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SOL ist gefallen und Terra befindet sich im Würgegriff der Clicks. Unter einem künstlich verdunkelten Himmel und Orbitalschlägen, die jeden Kommunikationsversuch von der Erde in den Weltraum im Keim ersticken, versucht Sirion, die Codes des Omega herauszuschaffen, ehe es Vernichtung aus dem Himmel regnet. Jason und Baker beobachten deshalb etwas Merkwürdiges: es scheint, als würden die Clicks einen regen Shuttleverkehr zwischen Orbit und Pazifik aufbauen. Sie sehen ihre Chance gekommen, sich aus dem Staub zu machen, müssen jedoch einen hohen Preis zahlen. Die Oberon leckt derweil am S1 nahe der Sonne ihre Wunden und kommt zu einer Übereinkunft mit Admiral Rosenberg von der Carcassonne, bis ein Befehl von Flottenadmiral von Solheim eintrifft und sie zu einem Himmelfahrtskommando abberuft ...
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Himmelsfestung, Situation Room
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Epilog: Krieg und Frieden
Nachwort
Fidel Soares ließ sich von dem Wackeln des Eselkarrens in einen unruhigen Halbschlaf schunkeln, der ihm mehr Erinnerungen als Träume bescherte. Die letzten drei Tage waren ein hektisches Hin und Her gewesen, in denen das Flottenhauptquartier vor Geschäftigkeit explodiert ist. Mehrere 10.000 Mitarbeiter der wichtigsten Militäreinrichtung der Föderation waren durch die zahllosen Gänge und Kavernen unter den Gipfeln des Himalaya gelaufen wie in einem aufgebrochenen Termitenhügel. Meldungen von der ganzen Welt liefen hier zusammen und malten ein recht einheitliches düsteres Bild: Die Clicks hatten sämtlichen Widerstand im Orbit weggefegt, nachdem die menschlichen Verteidiger mit letzter Kraft die unheimlichen Aliens abgewehrt hatten, die aus dem Hyperraumtor nach SOL gekommen waren. Dass es überhaupt noch ein Artemis- und ein Unity-Halo gab, hatten sie womöglich Flottenadmiral von Solheim zu verdanken, der befohlen hatte, die letzten Munitionsreserven dafür zu verwenden, die über 36 Stunden verteilt abstürzenden Teile des Novigrad-Halos abzuschießen, ehe sie zu ernsthaften Bedrohungen für die Erde werden konnten. Als die Clicks dann Luna passierten, gab es schlicht kaum noch etwas, das man ihnen hätte entgegenwerfen können, abgesehen von sechzig mehr oder weniger zusammengeschossenen Überbleibseln der aufgeriebenen Strike Group 12, die der Admiral ins äußere System beordert hatte. Das, was noch fliegen konnte, sollte nicht beim sinnlosen Versuch pulverisiert werden, etwas zu schützen, das nicht mehr zu schützen war.
Terra war verloren und das war jedem Flottenangehörigen und jedem Menschen, der Zugang zu einem Feed hatte, nur allzu schmerzlich bewusst gewesen. Glück hatten die letzten Zivilschiffe gehabt, die über den S1 aus dem System gesprungen waren. Als die Clicks im Orbit angekommen waren, hatte jeder Analyst im Hauptquartier und bei den Medien damit gerechnet, dass sie als Nächstes die orbitalen Verteidigungsplattformen, dann die Null-G-Industrieanlagen und Luna bombardieren würden. Aber das taten sie nicht. Die letzte Strategie, die von Solheim ausgegeben hatte, war eine äußerst umstrittene gewesen: keine Gegenwehr. Die Wut darüber war in den Korridoren unter dem Himalaya stark genug hochgekocht, dass Fidel sich vorgestellt hatte, wie dunkler Rauch aus den Lüftungsschächten im Eis über ihnen quoll und ihre Position verriet. Doch entweder der Flottenadmiral wusste etwas, wovon sie hier unten keine Ahnung hatten, oder er hätte auch eine Karriere als professioneller Glücksspieler einschlagen können. Das bedeutete nicht, dass die Außerirdischen passiv gewesen wären – im Gegenteil: Sie hatten als Allererstes die Fahrstühle der vier äquatorialen Orbitalaufzüge abgeschossen und dann die des einen, der die beiden Teile des Flottenhauptquartiers auf dem Boden und im Orbit verband. Dazu gehörten auch die Kommunikationspanels an ihren jeweiligen Basen, sodass sie faktisch nicht mehr miteinander reden konnten. Seither war die Erde vom Orbit abgeschnitten, da an Funk- oder Lasersignale nicht zu denken war; die Clicks sendeten ein so massives Störfeuer, dass es nichts als weißes Rauschen gab. Zudem hatten sie Unmengen von Mikrozellulose in die oberen Atmosphärenschichten gekippt, die für einen diesigen Schimmer sorgte. Bis die ultraleichten Teilchen ihren Weg hinunter zum Boden fanden, würden Tage, wenn nicht Wochen vergehen.
Aber so viel Zeit hatten sie nicht. Die Erde war auf Nahrungsmittellieferungen der hydroponischen Farmen auf Ganymed und Europa angewiesen. Zwar produzierte sie genügend Proteinmasse für die Synthetisatoren, aber die Erzeugnisse der Monde draußen am Rande des inneren Systems mit ihren riesigen Orbitalspiegeln versorgten sie mit den Massen an Vitaminen und Mineralstoffen, die aus natürlichen Quellen in Supplementform gepresst wurden, um die Nahrungsbreis auf Terra mit Vitalstoffen anreichern zu können. Diese Lieferungen blieben seit Tagen aus – kein Problem, das sie auf kurze Zeit umbringen würde, aber mehrere Wochen oder gar Monate hatten sie nicht, ehe die Hungersnöte und damit das Sterben beginnen würden.
Aber da war noch mehr. Der Grund dafür, dass er, Fidel Soares, in einem nanonischen Raumanzug mit Wolllumpen darüber auf einem Eselskarren über die holprigen Schotterwege der Sherpas rumpelte und durch die heftigen Schneeverwehungen den fahlen Strich auszumachen versuchte, der den Mount Everest mit der dunklen Nacht verband, die aufgrund der Mikrozellulose keinen Mond und keine Sterne zeigte: eine Chance. Gering nur, aber eben eine Chance. Dass sie auf seinen schmalen Schultern ruhte, machte ihm keine Sorgen, sonst hätte man nicht ausgerechnet ihn ausgewählt, einen Testpiloten für Atmosphärenjäger. Er wusste, was auf ihn zukam und was auf dem Spiel stand, aber das war kein Grund für irrationale Gedanken. Was zu tun war, lag in seiner Macht, also konnte er genauso gut fokussiert und rational bleiben und seinen Job machen, während er den Hintergrund seines Jobs schlicht und einfach ausblendete.
Erst gestern hatten seine Vorgesetzten versucht, einen improvisierten Seilschlitten über eines der Hauptkabel nach oben zu schießen, um Kontakt mit der Himmelsfestung und von Solheim aufzunehmen. Aber die Clicks hatten das zwei Meter lange Gerät sofort mit einem Laser verdampft und hätten dabei beinahe das Kabel durchtrennt, was ein absolutes Desaster gewesen wäre. Sollte das passieren, würde der gesamte Aufzug ins All geschleudert werden und keine Kraft im Universum würde ihn aufhalten können. Insofern hatten sie Glück, dass die Aliens es offenbar nicht auf maximale Zerstörung abgesehen hatten, denn die wäre sehr leicht erreichbar gewesen. Sie hätten bloß Unity oder Artemis chirurgisch zerlegen und zusehen müssen, wie die Trümmer die Erde in eine Strahlenhölle verwandelten. Diejenigen, die nicht durch die massiven Einschläge gestorben wären, hätte es in den Wochen und Monaten danach zurück in die Steinzeit und einen sehr finsteren, sehr langsamen Tod getrieben.
Aber das war kein Grund, die Sektkorken knallen zu lassen, weil der Weltuntergang verschoben war. Wenn überhaupt bedeutete diese unerwartete Entwicklung, dass die Flotte ein Problem mehr hatte, da der Feind sich nicht so verhielt wie prognostiziert. In keinem Kriegsszenario war das eine gute Nachricht, schließlich war Berechenbarkeit mehr wert als Überraschung. Dass die Clicks nicht zum Spaß hier waren, hatten sie nicht zuletzt mit einem gezielten Bombardement sämtlicher Kommunikationseinrichtungen auf dem Boden und EMP-Bomben über den planetaren Verteidigungszentren klar gemacht. Auch hatten sie alle Schiffe, die den Orbit zu erreichen versuchten, ebenfalls vom Himmel gefegt. Eine Blockade also. Hinzu kam, dass sie seltsam passiv blieben, wenn man von den Shuttles absah, die sie in den Pazifik und das antarktische Meer hinabschickten. Die Aufklärungsdaten waren ohne Satellitenbilder im besten Fall lückenhaft, aber die Analysten waren sich recht sicher, dass Dutzende Shuttles teilweise für Stunden lang im Ozean verschwanden oder gar nicht mehr auftauchten. Fidel hatte keine Ahnung, was das bedeuten könnte, das war nicht sein Job, aber viele seiner Kollegen hatten nur zu gerne fantasiert: Die Clicks wollten sie versklaven und nach und nach auf ihre Industriemonde verschiffen, wo sie ähnlich wie in einem Gulag arbeiten mussten, bis sie starben. Die Clicks wollten sie als nahrhaften Rohstoff für ihre eigenen Proteinsynthetisatoren abbauen, aber nur gerade so viel, dass die Gesamtzahl der Menschen stabil blieb und kostengünstig nachwuchs. Die Clicks wollten eine menschliche Marionettenregierung installieren und sie zu einer Vasallenrasse in ihrem Imperium machen. Die Clicks etablierten so lange eine Blockade, bis sie endlich ihre Sprache dekodiert hatten und ihre besten Wissenschaftler aussortieren und entführen konnten, um Know-how abzugreifen und technologisch weiterzukommen. Die Clicks führten den Weltmeeren ein Toxin hinzu, das sie langsam mutieren lassen würde, sobald es sich mit der Atmosphäre vermischt hatte.
Die Liste an Spekulationen war lang, aber Fidel hatte sich nicht an ihnen beteiligt, weil er sich auf seine Mission vorbereiten musste. Der Admiralsrat des Flottenhauptquartiers war sehr deutlich gewesen, dass ihre Chance eine geringe war, aber nicht unmöglich und sollte er Erfolg haben und von Solheim einverstanden sein, sie es zumindest versuchen konnten. Fidel freute sich auf eine Herausforderung, die in die Geschichtsbücher eingehen würde, genau wie jeder andere Testpilot es getan hätte – trotzdem wäre er in der aktuellen Situation froh darüber gewesen, wenn sie keine Hilfe aus dem Orbit benötigt und einfach auf einen roten Knopf hätten drücken können.
Eine Stunde später erreichte sein Karren das Ende des Weges und er stieg ab, um seinen Rucksack mit den achtzehn Sauerstoffpäckchen zu schultern und den Rest zu klettern. Dabei ging ihm lange durch den Kopf, dass diesen Aufstieg viele tausend Menschen vor einigen hundert Jahren ohne Sauerstoff und ohne komplett isolierten nanonischen Raumanzug absolviert hatten. Allein ein Blick auf sein Head-up-Display mit den Daten zum Sauerstoffanteil in der Umgebungsluft ließ ihn bei dem Gedanken den Mund verziehen. Ganz abgesehen von der bitteren Kälte und dem eisigen Wind. Für ihn war es zwar kein Spaziergang, aber auch nicht mehr als eine etwas anstrengendere Wanderung. Sein intelligenter Anzug hielt seine Körpertemperatur angenehm stabil, er atmete recycelte aber frische Luft, die, mit seinen Nachfüllpacks, noch für zwei Tage ausreichen würde, und seine Visieranzeigen markierten exakt den Weg, den er zu nehmen hatte, um möglichst schnell und sicher an seinem Ziel anzukommen.
Der Orbitalaufzug endete (oder begann) in einem fünfzig Meter durchmessenden Loch in der Spitze des Mount Everest, das tief nach unten reichte, wo sich die Station für die insgesamt sechs Fahrstühle an den sechs Kabeln befanden, die zu Hochzeiten recht geschäftig gewesen und vor Offizieren und Adjutanten nur so gewimmelt hatten. Als Fidel den Rand erreichte, konnte er sie jedoch nicht sehen, genauso wenig wie die zerfetzten Reste der Fahrstuhlkabinen, die irgendwo auf den 35.000 Kilometern zwischen hier und der Himmelsfestung an ihren Kabeln hingen. Da war nur der mannsdicke Rumpf, um den sich die sechs armlangen Seile anordneten. Dass etwas so fragil Anmutendes eine so massive Raumstation an ihrem Ende halten konnte, überstieg selbst Fidels Vorstellungskraft als studierter Luftfahrtingenieur.
Aus seinem Rucksack holte er die Magnethakenpistole mit dem aufgerollten Monofilamentseil und steckte sie an seinen magnetisierten Werkzeuggürtel. Danach aktivierte er seine ebenfalls magnetischen Handschuhe. Die zerstörten Fahrstuhlkabinen waren mittels Magnetismus an den Kabeln auf und ab gefahren und genau das würde er auch tun. Das klang selbst für ihn noch verrückt, der er mit fünfzehnfacher Schallgeschwindigkeit in winzigen Streamjets durch die Stratosphäre gejagt war, die irgendein ambitionierter Tüftler zusammengebastelt hatte.
»Verrückte Zeiten brauchen verrückte Maßnahmen«, murmelte er in seinen Helm hinein. Es war ein merkwürdiges Gefühl, in vollkommener Stille dazustehen, während um ihn herum der Wind pfiff und Schneeverwehungen bei -30°C seinen Körper umtosten. Aber hätte er die Akustikübertragung nicht ausgeschaltet, hätte ihn die Hintergrundmusik der lebensfeindlichen Natur bloß abgelenkt.
Fidel hielt seine Hände nach vorne und wartete, bis sein HUD ihm signalisierte, dass die Handinnenflächen magnetisiert waren, dann ging er in die Hocke und sprang ab. Acht Meter waren eine lange Distanz, selbst für ihn, und so segelte er zwar nach vorne, aber auch ein ganzes Stück nach unten, bevor er das von ihm anvisierte Kabel zu packen bekam und seine Magnethandschuhe ihn daran fixierten. Es war nicht dicker als ein Unterarm und ließ sich gut umfassen.
Er gönnte sich eine Minute, um seinen Atem zu beruhigen, und hätte beinahe seine Helmlampen eingeschaltet, ehe er sich daran erinnerte, dass er genau das nicht tun sollte. Vorsichtig löste er eine Hand und zog die Knie an, um seine Beine um das Kabel zu knoten und dann beide Hände frei zu haben. Wie ein Schimpanse an einem Baumstamm nahm er seinen Rucksack von den Schultern und begann methodisch, die kleinen Kästchen mit dem programmierten Silizium auszupacken, die sich vor seinen Augen zu einem Schlitten zusammensetzten. Das Gerät aus den Schmieden der Ingenieure sah aus wie eine etwas größere Tube, ein Kegel von einem halben Meter Länge und dreißig Zentimetern Durchmesser, in dem sich neben den Magnetschlitten Null-T-Energiespeicher dicht aneinanderreihten und ihm hoffentlich genügend Saft für sein verrücktes Vorhaben bereitstellten. Ihre Kapazität war äußerst knapp bemessen, damit möglichst viel Carbinwolle als Signaturabschirmung verbaut werden konnte. Entweder es würde ausreichen, oder die Admiräle würden ihn schon sehr bald als roten Fleck irgendwo hier unten wieder sehen.
Als er fertig war, packte er die beiden winzigen Vertiefungen an dem Kegel – magnetische Induktionsfelder – und stellte seine Füße auf die noch winzigeren Rasten an der Unterseite ab, nachdem er den Rucksack wieder geschultert hatte.
»Roccat bereit«, sagte er in seinen Helm, wohl wissend, dass ihn niemand hören konnte. Nicht bei dieser Mission. Trotzdem fühlte er sich besser, in einer Ausnahmesituation wie dieser so viel Normalität aufrechtzuerhalten, wie ihm möglich war. Anders hätte er womöglich einfach umgedreht und wäre davongelaufen. »Start in drei, zwei, eins …«
Fidel aktivierte den Elektroschlitten und wurde innerhalb von drei Sekunden auf einhundert Kilometer pro Stunde beschleunigt, was sich anfühlte, als wäre er eine Fliege, die von einer Windschutzscheibe abzurutschen drohte. Aber er rutschte nicht ab. Stattdessen jagte er mit gleichbleibender Geschwindigkeit an dem einsamen Strunk des Weltraumfahrstuhls hinauf in die trübe Nacht hinein. Das Firmament schimmerte unwirklich durch den Glitzer der Mikrozellulose, die von oben das Mondlicht reflektierte, als hätte eine alte Gottheit im Himmel Milch vergossen. Unter ihm lag der Mount Everest in vollkommener Dunkelheit, abgesehen von einigen wenigen roten Positionslichtern an den Rändern. Seit die irdische Flottenleitung alle aktiven Signale abgeschaltet hatte, um dem Feind keinerlei Informationen über mögliche Angriffsziele zu geben, konnte man sich von außen beinahe vorstellen, wie der Himalaya ausgesehen hatte, bevor die Menschheit ihn ausgehöhlt hatte, um ihre wichtigste planetare Militäreinrichtung zu beheimaten – auch wenn es sich größtenteils um den ungeliebten Ausbildungs- und Bürokratiesektor handelte.
Nach einer halben Stunde durchstieß er den Zelluloseschimmer, ohne dass es irgendeinen nennenswerten Effekt gegeben hätte, als dem, dass er kurzzeitig dachte, sein Visier sei beschlagen, ehe er die Sterne wieder funkeln sehen konnte. Der Mond befand sich ganz rechts von ihm und schien zwischen dem Strunk des Aufzugs und seinem Kabel hindurch, das unter ihm im Schimmer verschwand. Über ihm ging es weiter nach oben und verlor sich irgendwo in der Dunkelheit. Dadurch, dass er in vollkommener Stille und ohne Lichtquelle nur mit passiven Systemen arbeitete, fühlte sich sein Aufstieg wie eine Erleuchtung an. Fidel war eins mit seiner Umgebung, verschmolz förmlich mit der Dunkelheit ohne jegliches Gefühl von Widerstand oder Schwere.
Noch eine halbe Stunde später gab es keinerlei Luftwiderstand mehr und der Schlitten beschleunigte auf zehnfache Geschwindigkeit, bis er eintausend Kilometer pro Stunde erreicht hatte. Fidel hätte es nicht bemerkt, wenn sein HUD ihn nicht darüber informiert hätte. Die Himmelsfestung lag immer noch über 35.000 Kilometer über ihm, irgendwo in der Dunkelheit zwischen den Sternen, unmöglich für ihn oder die höchste Zoomstufe seines Visiers zu erkennen. Genauso gut hätte das Aufzugseil im Nichts verschwinden können. Nach vierundzwanzig Stunden hatte er die Hälfte des Weges geschafft und erreichte bei Kilometer 19.800 die Überreste des Fahrstuhls, den die Clicks zerschmolzen hatten. Sie erinnerten an einen zerfetzten Personenwaggon, von dem bloß noch der Boden übrig war. Die Ränder sahen aus wie geschmolzenes Plastik und er hing scheinbar lose an dem Kabel. Ein totes Gerippe, dessen rote Färbung von den Opfern zeugte, die im Inneren gewesen waren, als die Laser ihre kurze, aber gründliche Zerstörung angerichtet hatten.
Fidel baute den Schlitten ab und verstaute die Siliziumpäckchen vorsichtig in seinem Rucksack, ehe er mit gezielten Handgriffen über das Wrack nach oben kletterte. Da sich die Himmelsfestung im geostationären Orbit befand und nicht im freien Fall, war auch auf seiner aktuellen Höhe die Schwerkraft noch immer genau wie auf dem Erdboden und er musste aufpassen, nicht abzustürzen. Ein falscher Handgriff bedeutete einen langen Sturz und ein rasches Ende als kurzlebige Sternschnuppe, wenn er durch die atmosphärische Reibung verbrannte. Da er sich schon wieder auf der Nachtseite befand, hatte er zumindest den Vorteil, dass das Mondlicht ihm in die Karten spielte, war das der Sonne doch so gleißend gewesen, dass er nicht einmal die Hand vor Augen erkannt und sein abgedunkeltes Visier kaum noch etwas durchgelassen hatte. Wäre er mit einem Energiepack ausgestattet gewesen, hätte er wenigstens auf Sensoren und aktive Software zurückgreifen können.
Fidel tastete sich geduldig vorwärts, wartete, bis er ein Stück des zerklüfteten Wracks in der Hand hielt, das ihn tragen konnte, und suchte dann Halt mit einem Fuß, ehe er mit der nächsten Hand und dem nächsten Fuß weitermachte. Er klammerte die annähernd 20.000 Kilometer aus, die es unter ihm in die Tiefe ging, wo Terra unter einem blassen Schimmer verborgen lag. Auch die Tatsache, dass ihn kein Seil hielt und die Kabine selbst nicht metallisch war und seine Handschuhe keinen magnetischen Andruck lieferten, schob er in einen entfernten Winkel seines Verstandes fort. Stattdessen galt seine Aufmerksamkeit lediglich den nächsten zehn Metern entlang des Wracks.
Bloß eine Kletterwand, versicherte er sich in Gedanken und wählte weiter jeden Griff mit Bedacht. Es war anstrengend und sein Anzug hatte Mühe, seine Temperatur schnell genug anzupassen und den Ausbruch von Schweiß zu verhindern. Aber auch das konnte ihn nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich erreichte er nach zwanzig Minuten den oberen Rand und setzte sich auf die magnetische Schienenführung der Kabinenüberreste, um seinen Elektroschlitten wieder zusammenzubauen. Sobald er damit fertig war, klemmte er sich zurück in Position und aktivierte ihn.
Glücklicherweise hatten die Ingenieure daran gedacht, das improvisierte Gefährt nach dem zweiten Zusammenbau nicht zu schnell beschleunigen zu lassen und so dauerte es zehn Minuten und eine aushaltbare Belastung, bis er wieder mit eintausend Kilometern pro Stunde in die Nacht raste.
Als die Sonne um die Terminatorlinie kam, zuerst als sanftes Glitzern, dann innerhalb von Sekunden als gigantisches Flutlicht, das Fidels Umgebung in eine gleißende weiße Fläche verwandelte, sah er auch die Blockade der Clicks. Obwohl die Distanzen hier oben enorm waren, reichte es aus, seinen Kopf von der Sonne wegzudrehen, um hunderte weißer Punkte zu sehen, die winzig schienen, doch viel zu nah waren, um Sterne zu sein. Es waren die Schiffe der Aliens, die Terra einhüllten wie ein Mantel aus Stecknadeln, die wachsam taten, was auch immer sie taten.
Fidel fragte sich, was wohl in den Köpfen der Roboter vor sich gehen mochte. Bislang hatte er sie immer für Maschinen gehalten, die wie die alten humanoiden Bots dachten, bevor sie in der Föderation geächtet und verboten worden waren; kühl und algorithmisch, ohne Empathievermögen und bloß mit der Simulation von Reaktionen, die als Empathie empfunden werden sollten. Heute fragte er sich, ob ihre Programmierung nicht doch anders war, als die Flotte glaubte. Fidel jedenfalls hätte nach kalter Logik entschieden, den Planeten ihrer Erzfeinde in eine Strahlenhölle zu verwandeln, wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Immerhin hatte die Flotte mit Operation Iron Hammer genau das mit der Welt der Clicks vorgehabt, ganz ohne selbst Roboter zu sein. Vielleicht war Empathiefähigkeit doch kein Schutz davor, Grausamkeiten zu begehen oder kalter militärischer Logik zu folgen und Maschinen, frei von solcherlei chemischen Ballast konnten einen kühleren Kopf bewahren.
Sie würden es sicher bald erfahren, außer, er hatte Erfolg mit seiner Mission und die Admiralität sorgte dafür, dass diese Blockade endete – auch wenn Fidel fröstelte, als er darüber nachdachte, wie diese ›Lösung‹ praktisch aussehen würde.
Zwanzig Stunden später zeigte sein Sauerstoffvorrat noch viereinhalb Stunden Sauerstoff an, nachdem er die letzten beiden Packs angeschlossen hatte. Die Himmelsfestung konnte er bereits als winzigen Stern am Ende des Kabels erkennen (wenn er es sich als Fortführung des kurzen Stücks vor sich weiterdachte, das er gerade noch sehen konnte).
»Ich glaube, das schaffe ich«, murmelte er in seinen Helm hinein, während sein Schlitten mit den letzten Prozent seiner Null-T-Energiereserven weiterfuhr. Wenn die Clicks ihn nicht doch noch abschossen, war dieses Himmelfahrtskommando wirklich geglückt. Was soll ich nach diesem Ritt noch anstellen?
Nichts, denn er würde auf absehbare Zeit nicht mehr auf die Erde zurückkommen, da war er sicher.
Nicholas hob den Blick und starrte das Gesicht an, das ihm aus dem fleckigen Spiegel entgegenblickte. Was jung und straff hätte sein sollen, sah faltig und eingefallen aus. Die Wangen schienen nach innen gesaugt zu werden und wulstige Tränensäcke drohten sich unter den Augen zu bilden, wo die Haut einen ungesunden dunklen Ton angenommen hatte. Selbst das kurze Haar wirkte spröde und verbraucht. Der gesamte Bereich zwischen Nase und Stirn strahlte einen dumpfen Schmerz aus, so als drücke etwas von innen dagegen. Nicholas wusste genau, was dieser Druck mit sich brachte, der sich irgendwann entladen oder ihn zerstören würde. Und doch gab es keinen Weg, ihn abzulassen, ein Ventil zu öffnen. Seit ihrem Sprung waren sie in einen normalen Schichtdienst übergegangen, was bedeutete, dass jeder Matrose an Bord – einschließlich ihm – acht Stunden Schlaf bekam, so er ihn denn fand.
Für ihn hieß das, wach in seiner Koje zu liegen und sich zu weigern, das zu tun, was sein Körper tun wollte: schreien und heulen und auf alles einprügeln, was sich in seiner Kabine befand und nicht aus Stahl oder Komposit bestand. Seine Weigerung hatte einen ganz simplen Grund: Wenn er die Mischung aus vernichtender Trauer und lähmender Ohnmacht zuließ, die der Anblick der Exekution seines Vaters bei ihm hinterlassen hatte, würde er sich schlicht in einem großen Knall auflösen. So fühlte es sich zumindest an. Der brutale Mord an Laura hatte ihm hart zugesetzt und lediglich die Sorgen, der Stress und die Anspannung einer anstehenden Schlacht hatten ihn davor bewahrt, in Schock und Trauer zu versinken. Kurz darauf zu sehen, wie sein übel zugerichteter Vater hingerichtet wurde wie ein Lamm auf der Schlachtbank, war schlicht und einfach zu viel. Dass er in seinen Schichten überhaupt noch funktionierte, lag einzig und allein daran, dass er wusste, dass Jason noch auf der Erde war.
Leise Stimmen in den dunkleren Winkeln seines Verstands wollten ihm zuflüstern, dass sein Bruder unmöglich überlebt haben konnte, aber er weigerte sich, ihnen zuzuhören.
»Ich komme dich holen«, flüsterte er seinem Spiegelbild entgegen und stellte sich vor, Jasons Gesicht zu sehen. »Ich verspreche es.«
Ehe er sich abwandte, verwandelte sich das eingebildete Antlitz vor ihm in die hässliche eingefallene Fratze von Pyrgorates, dessen blutleere Lippen sich zu einem gehässigen Lächeln teilten, und blanker Hass stieg in ihm auf.
»Ich komme dich holen«, wiederholte er, diesmal knurrend wie ein Wolf. Als ein Schmerz in seiner rechten Hand aufflammte, sah er hinab und auf eine Reihe aufgeplatzter Knöchel, aus denen dünne Blutfäden kleine Reliefs auf seiner Haut bildeten. Nachdem er wieder aufsah, bemerkte er, dass ein Krater aus dichten Splittern in der Mitte des Spiegels entstanden war, angefüllt mit roten Fäden zwischen den Sprüngen im Sicherheitsglas.
Sein Chronometer piepte und wies ihn darauf hin, dass seine Schicht begann. Also schrie er innerlich auf und ballte seine Hände zu Fäusten, ehe er sich stumm wie zuvor anzog, seine Wunde desinfizierte und abtrocknete und dann fünf Minuten vor der Kabinentür stehen blieb. Sobald er sicher war, dass seine Miene ausdruckslos und kontrolliert war, trat er hinaus auf den Korridor und machte sich auf den Weg zur Brücke. Die Matrosen, denen er unterwegs begegnete, hoben zum Harbinger Salut ihre zusammengelegten Daumen und Zeigefinger an ihre Barrets und er erwiderte die Höflichkeit . Dabei versuchte er, nicht in ihre Gesichter zu sehen. In den letzten Tagen hatte er genug von dem in ihnen gesehen, was er selbst fühlte (beziehungsweise unterdrückte). Ihren Schmerz zu sehen kam ihm vor, als würde es seinen nur verschlimmern und ihm das letzte bisschen Selbstbeherrschung nehmen können, das ihn noch aufrecht und im Dienst hielt. Die Besatzung brauchte jetzt, während sie unter Schock stand, mehr denn je eine starke Führung, um weiterhin zu funktionieren.
Es war schließlich noch nicht vorbei. Nicht, bis sie Jason zurückgeholt und sich um die Flüchtlingsflotte von Lagunia gekümmert hatten.
Die Stimmung an Bord war seit ihrem Sprung zum S1 nahe der Sonne im besten Fall als gedämpft zu bezeichnen, im schlechtesten als abgrundtief defätistisch. Es gab kaum Gespräche auf den Fluren und Stationen, die Fahrstuhlfahrten mit anderen Besatzungsmitgliedern glichen einer gemeinsamen Fahrt zu einer Beerdigung und zu jedem Schichtwechsel waren das Observationsdeck und die beiden Hangars vollgestopft mit Soldaten, die Mahnwachen abhielten. Die Offiziere der Oberon hatten riesige Banner mit Konrad Bradleys Konterfei drucken und aufhängen lassen und die Mannschaft nahm dieses Trauerangebot in Massen an. Nicholas wusste, dass es Gerede darüber geben würde, dass er bislang auf keiner der Mahnwachen aufgetaucht war, aber er brachte es nicht über sich. Obwohl im klar war, dass man ihn dort erwartete, und sicher viele Männer und Frauen an Bord darauf hofften, ihn zu sehen, den nächstrangigen Bradley auf der Oberon, der ihren Schmerz teilte wie niemand sonst. Nicholas hätte ihnen gerne gegeben, was sie sich erhofften, einen Silberstreif am Horizont, dass mit ihrem geradezu fanatisch verehrten Captain (Admiral) nicht ihre gesamte Welt untergegangen war, die Hoffnung, dass es in seinem Namen irgendwie weiterging.
Aber er schaffte es einfach nicht. Er war wie eine zu stark aufgefüllte Wasserbombe, die beim kleinsten Pikser platzen würde und allein der Gedanke, in tausend oder mehr Gesichter zu blicken, die allesamt seinen Schmerz widerspiegelten, war vernichtend.
Auf der Brücke herrschte eine ähnliche Friedhofsstimmung und es gab kaum etwas von den üblichen gedämpften Gesprächen zwischen den Spezialisten an den Arbeitsstationen auf den Rängen. Stattdessen flöteten die Töne der Computersysteme über dem latenten Wummern der Triebwerke, das in jedem Winkel der Oberon hör- und spürbar war. Wie erwartet traf er auch zu dieser Schicht nur Daussel und Meyer an, die um das Befehlsdeck am hinteren Ende der Brücke standen, in dem sich eine Holodarstellung des SOL-Systems langsam um ihren Mittelpunkt, die Sonne, drehte.
Sie bemerkten ihn erst, als er auf das Podest und in den Reflexionsschein des Holos trat, und sahen auf. Wie jedes Mal war da dieses kurze Aufblitzen von Anspannung, das sie rasch überspielten und wie jedes Mal tat er, als hätte er es nicht bemerkt und nickte ihnen mit unbewegter Miene zu.
»XO«, begrüßten sie ihn nacheinander.
»Colonel, Lieutenant Commander.« Nicholas neigte leicht den Kopf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Neuigkeiten aus der abgelaufenen Schicht?«
»Keine größeren«, antwortete Daussel und deutete auf einige Stellen im äußeren Sonnensystem. »Es gibt Überlebende auf den Saturnmonden, einige Stationen und Siedlungen auf den Jupitermonden senden ebenfalls Notsignale. Wie es aussieht, können sie sich noch ein paar Wochen lang selbst versorgen, aber die Eislieferungen aus dem Gürtel versiegen. Ein Großteil der Icehauler wurde für die Evakuierungen genutzt und jetzt stehen ironischerweise nur noch die zur Verfügung, die entweder Schmugglern, anderen Kriminellen oder denjenigen gehören, die sich geweigert haben, Zivilisten aus dem System zu evakuieren.«
»Nicht die besten, um Versorgungsrouten aufrechtzuerhalten.«
»Nein«, stimmte ihm der Lieutenant Commander zu. »Aber wie es aussieht, leisten sie alle ihren Beitrag, so gut es geht. Genau wie die Piraten, die aus ihren Löchern gekommen zu sein scheinen. Sie patrouillieren den spärlichen Berichten der verbliebenen Horchposten und unseren eingeschränkten Sensorphalangen zufolge in der Nähe der verbliebenen Stationen und Habitate.