Das Labyrinth der Königin - Maya Shepherd - E-Book

Das Labyrinth der Königin E-Book

Maya Shepherd

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Beschreibung

Der Krieg der Farben führt in ein Labyrinth, das von einer dunklen Macht erschaffen wird. Eine Macht, die ihre Augen überall in der Welt hat und sich am Leid anderer ergötzt. Dieser magische Ort unterliegt den Bedingungen einer bösen Königin und ist zu schrecklich, um in der Realität existieren zu können. Aber im Reich der Träume sind der Grausamkeit keine Grenzen gesetzt. Ein letzter Kampf steht den Sieben bevor. Wird die Welt danach eine andere sein?

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Inhaltsverzeichnis

Was zuvor geschah

Schuld und Unschuld

Spindelkuss

Schutt und Asche

Eine Ewigkeit für ein Leben

Ein Gespräch mit dem Teufel

Der letzte Vampirjäger

Brüder

Spielregeln

Dornröschen

Das Labyrinth der Königin

Rugedigu

Wolfskralle

Ein Spiegel ohne Glas (Margery)

Eine unerwartete Wendung

Schlussworte der Autorin

Danksagung

Maya Shepherd

Die Grimm Chroniken 25

„Das Labyrinth der Königin“

Copyright © 2021 Maya Shepherd

Marion Schäfer, c/o SP-Day.de Impressum-Service, Dr. Lutz Kreutzer, Hauptstraße 8, 83395 Freilassing

[email protected]

Coverdesign: Jaqueline Kropmanns

Lektorat: Sternensand Verlag

Erstes Korrektorat: Martina König

Zweites Korrektorat: Jennifer Papendick

Illustration „Eva“: Laura Battisti – The Artsy Fox

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Facebook: www.facebook.de/MayaShepherdAutor

Instagram: maya.shepherd

E-Mail: [email protected]

In Erinnerung an

Jacob und Wilhelm Grimm,

ohne die es diese Geschichte nicht geben würde

Was zuvor geschah

Dienstag, 30. Oktober 2012

7.30 Uhr

Simonja, Arian, Nisha, Ember und Philipp ist es gelungen, den Vampiren zu entkommen, und sie erreichen Königswinter. Dort ist das Chaos ausgebrochen. Menschen gehen grundlos aufeinander los, Geschäfte werden geplündert und Gebäude stehen in Brand. Mit einem gestohlenen Auto flieht die Gruppe aus der Stadt.

10.00 Uhr

Nach der Nacht des Blutmondes, in der Rumolt und Freya starben, verlässt deren Tochter Eva den Nordturm. Im verschneiten Schlosshof wird sie von den Vampiren gefangen genommen und vor Königin Margery geführt. Diese bietet Eva an, bei ihr zu bleiben, und bittet sie, ihr einen Traum zu schenken, der sie ihren Kummer für eine kurze Zeit vergessen lassen soll.

11.00 Uhr

Maggy und Rosalie treffen im Kloster auf der Rheininsel Nonnenwerth ein, wo sich Joe seiner neuen Aufgabe als Erdenvater widmet. Als er erfährt, dass ihm nur noch zwei Sonnenaufgänge zum Leben bleiben, sobald er die Insel verlässt, bricht für ihn die Welt zusammen.

Rosalie hingegen ist endlich bereit, sich der Wahrheit über ihre Herkunft und der Vergangenheit zu stellen, in dem sie die ›Grimm-Chroniken‹ liest.

12.00 Uhr

Der Teufel offenbart Mary, dass der zweite schwarze Spiegel zusammengesetzt wurde und Elisabeth dadurch nun Macht über jeden Menschen ausüben kann, der sein eigenes Spiegelbild erblickt. Sie ist für die Unruhen in Königswinter verantwortlich.

Mary ist die Einzige, die Elisabeth besiegen kann. Dafür muss sie sich jedoch noch einmal in den schwarzen Spiegel begeben. Mary verlangt, dass der Teufel ihre Seele freigibt, sobald ihre Aufgabe erfüllt ist.

15.00 Uhr

Simonja und die anderen suchen im Haus von Embers Stieffamilie Schutz vor den Krawallen, als Nisha plötzlich grundlos auf ihre Tochter losgeht. Sie ist wie von Sinnen und versucht, Simonja zu töten. Arian gelingt es nur, sie davon abzuhalten, indem er ihr das Genick bricht. Danach ergreift er die Flucht, während Simonja um ihre Mutter trauert.

15.30 Uhr

Dorian und Jacob verstecken beide schwarzen Spiegel in dem Verlies der Schlosskommende und legen ein Feuer, um dafür zu sorgen, dass die Spiegel nie wieder gefunden werden. Dabei erleidet Jacob einen Herzinfarkt. Nur mit Dorians Hilfe schafft er es aus dem brennenden Gebäude.

16.00 Uhr

Margery erhält eine Nachricht von Simonja, die sie dazu auffordert, sich mit ihr nach Sonnenuntergang am Lebkuchenhaus zu treffen, um ihr dort das letzte Stück ihres Herzens zu übergeben.

21.30 Uhr

In Begleitung von Wilhelm wagt Margery sich zum Lebkuchenhaus. Dort trifft sie allerdings nicht auf Simonja, sondern auf Arian, der entschlossen ist, sie zu töten, um Simonja vor ihr zu beschützen. Unerwartet erhält Margery Unterstützung von Raben, die sich auf Arian stürzen und ihn umbringen.

22.00 Uhr

Von den Raben angelockt, finden Simonja, Ember und Philipp beim Lebkuchenhaus Arians Leichnam. Simonja ahnt, dass Margery dafür verantwortlich ist, und schwört Rache. Unerwartet tritt der Teufel in Erscheinung und offenbart ihr, dass sie seine Tochter ist. Ihre Abstammung macht sie zur roten Macht im Krieg der Farben. Durch sie hat der Teufel Einfluss auf den Ausgang des Kampfes.

Mittwoch, 31. Oktober 2012

1.00 Uhr

Eva erblickt im Spiegel Elisabeths Gesicht und gerät dadurch unter deren Kontrolle. Diese plant, die Gabe der Träumerin zu nutzen, um den Krieg der Farben zu entscheiden und sich an den Vergessenen Sieben zu rächen.

Mittwoch,

31. Oktober 2012

Der Tag,

der über das Schicksal der Welt entscheidet

Schuld und Unschuld

Mittwoch, 31. Oktober 2012

6.45 Uhr

Bad Honnef, Rheininsel Nonnenwerth, Kloster

Nicht nur in dieser Welt, sondern auch in Engelland fielen unzählige Schneeflocken vom Himmel. Hin und wieder hatte Rosalie den Kopf von den ›Grimm-Chroniken‹ gehoben und aus dem Fenster in die dunkle Welt geblickt, die seit zweihundert Jahren unter einer Dornenhecke schlief. Die Glasscheibe hatte das flackernde Licht der Kerzen gespiegelt, die das Turmzimmer erhellten.

Joes Blick war dem ihren begegnet, aber er hatte sie nicht gedrängt, über das zu sprechen, was sie aus dem Buch erfahren hatte. Einen Teil davon kannte er schließlich schon. Er verstand, dass sie Zeit brauchte, um das, was sie erfuhr, zu verarbeiten. Es war viel und es stellte ihre Gefühle auf den Kopf. Sie empfand Wut und Enttäuschung, aber auch Trauer.

Vieles war nicht so, wie sie geglaubt hatte oder Vlad Dracul sie hatte glauben lassen. Die Wahrheit blieb dieselbe, aber sie aus einer anderen Perspektive zu lesen, ließ auch Rosalie ihre Überzeugungen infrage stellen. Plötzlich empfand sie nicht nur Verständnis, sondern sogar Mitleid für ihre Eltern. Aber am meisten bewegte sie Margerys Schicksal. Jeder ihrer Sätze war mit einem Gift getränkt, dessen Geschmack sie nur zu gut kannte – Einsamkeit.

Sie hatte immer gedacht, dass es ihrer Schwester besser als ihr ergangen wäre. Rauschende Feste, lautes Lachen und liebevolle Umarmungen hatte sie sich vorgestellt, aber das entsprach nicht der Wirklichkeit. Der Vampirismus in Margerys Genen hatte sie von klein auf zu einer Aussätzigen gemacht. Ihre Kindheit war nie unbesorgt gewesen. Stets hatte es die Bedrohung von dem Krieg an der Dornenhecke gegeben. Dorian, der kaum zu Hause gewesen war. Mary, die versucht hatte, tapfer zu sein und den Schmerz, den ihr Körper ihr bereitete, nicht zu zeigen.

Es hatte Margery entsetzlich gequält, zu wissen, dass sie der Grund war, weshalb ihre Mutter leiden musste.

Alles wurde schlimmer in der Nacht, als Rosalie Mary in den Spiegel stieß. Margery hätte jeden Grund gehabt, sie für ihre Tat zu hassen, aber als sie ihr gestanden hatte, was sie getan hatte, sagte sie nur: Du wusstest nicht, was du tust. Vlad hat dich immer belogen und du warst noch ein Kind.

Das war ein Beweis für ihr tiefes Verständnis, ihr großes Herz und ihre unermessliche Güte. Aber an diesem Tag verlor Margery auch das erste Stück ihres Herzens.

Durch die ›Grimm-Chroniken‹ konnte Rosalie ihre Schwester nun so sehen, wie einst die Vergessenen Sieben sie wahrgenommen haben mussten. Niemand außer ihr hätte die weiße Macht sein können. Vielleicht war sie es irgendwo in ihrem Inneren noch immer.

Ein schweres Seufzen löste sich aus ihrer Brust und entwich ihren Lippen. Wenn sie das alles doch nur früher gelesen hätte …

Joe erhob sich aus dem Stuhl, in dem er die Nacht verbracht hatte, und kam zu ihr an die Fensterbank. Während Maggy in seinem Bett schlummerte, hatte er kein Auge zugemacht. Ihm blieb noch eine Ewigkeit zum Schlafen. Immer mal wieder hatte Rosalie seinen Blick auf sich gespürt.

Nun reichte er ihr eine rosafarbene Rose. Der Duft stieg ihr sogleich in die Nase und ließ sie an ihre Großmutter Oana denken. Rosen sind nicht nur schön anzusehen, sondern sie können auch Schmerz verursachen, hatte sie einmal zu ihr gesagt.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, flüsterte Joe und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Niemand außer Oana hatte ihr je zum Geburtstag gratuliert. Der Tag war nie ein Grund zur Freude gewesen. Wenn Vlad Dracul ihm überhaupt Beachtung geschenkt hatte, dann nur um sie daran zu erinnern, was von ihr erwartet wurde. Heute war der alles entscheidende Tag: Ihr war bestimmt, ihre Schwester zu töten.

Früher hatte sie diesen Tag gar nicht erwarten können. Ihr ganzes Leben lang hatte sie dafür trainiert und wollte es hinter sich bringen. Danach sollte ihr richtiges Leben anfangen – frei von Vlad Dracul, Elisabeth und den Vampiren. Sie wollte weggehen und irgendwo neu anfangen.

Von diesem Traum war nichts geblieben. Ihre Narben würden sie immer begleiten und heute würden noch einige hinzukommen – wenn sie überhaupt den nächsten Morgen erleben würde.

»Danke«, krächzte Rosalie dennoch bewegt, schlang ihre Arme um Joes Mitte und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust.

Sie wünschte, sie könnte die Zeit anhalten und für ewig in diesem Moment verweilen – bei ihm. Solange sie seinen Geruch einatmete und den Schlag seines Herzens spürte, war es nicht von Bedeutung, wer sie waren. Kein Erdenvater. Keine schwarze Macht. Nur Joe und Rosalie. Nicht mehr als das hatte sie gewollt.

Aber ein Moment währte nicht länger als wenige Sekunden, ehe sie von einem verlegenen Räuspern unterbrochen wurden.

»Von mir auch alles Gute zum Geburtstag«, sagte Maggy kleinlaut, die versuchte, mit ihren Fingerspitzen ihren zerzausten Pony zu ordnen. Obwohl sie die ganze Nacht geschlafen hatte, sah sie nur noch erschöpfter aus als zuvor. Die Angst vor dem, was kommen würde, stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Rosalie bedankte sich mit einem versöhnlichen Lächeln. Sie hatten keine Zeit gehabt, sich besser kennenzulernen, und es war nicht zu leugnen, dass sie sehr verschieden waren. Dennoch verband sie ihre Liebe für Joe.

Voller Neugier wanderte Maggys Blick zu dem aufgeschlagenen Buch. Für sie und Joe enthielten die ›Grimm-Chroniken‹ nur noch weiße, unbeschriebene Seiten. Beide hatten ihre Chance gehabt und sobald das Buch einmal geschlossen war, konnte es nicht erneut gelesen werden. »Gibt es etwas Neues?«, wollte sie besorgt wissen.

Rosalie hatte immer wieder zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her geblättert, um kein neues Ereignis zu verpassen. Aber es graute ihr davor, Maggy die entsetzlichen Neuigkeiten zu enthüllen. Betreten senkte sie den Blick. »Nisha und Arian sind tot«, gestand sie leise.

Bestürzt sog Maggy Luft ein und schlug sich die Hände vor den Mund. »Die arme Simonja«, wimmerte sie den Tränen nahe. »Was ist passiert?«

Joe löste sich von Rosalie und trat zu seiner Schwester. Tröstend legte er ihr einen Arm um die Schultern. Maggy war ein sehr mitfühlender Mensch, der sich das Schicksal anderer stets zu Herzen nahm. Selbst für Rumpelstein hatte sie Verständnis aufbringen können.

Rosalie berichtete ihr, dass der zweite schwarze Spiegel nicht zerstört worden war, sondern sich zusammengesetzt hatte, wodurch Elisabeth nun die Kontrolle über jeden erlangte, der sein Spiegelbild betrachtete. Sie verriet ihr, dass Simonja die Tochter des Teufels war und deshalb zur roten Macht wurde. Ebenso weihte sie Maggy in dessen Plan ein, Mary zurück in den Spiegel zu schicken, damit diese dort Elisabeth vernichten konnte.

»Das ist ja entsetzlich«, rief Maggy schockiert aus. »Mary musste bereits so lange in dem Spiegel ausharren. Hat sie nicht schon genug gelitten?«

Auch Rosalie hatte Mitleid mit ihrer Mutter, aber sie hatte gelernt, pragmatisch zu denken. Mary war die Einzige, die Elisabeth besiegen konnte.

»Würdest du dich an ihrer Stelle weigern?«, konterte sie. »Würdest du zulassen, dass Elisabeth womöglich Macht über die ganze Welt erlangt?«

»Natürlich nicht«, beteuerte Maggy sofort. »Die armen Menschen! Nicht vorzustellen, wie schrecklich es sein muss, keine Kontrolle über den eigenen Körper zu haben und furchtbare Dinge zu tun. Es hätte auch uns treffen können.«

Gerade noch hatte sie sich nach einem Spiegel gesehnt, um ihre Frisur zu begutachten, die nach dem Schlafen so zerzaust war. Die Nonnen legten jedoch keinen Wert auf Oberflächlichkeiten, weshalb es im gesamten Kloster keine Spiegel gab. Demnach schien die Rheininsel gerade der einzige sichere Ort zu sein, während die Welt außerhalb im Chaos versank.

Tränen kullerten über Maggys Wangen, als sie erfuhr, wie grausam Nisha den Tod gefunden hatte. Mit ihren Gedanken und ihrem Herzen war sie bei Simonja. Es war schlimm genug, die Mutter zu verlieren, aber so? Simonja würde die Bilder nicht mehr aus dem Kopf bekommen.

»Und Arian?«, hakte Maggy nach. »Hat er auch in einen Spiegel geblickt?«

»Nein«, widersprach Rosalie. »Er wollte Margery töten, um Simonja vor ihr zu beschützen.«

Maggy nickte verständnisvoll. »Das sieht ihm ähnlich.« Sie verstummte und schaute Rosalie zögernd ins Gesicht, als kenne sie im Grunde schon die Antwort auf ihre nächste Frage und brauche nur Gewissheit. »Hat Margery ihn getötet?«

»Nicht direkt«, erwiderte Rosalie. »Hunderte Raben sind über ihn hergefallen. Sie müssen die Gefahr gespürt haben, in der Margery sich befand, und haben ihr beigestanden. So wie ich es aus den ›Grimm-Chroniken‹ gelesen habe, hatte sie wohl schon immer eine besondere Verbindung zu den Vögeln.«

»Er wurde von Raben zerfetzt?«, hakte Maggy mit brüchiger Stimme und bleichem Gesicht nach.

Rosalie nickte zur Bestätigung. Auch Joe wurde bei der Vorstellung ganz blass. Was für eine furchtbare Art, zu sterben.

Anstatt sich der Trauer hinzugeben, wischte Maggy sich entschlossen die Tränen von den Wangen. »Margery ist zu einem Monster geworden.«

Joe drückte sanft ihre Schulter, als würde er ihr zustimmen.

Rosalie hingegen traf dieser Satz wie ein Pfeil ins Herz. Nur vor wenigen Tagen noch hätte es sie mit Genugtuung erfüllt, zu erleben, wie die einstigen Sieben sich gegen ihre Schwester stellten. Sie hätte Margery jeden Schmerz und jede Verachtung gegönnt. Sie hatte sie leiden sehen wollen. Aber seitdem hatte sich einiges verändert.

Es war zum einen Margery selbst. Auch wenn Rosalie sich dagegen gewappnet hatte, gelang es Margery in stillen Augenblicken doch immer wieder, zu ihr durchzudringen. Es war, als wäre ein unsichtbares Band zwischen ihnen, dem sie sich nicht entziehen konnten. Die ›Grimm-Chroniken‹ hatten dem den Rest gegeben.

Jetzt, da Rosalie die ganze Wahrheit kannte, war es ihr unmöglich, ihre Schwester länger mit den rachedurstigen Augen wie zuvor zu betrachten. Sie empfand Zuneigung für Margery und es machte sie wütend, wie Maggy und Joe sie verurteilten.

»Wenn Margery ein Monster ist, dann bist du ebenfalls eins«, brach es ungezügelt aus ihr hervor. Ihre Hände ballten sich vor Ungerechtigkeit zu Fäusten, während ihre Augen sich anklagend in Maggy bohrten. »DU hast den Zauber des geteilten Herzens gesprochen, damit fing das Unglück an. Es war DEINE Entscheidung. Margery hingegen leidet unter dem Schicksal, das DU ihr auferlegt hast. Nicht sie ist verantwortlich für den Untergang der Welt, sondern die Vergessenen Sieben.«

»Du kannst sie doch nicht von jeder Schuld freisprechen«, konterte Joe empört über die Vorwürfe. »Sie hätte gegen die Dunkelheit ankämpfen können.« Er drückte seine Schwester beschützend an sich, während Maggy Rosalie mit großen, ungläubigen Augen anstarrte.

Sosehr Rosalie auch seine Nähe genoss, ärgerte es sie, wie leichtfertig er Margery anprangerte. »Woher willst du das wissen? Wurde dein Herz schon einmal in acht Stücke zerrissen? Kannst du mit Sicherheit sagen, was das mit dir machen würde?«, blaffte sie ihn an und deutete mit ausgestrecktem Arm auf das aufgeschlagene Buch. »Ich habe gelesen, wie sie gekämpft hat. Jeden Tag. Sie hat sich verzweifelt an jedes gute Gefühl geklammert, aber nichts davon blieb übrig. Als sie die Unterstützung der Sieben dringender denn je gebraucht hätte, haben sie sich von ihr abgewandt. Sie haben den Tod der Menschen betrauert, die sie im Kampf verloren haben. Aber niemand trauert um Margery, dabei hat sie alles auf sich genommen, nur um Engelland zu retten.«

Rosalie hatte diese Selbstlosigkeit zutiefst beeindruckt. Sie war nie selbstlos gewesen, sondern hatte immer nur zu ihrem eigenen Vorteil gehandelt.

»Engelland war doch nur ihretwegen in Gefahr«, schnaubte Joe. Auch sein Blick glitt zu dem Buch und ihm war anzusehen, dass er es am liebsten mit einem lauten Knall zugeschlagen hätte. Er hatte gewollt, dass Rosalie die Wahrheit kannte, aber er hatte nicht erwartet, dass diese einen Keil zwischen sie treiben könnte.

Auch Rosalie erstaunte diese Entwicklung. Sie hätte nicht erwartet, dass sie einmal ihre Schwester verteidigen würde. Zuvor hatte sie nie mehr als Verachtung für sie übriggehabt. »Ohne unsere Eltern gäbe es Engelland überhaupt nicht! Außerdem kann Margery nichts dafür, dass sie geboren wurde.«

Joe machte es wütend, dass Rosalie Margerys Grausamkeit rechtfertigte und versuchte, anderen die Schuld dafür zu geben. »Sie hat unsere Mutter getötet«, rief er anklagend aus. »Das war, lange bevor ihr Herz geteilt wurde!«

Rosalie keuchte fassungslos auf. »Sie war ein Kind, das nicht wusste, was es tat!«

Als er ihr das erste Mal davon erzählte, hatte sie sich ihm dadurch verbunden gefühlt, weil Margery auch ihm etwas genommen hatte. Sein Verlust tat ihr leid, aber es war nicht fair, Margery für etwas zu verurteilen, das sie als ahnungsloses Kind getan hatte.

Bis vor Kurzem hatte sie die Menschen, die sie getötet hatte, noch an einer Hand abzählen können.

»Du willst gar nicht wissen, wie viele Menschen und Vampire ich in diesem Alter bereits auf dem Gewissen hatte«, gestand sie reumütig. Das machte Margerys Tat zwar nicht ungeschehen, aber niemand verstand besser als Rosalie, wie sehr man als Kind abhängig von anderen war. »Margery folgte ihrem angeborenen Instinkt und mir brachte man bei, dass es in Ordnung ist, den Schwächeren zu töten.«

Jeder, der nicht gegen Rosalie im Kampf bestehen konnte, war Vlad Draculs Ansicht nach des Lebens nicht würdig.

Verzweiflung überkam Joe. Sich mit Rosalie zu streiten, war das Letzte, was er wollte. Er ließ seinen Arm von Maggys Schultern gleiten und machte einen Schritt auf Rosalie zu. »Sie wollte dich in den Spiegel stoßen!«, erinnerte er sie flehend. Der Tag, an dem der Krieg der Farben ausgefochten werden sollte, war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um auf einmal Verständnis für Margery zu entwickeln.

»So wie ich es mit ihr geplant habe«, konterte Rosalie jedoch unnachgiebig. »Was macht ihre Tat grausamer als meine?«

Trauer schlich sich in Joes Blick. Er hatte das Gefühl, Rosalie zu verlieren, noch bevor der Kampf überhaupt begonnen hatte. »Was willst du jetzt tun?«, wollte er niedergeschlagen von ihr wissen. »Der Krieg ist unvermeidlich. Eine von euch wird sterben – und wenn du nicht gegen Margery kämpfst, wirst du es sein.«

Er war in diesem Turm gefangen, dabei wollte er sie so gern beschützen. Auch wenn ihm bewusst war, dass er ihr vermutlich nur ein Klotz am Bein wäre.

Wenn sich jemand verteidigen konnte, dann sie. Aber ganz gleich, wie stark sie auch war, es würde ihr nichts nutzen, wenn sie nicht bereit war, ihre Kraft auch einzusetzen.

Rosalies Zorn verpuffte, die Anspannung wich aus ihrem Körper und ihre Schultern sackten herab. »Das ist, was man uns von Anfang an glauben machen wollte. Ich hatte die Chance, das Schicksal zu ändern, aber habe sie aus verletztem Stolz und aus meinem Wunsch nach Rache verstreichen lassen. Ich muss die Konsequenzen für mein Handeln tragen.«

Nicht nur die Vergessenen Sieben trugen Schuld daran, dass sie nun an diesem aussichtslosen Punkt angelangt waren, sondern auch Rosalie. Es hatte in ihrer Macht gestanden, sich mit ihrer Schwester zu versöhnen und vereint gegen Elisabeth zu kämpfen. Margery hatte ihr so oft die Hand gereicht. Aber nun war es zu spät.

Der Krieg war nicht mehr abzuwenden. Nicht nachdem die Raben Arian umgebracht hatten, um Margery vor ihm zu retten. Das würde Simonja ihr niemals verzeihen. Es war nur noch an Rosalie, zu entscheiden, auf welche Seite sie sich stellen würde.

»Was soll das heißen?«, wollte Maggy bestürzt von ihr wissen. »Willst du sie etwa gewinnen lassen? Sie ist nicht mehr das gutherzige Mädchen aus den ›Grimm-Chroniken‹. Glaub mir, ich wünschte, sie wäre es noch. Auch ich hatte sie gern. Ich wollte nie, dass es so weit kommt. Ich sprach den Zauber, um sie zu beschützen.«

Der Kummer war ihrer Stimme anzuhören. Schuldgefühle machten ihre Seele schwer.

»Aber die Dunkelheit hat sie nun fest im Griff. Das Einzige, was wir noch für sie tun können, ist, so zu handeln, wie sie es früher gewollt hätte.«

Auch wenn Rosalies Worte gegen Maggy sehr anklagend gewesen waren, machte sie ihr keinen Vorwurf. Sie wusste, dass Maggy nur das Beste gewollt hatte. Aber niemand konnte von Rosalie verlangen, dass sie vergaß, was sie gelesen hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---