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Die schönste Überraschung dieser Saison – der berührende Coming-of-Age-Roman des Fußballweltmeisters Der wärmste Sommer aller Zeiten, die erste große Liebe, eine Nacht, die alles verändert. Christoph Kramers Roman ist eine so persönliche wie berührende Geschichte über das Fünfzehnsein und die Momentaufnahme einer Zeit, in der alles noch so einfach schien. Erzählt mit ganz viel Herz und einem unwahrscheinlichen Gespür für die kleinen Dinge, die im Leben einfach alles bedeuten. Es ist der Sommer 2006, ein Hitzerekord jagt den nächsten, die Fußballweltmeisterschaft verändert das Land — und für den 15-jährigen Chris verändert sich gerade das ganze Leben. Er verbringt die Abende mit seinen Freunden auf dem Dach der alten Scheune und verschläft die heißen Tage im Freibad. Er will Fußballprofi werden, aber vor allem will er eins: endlich cool sein. Chris ist ein Teenager wie jeder andere auch, auf der Suche nach sich selbst. Dann passiert das Unfassbare. Debbie, das schönste Mädchen der Schule, interessiert sich ausgerechnet für ihn. Es beginnt eine emotionale Achterbahnfahrt, bei der Chris alles wagt und doch nie vergisst, was wirklich wichtig ist: Freundschaft und die Gewissheit, wirklich gelebt zu haben. Ein nächtlicher Roadtrip mit seinem besten Freund ist da ein guter Anfang ... Christoph Kramers Debüt katapultiert uns zurück in die Zeit im Leben, in der alles möglich schien und in der das größte Glück und die größte Verzweiflung ganz nah beieinanderlagen. Eine wunderbar melancholische Hommage an den Zauber aller Anfänge, die Magie der ersten Liebe und nicht zuletzt an die Freundschaft – die Geschichte eines Sommers, den man nie mehr vergisst.
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Seitenzahl: 272
Veröffentlichungsjahr: 2025
Christoph Kramer
Roman
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Titelseite
Über Christoph Kramer
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Christoph Kramer, geboren 1991 in Solingen, ist Fußballspieler, TV-Experte, Podcaster – und Autor. Er spielte zuletzt für den Bundesligisten Borussia Mönchengladbach und war von 2014 bis 2016 Nationalspieler. 2014 wurde er Weltmeister. Er ist regelmäßiger Gast in Tommi Schmitts Podcast »Copa TS« und einer der ZDF-Experten bei Länderspielen und den großen Turnieren.
Christoph Kramer ist der erste Profi-Fußballer, der einen Roman veröffentlicht.
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Die schönste Überraschung dieser Saison – der berührende Coming-of-Age-Roman des Fußballweltmeisters
Der wärmste Sommer aller Zeiten, die erste große Liebe, eine Nacht, die alles verändert. Christoph Kramers Roman ist eine so persönliche wie berührende Geschichte über das Fünfzehnsein und die Momentaufnahme einer Zeit, in der alles noch so einfach schien. Erzählt mit ganz viel Herz und einem unwahrscheinlichen Gespür für die kleinen Dinge, die im Leben einfach alles bedeuten.
Es ist der Sommer 2006, ein Hitzerekord jagt den nächsten, die Fußballweltmeisterschaft verändert das Land — und für den 15-jährigen Chris verändert sich gerade das ganze Leben. Er verbringt die Abende mit seinen Freunden auf dem Dach der alten Scheune und verschläft die heißen Tage im Freibad. Er will Fußballprofi werden, aber vor allem will er eins: endlich cool sein. Chris ist ein Teenager wie jeder andere auch, auf der Suche nach sich selbst. Dann passiert das Unfassbare. Debbie, das schönste Mädchen der Schule, interessiert sich ausgerechnet für ihn. Es beginnt eine emotionale Achterbahnfahrt, bei der Chris alles wagt und doch nie vergisst, was wirklich wichtig ist: Freundschaft und die Gewissheit, wirklich gelebt zu haben. Ein nächtlicher Roadtrip mit seinem besten Freund ist da ein guter Anfang …
Christoph Kramers Debüt katapultiert uns zurück in die Zeit im Leben, in der alles möglich schien und in der das größte Glück und die größte Verzweiflung ganz nah beieinanderlagen. Eine wunderbar melancholische Hommage an den Zauber aller Anfänge, die Magie der ersten Liebe und nicht zuletzt an die Freundschaft – die Geschichte eines Sommers, den man nie mehr vergisst.
Der Lärm war ohrenbetäubend
TAG I
TAG II
Tag III
Der Tag danach
Der Tag des Abiturs, 1460 Tage später
Der Sommer 2014, 2920 Tage später
Ein ganzes Leben später
Einige der fiktiven Figuren ...
Der Lärm war ohrenbetäubend. Waren die Polizisten wieder da? Schossen sie auf uns? Nein, der Schuss war nicht aus einer Pistole gekommen. Dieser unglaubliche Knall musste aus einer Kanone stammen. Einer Kanone, die gut zu diesem mystischen Ort gepasst hätte, an dem Gefahr und pures Glück so nah beieinanderlagen.
Ich schaute Johnny an. Seine Augen waren weit geöffnet und das Blaulicht spiegelte sich in seinen Pupillen wider. Das erste Mal, seit ich ihn kannte – mein ganzes Leben lang –, war die Lebenslust aus seinem Gesicht gewichen und pure Angst war an ihre Stelle getreten.
Ich spürte nichts mehr. Irgendwie hatten wir es geschafft. Aber irgendwie auch nicht.
Der Regen prasselte los und verwandelte den harten Boden unter uns binnen Sekunden in Schlamm.
Und da war er wieder: der Duft, wenn der Regen nach einem warmen Sommertag einsetzt. Debbie …
»Das ist nun einmal so in der Physik«, raunzte Herr Schröder selbstgefällig vorne an der Tafel, und ich sagte leise: »Auf meine Oma sogar.«
Warum hatte ich gerade wegen einer Lappalie auf meine Oma geschworen? Warum konnte ich den Jungs nicht sagen, dass ich gar nicht auf der Party gewesen war? Wobei: Ich war ja da gewesen, nur halt nicht drinnen. Ich hatte vor dem ›Saitensprung‹ in Solingen gestanden und mich nicht reingetraut. Ich hatte Angst vor Alkohol, weil ich noch nie welchen getrunken hatte, und ich mochte es auch nicht, so zu tun, als wäre ich betrunken.
Wenn ich mal reinging, schaffte ich es nie, länger als dreizehn Sekunden an einer Stelle zu stehen, und lief stattdessen andauernd im Kreis, ein Salitos Ice in der Hand. Und immer, wenn mich jemand fragte, oder auch ungefragt, war es mein siebtes oder so. Ich wusste, dass sie wussten, dass ich log. Auch die Geschichte, dass ich mit einer Lisa oder Laura aus Remscheid lange draußen gestanden hatte, schien mir keiner abzukaufen. »Schwör auf deine Mutter.« Johnny wusste, dass ich das nur tun würde, wenn ich die Wahrheit sagte.
Jetzt hatte ich also meine Oma geopfert, was sich falsch anfühlte, aber ich war froh, dass ich aus der Schusslinie war. Manchmal wünschte ich mir fast, dass meiner Oma etwas passierte, wobei »wünschen« natürlich das falsche Wort war. Aber ich hatte gelernt, dass mir Trauer, bei allem Schmerz, auch immer Antrieb verlieh und neue Perspektiven eröffnete. Zumindest im Fußball war das immer so gewesen. Mein Körper wandelte die Trauer erst in Wut und die Wut anschließend in Energie um. Meine besten Spiele hatte ich gemacht, wenn vorher etwas Trauriges passiert war. Etwas, das mich enttäuscht hatte.
Vor wenigen Tagen hatte mir mein Trainer der U15 von Bayer 04 Leverkusen gesagt, dass sie mich nicht übernehmen würden. Mit anderen Worten: Er hatte mich hochkant rausgeschmissen.
Ich hatte gespürt, dass ich ihm leidtat, als mir Tränen der Angst in die Augen schossen. Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass mein größter Traum von der einen auf die andere Sekunde wie eine Seifenblase zerplatzen würde. Und ich hatte Angst davor, wie es jetzt weitergehen würde. Für was würde es sich jetzt noch lohnen, zu träumen? Weitere Tränen flossen nach, weil ich alles besser hätte gebrauchen können als ein mitleidiges Augenpaar.
Mehr als ein »Okay, dann ist das so« und ein noch kühleres »Danke für die schöne Zeit« kam mir nicht über die Lippen. Ich stand auf. Wischte mir die Tränen mit meinem Ärmel aus dem Gesicht.
Streckte meinem Trainer die Hand entgegen und drückte fest zu. Ich wusste in diesem Moment: Diesen Augen will und werde ich es zeigen. Die Trauer wich der Wut. Im Zug nach Hause starrte ich nach draußen. Nicht nur die Landschaft zog wie in einem Film an mir vorbei. Ich hatte neun Jahre bei Bayer 04 Leverkusen gespielt. In diesem Moment endete das Kapitel. Ich bekam die Augen meines Trainers nicht mehr aus dem Kopf. Zu Hause angekommen zog ich mich um, knallte die Tür wortlos hinter mir zu, so fest, dass die Gläser in der Vitrine vibrierten.
Ich lief so schnell und so weit ich konnte. Schrie in den Wald hinein. Und fand schnell den Entschluss, dass mein Traum, Fußballprofi zu werden, noch lange nicht ausgeträumt war.
Für große Träume musste man im Leben anscheinend auch mal große Umwege gehen. Nach den Sommerferien würde ich bei Fortuna Düsseldorf spielen, und ich würde so fit wie nie zuvor sein. Als ich jetzt wieder an meine Oma dachte, die nun wirklich nichts dafürkonnte, erschrak ich vor mir selbst. Ich nahm mir vor, nie mehr auf sie zu schwören.
»Kramer«, tippte mich Schubert mit seinem Knie an und wies mit einem Nicken zu Herrn Schröder, der zwar das gleiche faltige Kinn hatte wie Gerhard, es aber logischerweise nicht war. Er hatte die ganze, viel zu feuchte Tafel unleserlich vollgeschmiert. Die Kreide verlief in großen weißen Schlieren in Richtung Tafelschwamm auf der Ablage.
Ich erkannte – hoffentlich – eine Glühbirne, entschied mich aber, so wie meistens, einen Witz zu machen: »Das ist nun einmal so in der Physik.« Grinste und merkte direkt, dass das Grinsen fehl am Platz war. Ich brachte die anderen gern zum Lachen und nahm es dafür auch in Kauf, mich bei den Lehrern unbeliebt zu machen. Dieses Mal aber drehte sich nur Johnny um und lachte. Wir wurden mal wieder auseinandergesetzt. Johnny war mein bester Freund und verstand meinen Humor.
Endlich klingelte es zur Pause, es wurde laut, zwischen Einpacken und dem gelösten Gefühl, endlich wieder sprechen zu dürfen, dachte ich noch einmal darüber nach, was ich getan hatte. Umfasste mein Kreuz, das an einer Kette um meinen Hals hing. Guckte durch das dicke Milchglas des Physikraums ins Helle des Himmels und betete, dass meiner Oma nichts passieren würde.
»Ihr wisst, was heute Abend ist!?« Schubert tanzte vor uns, indem er beide Fäuste vor seiner Brust kreisen ließ und seine Hüfte im Takt schwang. Wir standen an unserer Bank, mit dem Rücken zum kleinen Fußballplatz. Von hier hatten wir den besten Blick auf den kahlen, großen Schulhof.
Schubert war der Coolste von uns. Irgendwie mochte ihn jeder, und das, obwohl er seine Zeit meistens mit Johnny und mir verbrachte. Für meinen Geschmack hatte Schubert zu viel Dax-Wachs in den Haaren, die erste Strähne, leicht rötlich, streng zur Seite und den Rest kreuz und quer verwuschelt. Er war breiter als wir. Ging pumpen und trank jeden Morgen Eier. Trug immer eine schwarze Jeans, von der Johnny und ich glaubten, es sei jeden Tag dieselbe. Aber das hätte ich Schubert natürlich nie gefragt. Darüber hing meist ein in Grüntönen kariertes Hemd offen über einem weißen T-Shirt. Dazu eine Umhängetasche. Klar, was sonst.
Ich hatte nur einen 4YOU. »Damit die Hefte nicht zerknicken«, hörte ich meine Mutter immer wieder in meinem Kopf, wenn ich den silbernen, viel zu großen Rucksack ansah.
»Ja, Dicka, aber Chris und ich sind nicht eingeladen, oder hast du das geklärt?« Johnny zog eine Augenbraue hoch und hielt den Kopf leicht schräg in Richtung Schubert.
Johnny war vielleicht der einzige Dicke, den ich kannte, der keine Sprüche deswegen bekam. Er war verschmitzt und charmant. Immer an der Grenze zum Erlaubten, aber böse konnte man ihm nicht sein. Er hatte diese überzeugende Art, die man nicht lernen konnte, und war der einzige Schüler in Nordrhein-Westfalen, der seine Käppi im Unterricht aufbehalten durfte. Sie gehörte zu ihm. Gerader Schirm, in allen Farben – aber immer: New Era. Dazu eine Baggy und lange Shirts, die seiner Figur schmeichelten. Zu viele Sommersprossen und dunkelrote Locken.
»Wir kriegen euch da schon irgendwie rein.« Schubert blickte hoch, kaute an seinem Bleistift, der oben schon diverse Bissspuren aufwies, und kritzelte die Hausaufgaben für die nächste Stunde im Stehen auf seinem Oberschenkel in ein umgeschlagenes Heft.
Niemals werden wir auf die Party kommen, dachte ich.
Die ganze Stufe war eingeladen. Ron Scheler wurde 19. Wie er es geschafft hat, mit fast 19 in der zehnten Klasse zu sein, fragte sich jeder. Eine Antwort, die nicht aus Lachen und Schulterzucken bestand, bekam niemand.
Zu meiner Clique, die ich mir mühsam zusammengearbeitet hatte, gehörte außerdem Nadine, Johnnys Freundin. Und fast wie bei Ron Scheler verstand bei ihr niemand, warum das schönste Mädchen der Stufe nicht nur mit uns abhing, sondern sogar Johnnys Freundin war. Ich verstand es. Johnny war cool.
Dann gab es noch Andrea Macara, Nadines beste Freundin, die nur aus diesem Grund dabei war. Aber sie war nett und lustig. Und sie sah aus wie ein Reh. Mein Herz gehörte aber schon jemandem. Und schließlich Gotti. Er aß während des Unterrichts Chips aus einer Butterbrotdose. Hatte immer die neusten Nike-Sneakers. Dürr und lang, zu lang, wie er selbst fand, und mit einem Faible für Lederjacken mit Nieten. Es klingelte zur letzten Stunde. Ich nahm meinen 4YOU über eine Schulter. Begutachtete mich im Fenster und hängte ihn mir über die andere Schulter.
Bringt nichts, dachte ich.
Der erste Atemzug nach Schulschluss, nachdem man die 200 Treppen aus der Drei hinuntergelaufen war, war immer der beste. Johnny kam wie gewöhnlich als Letzter aus dem Gebäude. Die paar Minuten, die ich auf ihn warten musste, fühlten sich so sinnlos an, aber ich konnte ihm nicht böse sein und nahm mir mal wieder vor, ab jetzt auch einfach selbst langsamer zu gehen. Johnny sprang die letzten zwei Treppenstufen hinunter und landete wie ein Skispringer im Telemark.
»Pommdöner, Snaga?!«
»Versteh die Frage nicht …« Snaga nannte Johnny mich immer, wenn er gut gelaunt war, wenn die Schule aus war oder wir Pokémon-Karten bei Frau Pilz’ Büdchen kauften.
Jeden Freitagnachmittag direkt nach Schulschluss war Theo’s Imbiss unsere »Belohnung«, wie Johnny es nannte. Von der Raucherecke des Schulhofs waren es nur wenige Meter. Als Johnny mir gerade wieder erzählen wollte, dass er ab Montag wirklich anfangen werde abzunehmen und sich deswegen so sehr auf ein letztes Wochenende der [19]Henkersmahlzeiten freue, fuhr ich leicht zusammen. Mein Kopf und meine Schultern hatten sich zwar nicht bewegt, aber irgendetwas zuckte von meinem Auge direkt in den Kopf. So war es immer, wenn ich Debbie aus der A sah.
An meinem Geburtstag vor drei Monaten hatte Schubert die Idee gehabt, Wünsche aufzuschreiben, die Zettel siebenmal geknickt in eine alte Wodkaflasche zu werfen und nach zehn Jahren zu gucken, was wir uns gewünscht hatten. Ich wollte irgendwann Debbie heiraten. Heiraten hörte sich komisch an, aber in zehn Jahren wäre das sicher nicht mehr so. Und es war etwas, das ich unbedingt wollte: eine echte Freundin, eine, die in mich verliebt war und mit der ich über alles reden konnte. Und die ich natürlich küssen durfte.
Debbie hatte lange blonde Haare, von April bis Oktober Sommersprossen und Augen, die sich zwischen grün und blau nicht entscheiden konnten. Meist trug sie einen Haarreif und ja, ich hatte Bilder von ihren Hello-Kitty-Tangas, die manchmal über dem Bund ihrer Jeans aufblitzten, für immer in meinem Kopf gespeichert. Ich hatte Latein mit ihr, traute mich aber nicht, sie anzusprechen. Manchmal glaubte ich, mir Blickkontakt einbilden zu dürfen. An einem Freitag im Februar war ich sogar einmal bei einem Handballspiel von ihr gewesen. Es war 18 Uhr, ich saß allein auf der Tribüne und wusste nicht, ob ich wollte, dass sie mich sah oder nicht. Nachdem sie mit ihrer besten Freundin Manina zweimal in meine Richtung geguckt hatte und anfing zu tuscheln und zu kichern, verließ ich die Halle. Seither hatte ich die Hoffnung, dass sie mich ansprechen würde, was ich beim Spiel gesucht hatte.
»Dich«, wäre meine Antwort gewesen, mit einem charmanten Lächeln. Konnte ja noch kommen, obwohl, nein.
Und nun stand sie da so unbeschreiblich anmutig und guckte mit dem Kopf im Nacken auf die dunkelrote Tafel, auf der in weißer Schreibschrift »Theo’s Imbiss« stand. Direkt daneben spiegelte sich mein viel zu großer 4YOU in der Scheibe. Ich beeilte mich, ihn abzusetzen, und kramte einen Fünf-Euro-Schein aus der vorderen Reißverschlusstasche.
»Cari saluti.« Immer wieder war ich überrascht, dass der graue Theo mit Unterhemd und einem hellblauen Stofftuch über den Schultern anscheinend Italiener war.
»Theodor, grüß dich«, sagte Johnny, wobei er die Os ziemlich lang zog.
»Ihr könnt ruhig vor« – ›sagte ein Engel‹, dachte ich, aber heraus kam nur ein »Cool, danke!«.
Cool, danke?! Das konnte nicht mein Ernst sein.
Zwischen der Pommdönerbestellung und lässigen Blicken zu dem Getränkeautomaten, neben dem Debbie jetzt stand, gingen mir tausend Möglichkeiten durch den Kopf, was ich sagen könnte. Aber genau gar keine dieser tausend war cool. Meine größte Stärke sollte mich jetzt doch im Stich lassen?
Ich war zerfressen von Selbstzweifeln. Hatte krasse Akne, war nicht besonders groß und eher schmächtig. Ich mochte meine Augen sehr, das Blau stach raus. Und jede Friseurin, bei der ich bisher war, hatte mir gesagt, was ich für tolle lange Wimpern hätte. Meine Haare lagen original nie richtig. Mit etwas längeren Haaren sah ich älter aus, aber dann fetteten sie schneller. Ohne Sinn. Zu Hause machte ich ständig Fotos von mir über Webcam, aber sie bei SchülerVZ hochzuladen, hatte ich mich nie getraut. Ich hoffte einfach, dass ich besser aussah, als ich mich fühlte.
Meine große Stärke aber war der Charme. Der Humor, meine Fähigkeit, Dinge schnell und lustig einzuordnen. »Raffiniert«, nannte mich meine Oma immer. Einfach schlagfertig, ohne unangenehm zu werden. Denn dafür war ich zu konfliktscheu. Mein Vater war ein Redner vor dem Herrn. Vielleicht hatte ich einfach unbewusst viel aufgesaugt. Vielleicht war es Talent. Unterm Strich auch einfach egal, denn gerade war da nichts.
Ich hatte das Gefühl, Debbie könnte es in meinem Kopf rauschen hören. Unsere Blicke trafen sich, sie lächelte tatsächlich, und diesmal war ich mir ganz sicher, dass ich gemeint war.
»Was hast du genommen?«, fragte sie, immer noch lächelnd.
»Pommdöner … ist Latein und heißt großer Salat!«
Sie lachte, und nie war ich so glücklich gewesen, jemandem ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, wie in dieser Sekunde.
»Bis heute Abend! Und diesmal bitte einmal pünktlich!« Sie hatte sich gemerkt, dass ich gestern drei Minuten zu spät zum Lateinunterricht erschienen war.
»Die, die im Bus ganz hinten sitzen, müssen aber doch zu spät kommen«, Johnny zwinkerte, und ich hasste es, wenn er dies tat.
Ich nahm meinen Rucksack und alles in meinem Körper wollte laufen. Den Pommdöner nach einem großen Bissen in die Luft schleudern. Zehn Meter Anlauf nehmen. Mich so fest, wie es nur geht, abstoßen. Mit der linken Hand ausholen und die rechte Faust in die Höhe strecken. Mich dabei in der Luft drehen und Johnnys Gesicht sehen. Aber ich wusste, dass ich langsam weggehen musste. Umdrehen oder nicht? Auf jeden Fall nichts anmerken lassen. Ganz normal war das gerade. Ich drehte mich um. Debbie sprach mit Manina.
»Johnny, hast du das zwischen mir und Debbie auch gespürt? Wir müssen da heute hin. Und müssen wird großgeschrieben, mein Freund.«
Johnny wirkte sicher, dass es mit der Party klappen würde, und ich war es jetzt auch.
Ich liebte unseren Nachhauseweg, mittlerweile. Ein normal gehender Mensch würde 20 Minuten brauchen. Aber der gemütliche Johnny pausierte mindestens zweimal auf Mauern oder Bänken.
»Gib dir mal die Atmosphäre«, lockte er mich immer mit irgendeinem halbphilosophischen Gelaber. So brauchten wir eine Stunde länger als andere, aber die Zeit fühlte sich nicht vergeudet an. An der Hauptschule Höhscheid warteten wir meist auf Salvo. Salvo war unser Nachbar. 1,58 Meter, aber sah trotzdem oder wahrscheinlich gerade deswegen gefährlich aus. Eastpak-Bauchtasche, Königskette, Kippe hinterm Ohr. So hätte mich meine Mutter in fünf Zillionen Jahren nicht vor die Tür gehen lassen.
»Ey, Dings, was geht?«, kam er freudig, aber erschöpft auf uns zu.
Er kannte Debbie aus den Geschichten, die ich ihm erzählte, wenn wir mal wieder bis spätabends mit unseren Fußbällen unter den Köpfen auf dem Dach des alten Bauernhofs lagen. Meine Großeltern hatten den Betrieb vor Jahrzehnten gegründet. Heute war er mehr eine Ruine, aber der beste Spielplatz, den man sich vorstellen konnte. Wir guckten oft in die Sterne und träumten von großen Stadien, Weltmeisterschaften und Trikots mit unseren Namen.
Salvo und ich teilten diesen Traum. Wir spielten Fußball, das war unser Leben. Wir spielten immer Fußball. Fußball, bis wir reingerufen wurden. Zwischen einem mit Kreide aufgemalten Tor und einer Garage.
»Das ist doch Scheler!« Johnny zeigte auf den klapprigen Toyota Corolla, an dem Ron Scheler lehnte, der Gastgeber der Party heute Abend, und nahm einen viel zu großen Schluck Capri-Sonne Multivitamin. Er glaubte wirklich, dass da Vitamine drin wären.
»Ja, Dings, der holt diese Drogenalte von unserer Schule immer ab.« Salvo nahm einen Zug und hatte sich direkt wieder eine neue Zigarette hinters Ohr geklemmt. »Und die heißt auch noch Gina, da isse doch«, hustete er vor Lachen. Gina hatte weiße Stiefeletten an. Sie war eines der Mädchen, die damit mehr stampften als alles andere.
»Yo, Scheler!«, rief Johnny und lief für seine Verhältnisse schnell zu Schelers Auto. Seine Baggyjeans musste er dabei immer hinten hochziehen, damit man nicht zu viel von den karierten Boxershorts sah.
»Wie viel Gramm brauchst du für heute Abend? Auf mich kamen übelst viele zu und meinten, du bräuchtest noch Stoff?!«
»Nee, eigentlich nicht.« Ron Scheler musterte Johnny abschätzig von oben bis unten und drehte sein hellblau leuchtendes Autoradio lauter.
»Geiles Autoradio, Scheler. Hat bestimmt Bluetooth, ne!? Hast du auch Boxen im Auto?« Man hörte schon, dass er keine hatte … »Mein Bruder hat noch vier Sets und baut dir die Dinger für ’nen Zwanni auch ein«, log ich. Ich hatte nicht mal einen Bruder.
»Sogar bei meinem Dad, Gamechanger die Teile«, stieg Johnny sofort mit ein.
»Wie viel?«, fragte Scheler. Es war verrückt, dass so was immer klappte. Ich hatte mich schon häufig gefragt, warum die meisten Menschen erst nett wurden, wenn sie ihren eigenen Vorteil in einer Sache sahen.
»Für Freunde umsonst. Und wenn wir auf deiner Party eingeladen wären, wärst du sozusagen ein Freund der Familie. Nein, ehrlich jetzt. Die Sets mit den Boxen sind vom Lkw gefallen und über den Preis musst du dir keine Gedanken machen. Werden uns einig.« Ich guckte ihn möglichst erwartungslos an.
Die Drogenalte Gina kam zum ungünstigsten Zeitpunkt dazu und stieg in den Wagen. Begrüßte Scheler mit einem für die Situation deutlich zu langen Kuss und schmiss uns ein ebenfalls zu langes »Hiiii« zu.
»Ich kann ihn ja mal fragen und dir heute Abend auf der Party Bescheid geben?« Ich streckte ihm die Hand durchs Fenster hin. Er schlug ein.
»Benehmt euch und keine Kinderkacke wie in Englisch.« Er brauste davon.
Einmal hatte ich in Englisch »Ron Scheler« auf meinen Vokabeltest geschrieben. Nach so vielen Jahren sollte er wenigstens einmal alle Vokabeln kennen. Ich half beim Einsammeln und wollte gerade auf seinem Test seinen Namen durch meinen ersetzen, als ich beim Wegkillern von Frau Liefering-Höckes erwischt wurde. Eine von denen, die niemals hätten Lehrerin werden dürfen. Täuschungsversuch. Warum Ron Scheler auch eine Sechs bekam, blieb ihr Geheimnis.
»Was ein krasses Opfer«, murmelte Johnny in sich hinein.
Selbstgefällig und zufrieden saßen wir auf der Treppe vor Johnnys Elternhaus und versuchten Salvo beizubringen, dass er nicht mit auf die Party konnte. Er hätte ohnehin nur uns gekannt. Wir brutzelten in der Sonne, es war kurz vor den großen Ferien 2006. Salvo blätterte die Bravo Sport durch. Alles rund um die WM. Ich hoffte auf das Wunder und hoffte auf Klose und Schweinsteiger, Mertesacker und Lahm. Und auf Podolski. Ich hatte ein Trikot mit der ›20‹. Poldi war geil. Der hatte einen Schuss wie ein Pferd und war mal wieder vorne auf der Bravo Sport drauf.
Wir konnten gut zusammen schweigen, auch deswegen waren Salvo und Johnny meine beiden besten Freunde. Ich war froh, nicht allein irgendwo rumsitzen zu müssen, und glaubte, den beiden ging es ähnlich. Ich fühlte mich stärker, wenn ich nicht allein war.
Von Johnny bis zu mir waren es zehn Minuten Fußweg. Der Geruch von frischem Heu lag in der Luft. Die Sonne brach sich tausendfach durch die Tannen und Fichten. Ein schmaler Waldweg. Vor Jahren war hier mal jemand mit dem Auto stecken geblieben und mein Vater hatte ihn mit dem Trecker abgeschleppt. Der Treppenbach blitzte durch das reflektierende Licht der Sonne in meine Augen. Ich hatte hier als Kind oft Staudämme gebaut und stundenlang zugesehen, wie das Wasser trotzdem immer wieder einen Weg fand.
So musste sich doch Liebe anfühlen, dachte ich mir. Debbie, die sich ohnehin immer wieder in meine Gedanken schlich, ließ mich nicht mehr los. Das war eben unsere erste echte Begegnung gewesen, die erste mit Reden. Wie sich das anhört, »mit Reden« … Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie es wäre, mit ihr zu sprechen. Aber es war sowieso besser gewesen, als ich es mir hätte vorstellen können. Ihre Augen, wenn sie lächelte und sich ihre Wangen nach oben schoben. Der Moment mit Debbie in Theo’s Imbiss war wie in Zeitlupe vergangen. Ich konnte mich so genau an jedes Zucken ihres Gesichtes erinnern, als ob ich einen Tag lang nichts anderes gemacht hätte, als sie anzuschauen.
Liebe kannte ich sonst nur von meinen Eltern. Liebesfilme schaute ich nicht. Meine Eltern mochten sich. Sehr, glaubte ich. Sie gingen gut miteinander um. Sagten einander, dass sie sich liebten.
»Die Liebe versteht man erst, wenn sie mal da war«, hatte meine Mutter einmal zu mir gesagt. Ich glaube, sie war jetzt da. Aber sicher war ich mir nicht.
Ich stellte mir vor, wie es wohl heute Abend werden würde. Ob Debbie wieder einen Haarreif tragen würde und ob ich so tun sollte, als ob ich betrunken wäre.
Gehört ja irgendwie dazu, dachte ich mir. Und ich fragte mich, ob Debbie in diesem Moment wohl auch über mich nachdachte oder ob nur ich diesen Augenblick im Imbiss als so besonders empfunden hatte. Ich durfte nicht zu euphorisch werden. Johnny sagte immer, dass man einer Frau nicht zu sehr zeigen durfte, dass man sie mochte.
Es war 18 Uhr. Maria, Johnnys Mutter, hatte mich reingebeten, aber da ich meine Chucks nicht ausziehen wollte, wartete ich vor der Tür. Entspannt, weil ich wusste, dass Johnny noch nicht fertig war.
Ich hatte in den letzten zwei Stunden durchgehend an Debbie gedacht. Mein Puls, den ich sonst unter Kontrolle hatte, schnellte wieder und wieder in die Höhe.
»Nase rein, Mund raus« war ein Trick aus dem Training gegen Seitenstiche und half bestimmt auch gegen einen rasenden Puls.
Die Haustür ging auf. Im nächsten Moment schnellte Johnny an mir vorbei und nahm die drei Treppenstufen von der Haustür auf die Straße in einem Satz. Er konnte sich gerade noch fangen, ohne auf den Boden zu stürzen.
»Hier, Snaga!« Johnny klemmte ein Schokoticket zwischen Zeige- und Mittelfinger und wirbelte es zu mir. Aus vier Metern zwei Meter vorbei. »Oh!«, ich hob es auf. »Jacob Robertsen«, stand drauf, Johnnys Bruder. Mit einem Schokoticket konnte man als Schüler umsonst mit dem Bus fahren, und ich hatte das Gefühl, jeder außer mir habe eins.
Um 13 nach kam die 695. Wenn wir jetzt nicht rannten, würden wir es nicht schaffen. Aber Johnny rannte nie. Ich rannte eigentlich immer, nur nicht, wenn ich mit Johnny unterwegs war. Aber heute war ich ganz froh darüber, weil die untergehende Sonne immer noch drückte und ich mir keinen Schweiß erlauben konnte. Und wie durch ein Wunder stand der Bus noch da, als wir ankamen, und der Busfahrer zwinkerte uns zu, als wüsste er, dass es heute um alles ging. Dieser Abend könnte wirklich magisch werden.
Was auch immer die letzte Reihe im Bus an sich hatte. Ich fand es nicht einmal unbedingt ›cool‹, dort zu sitzen, aber ich hatte nie gerne jemanden in meinem Rücken. Das Gefühl engte mich irgendwie ein. Auch in der Schule saß ich immer ganz hinten. Mich ärgerte es, dass die Lehrer davon ausgingen, dass ich deshalb etwas im Schilde führte.
»Kramer, bitte guck gleich nicht so peinlich weg, wenn du sie siehst!« Ich mochte, dass Johnny meine Gedanken in- und auswendig kannte und genau wusste, worüber ich mit ihm reden wollte.
»Du musst sofort auf sie zugehen, Küsschen links, Küsschen rechts, schön dich zu sehen und schon bist du im Game.« Johnny hatte seine Beine weit in den Gang hinein überschlagen und schnipste selbstsicher mit der rechten Hand.
Wir waren allein. Nur der Busfahrer mit seinem Klischeeschnauzer schaute ab und an in den Rückspiegel.
Endstation Fauna. Hier, direkt am Vogelpark, mussten wir raus. Nur noch einen kleinen bewaldeten Weg entlang und wir standen vor dem Eingang des Clubheims meines ersten Fußballvereins. »Willkommen beim BV Gräfrath 09« stand mit großen schwarzen Buchstaben auf einem roten Plakat, das über dem Eingang hing. Hier hatte alles angefangen. Hier hatte mich bei einem Turnier der Scout von Bayer 04 Leverkusen gesehen und zum Probetraining eingeladen. Als mich mein Vater dann zwei Wochen später nach Leverkusen fuhr und ich zum ersten Mal die perfekt gepflegten Trainingsplätze dort sah, als ich zum ersten Mal unter der Dusche dort stand und das Wasser sofort warm wurde, als ich merkte, wie gut die anderen Spieler waren, aber ich mithalten konnte – da wusste ich, dass ich das wirklich wollte. Ich wollte Profi werden. Und vielleicht würde ich es schaffen.
»Wir warten auf Schubert. Besser wir gehen mit ihm rein.« Johnny ließ sich auf einen großen Wegstein vor dem Eingang fallen. Ich guckte durch den Maschendrahtzaun auf den Fußballplatz und sah mich kurz selbst in klein. Sah mich, als ich vier war und meine Eltern so stolz geguckt hatten, nachdem ich mein erstes Tor geschossen hatte.
Das Vereinsheim schien eine gute Partylocation. Ringsum nichts außer Wald. Das einzige Licht weit und breit. Die Sonne war fast untergegangen, aber es dämmerte noch, und der Himmel leuchtete dunkelblau. An dem weißen Gebäude mit rotem Flachdach hing eine Girlande, »Scheler« und ein $-Zeichen …
»Ey, Junge, steht da Scheler?«, ich konnte meinen Augen nicht trauen.
»LOL, der Typ hat echt zu viele Rapvideos geschaut«, Johnny schüttelte den Kopf.
»Komm, scheiß drauf, Schubert ist vielleicht ja auch schon drin.«
Die Ringlein-Zwillinge kamen uns entgegen. Richard hatte sich sein hellgrünes Portemonnaie umgehängt und Gustav einen viel zu dicken Schlüsselbund an einer Gürtelschlaufe befestigt.
Einfach: »Warum?«, hätte ich gerne gefragt.
»Die nehmen Drogen dadrin. Wir sind raus«, sagte Richard, der großen Wert darauf legte, dass er eine Minute älter war und immer für beide sprach.
»Lass denen mal zum Abi ’nen Tandem schenken«, sagte Johnny und schaute begeistert zu, wie die Zwillinge ihr Fahrradschloss vom Maschendraht entfernten und dabei ständig »lass mich mal« zum jeweils anderen sagten.
»Die kannst du dir nicht ausdenken.« Ich schüttelte den Kopf, aber war gleichzeitig irgendwie froh, dass es die beiden in meinem Leben gab.
20 Meter noch, und wir waren endlich da, wo wir unbedingt hinwollten.
Man könnte meinen, die Fenster wären aus Milchglas, so viel Nebel stand in den Räumen des Vereinsheims. Das Einzige, was den Dunst unterbrach, waren grüne, gelbe, blaue und rote Lichtstrahlen. Vermutlich aus einer Diskokugel. Es sah aus, als würden alle Menschen dort drin schwarze Overalls tragen, die sogar das Gesicht bedeckten. Eine Person wurde an die Scheibe gedrückt und ein anderer Schatten umschloss von hinten mit beiden Händen den Kopf an der Scheibe. Sie mussten sich küssen oder sich zumindest verdammt nah sein. An einem anderen Fenster prosteten sich zwei Schatten zu. Umschlangen ihre Arme mit den Gläsern in der Hand und tranken. »Auf die Bruderschaft«, hörte ich sie in meinem Kopf sagen.
Die Tür, die tatsächlich aus Milchglas bestand, ging auf und der dumpfe Beat verwandelte sich zu einem Lied mit Text. Sean Paul, erkannte ich, kennste einen, kennste alle, dachte ich mir.
In diesem Moment kam Nadine an der Hand eines deutlich Älteren aus der Tür. Ihr Gesicht erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde, als sie uns sah. Ich glaube, dass sie nicht mit uns gerechnet hatte. Also, ich wusste, dass sie auf keinen Fall jemals mit uns gerechnet hatte. Sie trug eine enge Lederhose, ein weißes Tanktop, und eine Hawaiikette aus Blumen hing ihr um den Hals, der Typ trug die gleiche.
Sie ließ sofort von seiner Hand ab. »Warte kurz«, sagte sie zu ihm.
»Was für ›warte kurz‹?!«, raunzte Johnny, hob seine Hand und machte eine abfällige Geste.
Johnny zog Nadine am Unterarm Richtung Fußballplatz. Ich wollte mit, weil ich nicht allein reingehen wollte, aber Johnny machte mir mit betont ruhiger, aber bestimmter Stimme klar, dass alles gut sei und sie gleich nachkämen. Ich wusste, dass das niemals passieren würde.
»Bist du der mit dem Stoff?«, fragte mich der Typ, der gerade noch Nadines Hand gehalten hatte, und streckte mir seine entgegen.
[31]Ich griff nach ihr und er zog mich die zwei Stufen auf die kleine Veranda hinauf. Jetzt konnte ich die Musik auch deutlich hören, obwohl die Tür wieder zu war. Es musste immer noch Sean Paul sein.
»Nee, aber auf den warte ich auch«, sagte ich vollkommen überzeugend. Ich dachte mir, es sei sicher besser, gleich mit welchem Stoff auch immer auf der Party aufzukreuzen. Ich malte mir aus, wie mich die Menschenmasse dort drin hochheben würde, alle mich und diesen ›Stoff‹ feiern würden. Ich sah Debbie und …
»Du kennst Slaven also auch.« Der Typ hatte sich mit seiner Antwort viel zu lange Zeit gelassen.
»Wer in Solingen kennt Slaven nicht?!«, zwinkerte ich zurück. Kurz hatte ich überlegt, ob es eine Falle sein könnte und der Dealer gar nicht Slaven hieß. Aber dann regte ich mich gleich viel mehr darüber auf, dass ich gezwinkert hatte.
Besser bei ihm als bei Debbie, beruhigte ich mich.
Der Typ und ich schwiegen und guckten wartend in Richtung Waldweg.
Ich fing an zu zählen. Das tat ich immer, wenn ich die Stille nicht aushielt, wenn ich mich etwas nicht traute, wenn ich irgendwo wegwollte oder noch kurz liegen blieb, bevor ich zur Schule musste. Immer bis 27, meine Lieblingszahl, wobei ich die 27 immer sehr lang zog.
»Siiiiiiiiiiiieeebenuuuuuuundzwaaaaaaanziiiiigggg«, ich umfasste die Kreuzkette unter meinem Shirt und öffnete die Tür zur Party.
Der Dunst kam aus einer Nebelmaschine direkt rechts neben der Tür. Auf den ersten Blick, der nicht weiter als zwei Meter reichte, sah ich kaum ein bekanntes Gesicht. Ich drückte mich mit einem nicht hörbaren »Entschuldigung, darf ich kurz?!« an leicht neben dem Beat tanzenden Menschen vorbei. Der dichte Nebel lichtete sich allmählich, je weiter ich zur Mitte des Raumes gelangte, und ich konnte endlich meine Umgebung wahrnehmen.
Das einzige Licht kam aus zwei großen Discokugeln, die auf je einem Stehtisch standen, der mit einem großen weißen Laken überzogen war. Eine große, silberne Discokugel spiegelte abwechselnd das rote, blaue, grüne und gelbe Licht.