Das Letzte Schlachtschiff 2 - Joshua Tree - E-Book

Das Letzte Schlachtschiff 2 E-Book

Joshua Tree

0,0
5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Schlacht um Lagunia ist verloren. Silvea Thurnau, kommissarische Kapitänin der Oberon, hat nur ein Ziel vor Augen: Die Caesar einholen und Admiral Bretoni für die Entführung ihres Kommandanten Konrad Bradley zur Rechenschaft ziehen. Doch Bretoni und sein Adjutant Pyrgorates sind ihr und Bradleys Söhnen Nicholas und Jason stets einen Schritt voraus. Sie scheinen jeden einzelnen Schritt von langer Hand geplant zu haben - es verdichten sich sogar die Anzeichen dafür, dass sie von der drohenden Invasion aus dem Hyperraum nicht so überrascht gewesen sein können, wie sie vorgegeben haben. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, der schließlich im Solsystem mündet, dem pulsierenden Herzen der Terranischen Föderation. Doch wie lange schlägt es noch?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAS LETZTE SCHLACHTSCHIFF 2

SCHLACHTFELD ERDE

JOSHUA TREE

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

TFS Caesar, Räumlichkeiten von Vizeadmiral Augustus Bretoni

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

TFS Caesar, Steuerbordbrigg

Kapitel 18

21 Jahre zuvor, TFS Hayabusa, Harbingen-System

Kapitel 19

Kapitel 20

TFS Caesar, Steuerborgbrigg

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

TFS Caesar, Shuttlehangar

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Shuttle X2, niedriger Erdorbit

Kapitel 28

Barracuda D-22 »Hellcat«

Shuttle X1, nördlich der Shanghai-Arkologie

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Nachwort

1

Nicholas atmete langsam und kontrolliert aus, als der Sprungalarm verklang und nur noch als unangenehmes Echo in seinen Ohren nachhallte. Er stand mit Silly und Daussel am Befehlsdeck auf der Brücke, in seinem Rücken der Halbkreis der vierstufigen Ränge, auf denen die Brückenbesatzung an ihren Konsolen Dienst tat. Obwohl er sie nicht sehen konnte und es im Zwielicht der roten Gefechtsbeleuchtung kaum möglich gewesen wäre, ihre Gesichter zu lesen, spürte er die Kameraden in seinem Rücken, ihre müden Augen, die tiefen Falten, die sich in den letzten zehn Stunden um sie herum gebildet hatten.

Silly und Daussel sahen nach bereits sechs Sprüngen in Folge ähnlich mitgenommen aus. Silly, als kommissarischer Captain, hatte sich in einer ihrer kurzen Pausen die Haare rasiert, nachdem ihr Haarsträhnen immer wieder ins Gesicht gefallen waren und ihre Wut zu spüren bekommen hatten. Lieutenant Commander Daussel wirkte schlanker als sonst, die Wangen leicht eingefallen und die Augen wässrig, als hätte er mehrere Nächte hintereinander durchzecht.

Alles in allem sahen sie genau so aus, wie er sich fühlte. Zum einen war er todmüde, denn für so viele Sprünge am Stück zahlten ihre Körper einen hohen Preis, zehrten sie von innen heraus auf, obwohl der reine Transit weniger als den Bruchteil einer Sekunde dauerte. Schlimmer machten es die vielen Aufgaben, die sie dazwischen wahrnehmen mussten: nach Feinden scannen, die ihnen folgen könnten, den Raum vor ihnen, das Aufladen der Energiemusterzellen für den nächsten Sprung und die Reparaturen dazwischen. Glücklicherweise hatte sich nach dem ersten Sprung nach Phita-VII, ein leeres Nachbarsystem von Lagunia auf direktem Weg zur Erde, herausgestellt, dass der Feind offenbar kein Interesse daran hatte, ihnen zu folgen. Jedenfalls blieben sie trotz ihrer Befürchtungen jedes Mal allein – abgesehen von der Caesar, die stets bereits die Hälfte des Weges zum nächsten Sprungpunkt hinter sich gebracht hatte und sich außerhalb ihrer Waffenreichweite befand. Selbst die viel schnelleren Torpedos hätten sie nicht mehr rechtzeitig erreichen können.

Und so jagten sie einem deutlich moderneren und vor allem schnelleren Schiff nach, das nach jedem Sprung den Abstand vergrößert hatte.

»Scans?«, rief Silly, ihr bleiches Gesicht von dem weißen Licht des Tisches beleuchtet, der sie voneinander trennte und eine zweidimensionale Schemadarstellung des aktuellen Systems Epsilon Rodea zeigte. Die Oberon war bereits als grüner Punkt am inneren Sprungpunkt aufgetaucht, genau da, wo er im System verzeichnet war. Ihre Augen waren jetzt auf den äußeren Sprungpunkt gerichtet, wo die Caesar sein sollte.

»Abgeschlossen«, meldete Lieutenant Alkad von der Navigation.

»Wo ist dann der verfluchte rote Punkt?«, fragte Captain Silly.

»Unsere Sensoren empfangen keinerlei Antriebssignaturen, auch die Bugteleskope können keine Reflexionen finden, die auf ein Raumschiff hindeuten würden.«

»Weitersuchen!«

»Sie ist bereits weg«, sagte Nicholas neutral.

»Was?«, fragte Silly und hob leicht den Blick, was dunkle Schatten unter ihren Augen erzeugte und sie aussehen ließ wie einen unheimlichen Nachtalb.

»Die Caesar«, sprach er das aus, was sie sich noch weigerte zu akzeptieren. Er sah keinen Vorteil darin, die Wahrheit von sich fernzuhalten. »Also ist sie schon gesprungen.«

»Sieht ganz so aus«, pflichtete Daussel ihm bei und Silly sog scharf Luft ein.

»Wir wissen, wo er hinwill«, meinte Nicholas. »Also kennen wir auch den Kurs vor uns.«

»Was macht dich da so sicher?«

»Das höchste Kriegsgericht befindet sich in Wien auf Terra und ist der einzige Ort, an dem einem Admiral einer Kernwelt nach gültigem Recht der Prozess gemacht werden darf.«

»Ex-Admiral«, korrigierte sie ihn. »Und Lagunia ist keine Kernwelt.«

»Aber Harbingen war eine. Für die Prozesszuständigkeit zählt nur der höchste erlangte Rang während der Laufbahn, seit der Flottenreformation vor 25 Jahren.«

»Gilt das auch für die Reserve?«

»Ja.«

Silly fletschte die Zähne und starrte hinab auf den Befehlstisch, als könnte sie dort die Antworten ablesen, nach denen sie suchte.

»Bislang«, sagte Daussel, »deutet alles darauf hin, dass Admiral Bretoni unterwegs nach Sol ist. Die vergangenen sieben Sprünge entsprechen exakt der schnellsten Route dorthin.«

»Oder nach Epsilon Eridani, immerhin ein schwer befestigter Flottenstützpunkt«, gab Silly zu bedenken.

»Ich wüsste nicht, was er dort wollen könnte, außer sein Schiff aufzutanken. Die dortige Flotte dürfte längst für Iron Hammer abgezogen worden sein.«

»Außer er will uns loswerden. Mit der Tartarus-Station hätte er eine gute Gelegenheit, uns abfangen zu lassen«, sagte Nicholas.

»So weit würde er nicht gehen«, widersprach Daussel. »Wir sind dann nicht mehr in Lagunia, das viele in der Föderation als Wilden Westen bezeichnen. Dort werden viele Augen auf ihm ruhen und seine Handlungen einschränken.«

»Dort werden viele Augen auf uns ruhen«, knurrte Silly. »Was es schwieriger macht, den Admiral zurückzuholen.«

»Eher unmöglich«, bemerkte Nicholas vorsichtig.

»Wir werden sehen«, sagte sie nachdenklich, doch ihr Blick war der einer Getriebenen, was ihm zunehmend Sorgen bereitete. Sie meinte es in ihrer Verehrung seines Vaters gut, aber der Schlafentzug, zusammen mit dem hohen Druck, der auf ihr lastete und sich in ihr noch viel schlimmer anfühlen musste, zehrten stärker an ihr, als es gut für sie war.

»Jung, behalten Sie den Sprungpunkt hinter uns im Auge. Sie übernehmen Alkads Station. Alkad, Sie machen eine Pause«, befahl sie, ohne aufzublicken. »Bauer, fahren Sie mit der Überprüfung der Waffensysteme fort und dirigieren Sie die Reparaturmannschaften entsprechend. Feuers, Sie helfen Jung bei der Berechnung des Antimaterieverbrauchs, wenn wir weiter mit voller Leistung fliegen und wie viel wir noch rausholen können. Nicholas«, wandte sie sich an ihn. »Sie machen jetzt Pause. Zwei Stunden, bis wir den Sprungpunkt erreichen, nach dem Sprung bekommt Daussel eine Pause. Das ist ein Befehl.«

Nicholas nickte. Er hatte nicht vorgehabt, zu protestieren. Viele Offiziere verloren sich in einem falsch verstandenen Ethos, so lange wach und im Dienst bleiben zu müssen, wie sie nur konnten, doch das war eine menschliche Eigenheit, die ebenso unsinnig wie gefährlich war. Sie half weder dem Schiff noch ihrer Mission, denn mit der Müdigkeit nahmen auch die Fehler zu, die man beging, und sie befanden sich jetzt auf einer Reise, die keinerlei Fehler mehr gestattete. Zumindest nicht, wenn sie Erfolg haben wollten.

Und den müssen wir haben, weil es um meinen Vater geht, dachte er, nachdem er salutiert hatte und sich dem Ausgang zuwandte. Kurz bevor er die vierzehn Schritte bis zu dem kurzen Tunnel beendet hatte, der wie eine Höhle inmitten der Brückenränge gähnte, tauchte Lieutenant Alkad neben ihm auf. Die zartgebaute Navigationsoffizierin sah mädchenhaft aus, obwohl sie Mitte dreißig war. Ihre Korkenzieherlocken schienen unter dem vorschriftsmäßig gebundenen Zopf zu bersten und ihre zimtfarbene Haut wirkte blasser als sonst.

»Werden Sie schlafen?«, fragte sie, als sich das schwer gepanzerte Sicherheitsschott vor ihnen öffnete und dahinter das nächste, nachdem sich das erste hinter ihnen wieder geschlossen hatte.

»Ich weiß nicht, ob ich Schlaf finden werde.« Nicholas wollte es dabei belassen, wusste aber, dass sie eine längere Antwort erwartete und plaudern wollte – weshalb auch immer. Also gab er sich einen Ruck und fügte hinzu: »Bei nur zwei Stunden scheint es mir manchmal erschöpfender, zu schlafen und vom Wecker wieder herausgerissen zu werden.«

»Powernaps«, schlug sie vor. »Dreimal 20 Minuten. Wirkt wahre Wunder.«

»Ich werde es versuchen«, sagte er und wollte seine Schritte durch den Ringkorridor beschleunigen, der die Brücke umgab wie ein breiter Rettungsring.

»Sir?« Etwas in ihrer Stimme klang anders als zuvor. Er wünschte, er wäre besser in so was. So wie Jason. Er hielt inne und hob die Augenbrauen. »Ja, Lieutenant?«

»Darf ich frei sprechen?«

Nicholas überlegte, Nein zu sagen, immerhin hatten sie nur eine sehr kurze Pause, reckte jedoch das Kinn vor und nickte dann.

»Denken Sie, die XO wird es auf einen Krieg mit der Föderation ankommen lassen?« Alkad klang besorgt – glaubte er. Vielleicht war es auch bloß die Müdigkeit. Erleichtert atmete er auf. Er hatte schon befürchtet, sie würde ihm eine persönliche Frage stellen, oder schlimmer noch: ihm etwas Persönliches mitteilen und um seinen Rat bitten.

»Ist das eine allgemeine Befürchtung unter den Brückenoffizieren?«

Alkad schien verschreckt. »Nein, Sir. Ich wollte nur …«

Nicholas sah sie fragend an, doch offenbar erwartete sie, dass er sie unterbrach und ihr versicherte, dass ihre Frage kein Problem darstellte. Weshalb fragte sie, wenn sie sich unsicher war?

»Ähm, ich habe mich das bloß gefragt. Während der Schlacht, da habe ich gedacht, dass wir – oder die – eine rote Linie überschritten haben und es nicht mehr rückgängig machen können.« Irgendetwas schien ihr unangenehm zu sein.

»Ich glaube, dass Admiral Bretoni seine Kompetenzen überschritten hat und ein Gerichtsprozess zu unseren Gunsten verlaufen wird, wenn man die Faktenlage genau betrachtet.«

»Aber sind die Fakten für die Politiker der Flotte wirklich relevant? Oder nur etwas, das sie so verdrehen können, bis es ihren eigenen Zielen entspricht?«

Die Junioroffiziere machen sich Sorgen, dachte er. Das muss es sein. Sie haben noch nicht so viel Erfahrung mit Fällen wie diesen – wie könnten sie auch?

»Das wird ganz davon abhängen, wie schnell wir die Oberon wieder auf volle Gefechtsleistung bringen«, antwortete er ausweichend. »Wir haben während der Schlacht einiges einstecken müssen, aber wir haben das Tor zerstört und damit den Nachschub der Invasoren unterbrochen. Das ist auch etwas, das vor einem Kriegsgericht zählen wird.«

Alkad musterte ihn aus den Augenwinkeln, während sie die letzten Meter zu den Fahrstühlen nebeneinander gingen.

»Denken Sie, dass die Invasoren auch auf anderen Welten aufgetaucht sind?«

»Sie sind aus dem Hyperraumtor gekommen, sobald es aktiviert wurde. Zeitgleich mit unserem wurden 50 weitere aktiviert, es gibt also keinen Grund anzunehmen, dass wir die einzige betroffene Welt waren«, antwortete er.

»Aber das würde bedeuten, dass sich jede Kernwelt einer solchen Flotte gegenübersieht.« Lieutenant Alkad schüttelte den Kopf. »Haben Sie eine Idee, wo die hergekommen sind?«

»Nein, Lieutenant. Und auch Captain Thurnau weiß es nicht. Ich bin mir aber sicher, dass wir schon bald mehr herausfinden werden.« Er deutete auf eine der Fahrstuhlkabinen, die gerade eintraf. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen?«

»Danke, Sir. Viel Erfolg mit dem Schlaf.« Alkad nickte und verschwand im Fahrstuhl. Als sich die Türen geschlossen hatten, atmete Nicholas erleichtert auf und ging weiter. Die erste Tür auf der rechten Seite hinter den Fahrstühlen führte zu den Räumlichkeiten des Kommandanten. Vor dem unscheinbaren Messingschild, auf dem ›Konrad Bradley, Cpt.‹ geschrieben stand, hielt er inne, als wäre er von einem unsichtbaren Magneten angezogen worden. Frische Erinnerungen zogen an ihm vorüber, daran, wie er vor ihrem letzten Treffen geklopft und sein Vater ihm die Tür geöffnet hatte, eben genau so altmodisch, wie es für ihn typisch war. Die Treffen mit dem Leitungsteam, der Whiskey – stets nur ein Glas – und doch ein bewusster Bruch mit Flottenvorschriften, als sei es ihr kleines Geheimnis, das zu so etwas wie sozialem Kitt wurde, der sie enger zusammenschweißte. Zumindest hatte Nicholas lange überlegt und war schließlich zu dem Schluss gekommen, dass es so sein musste. Er erinnerte sich auch an die dezente klassische Musik – meistens Bach –, die häufig im Hintergrund lief, und den allgegenwärtigen Geruch nach Minztee.

Jetzt waren keine gedämpften Bach-Klänge durch die Tür zu hören und auch kein schwacher Minzduft drang an seine Nase. Er stellte sich vor, wie kalt und still es jetzt dort drinnen war, und dieser Gedanke missfiel ihm.

Sehr.

Nicholas riss sich los und ging an den Türen von Silly und Daussel vorbei, bis er vor seiner eigenen anhielt. Als er mit der rechten Hand über den DNA-Scanner über der Schalttafel fahren wollte, hielt er inne und blickte den Korridor hinab, der immer kleiner zu werden schien und sich in die Ferne streckte wie ein Tunnel in eine andere Welt. Er sollte hineingehen, seine Uniform ausziehen, die Nasszelle aufsuchen, sich abtrocknen, frische Unterkleidung bereitlegen und die Faltnähte überprüfen, sich dann hinlegen und einen Alarm auf zwanzig Minuten stellen – dreimal, entsprechend Alkads Vorschlag, um die maximal mögliche Erholung zu erreichen. Stattdessen ertappte er sich jedoch dabei, wie er einen halben Schritt zurückmachte und zu dem freien Bereich vor den Fahrstühlen blickte, aus denen gerade eine Mannschaft Techniker in orangenen Overalls trat und mit hastigen Schritten auf eines der Wartungspaneele in Richtung des Brückenrings zuhielt.

Er seufzte und ging in ihre Richtung. Ohne weiter darüber nachzudenken, schob er eine Hand zwischen die sich schließenden Fahrstuhltüren und stieg zu zwei Mannschaftsmitgliedern von der Energieversorgung ein. Sie nahmen sofort Haltung an und salutierten.

Nicholas bedeutete ihnen mit einem Wink, sich zu entspannen, und drückte den Knopf für das Deck seines Ziels, wie er es schon seit Wochen immer häufiger tat.

2

Jason ging durch die Korridore der Oberon und fühlte sich wie ein Geist. Der Sprungalarm plärrte nun bereits zum dreizehnten Mal innerhalb der letzten 18 Stunden und zerrte an den Nerven jedes einzelnen Matrosen an Bord des verwundeten Titans. Die Reparaturmannschaften mit ihren blauen Overalls waren überall zu sehen, schweißten und löteten, wo man auch hinsah. Ihre Gesichter sahen aus wie die von Mumien, wie es nur Schlafentzug einem Menschen antun konnte. Er selbst hatte seit dem Beginn ihrer wahnwitzigen Verfolgungsjagd durch die Systeme der Großen Lücke kein Auge zugetan. Anders als sein Bruder Nicholas hielt er sich von der Brücke fern, wo die XO (jetzt Captain) offensichtlich überfordert damit beschäftigt war, seinen Vater nachzuspielen.

Vater, dachte er und bewegte das Wort und all die Gefühle, die es in ihm auslöste, in seinem Inneren hin und her. Heraus kam eine Mischung aus Wut und Frustration, so wie immer, lediglich gedämpft von einem Schleier aus tiefsitzender Müdigkeit. Die rührte größtenteils daher, dass er sich damit beschäftigte, an möglichst vielen Baustellen gleichzeitig die Organisation der Schadensbegrenzung zu übernehmen. Da er außerhalb der Brücke zu dieser Zeit stets der ranghöchste Offizier war, hörte man auf ihn, allerdings widerwillig. Ob es sich um Lagerarbeiter handelte, die in hohem Tempo Versorgungs- und Reparaturgüter ausgeben mussten, ohne den Überblick zu verlieren und ihre Grenzen nicht zu strapazieren, um Reparaturteams, die mit Kaugummis und Streichhölzern Carbin zu flicken versuchten, oder um Köche und Küchenhelfer, die nicht mehr bloß eine von drei Schichten versorgen mussten, sondern sämtliche Soldaten zur gleichen Zeit – die Baustellen waren zahlreich und komplex in einem normalerweise gut geölten Getriebe, das sein Schmiermittel zu schnell aufbrauchte.

An jeder Stelle brauchte es einige Stunden harter Arbeit, bis sie seine Eignung für die jeweilige Aufgabe sahen und erst mürrisch, wie Harbinger eben waren, dann akzeptierend seine Befehle ausführten. Die Blicke, die sie ihm dabei zuwarfen, so als sei ihre ganze Misere allein seine Schuld, versuchte er zu ignorieren und sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Schließlich zählte nur das Ergebnis, auch wenn es ihn so mehr Kraft kostete, als es sollte. Sie alle agierten hier am Limit, und er fragte sich immer mehr, ob der XO in ihrem Elfenturm namens Brücke diese Tatsache bewusst war.

Am Backbordhangar angekommen, zwängte er sich an einer Gruppe Techniker vorbei, die an einem Leck in den Leitungen für flüssiges Helium arbeiteten, das einen ganzen Korridorabschnitt vereist hatte. Sie bemerkten ihn nicht einmal, als er vor der kleinen Zugangstür mit der Aufschrift ›H-bb-1‹ ankam und den massiven Stahl aufzog.

Herrschte in den Gängen des Schiffs reges Treiben von zombiehaft aussehenden Matrosen, die am Limit ihrer Kräfte nur mit den nötigsten Worten taten, was zu tun war, brodelte der Hangar vor reinstem Chaos. Dutzende Jäger vom Typ Barracuda standen kreuz und quer, wie sie von ihren Piloten nach ihren waghalsigen Notfalllandungen kurz vor dem Sprung von Lagunia zurückgelassen worden waren. Dazwischen befanden sich kleinere Fähren, ›Moskitos‹, wie die insektenhaften Icehauler genannt wurden, und jede Menge anderer Zivilschiffe, die den freien Platz verstopften. Jason sah sogar einige, die bei den Landungen mit Barracudas zusammengekracht sein mussten und halb ausgebrannt waren, ehe die automatischen Löschvorrichtungen sie mit weißem Schaum eingedeckt hatten, der längst ausgehärtet war. Aber offensichtlich hatte noch niemand die Zeit gefunden, ihn wieder zu entfernen, und so ragten hier und da weiße Hügel aus dem riesigen Hangar. Als wäre all das noch nicht genug Chaos, lagerten zwischen den ramponierten Maschinen zahllose Flüchtlinge in zerschlissener Kleidung, schliefen auf rasch aufgestellten Feldbetten, oder auf dem harten Stahlboden. Ihre Gesichter waren schmutzig und leer, wie die von den traumatisierten Kriegsopfern, die sie waren.

Aber sie hatten es noch geschafft, anders als die vielen anderen, die jetzt als kalte Leichen zwischen den Trümmern ihrer Schiffe in Lagunia trieben, zurückgelassen von ihnen, die überlebt hatten.

Jeder freie Quadratzentimeter im Hangar war belegt und die Deckmannschaft in ihren orangenen Technikeroveralls sahen aus wie Leuchtkörper dazwischen, seltene Farbkleckse in einer ansonsten dunklen Trostlosigkeit, obwohl sie selbst zu Hunderten noch verloren aussahen in diesem künstlichen Gewölbe.

Das müssen über tausend Flüchtlinge sein, dachte er entsetzt und versuchte sich gar nicht erst vorzustellen, vor welche Schwierigkeiten sie das noch stellen würde. Natürlich geschah genau das trotzdem: Nahrungsmittelversorgung? Wasser? Wie viel Spielraum hat die Lebenserhaltung für so viel Extraarbeit? Werden die Medikamente reichen? Wo können wir Nachschub bekommen, falls Lagunia nicht die einzige betroffene Welt ist? Wo sollen diese Leute schlafen? Wie kommen sie an Essen? Die Kombüsen können unmöglich Tausende Mahlzeiten zwischen den Großküchen und dem Hangar hin- und herbringen und Proteinsynthetisatoren sind auf der Oberon fest verbaut. Die wenigen mobilen Einheiten reichen niemals aus!

Eine Krise nach der anderen entspann sich vor seinem inneren Auge.

»Bradley«, hörte er jemanden sagen und fuhr zusammen. Neben ihm stand Lieutenant Commander Karl Murphy. Der wuchtige Ingenieur säuberte sich gerade die Pranken mit einem Handtuch, das so fleckig war, dass es kaum dazu geeignet schien, irgendeinen Schmutz zu entfernen, als es vielmehr schlimmer zu machen. »Was führt Sie hierher?«

»Jason, bitte«, gab er mit säuerlicher Miene zurück.

Murphy lächelte undurchsichtig. »Karl. Wir hatten schon lange nicht mehr das Vergnügen. Als du dich in Richtung Eden verabschiedet hast, hattest du nicht mal Haare am Sack.«

»Ich habe selten Zeit hier verbracht.« Jason blickte auf das Durcheinander, das sich direkt vor ihnen ausbreitete. Die ersten Flüchtlinge waren kaum eine Armlänge entfernt und bildeten unter dem Stummelflügel eines schwarz versengten Barracudas ein dicht gedrängtes Schlaflager. Der Gestank nach ungewaschener Kleidung, Angstschweiß und Mundgeruch war kaum zu ertragen und ebenso abstoßend wie mitleiderregend.

»Du hast selten Zeit auf diesem Schiff verbracht seither.« Murphy zuckte mit den Schultern. »Oder besser gesagt: keine.«

»Ist nicht so, als wärst du der Erste, der mich das wissen lässt.«

»Was hast du erwartet, Junge? Dass deine Leute es normal finden, dass du deine Familie zurücklässt, um dich denen anzuschließen, die uns hassen?« Der Ingenieur klang nicht wütend, eher so, als würden sie über etwas ganz Banales reden, eine unnötige Feststellung um des Sprechens willen.

»Tja, das ist es, was euch in der Föderation so verhasst macht. Ihr seht euch nicht mal als Teil von ihr. Die Hälfte dieser Menschen hier hat kein Harbinger Blut in den Adern.« Er deutete auf die Männer, Frauen und Kinder vor ihnen und verzog den Mund. »Und doch leiden sie genauso wie du und ich. Wieso müsst ihr euch immer zuerst als Harbinger sehen und nicht als Menschen?«

»Oh, das tun wir. Wir vergessen nur nicht, welche Hand uns geschlagen hat, als wir um Hilfe gebeten haben. Du warst noch zu jung, um zu verstehen, was damals passiert ist, welches Opfer dein Vater gebracht hat und wie zerstörend die Reaktion deiner geliebten Föderation auf uns war. Wir waren nicht besser dran als diese Leute hier, brauchten Schutz und Unterkunft, aber die Föderation? Die wollte uns nicht haben. Hat uns als Omeganer verschmäht, als Dataisten und nationalistische Eigenbrötler, als Gefahr für die öffentliche Ordnung. Nicht mal dieses Drecksloch namens Lagunia wollte man uns überlassen. Wir mussten es uns nehmen und mit den Konsequenzen leben, nur damit wir überhaupt Wasser zum Trinken und Luft zum Atmen haben.«

»Und was denkst du, Karl, warum die Föderation euch verschmäht hat? Warum haben sie das nicht mit den Rajanern gemacht, als ihre Welt von einem Gammablitz getroffen wurde? Wieso haben sie die evakuiert und großzügige Hilfsfonds aufgelegt?«, wollte Jason wissen.

»Weil Raja seit jeher einer der größten Nettozahler der terranischen Flotte war, das weiß doch jedes Kind.«

»Natürlich. Für jede mögliche Selbstreflexion, hat ein Harbinger eine Verschwörungstheorie parat.« Er winkte ab und schüttelte den Kopf. »Hätte ich mir gleich denken können.«

»Darf ich dich daran erinnern, dass du selbst einer von uns bist? Scheinst du schon vergessen zu haben«, brummte der bärenhafte Ingenieur.

»Wie könnte ich das vergessen?« Jason spie die Worte förmlich aus. »Meine Kameraden an der Akademie haben es mich jeden Tag wissen lassen, dass ich von einer Welt komme, die sich immer für was Besseres gehalten hat.«

»Oder, dass du Konrad Bradleys Sohn bist?«

Jason biss die Zähne so fest zusammen, dass er spüren konnte, wie seine Wangenmuskulatur sich nach außen wölbte.

»Ist nicht beides dasselbe?«

»Nicht für einen Sohn, würde ich vermuten.«

»Was genau wollen Sie von mir, Lieutenant Colonel?«, entfuhr es ihm. Es frustrierte ihn, dass er seine Wut nicht unter Kontrolle halten konnte, und es ärgerte ihn noch mehr, dass Murphy offenbar dazu in der Lage war und ihm jetzt einen Blick zuwarf, der irgendwo zwischen Mitgefühl und unterdrücktem Zorn hin- und herpendelte.

»Ich würde gerne wissen, was ich für dich tun kann. Lieutenant Colonel.« Murphy stopfte sich das Handtuch in den Gürtel und stemmte dann die Hände in die Hüften.

»Ich wollte nach den Flüchtlingen sehen, die wir aufgenommen haben. Ich dachte, nur wenige hätten es geschafft. Dass es so viele sind …«, sagte Jason und sein Zorn war wie weggeblasen, als sein Blick über die abgerissenen Gestalten hinter Murphy glitt.

»Viele? Nicht einmal die Hälfte der Zivilschiffe, die in unserer Nähe gewesen sind, als die Schlacht losging.«

»Hätten die nicht alle fort sein müssen? Wir wussten doch, dass Augustus die Strike Group ins Tor führt.«

»Ja, ein paar Stunden vorher. Viele von denen haben noch Eis von den Artros-Monden bei uns abgeladen. Andere waren gerade dabei, ihr Personal wieder aufzunehmen, das bei uns an Bord Regale aufgefüllt und Sanitäranlagen repariert hat. Die Oberon war stärker mit der Lokalwirtschaft verzahnt, als die meisten denken. Hölle noch eins, ich glaube, wir waren sogar der größte Auftraggeber nach den Schiffswerften auf Atlantis«, brummte Murphy mürrisch.

»Und wie ist die Lage?«

»Was denkst du? Beschissen. Viele haben ihre Kinder zum Sterben zurückgelassen, andere ihre Eltern, Geschwister, Freunde. Niemand ist wirklich freiwillig hier, sondern nur, weil es keine Alternative gab. Sie reden alle nur über die finsteren Dinge, die diese neuen Aliens ihren Liebsten gerade antun. Die einen wollen sofort zurück und verfluchen uns, weil wir nicht geblieben sind und kämpfen. Die anderen danken uns, dass wir uns und sie nicht sinnlos in den sicheren Tod geschickt haben. Es ist dasselbe Spiel wie damals.« Murphy verzog das Gesicht, als hätte ihn eine unsichtbare Hand geohrfeigt und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Kopfschüttelnd fuhr er fort: »Allerdings spricht sich langsam herum, dass der Alte nicht an Bord ist und das macht sie nervös, was gar nicht gut ist.«

»Mit meiner Frage meinte ich nicht, ob es den Leuten schlecht geht«, entgegnete Jason. »Sondern wo der Schuh am meisten drückt.«

»Warum fragst du das? Müsstest du nicht auf der Brücke sein?«

»Die XO hasst mich noch mehr als sich selbst, und mein ranghöherer jüngerer Bruder trifft gerade die meisten Entscheidungen, damit irgendwas passiert.«

»Vorsicht.«

»Was?«, fragte Jason mit unbeugsamem Blick.

»Die XO weiß, was sie tut.«

»Ist das Wunschdenken oder echte Überzeugung?«

Murphys Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

»War’s das?«, knurrte der Ingenieur.

»Ich habe Logistik und höhere Nachschubalgorithmik an der Akademie studiert«, ignorierte Jason den Tonfall seines deutlich älteren Kameraden. »Ich kann helfen.«

Murphy musterte ihn abschätzend und schien mit sich zu ringen, ob er ihn aus dem Hangar werfen – was trotz ihrer Ranggleichheit durchaus in seiner Befugnis gelegen hätte – oder ernst nehmen sollte.

»Wir haben die Medikamentenreserven aus dem Lager freigegeben bekommen, zusammen mit Feldbetten und Notfalldecken. Aber die Verteilung ist ein Albtraum, da wir nicht wissen, wer schon was bekommen hat und meine Leute andere Sachen zu tun haben. Das Schiffspersonal ist hinten und vorne überfordert und schiebt Endlosschichten an ihren Einsatzorten, darum haben wir nur die etwa 100 Rekruten zur Verfügung, die niemand haben will.«

»Rekruten, die niemand haben will?« , hakte er nach.

»Außenweltler«, sagte Murphy und Jason zuckte bei diesem abwertenden Begriff innerlich zusammen, den Harbinger für jeden nutzten, der nicht Harbinger war. »Eine Rutsche von 100 Rekruten, die ihre Ausbildung bei der Reserve einer Randwelt verrichten sollten, ist vor Kurzem eingetroffen und da niemand sie bei sich haben will, habe ich sie genommen. Wir brauchen jede helfende Hand und haben keine Ahnung von Flüchtlingsversorgung. Unser Job ist es, unsere Vögel instandzusetzen, nicht hungrige Mäuler zu stopfen.« Der alte Offizier mit dem wackelnden Bauch rieb sich mit der schmutzigen Hand die Stirn und hinterließ dabei schwarze Streifen, während er sich umsah. »Die Rekruten wissen das aber scheinbar auch nicht.«

»Es liegt nicht nur daran, dass sie Außenweltler sind«, mutmaßte Jason. »Jeder hält sie für Feiglinge, die sich so weit weg von der Front haben versetzen lassen, dass sie keine Angst vor einem echten Gefecht haben müssen.«

Murphys Schweigen war Antwort genug und er musste gestehen, dass der Gedanke auch ihm nicht sehr fern war.

»Na toll.« Er atmete tief ein und rieb die Hände aneinander. »Ich übernehme das. Kümmert euch um die Barracudas.«

»Würden wir ja gerne, wenn nicht die Hälfte meines Hangars mit Zivilschiffen vollgestopft wäre.«

»Werft sie nach dem Sprung über Bord«, schlug Jason vor. Als er Murphys Protest aufkommen sah, fügte er hinzu: »Auf meine Verantwortung. Die XO wird es verstehen. Nehmt einfach die beschädigten, schlachtet sie nach Teilen aus und dann weg damit. Wir sind ein Kriegsschiff.«

»Das wird den Zivis gar nicht schmecken. Ich höre sie schon Anzeige und Versicherung rufen.«

»Beides spielt keine Rolle mehr, fürchte ich. Es geht ums Überleben und dafür brauchen wir volle Gefechtsbereitschaft.«

Murphy schien das Gehörte zu gefallen. Er hakte die Daumen in seinen Gürtel ein und nickte langsam.

»Aber wir kriegen sie nicht über Bord geworfen, weil alles mit Menschen verstopft ist.«

»Das kann ich ändern.«

Murphys zuckende Augenbraue war Beweis genug für seine Ungläubigkeit, aber er zuckte mit den Schultern.

»Also gut. Übernimm gerne die Außenweltler und sieh, was du mit ihnen auf die Beine stellen kannst, Herr Logistiker.« Der Ingenieur schnaubte wie ein Bär und stapfte davon. Nach wenigen Sekunden rief er seinen Technikern bereits wüste Schmähungen entgegen und drohte einem Piloten mit einem riesigen Schraubenschlüssel.

»Wie schlimm kann es schon werden?«, murmelte Jason und machte sich an die Arbeit. Zuerst ging er durch die Reihen, wo es ihm möglich war, und umging die ganz dichten Ansammlungen von Flüchtlingen, um sich nicht gewaltsam durch sie hindurchkämpfen zu müssen. Er sah in schmutzige, verbrannte, sorgenvolle, verängstigte, leere und in hartnäckigem Stolz verharrende Gesichter. Die meisten Zivilisten wirkten gebrochen oder zumindest nahe dran, was unwillkürlich Mitleid in ihm hervorrief.

Eine Frau kam ihm entgegen, kaum in der Lage, sich noch auf den Beinen zu halten und mit eingefallenen Wangen wie bei einer Kachektikerin. Alle, denen er begegnete, ähnelten dieser Frau, deren Anblick sich in sein Gedächtnis gebrannt hatte.

Fast alle, denn kurz bevor er einen Barracuda umrundete, kam ihm ein Mann mit alterslosem Gesicht entgegen, der zwar ähnlich abgerissen und verschmutzt aussah, mit eingezogenen Schultern und so unscheinbarem Gesicht, dass er beinahe an ihm vorbeigesehen hätte, wenn sich ihre Blicke nicht getroffen hätten. Die dunklen Augen des Mannes waren von so einer irritierenden Tiefe und Dunkelheit, dass es Jason fröstelte und er instinktiv Angst bekam. Als er sich umdrehte, war der unheimliche Fremde jedoch nicht mehr zu finden, und er stand einige Minuten einfach da und fragte sich, was da gerade passiert war.

»Ich bin Lieutenant Commander Jason Bradley«, stellte er sich etwas später einer Familie vor, die er hinter dem Triebwerk eines alten Icehaulers fand, dessen Deuteriumtanks offenbar von einem Laser aufgerissen worden waren, und jetzt aussahen wie eingeschlagene Eier. Er kniete sich zu den beiden Kindern herunter, die eingequetscht zwischen ihren Eltern saßen, einem etwa 40 Jahre alten Mann mit schulterlangen Haaren und einer etwas jüngeren Frau mit kurzgeschorenem Haupt. Die Kinder konnten kaum älter als fünf und sechs sein. Beide stanken bestialisch und hatten die leeren Gesichtsausdrücke von Traumatisierten, die zu allem Überfluss auch noch hungerten. »Darf ich fragen, wo ihr herkommt?«

»Tau-ros«, antwortete das Mädchen schüchtern. Ihre roten Haare waren verfilzt und ihre Mundwinkel hingen schlaff herunter wie bei einer alten Frau.

»Von der Taurus-Station? Da war es auch sehr eng, oder?«

Sie nickte. Ihre Eltern starrten Jason mit leeren Blicken an.

»Aber nicht so wie hier.«

Wieder ein Nicken.

»Wisst ihr«, er sah auch ihren Bruder in den Armen seines Vaters an, »dass die meisten hier auf einem Planeten geboren wurden und Angst vor geschlossenen Räumen haben?«

Beide schüttelten ihre kleinen Köpfe.

»Doch, doch, so ist es. Ihr aber habt keine Angst vor ein bisschen Metall um euch herum was?«

»Nein!«, sagte das Mädchen tapfer.

»Sehr gut. Ich möchte euch gerne helfen. Euch und all den anderen hier.« Er sah zu ihren Eltern, die ihn aufmerksam beobachteten. »Die Leute hier haben alle Angst, auch vor mir, weil ich das hier trage.« Er zupfte an seiner Uniform. »Aber nicht vor euch. Könnt ihr mir einen großen Gefallen tun?«

Die offensichtlich aufgerüttelten Kinder sahen zu Mama und Papa hinauf, die zögernd nickten.

»Es ist ganz sicher hier drinnen. Soldaten überall, die auf uns aufpassen und auf mich hören«, sagte Jason, wieder mit Blick zu den Eltern. »Ich möchte gerne, dass ihr meine Spione seid. Um zu helfen, muss ich herausfinden, was eure Familie und all die anderen Familien und Gruppen hier am dringendsten benötigen und wovor sie Angst haben. Denkt ihr, ihr könntet das für mich tun?«

Die Kinder nickten eifrig, doch er hatte nur Augen für ihre Eltern, die zögerten, dann jedoch ebenfalls leicht die Köpfe neigten, nachdem Jason eine Wasserflasche aus dem Jackenteil seines Overalls zog. Er hatte sie auf dem Zentralkorridor aufgefüllt, wo es alle 50 Meter Abfüllstationen gab. Wäre sein Standing auf der Brücke besser als abgrundtief schlecht gewesen, hätte er versucht, Silly dazu zu zwingen, sie für die Flüchtlinge freizugeben.

»Wie heißt ihr?«

»Das ist Simon, und ich bin Lilly, aber meine Mama mag das nicht und sagt, dass ich Lilian heiße, wie meine Uroma.«

»Okay, Lilly«, er zwinkerte ihr zu. »Du und dein Bruder seid jetzt meine Augen und Ohren, ja? Sind wir ein Team?«

Sie nickten mit aufkommendem Stolz in den Blicken.

»Sehr gut. Ich warte da drüben bei dem orange gekleideten Mann auf euch.« Jason drückte der Mutter die Flasche in die Hand, hielt sie jedoch noch fest, bis sie eifrig nickte. Dann stand er auf und ging zu dem Techniker, der auf einem simplen Rollbrett lag und an der Unterseite eines Barracudas schweißte. Um überhaupt zu ihm zu gelangen, musste Jason sich zwischen dichten Reihen Sitzender hindurchquetschen und über mehrere Betten steigen, die so eng beieinanderstanden, dass er kaum Raum zu treten hatte. Er murmelte ein paar Entschuldigungen und erreichte dann den Techniker, der sich als Technikerin herausstellte. Als sie ihn bemerkte, hob sie das Visier ihres Schutzhelms an und warf ihm einen eher irritierten als respektvollen Blick zu.

»Äh, Lieutenant?«, fragte sie.

»Lieutenant Commander«, korrigierte er sie beiläufig.

»Ah. Sorry, in meinen Augen funkeln die Sterne vom Schweißen.« Sie wackelte mit dem Plasmaschweißer und er entschied sich, die Provokation in ihrem Blick zu ignorieren. Sie gehörte wohl zu den glühendsten Anhängern seines Vaters, von denen es hier jede Menge gab – und keiner von denen war besonders gut auf das schwarze Schaf der Familie zu sprechen, das den Schoß der Harbinger Familie verlassen hat, um mit den anderen Kids zu spielen.

»Stehen Sie mal auf, Petty Officer«, wies er die Unteroffizierin an und wartete, bis sie vor ihm stand. »Was machen Sie hier?«

»Äh, schweißen?« Es klang mehr wie eine Frage. Ihr Blick verriet jetzt Irritation. Das gefiel ihm besser.

»Und das halten Sie für eine gute Idee, so nah an diesen Familien?« Jason deutete auf die erschöpften Flüchtlinge, die so dicht bei ihnen saßen und lagen, dass sie diese zwangsweise mit ihren Beinen berührten. Die Zivilisten hörten das Gespräch und sahen müde zu ihnen auf. Einige von ihnen hatten Brandlöcher in der Kleidung so groß wie Knöpfe.

Die Technikerin schob das Visier weiter über ihre Haare und musterte die Flüchtlinge.

»Na ja«, sagte sie zögernd. »Der Chief meinte, ich muss die Acceleratoren zusammenflicken, damit das Vögelchen wieder flattert. Also habe ich mich gleich an die Arbeit gemacht.«

»Denken Sie, dass irgendeiner dieser Barracudas zeitnah in seine Startrampe gebracht werden kann?«, wollte er wissen.

»Hm, also …«

»Das war eine rhetorische Frage. Hören Sie auf zu Schweißen und diesen Leuten mit den Funken die Haut zu verbrennen. Das ist ein Befehl! Ich sorge dafür, dass Sie Platz haben, dann können Sie mit dem entsprechenden Sicherheitsabstand zu anderen weitermachen. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, Sir«, sagte sie, diesmal etwas zackiger. Als er sich durch die Sitzenden davonmachte, ruhten Dutzende Blicke auf Jason. Blicke derjenigen, denen dieses laut geführte Gespräch eigentlich gegolten hatte. Er nickte ihnen zu und deutete auf den freigewordenen Platz, ehe er davonging. Es war schwer, sich vom Mitgefühl für diese Leute nicht davontragen zu lassen, deren Kleidung große Brandlöcher aufwies, hinter denen sich mit Sicherheit ebenso große Brandwunden befanden. Dass niemand von ihnen nach einem der wenigen Sanitäter rief, die kaum zwischen den Gruppen hin und her gehen konnten, sprach Bände über ihren Grad an Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit.

3

Jason nahm sich mehr Zeit, als er sollte, um zwischen den Flüchtlingsgruppen einherzugehen – oder zu klettern – und dabei so zu tun, als sei er bloß unterwegs und beschäftigt. Dabei bewegte er sich bewusst langsamer als nötig, um den wenigen gemurmelten Gesprächen zwischen den Flüchtlingen und hier und da den Technikern zu lauschen.

Wenig überraschend war die Tatsache, dass sie sich vor allem über den wenigen Platz beschwerten, den Gestank, die fehlenden Möglichkeiten sich zu waschen und die ungerechte Verteilung von Nahrungsmitteln und Wasser, die offenbar nach keinem klaren Muster oder Vorgehen ausgegeben wurden. Das war keine große Verwunderung, schließlich sah der gesamte Hangar aus wie ein Schlachtfeld aus Trümmern und Menschen, durch das nicht einmal Ratten einen schnellen Weg gefunden hätten. Nicht einmal sein Professor für angewandte Versorgungslogistik hätte hieraus ein funktionierendes System basteln können.

Zumindest nicht ohne gravierende Veränderungen.

Zu dem herrschenden Chaos und dem niedergeschlagenen Unmut der gestrandeten Zivilisten gesellten sich allerdings noch ganz andere Probleme. Natürlich waren sie traumatisiert und entsetzt von dem Verlust ihrer Heimatwelt, ihren Familien, Freunden und Crewmitgliedern. Ihr gesamtes Leben war innerhalb weniger Stunden zu Staub zerbröselt. Das hatte er erwartet. Nicht erwartet hatte er dagegen, dass sich zwei Denkrichtungen abzuzeichnen schienen. In dem einen Lager wurde wütend gemurmelt, dass die Oberon Lagunia im Stich gelassen habe, genau wie damals Harbingen. Die anderen waren trotz ihres Schmerzes erleichtert, dass der Titan sie gerettet hatte und aus dem System gesprungen war, ehe sie alle gestorben wären. Unter dem Cockpit eines Raumschleppers hörte er zwei Männer von den äußeren Asteroiden, die offenbar eine havarierte Jacht abgeschleppt hatten, über seinen Vater sprechen. Der eine ärgerte sich darüber, dass die Evakuierungsmaßnahmen Lagunias zu spät eingeleitet worden seien, während der andere argumentierte, die Oberon hätte den Zivilschiffen viel mehr Zeit verschaffen können.

Also wussten sie nicht einmal, dass Konrad Bradley nicht mehr an Bord war, sondern sich auf dem Schiff des Admirals in Gewahrsam befand. Das konnte nur bedeuten, dass die anwesenden Techniker bewusst nichts davon erzählt hatten, um die Zivilisten nicht zu verschrecken – oder zu beschäftigt waren, um darüber zu reden. Worüber sie aber hier und da redeten, waren die fremden Invasoren, die sie angegriffen hatten. Anders als er selbst hatten sie keinerlei Sensor- oder gar Teleskopaufnahmen der Aliens zu Gesicht bekommen und bezogen ihre Informationen lediglich aus dem Flurfunk des Schiffs, was zu den verrücktesten Gerüchten führte. Einige glaubten, sie wären von einer geheimen Clickflotte angegriffen worden, die in der Dunkelheit des Alls entwickelt worden war, andere schworen Stein auf Bein, dass es sich um die zurückkehrenden Lagoon handeln musste, die sich an der Besetzung ihrer ehemaligen Heimatwelt rächen wollten und ein paar murmelten gar hinter vorgehaltener Hand, dass die Föderationsflotte endgültig genug von ihrer Parallelgesellschaft hier draußen im Nirgendwo hatte und deshalb den Hammer ausgepackt habe. Das Informationsgefälle zwischen Brücke und Mannschaft war also zweifellos so groß, dass es einer raschen Intervention seitens der Führungsmannschaft bedurfte, damit sich diese verrückten Geschichten nicht noch weiter verbreiteten und an Dynamik gewannen.

Nachdem Jason sein Ziel erreicht hatte – eine große Gruppe Rekruten, die er an ihren unsicheren Mienen erkannte und an den rasierten Gesichtern und penibel geflochtenen Zöpfen –, ging er direkt auf sie zu. Sie standen etwas hölzern unter einem der riesigen Abzugsgitter an der Hangarwand, umringt von Flüchtlingen, die um sie herum kauerten oder schliefen. Sie waren erschreckend jung und die glatte Haut auf ihren Wangen zeugte von dem Reglement der Grundausbildung, das auch draußen bei Lagunia gegolten hatte. Weich und unerfahren waren sie und die Angst schien aus ihren Poren zu diffundieren und die Luft mit einem säuerlichen Geruch zu schwängern.

»Rekruten!«, sagte er zackig, aber nicht zu streng und die vier Soldaten und zwei Soldatinnen zuckten zusammen und nahmen dann instinktiv Haltung an. »Warum stehen Sie hier herum?«

Auch in die Flüchtlinge in der Nähe kam Bewegung, wenn auch eher behäbig und entsprechend ihrem Grad der physischen und psychischen Erschöpfung.

Keiner von ihnen antwortete, doch die erschrockenen Mienen reichten ihm aus.

»Seaman Kenneth«, sprach er denjenigen an, der ihm am nächsten stand.

»Sir?«

»Haben Sie Anweisungen erhalten?«

»Ja, Sir. Wir erhielten den Befehl, uns, äh, unsichtbar zu machen«, antwortete Kenneth mit offensichtlichem Unbehagen.

»Das ist jetzt vorbei. Diese Menschen hier brauchen Hilfe und wir werden sie Ihnen geben. Verstanden?«, fragte er mit lauter werdender Stimme.

»Verstanden, Sir«, antworteten sie im Chor.

»Gut. Seaman Kenneth, was denken Sie, brauchen diese Leute am meisten?«

»Ähm, ich glaube Wasser?«

»Falsch«, sagte Jason mit versöhnlicher Miene. »Sie brauchen Ordnung und Hoffnung, wissen Sie auch warum?«

»Nein, Sir.«

»Weil sie dann die Klarheit haben, uns selbst zu sagen, was sie brauchen oder nicht brauchen. Wir sind nicht hier, um zu entscheiden, was gut für sie ist, sondern dafür, zuzuhören und dann zu tun, was wir können, während wir gleichzeitig daran arbeiten, diesen Hangar wieder gefechtsbereit zu machen.«

»Verstanden, Sir.«

»Gut.« Jason registrierte die wacher gewordenen Blicke der Flüchtlinge in ihrer direkten Nähe, die ihrem Gespräch zwangsweise lauschen mussten, tat aber so, als würde er sie nicht bemerken.

»Sie sechs werden jetzt Folgendes tun: Sie sammeln alle anderen Gruppen von Rekruten ein, die Sie hier im Hangar finden können. Es müssten genau 100 sein. Unterwegs weisen sie die Techniker auf meinen Befehl hin an, so viele Flüchtlinge wie möglich auf die Flügel der Barracudas zu bringen, damit wir mehr Platz haben. Fragen?« Er sah in die Runde. Eine brünette Rekrutin hob ihre Hand.

»Ja, Seaman?«

»Sir, das wird den Technikern nicht gefallen, und …«

»Meine Anweisungen stehen. Wenn sich jemand weigert, soll derjenige zu mir kommen, oder direkt zu Lieutenant Commander Murphy gehen.« Jason sah das unbehagliche Zögern in ihren Augen, das er von sich selbst aus der Grundausbildung kannte. Es war immer dann durch seine Eingeweide gekrochen, wenn ein Vorgesetzter ihm oder seinen Kameraden etwas aufgetragen hatte, das nicht ihrem Rang entsprach oder einen Unteroffizier oder gar Offizier verärgern könnte. »Sie sind Rekruten, handeln aber in meinem Auftrag. Außerdem werde ich jedem hier an Deck die Uniform auf links drehen, der nicht mit am selben Strang zieht. Wir alle hier sind Menschen und das, was uns da draußen angegriffen hat, definitiv nicht. Also werden wir uns zusammenreißen und das tun, was verdammt noch mal notwendig ist, damit es uns allen bald besser geht. Einschließlich dieser Zivilisten. Klar?«

»Klar, Sir.«

»Gut.« Jason wartete, bis sie sich davongezwängt hatten. Sie gaben sich große Mühe, die zusammengekauerten Flüchtlinge nicht anzustoßen – ganz im Gegensatz zu den Technikern, die recht rabiat mit den Zivilisten umgingen und sie als Störung in einem extrem stressigen Arbeitsumfeld zu betrachten schienen. Es war leicht, im Flottendienst zu vergessen, wofür man überhaupt kämpfte. Natürlich war da immer das Wissen, dass es um das Überleben der eigenen Spezies ging, gegen einen außerirdischen Feind, der so anders und so aggressiv war, dass es auf eine einfache Gleichung hinauslief: wir oder sie. Das wusste jeder Soldat im Flottendienst, nicht nur weil ihnen in der Grundausbildung eingeprügelt wurde, dass es hier nicht um den Spaß an der Waffe oder ein Abenteuer zwischen den Sternen ging, sondern um Leben und Tod und die Frage, ob die Menschheit ein weiteres Jahrzehnt erleben oder im atomaren Holocaust vergehen würde. Es dauerte in der Regel jedoch nicht lange, bis die Kameraden selbst miterlebten, was auf dem Spiel stand. Selten verging ein Monat, in dem nicht die Nachricht über den Tod eines Freundes oder einer Freundin eines Bekannten die Runde machte. Verlust war ein ständiger Begleiter, der zu gleichen Teilen zermürbend und zusammenschweißend war und eine Extraschicht Soldatenkitt hervorbrachte. Jason war selbst noch jung für seinen Rang, was nicht bloß Zeichen des massiven Offiziersmangels in der terranischen Flotte war, sondern auch eines dafür, dass Krieger wie er mit Mitte 30 schon mehr Tod und Zerstörung miterlebt hatten, als die meisten Soldatengenerationen vor ihnen zusammengenommen. In all diesem Feuer, dem Stress und der ständigen Alarmbereitschaft war es leicht, zu vergessen, dass es daheim Milliarden Zivilisten gab, die darauf bauten, von ihnen beschützt zu werden. Nicht etwa faule Taugenichtse, die keine Waffe in die Hand nehmen wollten, wie die Pazifisten, die als kleine Minderheit genügend Doppelmoral besaßen, um die eigene Infrastruktur zu sabotieren, sondern Männer, Frauen und mittlerweile sogar Jugendliche, die in der Kriegswirtschaft arbeiteten. Dazu gehörten die Vertikalfarmer, die Mechatroniker und Drohneningenieure, die Maschinentechniker, Ärzte, Krankenpfleger und Arbeiter an den Fließbändern und in den Roboterfabriken. Sie alle sorgten dafür, dass die Menschheit ihren Verteidigungskampf aufrechterhalten konnte.

Es dauerte beinahe eine halbe Stunde, bis die ersten Rekruten zu ihm kamen. Nicht aus der Gruppe, die er ausgesandt hatte, sondern andere, die von ihnen hergeschickt worden waren. Glücklicherweise hatte sich die Menge Flüchtlinge vor ihm bereits reduziert, da schon einige auf den Stummelflügeln der Barracudas Platz genommen hatten und somit für Freiraum sorgten. Er wies die jungen Männer und Frauen an, die gelichtete Ansammlung Zivilisten weiter zurückzuschicken, damit sie genügend Freiraum für die nächsten Rekruten hätten.

Eine weitere halbe Stunde später standen einhundert Rekruten in drei ordentlichen Reihen an der Hangarwand in Bugrichtung, die Hände hinter den Rücken verschränkt und die Blicke geradeaus, wie es nur Rekruten taten, wenn sie auf Anweisungen warteten. Bevor er sich an sie wenden konnte, kam Murphy mit rotem Gesicht angestapft. Jason war nicht überrascht.

»Flüchtlinge auf meinen Vögeln? Geht’s noch? Das sind doch keine Vergnügungsplattformen! Wir müssen die Dinger schnellstmöglich gefechtstauglich machen, sonst reißt die XO mir den Schädel von den Schultern. Wir sind nicht hier, um Zivilisten Hochbetten zu bauen!«, begann der Chief seine Tirade und funkelte Jason aus zu Schlitzen verengten Augen heraus an. Seine Stimme war laut genug, um den halben Hangar zum Verstummen zu bringen, was nicht nur wegen des Hintergrundwummerns der Oberon erstaunlich war, sondern auch wegen der vielen Arbeitsgeräusche an Deck.

Jason nickte bloß und vergewisserte sich, dass die Flüchtlinge hinter Murphy sie beobachteten, ehe er antwortete.

»Ich verstehe das, Karl«, sagte er betont ruhig. Seine Miene blieb bedacht – zumindest hoffte er das. »Es ist nur vorübergehend. Ich muss den Hangar neu organisieren, damit wir die Zivilisten angemessen versorgen können und ihr euch nicht gegenseitig im Weg steht. Diese Leute brauchen Wasser, Nahrungsmittel und Platz zum Schlafen und zum Waschen. Ihr braucht Platz zum Arbeiten und Rangieren. Genau das werde ich sicherstellen.«

»Danach sieht es aber nicht aus, ich denke, dass …«

»Eine Stunde, mehr brauche ich nicht. Diese Leute sind Harbinger«, sagte Jason laut. »Wenn sie eine Aufgabe haben, die erledigt werden muss, werden sie sie schnell und ohne zu murren tun, darauf gebe ich dir mein Wort.«

Murphy fletschte die Zähne und nickte. Er verstand, was Jason hier tat. »Also gut. Aber mach verdammt noch mal schnell!«

Der bärenhafte Ingenieur stapfte davon und hunderte Blicke folgten ihm.

»Also gut«, griff er die Worte des anderen Offiziers auf, nur deutlich lauter, sodass seine Stimme so weit schallte, wie es der Lärm zuließ. »Wir alle hier sind unzufrieden mit der aktuellen Situation. Wir alle haben Menschen verloren oder zurückgelassen und wir alle werden für den Rest unseres Lebens mit der Schuld der Überlebenden zu kämpfen haben. Aber das haben schon viele Generationen vor uns geschafft, also werden wir es auch schaffen. Ich weiß, dass Sie alle sich bevormundet fühlen, wie Menschen zweiter Klasse, die von der Crew der Oberon hin und her geschoben werden. Woher ich das weiß? Ich würde mich genauso fühlen. Deshalb muss sich das ändern.«

»Was wissen Sie schon?«, rief jemand aus der sitzenden Menge.

»Ich bin kein Zivilist und meine Familie ist …« Jason stockte kaum merklich. »… noch am Leben. Aber ich weiß, dass wir von einer fremden außerirdischen Macht angegriffen wurden, die uns keine Chance gelassen hat. Ich bin erst kurz vor der Schlacht ins System gekommen, und zwar mit Sicherheit gegen den Willen vieler hier auf dem Schiff. Der älteste Sohn von Konrad Bradley, der den Schoß Harbingens verlassen hat, um bei der Flotte zu lernen.« Er sah viele abwertend heruntergezogene Mundwinkel, aber diese Reaktion kannte er bereits. »Ich bin ein Außenseiter unter euch, genau wie ihr Außenseiter unter uns Soldaten seid. Darum maße ich mir auch nicht an, euch und eure Bedürfnisse zu verstehen. Dafür habe ich zwei Spezialisten. Lilly? Simon? Kommt ihr mal zu mir?«

Jason wartete, bis an zwei Stellen Bewegungen zwischen den grau gekleideten Leibern zu sehen waren und die beiden Kinder geschickt durch die Menge navigierten, bis sie mit großen Augen bei ihm standen. Die vielen Blicke, die auf ihnen ruhten, schienen in ihnen eine Mischung aus Stolz und Verschüchterung auszulösen. Er legte beiden eine Hand auf die Schulter.

»Ich habe Lilly und Simon gebeten, sich bei euch umzuhören. Kinder haben keine eigene Agenda und können in der Regel besser zuhören als wir Erwachsene. Außerdem«, er zupfte an seinem Rangabzeichen, »interessieren sie sich nicht für das hier.«

Es gab kein Geschmunzel oder gar zustimmendes Nicken, aber immerhin keine Zwischenrufe und das wertete er als Erfolg.

»Also ihr beiden: Was habt ihr herausgefunden? Was braucht ihr am meisten?«, fragte er laut.

»Wasser und Klos«, antwortete Lilly mit dem Stolz einer Schülerin, die etwas wusste.

»Und Betten zum Schlafen. Alle sind sehr müde«, fügte Simon rasch hinzu.

»Die Techniker tun uns weh, weil sie schwassen!« Lilly nickte mit ihrem Kopf.

Jason musste lächeln. »Schweißen? Das habe ich schon gesehen und das muss aufhören.«

»Hör auf drum rum zu reden! Wird auch gehandelt?«, rief jemand dazwischen.

»Er war bei uns«, ertönte eine andere Stimme und Jason sah die dazugehörige Frau in einer der vorderen Reihen. Ihre Jacke war von Brandlöchern verunziert. »Hat die Techniker weggeschickt mit ihren Schweißgeräten. Hört ihm einfach zu, es kann doch eh nicht schlechter werden, um Gottes willen!«

»Diese Rekruten hier«, fuhr er nach einem Nicken in Richtung der Frau fort, »stehen unter meinem Kommando und werden dafür sorgen, dass wir uns hier so gut wie möglich einrichten. Wir sind ein Schlachtschiff im Gefecht und das bedeutet, dass wir uns an einem sehr ungemütlichen Ort befinden. Aber wir können uns wenigstens Mühe geben, es so gut wie möglich zu machen. Ich weiß, dass ihr erschöpft seid, aber ihr werdet ihnen helfen müssen, damit das funktioniert. Ich will offen zu euch sein: Den meisten Soldaten an Bord behagt es nicht, Zivilisten an Bord zu haben. Das liegt daran, dass wir auf reibungslose Abläufe trainiert sind, die unsere Überlebenschancen erhöhen. Jede Hürde dazwischen könnte unseren Tod und den unserer Kameraden bedeuten. Aber ich bin mir sicher, dass wir daran etwas ändern können.«

Er ließ den Blick über die Menge schweifen. »Ich sehe in euch nicht bloß Zivilisten, sondern Raumfahrer, die mit Schiffen arbeiten mussten, die in den Kernwelten und sogar vielen Randwelten als Museumsstücke oder Schrottware bezeichnet worden wären. Aber ihr wisst, wie man selbst anpackt, sie repariert und habt selbst unter schlechten Bedingungen rausgeholt was geht. Das alles trifft auch auf die Oberon und ihre Besatzung zu, darum bin ich mir sicher, dass wir euch noch dringend brauchen werden, und diese Männer und Frauen dort«, er zeigte vage in Richtung der Techniker, die weiter hinten unermüdlich arbeiteten, wenn sie ihm nicht gerade zuhörten, »werden das noch früh genug erkennen. Dazu braucht es aber erst einmal Veränderungen. Mit meinem Rang auf diesem Schiff kann ich euch helfen, aber erst einmal müsst ihr mir helfen, damit das geht. Aufgrund von Schiffsregeln dürft ihr als Zivilisten nicht auf den Korridor, das heißt diesen Hangar nicht verlassen – mindestens so lange, wie wir uns in Gefechtsbereitschaft befinden. Darum werde ich die Rekruten gleich nach draußen schicken, und ich bitte euch, den freigewordenen Platz einzunehmen. Setzt euch mit dem Rücken zur Wand, dicht zusammen und immer einen Vordermann vor euch, der sich an eure angezogenen Beine lehnen kann. So sparen wir viel Platz ein, können durchzählen und nacheinander eure Personalien und eure Berufe aufnehmen, um euch einzugliedern. Dann wird man euch nicht mehr wie Flüchtlinge behandeln, sondern als das, was ihr seid: Harbinger, wie wir anderen auch.«

Jason missfiel es, den Rekruten mit dieser letzten Aussage Unbehagen zu bereiten, aber er musste seine Aufgaben priorisieren.

»Immer wenn zehn von euch nebeneinander sitzen, brauchen wir eine Person Abstand dazwischen. Sobald wir dann durch die neue Struktur mehr Platz haben, bitte ich diejenigen von euch, die jetzt auf den Barracudas sitzen, herzukommen. Die Kameraden werden dann dafür sorgen, dass die Jäger und eure Schiffe neu sortiert werden und nicht kreuz und quer stehen. Hier drinnen herrscht reines Chaos, aber es gibt genügend Platz, wenn wir ihn strukturiert nutzen.« Jason machte eine kurze Pause und wartete ab, bis sich das einsetzende Getuschel legte. Dann erst wandte er sich an die Rekruten. »Abtreten in den Korridor, bis ich euch wieder reinhole.«

»Links um abtreten«, rief der Seaman ganz links am vorderen Ende der drei Reihen und die jungen Männer und Frauen gingen in Richtung des ersten großen Schotts davon.

Dann wollen wir mal sehen.

Was dann geschah, erstaunte selbst ihn. Sein Plan ging besser auf als gedacht, denn die Zivilisten stellten sich tatsächlich als typische Harbinger heraus, die dem Klischee seines Volkes entsprachen. Sie taten, was nötig war und ihnen befohlen wurde, und zwar so ruhig, dass er sich fragte, ob seine ganze Taktik im Vorfeld notwendig gewesen war. Nach und nach holte er die Rekruten wieder rein, bis eine Traube von etwa dreißig vor ihm stand und auf Anweisungen wartete. Ihnen war das Unbehagen von ungeliebten Außenseitern anzusehen, die nicht glaubten, etwas bewegen zu können. Aber das würde sich bald ändern.

»Seamen, wir werden jetzt Ordnung in die Sache bringen. Das kann ich nur mit Ihrer Hilfe, also konzentrieren Sie sich. Wir bilden sechzehn Reihen zu je zehn Personen, die immer zehn Personen tief sitzen. Das verschafft uns 16 Blöcke mit je 100 Zivilisten. Ihre Zahl ist eine Schätzung, aber wir werden sehr leicht durchzählen können, wenn es so weit ist.« Jason sah auf sein Handchronometer. »Ich erwarte die genaue Zahl in dreißig Minuten. Vergesst nicht, dass ich auf euch zähle. Mir ist es egal, woher ihr kommt, ihr sorgt euch genauso sehr um eure Heimat wie alle anderen hier, auch wenn die euch für Fremde und Feiglinge halten. Mir ist das egal. Ich gebe euch die Chance, mir hier und jetzt zu zeigen, was ihr draufhabt, und nur das interessiert mich. Abtreten.«

Er selbst machte sich auf den Weg zu Murphy, der faktisch durch das Ausweichen der Flüchtlinge auf seine Barracudas eine Unterbrechung seiner Arbeit hatte schlucken müssen, was ihm ganz und gar nicht gefallen haben dürfte. Bald war es an der Zeit, dass die Flüchtlinge ihre ganz eigene Kröte schluckten, wenn sie mitansahen, wie ihre geliebten Schiffe – oder was davon übrig war – über Bord gingen. Ein Preis war zu zahlen und er musste dafür sorgen, dass die Rekruten bis dahin fertig waren und Techniker und Zivilisten voneinander trennen konnten. Es würde schlimmer werden, bevor es besser wurde, und sie würden ihn möglicherweise hassen, aber das war er gewohnt und nahm es in Kauf. Er wusste nämlich, dass es ihnen bald schon besser gehen würde, und auch wenn es Zeit kostete, würden sie erkennen, dass es die einzige Lösung gewesen war. Und falls nicht, hatten sie wenigstens überlebt und eine Chance, in die Oberon eingegliedert zu werden. Denn die Alternative war … nun, es gab keine Alternative.

4

Die Quantum Bitch klemmte wie eine Zecke mit ausgefahrenen Beißwerkzeugen unter dem Rumpf der Starvan 66, wie Dev den Linienraumer getauft hatte – schließlich handelte es sich um das 66.

---ENDE DER LESEPROBE---