Bereichen (Beruf, Politik, Schule u. ä.) sind. Mit der Aneignung dieser Inhalte […] entwickelt sich die so genannte soziokulturelle Basispersönlichkeit als Inbegriff eines Charaktertyps, dem die Menschen einer sozialen Schicht, eines Milieus, einer Geschichtsepoche oder einer sonstigen kulturell bedeutsamen, gemeinsamen Soziallage alle mehr oder weniger folgen, und der sie von den Mitgliedern eines fremden Kulturkreises unterscheidet.«

In diesem Zitat sind alle wesentlichen Grundbedingungen für unreflektierte soziale Handlungsweisen und somit eines Verständnisses dessen, was sozial ist, beschrieben. Als übergeordneten Kontext führt Biermann einen Kulturkreis an. Dieser ist in soziale Schichten, Milieus etc. zu unterteilen. Damit wird deutlich, dass der Abstraktionsgrad steigt, respektive die Bedeutung dieser übergeordneten Ebene für den Einzelnen sinkt, sobald die Einheiten größer werden.

Dieser Betrachtungsweise liegt in der Gesellschaftsbeschreibung die Systemtheorie zugrunde, wie sie im deutschen Sprachraum (mit internationaler Wirkung) wesentlich durch Niklas Luhmann geprägt wurde. Luhmann (1987) beschreibt Gesellschaft als »Soziale Systeme«. Mit dieser Theorie kann anhand der von Luhmann dargestellten Differenz von System und Umwelt genauer dargestellt werden, was Biermann hinsichtlich der Sozialisationstheorie mit Milieu, Kulturkreis etc. herausgearbeitet hat. Luhmann schreibt, »daß die Umwelt immer sehr viel komplexer ist als das System selbst«1 (S. 249). Wird nun also ein bestimmter Lebenszusammenhang als ein System verstanden, so stellen alle Lebenszusammenhänge anderer die Umwelt dar, die zusammen das »Gesamtsozialsystem der Gesellschaft« (ebd.) bilden. Für den einzelnen Menschen ist der prägende Lebenszusammenhang z. B. die Familie, das Wohnumfeld, die Einkommensverhältnisse der Eltern etc. Er ist ihm näher als der anderer Menschen aus anderen Lebenszusammenhängen. Er steht jedoch in einem Zusammenhang zu den jeweils anderen sowohl in der Differenz als auch in der Anknüpfbarkeit an System und Umwelt, die dazu beitragen, das eigene System zu konstituieren. Die Differenz zur Umwelt ist hierbei der Faktor, der das eigene System für sich selbst und die Umwelt sichtbar werden lässt.

Da also das Soziale wesentlich durch die Differenz geprägt ist, versuchen Soziale Systeme, diese zu kultivieren. Sie machen die Differenz für die Umwelt sichtbar und erlangen so Identität. Und weil dies alle Systeme tun, stehen Systeme niemals still, sondern reproduzieren Vorhandenes und integrieren Neues, sofern es der Erhaltung des eigenen Systems dient. Auf diese Weise gibt es sowohl spezifische, als auch übergreifende Aspekte innerhalb von Sozialen Systemen. Ein Beispiel: Wird ein Kulturkreis als eine Klammer angenommen, so gibt es z. B. in der Bundesrepublik eine alle Sozialen Systeme gleichermaßen betreffende Schulpflicht. Diese ist somit integraler Bestandteil aller in der Klammer befindlichen Systeme. Die Ausgestaltung dieser Pflicht ist dann jedoch systemabhängig, was Begriffe wie »Bildungsgefälle« anzeigen.

Mit diesen theoretischen Herleitungen ist skizziert, wie das Soziale auf der Ebene des nicht reflektierten Handelns erklärt werden kann. Es ist nun angezeigt, auf den Raum zu sprechen zu kommen.

Die räumliche Verortung des Sozialen geschieht auf den ersten Blick durch die Zuordnung zu Wohnquartieren. Grundgelegt ist hierbei erneut eine Differenz – z. B. zwischen einem Hochhausblock und einer Villensiedlung. Mit dieser Differenz ist gezeigt, dass die räumliche Lage die soziale Lage von Menschen bestimmt, mit der überwiegend eine ökonomische Potenz gemeint ist. Das in der Theorie genutzte Synonym dieser Differenz in diesem Zusammenhang lautet »soziale Ungleichheit«.

»Von Sozialer Ungleichheit sprechen wir, wenn Menschen mit so genannten wertvollen Gütern ihrer Bezugsgesellschaft nicht ausreichend ausgestattet sind. Zu diesen Gütern zählen die materielle Ausstattung, Bildungsabschlüsse und gesunde Lebens- und Arbeitsbedingungen […]« (Ansen 2008, S. 57).

Räumlich lässt sich die Differenz der sozialen Ungleichheit in dem plakativen Beispiel von Hochhausblock und Villensiedlung allein daran aufzeigen, dass im Hochhausblock viele Menschen wenig Raum und in der Villensiedlung wenige Menschen viel Raum zur Verfügung haben. Der Raum ist somit ein Ausdruck sozialer Ungleichheit. Es ist in diesem Beispiel auch möglich, die soziale Ungleichheit in der Differenz von verdichtetem Raum und gestreutem Raum zu verdeutlichen. Im Fall dieser Differenz handelt es sich um ein soziales Phänomen, das Ungleichheit in Bezug auf Räumlichkeit als Sozialräumlichkeit aufzeigt.

Gut dargestellt ist dieses Phänomen in der Sinus-Milieustudie.2

Quelle: http://www.sinus-institut.de/sinus-loesungen/sinus-milieus-deutschland/

In dieser regelmäßig vom Sinusinstitut – letztlich zu Marktforschungszwecken und somit für die Soziale Arbeit unverdächtigen – durchgeführten Studie wird gezeigt, wie soziale Ungleichheit sozialräumlich wirkt. So wird das »Prekäre Milieu« beschrieben als:

»Die um Orientierung und Teilhabe (›dazu gehören‹) bemühte Unterschicht: Wunsch, Anschluss zu halten an die Konsumstandards der breiten Mitte – aber Häufung sozialer Benachteiligungen, Ausgrenzungserfahrungen, Verbitterung und Ressentiments« (http://www.sinus-institut.de/fileadmin/user_data/sinus-institut/Bilder/sinus-mileus-2015/2015–09–25_Informationen_zu_den_Sinus-Milieus.pdf, S. 16, Zugriff am 19.03.2016)

Dem stehen [auch (geo-)graphisch] Milieus wie »liberal-intellektuell« und »expeditiv« gegenüber. Sie werden in der Studie wie folgt beschrieben:

»Liberal-intellektuelles Milieu3 Die aufgeklärte Bildungselite: kritische Weltsicht, liberale Grundhaltung und postmaterielle Wurzeln; Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstentfaltung« (ebd.)

»Expeditives Milieu4 Die ambitionierte kreative Avantgarde: Transnationale Trendsetter – mental, kulturell und geografisch mobil; online und offline vernetzt; nonkonformistisch, auf der Suche nach neuen Grenzen und neuen Lösungen« (ebd.).

Es muss nicht betont werden, dass die Grundlage sozialer Ungleichheit und damit einhergehende sozialräumliche Verschiedenheit aus finanziellen (Nicht-) Möglichkeiten herzuleiten ist. Da dieser Aspekt von mir an anderer Stelle in diesem Band dezidiert in den Blick genommen wird, kann er hier vernachlässigt und auf die Sozialräumlichkeit reduziert werden. Diesbezüglich wird im Vergleich der unterschiedlichen Milieus deutlich, dass die für das »expeditive Milieu« nachgewiesene »geographische Mobilität« eine deutliche sozialräumliche Differenz zum »prekären Milieu« darstellt. Während die einen danach streben, ihr geografisches soziales Umfeld zu verlassen, respektive sich aufgrund von Mobilitätsmöglichkeiten als global definieren (können), streben (womöglich) die anderen danach, wenigstens Anschluss an den geografischen und sozialen Nahraum zu finden. Hierauf wird im Kapitel »Ökonomie und Solidarität« noch genauer eingegangen. An dieser Stelle werden jetzt weitere Sozialraumdefinitionen auf der Grundlage des Postulats der sozialen Ungleichheit vorgestellt.

Im Kontext aller Sozial- und in Teilen der Geisteswissenschaften ist das Fragen nach sozialer Ungleichheit ein Kernthema. Und weil Wissenschaften im System Bildung als einzelne Disziplinen wieder Teilsysteme sind, liegt die Differenz zu anderen Disziplinen u. a. in unterschiedliche Fragestellungen.

So fragt der Historiker Jürgen Osterhammel (2013) in seinem Buch Die Verwandlung der Welt – Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, nachdem er analog zum hier dargestellten Begriffsphänomen des zusammengesetzten Wortes Sozialraum auf den Zeitraum verweist:

»Gibt es überhaupt reinen Raum oder nur relationalen Raum, der sich auf die Lebewesen bezieht, die jeweils in ihm existieren? Ist Raum nicht überhaupt erst dann ein Thema […], wenn Menschen ihn zu gestalten versuchen, wenn sie ihn mit Mythen beladen, ihm einen Wert zuschreiben? Kann Raum etwas anderes sein als ein Ensemble von Orten?« (S. 130)

Und er antwortet:

»Eine Epoche ist ihrem Wesen nach zeitlich definiert. Zugleich aber lassen sich ihre räumlichen Konfigurationen beschreiben. Das wichtigste Grundmuster solcher Konfigurationen ist das Verhältnis von Zentren und Peripherien.« (S. 131)

Das Zentrum sei dabei der Sitz von Macht, Kreativität5 usw., indes Peripherien in Abhängigkeit von diesen »Vorgaben« stünden. Auf der anderen Seite seien von Peripherien durchaus Impulse ausgegangen; letztlich aber in der Konsequenz, dass die Peripherie selbst zum Zentrum wird. Damit folgt Osterhammel dem berühmten Diktum Spenglers, dass Weltgeschichte Stadtgeschichte sei (vgl. Spengler 1997, S. 40).

Dieser historische Blick auf (Zeit-)Räume (hier auch Orte) ist, wie den Fragen Osterhammels entnommen werden kann, zugleich sozialräumlich zu verstehen. Sie knüpfen dabei durchaus an die These des Soziologen Pierre Bourdieu (1998, S. 15) an, dass das Reale relational sei. Etwas einfacher formuliert, stellt Bourdieu die These auf, dass Realität Beziehung sei, wodurch in der Umkehrrechnung herauskommt, dass Beziehungen die Realität bilden.6 Dies vorausgesetzt, zielt Bourdieu in seiner Theorie des sozialen Raums jedoch in andere Kategorien. Er schreibt:

»Der soziale Raum ist so konstruiert, daß die Verteilung der Akteure oder Gruppen in ihm der Position entspricht, die sich aus ihrer statistischen Verteilung nach zwei Unterscheidungsprinzipien7 ergibt, […], nämlich das ökonomische Kapital und das kulturelle Kapital. Daraus folgt, daß die Akteure umso mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, je näher sie einander diesen beiden Dimensionen nach sind, und umso weniger Gemeinsamkeiten, je ferner sie sich in dieser Hinsicht stehen.« (S. 18)

Es mag (nicht ausschließlich bei Bourdieu) eine gewagte Reduktion sein, lediglich auf zwei Unterscheidungsmerkmale zu verweisen. Es genügt jedoch an dieser Stelle der Hinweis auf die oben beschriebene Differenz zwischen Villensiedlung und Hochhausblock, respektive die in der Sinus-Studie dargestellten Milieus, um diese Theorie des sozialen Raums nachvollziehen zu können.

Die Soziologin Martina Löw (2012, S. 224) schließt in ihrem Buch Raumsoziologie an die Bourdieu’sche Terminologie an, wenn sie schreibt: »Raum ist eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten.«8 Und freilich ohne direkte Bezugnahme antwortet sie auf die Frage von Osterhammel, ›ob Raum etwas anderes als ein Ensemble von Orten sein könne?‹ wenn sie darlegt:

»Orte werden durch die Platzierung sozialer Güter oder Menschen kenntlich gemacht […]. Der Ort ist somit Ziel und Resultat der Platzierung und nicht wie Güter/Menschen selbst platziertes Element. Orte können allerdings als Ensemble sozialer Güter in Synthesen eingehen. Die Konstitution von Raum bringt systematisch Orte hervor, so wie Orte die Entstehung von Raum erst möglich machen.« (ebd.)

Daraus geht hervor, dass es eine Wechselwirkung von Ort und Raum gibt. Diese besteht seit den Anfängen der Menschheit. Auf der Suche nach Schutz vor Wetter, Tieren und anderen Menschen suchten Menschen nach natürlichen Räumen, die sie in Form von Höhlen fanden. Der Raum einer Höhle reichte jedoch nicht aus, um dort leben zu können. Die örtlichen Begebenheiten mussten als wechselseitige Bedingung die Versorgungsmöglichkeit mindestens mit Trinkwasser und Nahrung bieten. Als dann die Menschen begannen, selbst Räume zu schaffen, wurden diese auf der Grundlage von örtlichen Begebenheiten platziert (Löw). Aus diesem Grund liegen bis heute viele Orte z. B. an einem Fluss. Im Löw’schen Sinn sind dort Menschen und Güter platzierte Elemente, sodass aus Raum und Ort eine soziale Dimension resultiert. Und zwar die Dimension sozialer Ungleichheit. Sei es mittelalterlich manifestiert durch Burgen und Schlösser oben auf dem Berg und den immer weiter ins Tal reichenden und daher weniger komfortablen und vor Angriffen geschützten Ansiedlungen des (wiederum nach Finanzmitteln unterteilbaren) Volkes, sei es durch die gestreute Villensiedlung und den verdichteten Hochhausblock. Oder sei es durch die Differenz, als Reisender im Bahnhof einen Coffee to go beim Bäcker zu kaufen oder in der Bahnhofsmission auf der Suche nach Wärme einen Kaffee zu erbitten.

Die beiden Sozialraumforscher Fabian Kessl und Christian Reutlinger (2010, S. 21) stellen in diesem Zusammenhang fest, [dass] »die raumtheoretische Grundannahme […] lautet: Räume sind keine absoluten Einheiten, sondern ständig (re)produzierte Gewebe sozialer Praktiken.« Deshalb gäbe es auch keinen absoluten Raum, sondern der Raum sei relativ. Die Kernthese bei Kessl und Reutlinger besteht darin, dass sie, überleitend auf die handlungstheoretische Perspektive der Sozialen Arbeit, die Notwendigkeit beschreiben, die Materialität des Raums mit der von Menschen konstruierten Perspektive auf diese Räume zu verknüpfen. Sie schreiben:

»Konstruktivistische und materialistische raumtheoretische Einsichten sind miteinander zu vermitteln. Die Rede vom Raum und die Ordnung des Räumlichen sind keine unabhängigen Ebenen, sondern notwendig aufeinander verwiesen. Erforderlich ist deshalb ein relationaler Begriff9 des Raums.« (S. 28)

Werden alle hier geschilderten Theorieansätze zusammengefasst, sind die Begriffe Raum, Ort, Mensch(en), Relationalität und Güter besonders hervorzuheben, die in ihrer Wechselwirkung den Kern sozialraumtheoretischer Auseinandersetzung bilden. Da in der sozialwissenschaftlichen Forschung der Fokus auf den Menschen und ihren Interaktionen liegt, kann somit gesagt werden, dass Raum, Ort und Güter das Beziehungsgeflecht (Relationalität) von Menschen wesentlich beeinflussen. Wie dies geschieht, wird von dem Sozialpädagogen Hans Thiersch mit seiner Theorie der Lebensweltorientierung aufgegriffen, die im Folgenden dieses Kapitel abschließend und zum nächsten überleitend dargestellt wird.

In den einleitenden Bemerkungen zu ihrem Buch Praxis Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit (2008, S. 14 f.) schreiben die Herausgeber Klaus Grundwald und Hans Thiersch:

»Das Konzept Lebensweltorientierung erhält eine besondere Relevanz angesichts der neueren gesellschaftlichen Entwicklungen10, wie sie unter den Titeln der reflexiven Moderne, aber auch der Gesellschaft der Unübersichtlichkeit, der Risikostruktur oder neuer Anomien charakterisiert werden […]. Gesellschaft ist bestimmt durch sich diversifizierende und wieder zunehmende soziale Ungleichheiten […], ebenso aber durch Verunsicherung lebensweltlicher Erfahrungen in Deutungs- und Handlungsmustern im Kontext der Individualisierung der Lebensführung und der Pluralisierung von Lebenslagen.«

Mit diesem Zitat wird der Kreis des oben postulierten und an Beispielen wie Villensiedlung und Hochhausblock verdeutlichten sozialwissenschaftlichen Kernthemas der »sozialen Ungleichheit« geschlossen. Wesentlich ist darüber hinaus für die Sozialraumtheorie, auf die Differenz zwischen Lebenswelt und Lebenslage zu fokussieren. Diese besteht darin, dass nach Thiersch die Lebenswelt die Perspektive beschreibt, die ein Individuum auf seine eigene Lebenssituation hat. Die Lebenslage hingegen ist in Bezug dazu die vermeintlich objektive Einschätzung der Lebenssituation durch Dritte. Diese Differenz lässt sich erneut gut an dem Beispiel von Hochhausblock und Villensiedlung verdeutlichen.

Anschließend an Bourdieu und Löw ist zu vermuten, dass die Lebenslage von Menschen im Vergleich der beiden Wohnoptionen anhand von Güterverteilungen vorgenommen würde. Bei einer solchen Wahrnehmung würde dann durchaus wertend die Lebenslage von Menschen, die in einer Villa leben, als besser eingeschätzt als die von jenen, die im Hochhausblock wohnen. Lebensweltlich, also bezogen auf die Selbstwahrnehmung der Lebenssituation, muss diese Einschätzung jedoch nicht deckungsgleich sein. Der wesentliche Aspekt, auf den Thiersch in Bezug auf seinen lebensweltorientierten Ansatz immer wieder hinweist, besteht darin, dass im professionellen Handeln die Lebenslage grundsätzlich berücksichtigt, die Lebenswelt jedoch handlungsleitend sein muss.

Der letzte Hinweis macht deutlich, dass der sozialpädagogische Ansatz von Thiersch – über die Handlungstheorie hinaus – bereits praxisbezogen ist. Deshalb wird dieser Aspekt, verwoben mit weiteren theoretisch-methodischen Ansätzen, im folgenden Kapitel beschrieben.

3. Theoriebezogene Methoden im sozialräumlichen Kontext

Prominent ist dieses Kapitel mit Wolfgang Hinte einzuleiten, der als einer der wichtigsten Vertreter des umfangreichen »Methodenkoffers«11 hinsichtlich der Arbeit im sozialräumlichen Kontext zu nennen ist. Nicht selten der »klassischen Trias«12 der Sozialen Arbeit, bestehend aus Einzelfallhilfe, Gruppen- und Gemeinwesenarbeit (GWA)13 zugeordnet, ist er dem letztgenannten Ansatz sowohl als Theoretiker und Akteur als auch als wesentlicher Fortschreiber und Überleiter der von ihm am »Institut für Stadtbezogene Soziale Arbeit und Beratung« (ISSAB) entwickelten Sozialraumorientierung zuzuordnen. In seinem gemeinsam mit Helga Treeß veröffentlichten Buch Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe (2007) legt er sowohl den Bruch mit der GWA als auch die Sozialraumorientierung als Handlungsalternative14 dar, indem er zunächst von der Krise der GWA berichtet (S. 24 ff.). Ausgehend davon, dass die GWA ein Ansatz sei, mit dem professionelle AkteurInnen versuchen, durch »soziale Interventionen« z. B. in so genannten Brennpunkten Potenziale und Ressourcen von dort lebenden Personen und Gruppen zu stärken, sei die Krise dieses Ansatzes Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre u. a. dadurch ausgelöst worden, dass es zu Streitigkeiten zwischen unterschiedlichen Interessengruppen wie Politik und Freien Trägern gekommen sei (ebd.). Ergänzend muss gesagt werden, dass das Paradoxon der GWA letztlich unauflöslich darin besteht, dass die AdressatInnen zwar hinsichtlich ihrer eigenen Möglichkeiten gestärkt werden sollen, dies jedoch unter dem Postulat, diese nur durch professionelle, ggf. auch dauerhafte Hilfe zu erlangen.

Dieser Gemengelage aus Interessenkonflikten und »Pseudo-Empowerment« stellt Hinte (2007, S. 30 f.) die Sozialraumorientierung entgegen, indem er mit zwei Wesensmerkmalen sozialräumlicher Interpretation argumentiert.

»Zum einen15 wird der Sozialraum definiert durch die Individuen selbst. Menschen handeln […] immer auf der Grundlage ihrer Wahrnehmung der Bedingungen und Ereignisse ihrer definierten Bedeutungen im jeweiligen Feldzusammenhang […]. […] Platt gesagt: jede/r sieht die Dinge anders. Im Grunde gibt es so viele Sozialräume wie Individuen. Die Art und Weise, wie sich Menschen etwa ein räumliches Gebiet aneignen, was sie ›aus ihm machen‹, wie sie es für sich nutzen, wie sie mit Einschränkungen umgehen, wie sie es herrichten […] und wie sie es anreichern, ist für sozialräumliches Arbeiten von großer Bedeutung.«

Das Zitat verdeutlicht eine Nähe zum Thiersch’schen Ansatz der Lebensweltorientierung. In beiden geht es darum, sich handlungsleitend an dem zu orientieren, was Menschen vorgeben. Doch in Bezug auf Lebenswelt die Lebenslage als im Grunde zweiten Faktor der Einordnung der Lebenssituationen von Menschen zu interpretieren, ist – quasi als professionelle »Draufsicht« – eine grundsätzlich notwendige Vergleichsgröße in der Sozialraumorientierung – nach Hinte deutlicher im ersten Merkmal verhaftet. Hinte schreibt:

»Zum anderen16 wird der Sozialraum als Steuerungsgröße genutzt, definiert von Institutionen, die bezogen auf ein Wohngebiet Personal und Geldströme konzentrieren. Diese großen räumlichen Einheiten erfassen nie präzise die zahlreichen und vielfältigen individuellen Definitionen von Sozialräumen, sie werden jedoch sinnvollerweise geschnitten anhand möglichst plausibler und nachvollziehbarer, subjektiv vorgenommener Gebietsdefinitionen und sind somit Bindeglied der verwaltungsseits notwendigen Ordnungskategorie einerseits und den lebensweltlich vorgenommenen Raumdefinitionen andererseits.« (S. 32)

In diesem Zitat zeigt Hinte eindrücklich die Einbindung der Lebensweltorientierung in das Konzept der Sozialraumorientierung, indem er die Bedeutung des »jede/r sieht die Dinge anders« (S. 30) als zentrales Merkmal der Handlungsorientierung in die institutionelle (und organisationale) Ebene überträgt. Zugleich deutet er im Zitat an, dass diese Herangehensweise für professionelle AkteurInnen herausfordernd ist, weil sie (wie üblich) im (mindestens) »doppelten Mandat«17 der Sozialen Arbeit agieren. Für die Bewältigung dieser Herausforderung schlägt Hinte insgesamt fünf Prinzipien vor (vgl. u. a. Fürst/Hinte 2014, S. 15), die handlungsorientiert die Basis jeglicher sozialraumorientierter Intervention beim Willen des Menschen (AdressatIn) festlegen (1) und über Aktivierung (2), Ressourcenorientierung (3), zielgruppen- und bereichsübergreifendes Handeln (4) zur Vernetzung im Sinn von Kooperation zwischen sozialen Diensten und Verwaltung (5) führen. Letzteres dann auch über juristische Felder hinweg; denn die sozialräumliche Nähe von Familienmitgliedern ist schwerlich in z. B. Jugendhilfe und Eingliederungshilfe zu differenzieren.

Für eine methodische Differenzierung der Sozialraumorientierung sind als weiterer prominenter Beitrag die beiden Bände Sozialer Raum und Soziale Arbeit (2007) von Früchtel, Cyprian und Budde zu nennen. Die AutorInnen legen im handlungstheoretischen Sinn Staub-Bernascinis ein »Textbook« und ein »Fieldbook« vor. Kern ihres Ansatzes ist das so genannte SONI-Schema.

Die Abkürzung SONI steht für:

nach: Früchtel/Cyprian/Budde 2007, S. 27

Eingebettet ist der Ansatz von Früchtel, Cyprian und Budde in die Sozialraumorientierung, für die sie wesentlich auch Hinte zur Grundlage nehmen; also das, was Sozialraum ist, als handlungsleitend annehmen. Die daraus (schon bei Hinte) resultierende Frage (»Für wen handlungsleitend?«) wird von den AutorInnen auf die AkteurInnen der Sozialen Arbeit übertragen. Sie sind es, die in ihrem Agieren den Rollenauftrag haben, die einzelnen Aspekte des SONI-Schemas als Handlungsfelder in den Blick zu nehmen:

Nach: Früchtel/Cyprian/Budde 2007, S. 27

Bei der Beschreibung der einzelnen Felder greifen die AutorInnen neben Hinte umfänglich auf hier z. T. schon genannte Theorieansätze zurück. Als Sozialstruktur definieren sie:

»Die örtliche Auslegung des Sozialrechts, die sozialstaatliche ›Philosophie‹ der kommunalen Sozialpolitik, Normalitätsvorstellungen und Normalbiographien, die öffentliche Meinung, Werte, Normen und Traditionen.« (Früchtel/Cyprian/Budde 20071, S. 25)

Mit Organisation sei gemeint, dass Soziale Arbeit allgemein an Organisationen gekoppelt ist. Dies in Form von öffentlichen Verwaltungen, die im Hilfesystem mit Freien Trägern und deren Einrichtungen und Diensten Leistungen sicherstellen (ebd.). Das Netzwerk ist in Bezug auf Sozialraumorientierung bei Früchtel, Cyprian und Budde als der diesbezüglich zentrale Ansatz zu identifizieren. Sie schreiben:

»Den Sozialen Raum kann man sich als Netz vorstellen, dessen Knotenpunkte die einzelnen Menschen und Organisationen symbolisieren, während die Verbindungsmaschen die Beziehungen zwischen ihnen sind, die als Förderbänder gedacht werden können, auf denen die vielfältigsten Austauschprozesse ablaufen und unter der Hand die Integration der Individuen in die Gesellschaft erfolgt.« (Früchtel/Cyprian/Budde 20071, S. 26)

Der Begriff des Individuums wird von den AutorInnen weit gefasst, denn sie verstehen darunter »Fallarbeit«. Mit dieser verbinden sie »die Arbeit mit einzelnen Hilfesuchenden, mit Familien, mit kleinen Gruppen, mit einzelnen Anwohnern, Teilnehmern, Volunteers oder Haushalten« (ebd.).

Leitend für alle vier Handlungsfelder ist das Empowerment-Konzept, hinsichtlich dessen sich die AutorInnen wesentlich auf Herriger18 berufen, der das deutschsprachige Standardwerk zum Thema verfasst hat.

Früchtel, Cyprian und Budde machen mit ihrem Ansatz, über das SONI-Schema hinaus, sowohl in der Binnen- als auch der weiterführenden Differenzierung analog zu Hinte deutlich, dass in der sozialräumlichen Arbeit ein hohes Maß an Komplexität berücksichtigt werden muss. Das Schema selbst kann dabei als Versuch der Minderung dieser Komplexität verstanden werden, um Handlungsoptionen für AkteurInnen der Sozialen Arbeit aufzuzeigen.

Einen anderen Weg, wenn auch hinsichtlich des sozialarbeiterischen Handelns die fünf Prinzipien von Hinte als Option einbindend, gehen Zippert und der Autor dieses Beitrags. In einem wesentlich von Zippert erarbeiteten 6(-10)-Felder-Modell versuchen sie zunächst nicht, die Komplexität zu mindern, sondern durch das Aufzeigen von Komplexität sozialräumliche Zusammenhänge so darzustellen, dass dadurch, jeweils mit Blick auf das Gesamtsystem, Methodenanpassungen aus dem großen Spektrum der hierfür angebotenen Literatur19 vorgenommen werden können.

6(-10)-Felder-Modell von Gesellschaft, Eigene Graphik

Dieses Schema dient als Schablone, die sozusagen über soziale Lebenswelten, -lagen und -räume von Menschen gelegt werden kann, womit sie als individuelle Abgleichmöglichkeit dient. Darüber hinaus reduzieren Zippert und Dieckbreder nicht auf die Perspektive der professionellen AkteurInnen, sondern stellen die Frage nach weiteren Perspektiven. Wird z. B. aus der Rolle einer Sozialarbeiterin eine soziale Situation in den Blick genommen? Und hier vielleicht sogar aus dem sozialräumlichen Kontext einer Bahnhofsmission? Dann kommt zusammen mit anderen Perspektiven, z. B. der von Reisenden, etwas anderes heraus. In diesem Zusammenhang ist auch bei Zippert und Dieckbreder die Netzwerkarbeit zentral, wenn in diesem Kontext dann die Verknüpfungsoptionen auf der Grundlage von Differenzen und Gemeinsamkeiten von Sozialen Systemen herausgearbeitet werden. Durch die Beibehaltung der Komplexität, die in Bezug auf andere hier vorgestellte Ansätze die Realität der Relationalität so repräsentiert, dass nicht der eine seine Verschiedenheit gegenüber anderen zugunsten dessen und/oder derer aufgeben muss, sondern Gemeinsamkeit und Differenz nebeneinander, weil sichtbar, bestehen bleiben können, entsteht Handlungsfähigkeit sowohl für professionelle AkteurInnen, als auch für deren AdressatInnen und Nicht-AdressatInnen. Denn als Grundbedingung wird jegliche Beziehung und Deutung aller sozialräumlich Involvierten paritätisch aufgestellt, so dass die sozialräumliche Gestaltbarkeit auch mit Blick auf Empowerment, Inklusion usw. zu einem Miteinander werden kann. Grundbedingung ist hierbei jedoch die Erreichbarkeit. Denn letztlich sind die Differenzen z. B. zwischen dem prekären und dem expeditiven Milieu nun einmal deutlich höher als deren Gemeinsamkeiten. Dass es diese jedoch gibt, kann mit diesem Modell herausgearbeitet werden, sodass (sozialgeo-)grafisch womöglich etwas anderes herauskommt, als es in der Sinus-Darstellung der Fall ist, die die intermediären Aspekte sozialräumlicher Perspektiven nicht berücksichtigt.

4. Sozialraum am Beispiel der Bahnhofsmission

Grundbedingung der Bahnhofsmission ist der Bahnhof. Räumlich gesehen ist die Bahnhofsmission ein Gebäude innerhalb vom oder am Gebäude Bahnhof – also Raum im Raum oder Raum am Raum. Der Bahnhof selbst ist dabei zunächst ein Ort, der ausgewählt wurde, um Ankunft, Abfahrt oder Bindeglied für und zu anderen Orten zu sein. Das Bahnhofsgebäude wird in diesem Zusammenhang zur Manifestation des einst ausgewählten Ortes und dabei zur Assoziation des Ankommens, Verlassens oder Aufenthalts, nicht aber des Verweilens über Wartezeiten hinaus.

Die Räumlichkeit des Bahnhofs ist also auf temporäre Aufenthalte von Menschen ausgelegt, die zunächst für den oben beschriebenen Schutz vor z. B. Wetter sorgt, aber auch organisatorischen Möglichkeiten wie z. B. Fahrkartenverkauf dient. In einer sekundären Bedeutung kann dem Bahnhof dann, wie ebenfalls oben beschrieben, eine durchaus sozialräumliche Symbolik unterstellt werden – wenn ich z. B. weiß, dass ich nicht einfach in Paris, sondern von Köln aus am Gare du Nord ankommen werde. Tertiär kommen in der heutigen Zeit, wie es u. a. Nikles und Zippert in ihren Beiträgen in diesem Band zeigen, dann noch Aspekte wie Shopping-Malls hinzu. All dies ändert jedoch nichts an der Assoziation des Bahnhofs als einem Ort des Temporären. Im Gegenteil, die Einkaufsoptionen schließen daran an. Das Ausmaß der Optionen ist dabei an die Größe eines Bahnhofs gekoppelt, die wiederum vom Bahnhofsumfeld abhängig ist, was erneut zum Aspekt des verdichteten und gestreuten Raumes führt.

Im Zusammenhang von verdichtetem und gestreutem Raum entstehen am Ort Bahnhof unterschiedliche (Sozial-)Räumlichkeiten, für die dann auch die Bahnhofsmission ein Beispiel ist. Dabei kommt auch dem Zeitraum und der Raumerschließung (beides Osterhammel) eine wichtige Bedeutung zu.

Zunächst ist der Bahnhof selbst, wie eben skizziert, in Bezug auf Zeit ein Raum, der je nach Uhrzeit und Wochentag unterschiedlich stark frequentiert, respektive verdichtet oder gestreut von Menschen aufgesucht wird. Einen zusätzlichen Faktor stellt die äußere Verdichtung oder Streuung dar. Schlicht: Die äußere Verdichtung der Stadt Berlin wirkt in den Berliner Hauptbahnhof ebenso verdichtend, wie die äußere Streuung des Kreises Warendorf streuend in den Bahnhof der Stadt Warendorf wirkt. Was bedeutet das für die Bahnhofsmission?

Um diese Frage beantworten zu können, muss erneut auf die Grundbedingung des Bahnhofs verwiesen werden. Dieser ist, wie gezeigt, ein Raum an einem Ort, der sozialräumlich betrachtet mit der Assoziation des temporären Verweilens assoziiert ist. Die Konsequenzen bestehen darin, dass individuelle Sozialräume z. B. einer Reisenden auf dem Weg von Hamm nach Berlin und eines Reisenden auf dem Weg von Hamm nach München für eine kurze Begegnung im Quadrat der Smoking Area sorgen können, weil beide rauchen und die Züge vom selben Bahnsteig abfahren. Vielleicht kommt es zum Blickkontakt, vielleicht zu einem kurzen Gespräch, weil z. B. der Reisende sein Feuerzeug vergessen hat und die Reisende nach einem solchen fragt. Wenn aus dieser Situation keine filmreife Romanze entsteht, ist zu vermuten, dass in der Folge beide in ihre Züge steigen, ihre Laptops vor sich aufklappen und im sozialräumlichen Kontext des Zugabteils die vorangegangene Szene umgehend vergessen. Sie war und bleibt bedeutungslos.

Die Bahnhofsmission – als Raum im oder am Raum – ist der Gegenentwurf zur eben beschriebenen Szene. Und sie ist auch der Gegenentwurf zum Bahnhof insgesamt. Als Gast, wie die BesucherInnen der Bahnhofsmissionen genannt werden, mag die Assoziation auch hier temporäres Verweilen sein. Dies jedoch mit einer gedehnteren Zeitvorstellung oder -wahrnehmung und zudem mit dem Bewusstsein der Begegnung. Anders als es beim Bahnhof der Fall ist, ist die Bahnhofsmission ein Ort, mit dessen Räumlichkeit verbunden wird, in ihm Zeit verbringen zu können und zu dürfen, während diese im Bahnhof gemeinhin verbracht werden muss. Welche Bedeutung diese Differenz hat, macht Peter Bichsel in seiner sehr kurzen Erzählung Zeit (1995) eindrücklich klar. Er schreibt:

»Der Lebenslängliche, befragt, wie er das aushalte oder mache all diese Jahre im Gefängnis, antwortet: ›Weißt du, ich sage mir immer, diese Zeit, die ich hier verbringe, müßte ich draußen auch verbringen«.« (S. 69)

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, auf die verschiedenen Perspektiven (z. B. philosophisch oder physikalisch) einzugehen, die in Bezug auf Zeit möglich wären. Aus der minimalistischen Darstellung, wie Bichsel sie vornimmt, lässt sich für diesen Beitrag ableiten, dass Leben in Zeit stattfindet, die individuell als Lebensspanne von Geburt bis Tod definiert werden kann. Leben ist jedoch mehr als lediglich das Vergehen von Zeit; was letztlich die Reduktion auf den quantitativen Aspekt bedeutet. Diese Spanne wäre für sich ausgesprochen kurz, da Menschen ohne die Unterstützung Dritter bereits die Säuglingsphase nicht überleben würden. Daraus folgt, dass das Verbringen von Zeit wesentlich auch qualitative Bedeutungen haben muss. Und dann macht es sehr wohl einen Unterschied, ob ich im Gefängnis bin oder nicht. Und es macht ebenso einen Unterschied, ob ich den Bahnhof betrete, weil ich ankommen, verreisen, die Shoppingmöglichkeiten nutzen oder gezielt die Bahnhofsmission aufsuchen möchte.

Es werden in diesem Buch verschiedene Gründe aufgezeigt und in sozialräumliche Kontexte gebracht, die Menschen in die Bahnhofsmission führen. Deshalb ist es möglich, an dieser Stelle auf Beispiele zu verzichten. Deutlich geworden ist jedoch bereits jetzt die sozialräumliche Differenz, die sich am gewählten Beispiel für dieses Buch, die Bahnhofsmission, zeigen lässt. Zur Verdeutlichung: Man lege z. B. das 6(-10)-Felder-Modell (symbolisch) über eine Geschäftsreisende, ein Paar, das in den Urlaub fährt, einen Schaffner, die Verkäuferin aus dem Buchladen, einen Gast und eine ehrenamtlich Tätige der Bahnhofsmission. Dann wird umgehend deutlich, wie im Zusammenspiel von Zeit, Ort, Raum und Relationalität sozialräumlich unterschiedliche Realitäten entstehen.

5. Fazit und Ausblick

Es wurde gezeigt, dass in der Theorie die Deutung des Sozialraums in vergleichbarer Weise diskutiert wird. Hierbei konnten aus Platzgründen lediglich Ausschnitte aufgenommen werden. Zusammenfassend ist zentral festzuhalten, dass mit sozialen Räumen keine Zimmer gemeint sind, sondern die subjektiven Wahrnehmungen sozialer Gefüge. Dazu gehören dann durchaus auch Räume im physischen Sinn, wie z. B. die Wohnbebauung, die Ausdruck des Sozialen ist, da sich Menschen diese in einem Selbstverständnis (Lebenswelt) aneignen bzw. von anderen, Mächtigeren angeeignet und instrumentalisiert/funktionalisiert werden.

Der elementarste Raum ist jedoch der, der zwischen Menschen entsteht. Der Soziologe Georg Simmel beschrieb dies in seinem Aufsatz Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft (1992, S. 689) wie folgt:

»Die Wechselwirkung unter Menschen wird – außer allem, was sie sonst ist – auch als Raumerfüllung empfunden. Wenn eine Anzahl von Personen innerhalb bestimmter Raumgrenzen isoliert nebeneinander hausen, so erfüllt eben jede mit ihrer Substanz und ihrer Tätigkeit den ihr unmittelbar eigenen Platz, und zwischen diesem und dem Platz der nächsten ist unerfüllter Raum, praktisch gesprochen: Nichts. In dem Augenblick, in dem diese beiden in Wechselwirkung treten, erscheint der Raum zwischen ihnen erfüllt und belebt.«