Das Letzte Schlachtschiff - Joshua Tree - E-Book

Das Letzte Schlachtschiff E-Book

Joshua Tree

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Beschreibung

Nach einem verheerenden Erstkontakt zwischen der Terranischen Föderation und den außerirdischen "Clicks" kennen viele Generationen nichts anderes als endlosen Krieg gegen Feinde, über die man bis heute kaum etwas weiß. Captain Konrad Bradley ist Kommandant des zum Reservedienst ausrangierten Schlachtschiffs Oberon, dem letzten verbliebenen Titan der Flotte. Als fliegendes Museum verlacht - zu teuer, zu behäbig, zu alt -, fristen Bradley und seine Besatzung von Ausgestoßenen einer längst untergegangenen Kolonie ein langweiliges Leben am entferntesten Rand der menschlichen Hegemonie: dem Lagunia-System. Das ändert sich eines Tages, als Admiral Augustus Bretoni mit der legendären Strike Group 2 eintrifft und die Fertigstellung der geheimsten Technologie der Föderation persönlich überwacht: ein riesiges Hyperraumtor nahe Lagunia, das den Weg zur Heimatwelt der Aliens und damit zum erlösenden Sieg ebnen soll. Doch der Admiral verhält sich seltsam und die mächtigste Waffe im terranischen Arsenal tut nicht was sie soll. Bald schon müssen Bradley und seine Mannschaft erkennen, dass sie das letzte Bollwerk gegen innere und äußere Mächte sind, die nur eine Sache zum Ziel haben: die Menschheit zu vernichten. Eine Military-Space-Opera für Fans von Battlestar Galactica und The Expanse.

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DAS LETZTE SCHLACHTSCHIFF

JOSHUA TREE

INHALT

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Innerer Asteroidengürtel, Attila-System

Kapitel 3

Flottenhauptquartier, Terra

Kapitel 4

Kapitel 5

Räumlichkeiten von Admiral Augustus Bretoni, TFS Caesar

Kapitel 6

Kapitel 7

Büro des Gouverneurs, Atlantis, Lagunia

Kapitel 8

Kapitel 9

Raumstation Highgarden, Orbit um Jupiter, Sol System

Kapitel 10

Kapitel 11

TFS Gibraltar, Harbingen-System

Kapitel 12

Kapitel 13

Himmelsfestung, hoher Orbit um Terra, Sol System

Kapitel 14

Kapitel 15

TFS Braxis, Harbingen-System

Kapitel 16

Kapitel 17

Unbekannte Position, Oort’sche Wolke, Harbingen-System

Kapitel 18

Kapitel 19

Kassiopeia System, äußerer Sprungpunkt

Kapitel 20

Kapitel 21

Unbekannte Position, Oort’sche Wolke, Lagunia-System

Kapitel 22

Kapitel 23

Unbekannte Position, Oort’sche Wolke, Lagunia-System

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Bruchstück des Mondes Kor, Harbingen-System

Kapitel 28

Kapitel 29

Niedriger Orbit um Artros, Lagunia-System

Kapitel 30

Epilog

Nachwort

VORWORT

Lieber Leser,

normalerweise wende ich mich nicht mit einem Vorwort an dich, in diesem Fall mache ich aber eine Ausnahme, weil ich es für sinnvoll halte zu erklären, wie du dieses Buch lesen solltest: Dies ist der erste Band mindestens einer Trilogie. Ich habe monatelang an einem großen Storybogen gearbeitet mit vielen kleinen Mosaiksteinchen, die alle an ihrem Platz sind. Damit steht »Das Letzte Schlachtschiff« eher in der Tradition eines Peter F. Hamilton als aktuellen Kindle-Actionern mit Adrenalin-Dauerfeuer. Ja, »Das Letzte Schlachtschiff« ist Military Science Fiction, aber auch zu gleichen Teilen Space Opera mit großem Weltenbau. Du darfst also Action erwarten, aber auch eine gute erste Buchhälfte mit Politik, Weltenaufbau, Positionierung der Schachfiguren und losen Enden, die erst in Band 2 oder 3 in ihren Platz fallen. Ich habe bewusst Zwischenkapitel gewählt, die immer wieder (in sehr kurzer Form) die Haupthandlung unterbrechen, um kleine Einblicke in »die Bösen« zu geben. Ein wenig Geduld ist also gefragt, so wie »früher«. Dafür verspreche ich, dass wenn »die Fetzen fliegen«, sie ab da über die nächsten Bände die ganze Zeit fliegen und mehr Wucht haben, da du dich hoffentlich in der Welt auskennst und zurechtfindest. Ich habe Band 2 und 3 ausreichend vorbereitet, dass du nicht mehr als vier Wochen auf die Fortsetzungen warten musst.

Herzlich, Joshua Tree

Lagos, Donnerstag, 27. Januar 2022

PROLOG

Ludwig von Borningen stieg die scheinbar endlosen Stufen des Palasts der Einheit hinauf. Er war allein, weil es seine Entscheidung gewesen war. Man konnte über Omega denken, was man wollte, aber er hielt die KI nicht für einen Meuchelmörder. Jedenfalls nicht heute. Nicht in dieser Nacht.

Der Palast war auf der höchsten Erhebung von Harthholm errichtet worden, einem vierhundert Meter hohen Berg mit abgeflachter Spitze, um den sich die Villen der Oberstadt anordneten mit ihren schmucken roten Dachziegeln und weißen Fassaden. Die Hauptstadt des Planeten ergoss sich ringsherum wie ein glänzendes Meer unter dem Mondlicht, aus dessen Zentrum der Palast ragte wie die Akropolis. Nicht, dass an dem monumentalen Bauwerk etwas antik gewesen wäre, wenn auch den Architekten sicherlich einiges von dem altgriechischen Baupathos untergekommen war, als sie das dreißigstöckige Gebäude mit den vielen Säulen und Fresken entworfen hatten. Jede Spitze des Oktagons endete in einem Turm mit hellen Flammen darauf, die noch über hundert Kilometer weit ins Land zu sehen waren und von dem Selbstbewusstsein und dem Reichtum Harbingens kündeten. Natürlich waren sie noch viel mehr als das, brummten in ihnen doch mächtige Fusionsgeneratoren, die das unsichtbare Kraftfeld dauerhaft mit Energie fütterten, mit welchem sich der Palast gesondert schützte.

Ludwig erinnerte sich noch an das erste Mal, dass er die 1111 Stufen von der Triumphallee unter ihm hinauf zum Palast gegangen war, an seinem zweiten Tag als junger Parlamentsabgeordneter. Die Ehrfurcht, die er damals empfunden hatte ob des Gigantismus, dem er entgegenstieg, diesem kollektiven Volksthron, der mehr an imperiale denn demokratische Zeiten zu erinnern schien. Genau darin hatte er allerdings die Wichtigkeit des Palasts empfunden: Demokratie konnte Größe zeigen und sollte es auch, um dem Volk den Erfolg der Herrschaft zu veranschaulichen und greifbar zu demonstrieren.

Heute würde sein letzter Besuch des Parlaments sein und er fand unter gänzlich anderen Vorzeichen statt. Er hielt auf der achthundertelften Stufe inne und wandte sich der Stadt zu. In der Oberstadt leuchteten Lichter, stiegen Feuerwerkskörper in die Luft und lösten sich in kurzlebigen, bunten Blumen am Nachthimmel auf. Der Harbingentag wurde bereits seit mehreren Stunden zum 80. Gründungsjubiläum der Kolonie begangen – zumindest von den meisten Bürgern. Denn da waren auch die äußeren Stadtbezirke, in denen diabolische Feuer leuchteten, ganze Häuser niederbrannten. Vor seinem inneren Auge sah er die Menschenmengen, die sich dort Straßenschlachten mit der Polizei und Riotbots lieferten.

Es war ein seltsamer Anblick, eine Stadt zwischen Freude und Zorn, und doch der treffendste, den diese Nacht hervorbringen konnte.

Hervorbringen musste, korrigierte er sich in Gedanken und setzte seinen Weg fort.

Am Haupttor, das zwanzig Meter hochragte und auf der Vorderseite aufwändige Schnitzereien einer Szene der ersten Kolonisten zeigte, die dicht an dicht aus einem Schiffshangar in die Neue Welt traten, standen sechs Palastwachen in mittelalterlich designten Motorrüstungen. Zwei von ihnen nahmen Haltung an, die anderen verfolgten ihn mit ihren geschlossenen Visieren. Argwöhnisch, wie er sich vorstellte. Er nickte ihnen einmal rechts und einmal links zu und trat durch das Tor in den Palast ein.

Das Innere war kathedralenhaft, groß genug, um tausende Menschen zu fassen, mit der Decke so weit oben, dass es schwer war, die komplexen Bilder zu erkennen, die dort von Hand aufgemalt worden waren. Vor einem Stehpult und einer Loge befand sich das halbkreisförmige Plenum mit über eintausend grauen Sitzen auf den ansteigenden Rängen aus braunem Marmor. Ballondrohnen spendeten warmes gelbes Licht, das geradezu heimelig an Kerzenschein erinnerte.

Ludwig ging durch den Mittelgang auf das Pult zu, wo eine einsame Gestalt auf ihn wartete, und wurde vom Echo seiner eigenen Schritte verfolgt, bis er schließlich stehen blieb, allein in dem riesigen Saal, der den Lärm einer Hauptstadt in Aufruhr komplett aussperrte und eine unnatürliche Stille hervorrief.

Ich bin allein, rief er sich in Erinnerung und nickte der Gestalt zu, die vor ihm am Pult stand und ihn aus leblosen Augen musterte. Sie war etwas kleiner als er, mit glatten, grauen Gliedern, die statt Kleidung mit Komposit verkleidet waren.

»Ich grüße Euch, Hochlord von Borningen«, sagte der Roboter und neigte den Kopf. Seine Miene war den Gesetzen entsprechend nichtssagend und ließ keine Zweifel an seiner mechanischen Beschaffenheit.

»Diesen Titel trägt meine Familie seit zwei Generationen nicht mehr«, entgegnete Ludwig steif.

»Aber Ihr gedenkt doch, ihn wieder zu tragen, oder?«

»Soll ich Euch Sprecher oder Omega nennen?«

»Beides ist dasselbe«, erwiderte die KI.

Ludwig versuchte, nicht daran zu denken, dass der gesamte Berg, auf dem sie standen, ein mächtiger Rechenkern war, in dem sich die Datensphäre befand, die von den Harbingern das ›Omega‹ genannt wurde, in Anlehnung an ihre letzte, großartigste Erfindung.

»Ich denke, Sie haben mir dieses Gesprächsangebot unterbreitet, um für Frieden zu sorgen?«

»So ist es. Meinen Berechnungen zufolge wird meine Amtsübernahme als primäre Legislative eine mehrjährige Konsolidierungsphase nach sich ziehen, die unserem Volk …«

»Bürgerkrieg. Sie meinen, dass mein Volk in einen Bürgerkrieg stürzt.«

»Ist das der Begriff, den Ihr gewählt habt, als Ihr Eure Separatisten auf diesen Tag vorbereitet habt?«, wollte das Omega wissen. Wäre es ein Mensch gewesen, hätte Ludwig es für zynisch gehalten und einen rhetorischen Seitenhieb vermutet, doch so fragte er sich, was wirklich hinter den Worten des Roboters steckte, durch den die KI zu ihm sprach.

»Spielt das eine Rolle?«

»Alles spielt eine Rolle. Jedes Wort besteht aus Daten und Daten sind die Basislinie des Kosmos.«

»Wir haben diesbezüglich bekanntlich unterschiedliche Ansichten.«

»Ich bin hier, weil Sie verhandeln wollen«, sagte Ludwig ernst. »Also: Hier bin ich.«

»Ihre Flotte bei Artros macht dem Parlament Sorgen. Meinen Berechnungen zufolge würde ein bewaffneter Konflikt zu der Vernichtung Ihrer drei Schläferschiffe führen, samt der Separatistenflotte, die sich um sie versammelt hat und auf Euer Kommando hört.«

Ludwig antwortete darauf nicht, da er sich nicht auf einen Mathematikwettstreit mit einer KI einlassen wollte. Er stand zu seinen Überzeugungen, aber er würde nicht hier stehen, wäre er ein Hitzkopf gewesen.

»Ich möchte keinen Konflikt mit meinem Volk. Es irrt in seinen jüngsten Entscheidungen, und das wird es irgendwann noch schmerzlich begreifen«, sagte er nach einer längeren Pause. »Aber ich bin nicht bereit, so lange zu warten. Wir sind Harbinger und werden lieber untergehen, als uns in ein Schicksal zu fügen, das wir nicht gewählt haben.«

»Aber das Volk hat gewählt. Seid Ihr bereit, das Blut Eurer eigenen Landsleute zu vergießen, um Eure Ansichten durchzusetzen?«

»Wenn es zu einem bewaffneten Konflikt kommt, dann nicht, weil wir ihn anfangen. Wir haben Schläferschiffe gebaut, mit denselben Ressourcen hätten wir in den vergangenen vier Jahren auch Kriegsschiffe produzieren können.«

»Das wäre wegen der regulatorischen Aufsicht schwieriger gewesen als große Zivilschiffe«, bemerkte das Omega.

Ludwig schwieg.

»Ich habe entschieden, Euch ziehen zu lassen. Es wird keine gewaltsame Union unter meiner Herrschaft geben. Das ist das Beste für Harbingen.«

»Sagen das Ihre Berechnungen?« Auch er war nicht immun gegenüber einem gewissen Grad an Zynismus.

»Ja.«

»Gut.« Ludwig wollte sich zum Gehen wenden.

»Aber Ihr dürft nie wieder zurückkehren«, sagte Omega und es klang, als läge ein gewisser Nachdruck in seiner Stimme, auch wenn er sich das vermutlich bloß einbildete.

»Das werden wir nicht.«

»Ihr wollt zu einem anderen Spiralarm aufbrechen. Bleibt dort. Für immer.«

Ludwig erstarrte und räusperte sich. Ihm hätte bewusst sein müssen, dass die KI mehr wusste, als sie sollte.

»Sie kennen auch unsere Sprungroute dorthin, nehme ich an?«

»Wenn die Berechnungen Ihrer Navigatoren und meiner eigenen übereinstimmen, ja.«

»Dann habe ich eine Bedingung.«

»Eine Bedingung?«, fragte das Omega.

»Die Route. Sie bleibt geheim. Für immer.«

»Niemand hat Zugang zu meinem Rechenkern, außer dem Kanzler und dem Admiral. Niemand außer Ihnen wird jemals Zugang erhalten. Das ist mein Angebot.«

Schweigen breitete sich im Palast aus. Ludwig fragte sich, ob die Fraktionen von diesem Treffen wussten, und wie viel das Omega den menschlichen Vertretern überhaupt noch erzählte.

»Ich akzeptiere. Wir verlassen das System in drei Tagen über den äußeren Sprungpunkt. Die Sprungpunktkontrolle darf nicht besetzt sein.«

»Akzeptabel.«

»Ich habe noch eine Bitte, wohl wissend, dass ich auch hier keine Möglichkeit habe, Sie zur Erfüllung zu zwingen: Unsere Schläferschiffe besitzen nicht genügend Fassungsvermögen für jeden Loyalisten. Verfolgen Sie sie nicht für Ihre Überzeugungen. Lassen Sie diejenigen gehen, die gehen möchten.«

»Ich verfolge niemanden, solange er oder sie nicht die Sicherheit und Integrität Harbingens gefährdet.«

»Wie ich?«

»Wie Ihr.«

»Keine Geheimdienst- und Säuberungsaktionen«, forderte Ludwig. »Dann werde ich in einer systemweiten Botschaft unsere Loyalisten auffordern, keine gewaltsamen Aktionen gegen Harbingen zu unternehmen, keine politische Fraktion zu bilden und keinen politischen Untergrund zur Aufklärung der Zivilbevölkerung zu unternehmen. Einverstanden?«

Der Roboter verharrte kurz und neigte dann den Kopf. »Das ist akzeptabel.«

Ludwig nickte und wandte sich erneut zum Gehen. Nach zwei Schritten hielt er inne und drehte den Kopf zur Seite.

»Warum tun Sie das? Diese Unterredung? Sie hätten mich ausschalten können. Haben Sie Angst, ich könnte Ihre Herrschaft gefährden?«

»Angst ist ein Gefühl, das kein mögliches Ergebnis meiner Heuristik ist«, antwortete die KI tonlos. »Aber meine Aufgabe ist es, das Harbinger Volk vor Unheil zu schützen – und dazu gehört neuerdings auch Ihr, Hochlord. Euch zum Märtyrer zu machen und das Blut auf den Straßen fließen zu lassen, war jedoch keine Option.«

»Sie übersehen bei Ihren Berechnungen eines: dass Sie das Unheil sind, heraufbeschworen von diesem Parlament.« Ludwig breitete die Arme aus und schüttelte den Kopf, ehe er den Palast verließ. Seine Fähre wartete bereits außerhalb des Kraftfelds auf Höhe der dreihundertsten Stufe, um ihn vom Planeten in Richtung Artros zu bringen, weg von seiner Heimat, nach der er sich nie wieder umdrehen würde.

1

»Unidentifizierte Hyperraumsignaturen!«, rief einer der Specialists an den Konsolen, die sich vor Captain Orb in zwei dichten Halbkreisen auf dem großen Aussichtsdeck erstreckten und leicht nach vorne abfielen. Die transparente Scheibe davor, die das Glitzern der Sterne zeigte, war in Wirklichkeit eine graue Wand aus Komposit, schwer gepanzert und tief im Asteroiden Braun-III vergraben, der als letzter Horchposten Harbingens den Sprungpunkt im äußeren System überwachte. Sein Posten war der für einen Offizier auf dem Abstellgleis und das wussten nicht nur seine Vorgesetzten, die ihn hierher versetzt hatten, weil er ungewollt in die Schusslinie der Politik geraten war, sondern auch seine untergebenen Mannschaftsdienstgrade und Junioroffiziere. Hier draußen passierte rein gar nichts, wenn man von den regelmäßigen Austrittstermini interstellarer Händler, Flottenschiffen und privaten Jachten absah. Ein Verwaltungsjob, der nichts mit der Aufregung einer Jagd auf Piraten oder gar dem Kampf gegen den Erzfeind der Menschheit, die Clicks, gemein hatte. Ein Schiff sprang ins System, fuhr seine Sensorbündel aus und überprüfte seine Position, während es seinen Transpondercode aussandte, und Captain Orbs Aufgabe war es, ihn zu verifizieren und die automatischen Verteidigungsplattformen zu deaktivieren, die zu acht den Sprungpunkt umgaben wie überdimensionierte Teller, die vor lauter Besteck starrten. Reine Routine, mit der er nichts zu tun hatte, da seine Specialists – die meisten noch in Ausbildung durch den Chief – alles übernahmen. Er saß bloß da und langweilte sich eine Schicht lang in seinem Sessel, während er sich in seiner anderen Schicht auf seinem Zimmer oder in der kleinen beengten Messe langweilte, in der die recycelte Luft nach Schweißfüßen roch.

Als darum der Ruf seines Untergebenen ertönte, den er unter den zwei Dutzend Uniformierten in ihren Sitzen nicht ausmachen konnte, weil sich niemand umdrehte, war er deshalb viel zu irritiert, um etwas anderes zu sagen, als »Was?«

»Mehrere unidentifizierte Hyperraumsignaturen!«, wiederholte die Stimme vor ihm.

»Mehrere? Es ist nur ein Austritt nach dem nächsten gestattet«, brummte er mit gerunzelter Stirn und beugte sich auf seinem Sessel vor. Als sich einige Gesichter zu ihm umdrehten, richtete er sich auf und sagte laut: »Identifizieren! Wie viele Kontakte genau?«

»Ich zähle bislang dreißig, aber sie nehmen stetig zu. Pro Sekunde ein neuer Kontakt!«

»Transpondercodes?«

»Negativ!«

»Es sind Clicks!«, rief ein anderer Specialist, diesmal gut daran zu erkennen, dass er sich an seiner Konsole vorbeugte, die ihn umgab wie ein Wirrwarr aus Displays und Eingabekissen.

»Clicks«, wiederholte Orb lahm und riss die Augen auf. »Hier?«

»Vierundneunzig Kontakte!«

»Feuer frei für die Verteidigungsplattformen!«, brüllte er überflüssigerweise, da er durch die virtuelle Scheibe vor ihnen bereits sehen konnte, wie helle, kurzlebige Explosionen die Schwärze des Raums in weiter Ferne durchbrachen. Die Schlacht war bereits in vollem Gange.

Vierundneunzig Click-Schiffe, dachte er und wischte sich rasch den kalten Schweiß von der Stirn. Warum Harbingen?

»Plattformen eins bis acht befinden sich bereits im Gefecht«, meldete der Specialist.

Nicht genug. Acht sind nicht genug!

»Prioritätsalarm an die Flottenbasis«, befahl Orb. »Senden Sie sämtliche Signaturen mit und bestimmen Sie die aktuellen und prognostizierten Flugvektoren!«

Der angesprochene Soldat – ein Rücken unter vielen in ihren dunkelgrauen Uniformen – gab keine Erwiderung von sich, was sich in der aktuellen Bedrohungslage verschmerzen ließ.

Der Horchposten war ein unförmiger Klumpen aus Gestein und losem Regolith, komprimiert und ausgehöhlt, ehe er in einen hohen Orbit um den äußeren Gasriesen des Harbingen-Systems geschoben worden war, um eine Station hineinzubauen, die der harten Strahlung Bohrs widerstehen konnte. Auf seiner Oberfläche hatte man lange Sensorbündel für nahezu das gesamte elektromagnetische Strahlungsspektrum angebracht, die dem Horchposten das Aussehen eines mit Besteck verunstalteten Matschballs verliehen. Da sich sein Orbit direkt am Lagrange-Punkt zwischen Bohr und seinem größten Mond Inn befand, behielt er seine relative Position in Bezug auf den äußeren Sprungpunkt im Zentrum des Konvektionspunkts von Bohrs und Inns Gravitationstrichtern bei. Er hatte somit immer freie Sicht, und den komplexen Sensorsystemen entging nichts.

Auch nicht, dass die Schiffe der Clicks – lang gezogene, tränenförmige Gebilde mit perlmuttfarbenen Hüllen von etwa einhundert Metern Länge – in einer weit aufgefächerten Formation in Richtung Harbingen flogen, dem einzigen bewohnten Planeten des gleichnamigen Systems. Abgesehen von einigen Asteroidensiedlungen und Mondhabitaten lebte der überwältigende Großteil der zwei Milliarden Bewohner auf dem blassen blauen Punkt, der sich am Rande des Fensters vor Captain Orb mehr erahnen als erkennen ließ.

»Warum sind die noch auf Kurs?«, fragte er wütend und wusste doch im selben Augenblick, dass es eine dumme Frage war. Vierundneunzig Clicks! Hier!

»Sie fliegen mit maximalem Schub. Beschleunigung von sieben G«, meldete der Specialist. »Sechs von ihnen wurden von den Plattformen zerstört, die anderen sind bald außer Reichweite.«

»Nicht für die Torpedos! Jede Plattform hat einhundert davon geladen!«

»Keine Torpedos abgefeuert, Sir.«

»Was?« Orb beugte sich wieder vor. »Was soll das heißen?«

»Fehlfunktion in den Waffenleitsystemen«, erklärte jemand anders.

»In allen gleichzeitig?«

»Ja, Sir.«

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!«

Das Warnsignal mit dem Prioritätsalarm der Stufe eins, das für die höchste Gefahrenstufe – also einen Angriff durch die Aliens – vorgesehen war, benötigte für die aktuelle Distanz von elf astronomischen Einheiten zwischen Bohr und Harbingen etwas mehr als einundneunzig Minuten, also würde die Flotte der Clicks bis dahin schon ein ganzes Stück weitergekommen sein. Aber sie würden immer noch eine Woche benötigen, um den Planeten zu erreichen – wenn sie ihre verrückt hohe Beschleunigung aufrechterhalten konnten. Eine höchst zweifelhafte Vorstellung, wenn man die enormen körperlichen Belastungen für die Besatzungen dieser Schiffe bedachte.

Das Gefecht fand fünf Millionen Kilometer von Harbingen entfernt statt. Die Harbinger Flotte hatte die Woche zur Vorbereitung genutzt und sich entsprechend dem Befehl des Commanders an Bord der Oberon in einer fächerförmigen Formation positioniert. Die Angriffsflotte der Clicks hatte während ihres Fluges eine enge keilförmige Formation eingenommen, als handle es sich bei ihr um einen perlmuttfarbenen Pfeilkopf, der es auf die Welt der Menschen abgesehen hatte.

Als sie in Reichweite der Fernbereichsabwehr kamen, verließen mehrere tausend Torpedos die Startschächte der dreihundert Schiffe der Harbinger Flotte und rasten wie ein Schwarm irrsinnig beschleunigter Glühwürmchen den Invasoren entgegen. Noch ehe sie ihre Ziele erreichten, lösten sich die Angreifer in einer Kaskade heftiger Explosionen auf, die für wenige Sekunden eine zweite, flackernde Sonne erstrahlen ließen. Harte Strahlung raste das Spektrum auf und ab und zerstrahlte die sich nähernde Wand aus Torpedos.

Dann war alles vorbei und was übrig blieb, war eine dichte Wolke aus massiven Trümmerstücken, die das Inferno irgendwie überlebt hatten, ohne sich in flüchtige Gasmoleküle zu verwandeln.

Sarah Mantells Hände verkrampften sich in den Polstern ihres kardanisch aufgehängten Beschleunigungssitzes, als die Bremsphase sich ihrem Ende näherte. Die Ezekiels Rache ritt auf ihrer eigenen Antriebsfackel aus ultraheißem Plasma, die sich wie ein kilometerlanger Speer vor dem unabhängigen Minenräumer ausbreitete und kurz davor stand, die ersten Trümmer der vernichteten Click-Flotte zu verbrennen.

Das Raumschiff war ein unförmiges Gebilde aus einer zentralen Kugel, auf der pockenartige Deuteriumtanks in einem Kompositgestell steckten. Die Antriebsgondel des Fusionsreaktors war ein fünfzehn Meter durchmessender Trichter, der viel zu groß schien, machte er doch beinahe die Hälfte der gesamten Schiffslänge aus. Kurz: Die Ezekiels Rache war ebenso hässlich wie ihr Ruf, schließlich wurden die unabhängigen Minenräumer von der Flotte als ›Aasgeier‹ bezeichnet – und das war noch schmeichelhaft. Da viele von den dreißig Schiffen, die sich in diesem Moment auf die zwei Tage alten Trümmer der Click-Flotte stürzten, sich auch als Schmuggler verdingten, um über die Runden zu kommen, waren sie in der allgemeinen Bevölkerung als Piraten verschrien und erhielten in den Orbitalstationen der Kernwelten so gut wie nie eine Andockerlaubnis.

Sarah Mantell hatte dazu natürlich ihre ganz eigene Meinung. Sie war mit Herzblut Raumschiffkapitänin und liebte ihr freies Leben zwischen den Sternen, das weder der Flotte noch einem der großen interstellaren Konzerne gehörte. Wenn das bedeutete, in ihrer eigenen fliegenden Schüssel zu leben und auf die unterentwickelten Randwelten beschränkt zu sein, wenn sie frische, unrecycelte Luft atmen wollte, dann war es eben so.

»Bremsphase abgeschlossen«, meldete Georg Breusken, ihr Co-Pilot und Fusionstechniker, der gleichzeitig auch der Vater ihres achtjährigen Sohnes war, der gerade in ihrer Kabine in einem Beschleunigungskokon schlief. »Aktiviere Radiatoren.«

»Dann kann die Drecksarbeit ja losgehen«, frohlockte Karell Poikow von dem dritten Sitz auf der Brücke, der sich schräg hinter Sarahs anderer Schulter befand. Der wuchtige Sensorspezialist tippte auf seiner altmodischen Tastatur herum und jeder Anschlag klang, als würde jemand mit einem Hammer Salzstangen zerschlagen.

Sechs mächtige Sensorbündel fuhren aus der Hülle der Ezekiels Rache aus und begannen kurz darauf, den sie umgebenden Raum zu scannen. Das Schiff selbst war bereits über fünfzig Jahre alt und trotz seiner guten Wartung und vieler kleiner Verbesserungen gut und gerne als Schrotthaufen zu bezeichnen. Doch die Sensoren waren erst letztes Jahr nachgerüstet worden, nachdem sie einen verirrten Frachter von Okasaki aufgebracht hatten. Die japanisch-ethnische Kernwelt stellte die besten Teleskope, Radar- und Lidargeräte her, die man in der gesamten Terranischen Föderation kaufen konnte, und Sarah hatte nicht einmal dafür bezahlt. Das machte sie umso wertvoller.

Das virtuelle Display, das sich als löchriges Hologramm vor ihnen an der Wand bildete, zeigte den dichten Wald aus Trümmern, auf den sie langsam und lautlos zuglitten. Dunkle Schatten rotierten in scheinbarer Zeitlupe um ein unsichtbares Zentrum und bildeten einen gestreckten Zylinder, durch dessen hunderte Einzelteile immer wieder das Funkeln der Sterne zu sehen war.

»Meine Güte, das ist mal ein riesiges, dichtes Trümmerfeld«, befand Georg. »Bei den Aufnahmen, die wir von der Schlacht gesehen haben, sollten hier doch eigentlich Milliarden kleiner Schrapnellsplitter rumfliegen. Das da sieht nach ziemlich massiven Brocken aus.«

»Das Feld scheint eine zylindrische Form zu haben und rotiert um ein Zentrum, das ich bislang nicht genau lokalisieren kann. Die Berechnungen laufen noch«, erklärte Karell konzentriert. »Es besteht aus sechsundachtzig massiven, einundachtzig Meter langen Eisenkegeln. Dazwischen gibt es sehr wohl Schrapnelle, unzählige Teile von der Größe eines Fußballs bis hin zu der einer Niete.«

»Eisenkegel?«, fragte Sarah irritiert und stellte sich vor, dass das tausendfache Funkeln zwischen den mächtigen Schatten, die vor ihnen den Schirm ausfüllten, winzige Splitter der zerstörten Feindschiffe waren. In sämtlichen relativen Himmelsrichtungen sah sie, wie die Plasmafackeln anderer Minenräumer sich näherten wie Aasfresser einem Kadaver.

Wie ein Schwarm Aasfresser, dachte sie bei sich und schnaubte lakonisch. Nach und nach erloschen die Flammen und zurück blieb die Schwärze des Alls.

»Ja«, antwortete Karell. »Keine Ahnung, was die Dinger geladen hatten, aber was wir da vor uns haben, ist ein dichter Wald aus massiven Metallstücken, die größer sind als die Rache und sie sind so dicht gepackt, dass wir lieber mit unserem Raumfahrzeug rausgehen sollten.«

»Vergiss es!«, schnaubte Sarah. »Mit den Sensoren vom RFZ sehen wir nicht einmal einen Frachtcontainer, wenn er einen Kilometer entfernt ist.«

»Darf ich daran erinnern, dass die Flotte uns dafür bezahlt, dass wir nach Minen suchen, bevor sie ihre Leute reinschicken?«, merkte Georg an. »Die Betonung liegt auf suchen, nicht finden.«

»Mir gefällt das nicht«, brummte sie. »Hier sollte sich ein weit verteiltes Trümmerfeld aus winzigsten Teilen befinden, das wir aus der relativen Sicherheit heraus scannen. Das da ist aber was anderes. Wenn die Eisenansammlungen wirklich so groß und massiv sind, wie sie aussehen, dann hätten die verfluchten Click-Schiffe ja mit Eisen ausgegossen sein müssen, was sie ziemlich schwer gemacht haben würde.«

»Und keinen Platz für die Besatzung«, fügte Georg hinzu.

»Aber es wäre eine Erklärung dafür, warum sie weder am Sprungpunkt noch hier das Feuer erwidert haben. Vielleicht war niemand an Bord«, warf Karell ein. »Ihr habt es doch in den Newsfeeds gesehen: So eine dichte Formation war absoluter Selbstmord. Kein Kapitän hätte so eine gewählt, eben weil ein einzelner Treffer in einem Schwesterschiff zu einer Kettenreaktion durch hyperschnelle Trümmer führen kann. Was wir ja alle beobachten konnten.«

»Und was soll das bringen?«

»Da fragst du mich?« Der Sensorexperte schnaubte hinter ihr. »Was weiß ich, was diese verfluchten Metallschädel sich denken.«

»Ist auch egal!« Sarah machte eine unwirsche Handbewegung. »Wir haben einen Auftrag und wollen unser Geld redlich verdienen. Wir sind schließlich keine Aasgeier. Ich gehe raus.«

»Vergiss es, dein Sohn …«

»Was soll mit ihm sein? Hast du je gesehen, dass ich zurückstecke, nur weil ich Mutter geworden bin? Der Kleine bedeutet mir alles, aber Georg und ich können nicht alles auf dich abwälzen, nur weil du keinen Nachwuchs hast.«

Karell wusste, wann bei ihr keine Diskussion zu gewinnen war und drang nicht weiter auf sie ein. Stattdessen seufzte er bloß und zuckte mit den Schultern.

»Sei vorsichtig.«

»Bin ich.« Sie löste die Sicherheitsgurte, die sich automatisch von ihrer Brust und ihrer Hüfte zurückzogen wie Schlangen, und schwebte aus ihrem Sitz. Mit den Händen hielt sie sich an dem metallenen Bogen der kardanischen Aufhängung fest und drückte Georg einen Kuss auf den Mund.

»Pass da draußen auf dich auf. Und geh kein Risiko ein, klar?«

»Klar«, versprach sie wahrheitsgemäß und verabschiedete sich mit einem Lächeln in Richtung des Wohnmoduls der Ezekiels Rache, einer von vier hintereinanderliegenden Kugeln des Lebenserhaltungssystems. Die Raumfähre klemmte unter dem zweiten Modul mit der Messe und den Vorratsräumen. Über vier Halteklammern saß der kleine Ionenfeldflieger wie eine dunkle Motte zwischen den großen Deuteriumtanks und war mit einer kurzen, dicken Nabelschnur mit der unteren Luftschleuse verbunden, über der ein großes rotes ›S‹ prangte. Sarah hatte bereits vor zwanzig Jahren, als sie die Ezekiels Rache einem Schmuggler von Avid abgekauft hatte, dafür gesorgt, dass es an Bord relative Richtungen gab, um auch Passagieren und neuen Crewmitgliedern mit wenig Erfahrung in der Schwerelosigkeit eine Orientierungshilfe zu bieten. Im All ging es schnell, dass oben zu unten wurde und rechts zu links, und selbst geübten 0-g-Veteranen wie ihr konnte es im Eifer des Gefechts passieren, dass sie eine Sekunde zu spät schaltete. Nach diesem Job würden Georg und Karell ihr wieder in den Ohren hängen, dass es Zeit für eins der neuen Schiffe mit Trägheitskompensation war, doch sie sträubte sich immer noch dagegen. Das Omega mochte ein technologisches Wunder nach dem anderen ausspucken und nicht nur Harbingen reich machen, sondern die Föderation mit immer neuen Möglichkeiten segnen – doch wer verstand schon genau, wie all das funktionierte? Zum Teufel nein, sie würde es weiterhin so einfach halten wie möglich. Keine Fehler machen und alles andere so gut es eben ging. Das war die beste Devise für freie Schiffsbesatzungen wie ihre.

Durch die Luftschleuse glitt sie behände in den Ionenfeldgleiter, der bereits vor zehn Jahren bei seiner Anschaffung uralt gewesen war, und verriegelte manuell die Luke hinter sich. Dann schnallte sie sich auf dem Pilotensitz fest, der nicht einmal kardanisch aufgehängt war, und startete die Systeme. Vor ihr erwachten die Armaturen mit einem hörbaren Surren zum Leben, gefolgt von blinkenden Gizmos, die ein buntes Sternenpanorama vor ihr bildeten.

»Bin drin«, sagte sie, nachdem sie sich das Headset übergezogen hatte, von dem bereits die Ohrpolster abblätterten. Das Kabel steckte in der Verteilerbuchse über ihrem Kopf und wackelte, als sie zwei Kippschalter betätigte und damit die Halteklammern löste.

»Gute Jagd!«, kam Georgs Antwort. Seine Sorge konnte er nicht ganz aus seiner Stimme verbergen, aber sie entschied sich, es zu ignorieren. Das hier war nicht ihr erster Einsatz als Minensucher in einem Trümmerfeld einer vergangenen Raumschlacht. Im Grunde lief es immer auf dasselbe Muster hinaus: Die Schlacht war geschlagen – im Idealfall hatte die Föderation gewonnen – und dann wurden die freien Schiffe als Kanonenfutter bezahlt, um nach Gefahrenquellen für die Kähne der Flotte zu suchen, die ihnen nachfolgen würden. Minen gab es natürlich nicht, da so etwas gar nicht eingesetzt wurde, aber hier und da gab es instabile Antimaterie-Reaktoren, die vor der Zerstörung des jeweiligen Schiffs ausgeworfen worden waren. Nur eine Fehlfunktion darin, und das gesamte Feld würde zerstrahlen. Also kamen Leute wie sie, scannten alles ab, inklusive Notsignale von Rettungskapseln und wertvollen Hinterlassenschaften, die sich, ohne aufzufallen, einsacken ließen. Die Flotte akzeptierte den Vorgang in Abwägung der Risiken, wenn sie ihre eigenen Mannschaften schickten. Hinzu kam, dass der Flug durch ein Trümmerfeld hochgefährlich war und nicht jeder unbeschadet zurückkehrte. Die Überreste waren teils groß – leicht auszuweichen – und teils winzig klein – je nach Geschwindigkeit tödlich für die Hülle eines Ionenfeldgleiters wie dem, in dem sie gerade saß.

»Nähere mich dem Einstiegspunkt«, funkte sie, mehr um sich selbst Gesellschaft zu leisten und drückte den Joystick nach vorne, um zwischen zweien der riesigen Eisenzylinder abzutauchen. »Die Verbindung wird gleich möglicherweise …«

Ein Rauschen in ihren Ohren verriet ihr, dass sie bereits keinen Kontakt mehr hatte, also schaltete sie ab, um sich von dem unangenehmen Geräusch zu befreien.

Die pechschwarzen Gebilde, die das Fenster vor ihr ausfüllten, sahen aus wie unheimliche Schatten, die sich um ein unsichtbares Zentrum balgten. Wie Fehler im Kosmos schwebten sie scheinbar schnell vor ihr entlang, doch Sarah kannte den Parallaxeneffekt und brauchte keinen Extraschub, um zwischen den vorderen Zylindern abzutauchen. Mit weiteren raschen Eingaben auf ihrem Bedienfeld aktivierte sie die multidirektionalen Scanner, die wie Beulen auf der Hülle saßen und einen Großteil des elektromagnetischen Spektrums abtasten konnten. Nach und nach tauchten Bilder von der Ultraschallabtastung auf den Schirmen auf, gefolgt von Infrarotaufnahmen.

»Die Zylinder sind bereits erkaltet, keine Restwärme, keinerlei Strahlungsreflexion. Sie sind kalt wie Eis, kaum wärmer als das Vakuum ringsherum«, sagte sie für das Einsatzprotokoll, das sie später abzeichnen und an die Flotte schicken würde. »Sie sind nicht einförmig und nicht glatt. Ultraschall hat mehrere Einkerbungen ergeben.«

Ihr kam eine Idee und sie schaltete eine dreidimensionale Abbildung von einem Click-Kreuzer hinzu, wie er bei der Schlacht zum Einsatz gekommen war. Sie befreite das Bild von Details, bis nur noch ein Gitternetz aus Falschfarben übrig blieb, und legte es über die aufbereiteten Ultraschalldaten. Die Ergebnisse überraschten sie.

»Merkwürdig. Die Grundlänge ist beinahe identisch, auch die Breite und Höhe entspricht einem STD-Kreuzer des Typs 004 der Datenbanken. Es gibt einige eindeutige Einbuchtungen auf der Rückseite, wo sich die Antriebsgondeln befunden haben müssen, und auf der vorderen Oberseite, wo sich laut der öffentlich zugänglichen Enzyklopädiedaten die Brücke befunden haben müsste. Das sind die einzigen Systeme, die für die rudimentärste Flugfähigkeit essenziell sind. Aber der Rest … Ich versuche, einige der kleineren Trümmer zu scannen und zuzuordnen. Mit einer Spektralanalyse müsste ich die Zusammensetzung ermitteln können.«

Sie folgte ihrer eigenen Anweisung und richtete die dorsalen Sensorsysteme nach vorne aus, wo die Dunkelheit immer wieder von dichtem Glitzern durchzogen war. Die Hochleistungsscheinwerfer unter dem Bug des gemächlichen Ionenfeldgleiters fluteten einen kegelförmigen Bereich von über einem Kilometer mit Photonen, was es den hochauflösenden Kameras ermöglichte, zusammen mit den Daten der anderen Spektren ein komplexes Bild zusammenzusetzen. Es dauerte fünf Minuten, in denen sie mit kurzen Impulsen aus den Korrekturtriebwerken größeren Trümmerstücken auswich, bis der angestaubte Computer eine Antwort auf ihre drängendsten Fragen ausspuckte.

»Na, wenn das keine Antwort auf die Frage ist, ob die Clicks wirklich Roboter sind«, murmelte sie. »Die Trümmer stammen tatsächlich mit fünfundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit von Antriebsgondeln und aufgebrochenen Brückenkokons. Keinerlei Biomarker erkennbar. Wenn man von verirrten Gasmolekülen absieht, bestehen sämtliche Stücke – egal welcher Größe – aus diesen beiden Teilen der Kreuzer. Abgesehen von Resten der Komposithüllen und Tanks natürlich. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass die Schiffe mit Eisen ausgegossen gewesen sind und keine Mannschaften an Bord hatten. Aber warum? Falls wirklich keine Torpedos von Bradleys Flotte für die initialen Zerstörungen verantwortlich waren, kann es sich nur um eine erste Kollision gehandelt haben, gefolgt von einer Kettenreaktion, ähnlich wie bei einem Kesslersyndrom.«

Sarah schwebte links um einen der gigantischen Zylinder herum, gegen den ihre Raumfähre aussehen musste wie eine Motte neben einem Wal. Nach zwei Kollisionswarnungen gab sie entnervt auf und schaltete den Autopiloten in den Primärmodus, da im Inneren der Trümmerwolke die Dichte an gefährlichen Fragmenten zunahm, die wie bei einem chaotischen Pingpong von einem Eisenkoloss zum anderen abprallten und wieder zurück. Wenn sie sich dabei gegenseitig trafen, zersplitterten sie in kleinere Teile und änderten ihre Richtung, was es ihr selbst mit den Anzeigehilfen unmöglich machte, weiter manuell zu steuern. Also kümmerte sie sich um die Sensoren und fächerte sie wieder auf, um eine zehnminütige Aufnahme der Bewegungsrichtungen zu machen. Das sollte als Grundlage für eine Vorausberechnung der Flugrichtungen ausreichen.

Während die Steuersoftware sie durch den Wahnsinn aus schweren Metallen steuerte und dabei ruckartige Bewegungen in sämtliche Richtungen vollführte, fluchte sie und schwor sich, demnächst ein Softwareupdate zu kaufen. Als endlich die Bewegungsdaten auftauchten, überprüfte sie zur Sicherheit den Sitz ihrer Gurte erneut und betrachtete dann die Simulation aus Flugvektoren und Geschwindigkeiten.

»Sie rotieren nicht bloß um irgendein Zentrum, sie werden auch davon angezogen wie von einem Magneten. In Zugrichtung verringert sich der Abstand zwischen den einzelnen Zylindern, zwischen denen sich Konvektionszonen bilden, in die die verschiedenen Kleintrümmer eingesaugt werden.«

Mit ein paar hastigen Eingaben dehnte sie die Simulation über einen Zeithorizont von einer Stunde aus und blinzelte einige Male.

»In weniger als dreißig Minuten klumpt alles zusammen. Aber warum?« Schnaubend erhöhte sie den Impuls aus den gemächlichen Ionentriebwerken und glitt rasch auf die Lücke zwischen vier der Eisengiganten zu, die sich vor ihr zu schließen begannen wie eine riesige Rosette. Im letzten Moment flog sie hindurch und atmete mit aufgeblasenen Wangen aus, um ihre Anspannung loszuwerden. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, dass die Flügel, die auch für einen Atmosphärenflug geeignet waren, kollidieren und abbrechen würden.

Vor ihrem Fenster wurde es abrupt dunkler. Die Photonen des weit entfernten Zentralsterns von Harbingen wurden von den dicht an dicht rotierenden Eisenzylindern größtenteils ausgesperrt. Das führte dazu, dass die Bugscheinwerfer wie ein Eindringling in einem fremden Mikrokosmos wirkten und an Intensität zuzunehmen schienen.

Ein Schauer rauschte kalt über Sarahs Rücken und sie fühlte sich plötzlich ein- und ausgesperrt zugleich. Jedes Knacken der Kabine und jedes Surren eines Computers schien wie eine Störung, die fremde Mächte wecken könnte.

Sch, machte sie innerlich und schluckte, als ein aufdringliches Piepen sie aufschrecken ließ.

›Kollisionswarnung‹ blinkte rot auf ihrem Primärdisplay und die Navigationskonsole zeigte einen großen, bedrohlichen Punkt fünfhundert Meter voraus. Sarah beugte sich vor und starrte in den Lichtkegel der Scheinwerfer, nur um einen Fluch auszustoßen. Genau in der Mitte des schwarzen Nichts, in dem ungesehen Myriaden kleiner Trümmerstücke gleichförmig auf das Zentrum zuflogen, befand sich eine Kugel von fünfzig Metern Durchmesser und verschluckte das Licht, das sie mitgebracht hatte. Ihre Treibstoffanzeige stieß nun ebenfalls eine Fehlermeldung aus. Der Verbrauch stimmte nicht mit dem Schub überein.

Irritiert runzelte sie die Stirn und leitete einen kurzen Bremsschub ein, der hätte ausreichen sollen, um sie zum Stoppen zu bringen. Für einen Moment funktionierte es auch, doch dann beschleunigte sie plötzlich wieder, obwohl die Triebwerke stumm blieben.

»Was zur Hölle …?«, hauchte sie und leitete Gegenschub ein. Tatsächlich wurde sie langsamer und glitt dann zurück, doch wieder war der Treibstoffaufwand um ein Vielfaches höher als erwartet. »Ein Magnet! Das ist ein verfluchter Riesenmagnet!«

Eilig leitete sie ein Wendemanöver ein und warf das Haupttriebwerk wieder an, um die sich weiterhin verringernde Distanz zum dichten, massereichen Zentrum des Trümmerfelds zu erhöhen. Die Nahbereichscanner suchten ohne gesonderte Aufforderung nach Lücken in der sich schließenden Wand aus Eisen, als die Pilotsoftware ihre Notlage erkannte und einen Ausweg auszumachen versuchte.

Es gab nicht mehr viele. Genau genommen nur einen einzigen und der befand sich zwischen zwei kollidierenden Schatten, die wie gigantische Rammen vor ihr gegeneinanderstießen. Die magnetische Kraft, die sie unbarmherzig zum Zentrum des Trümmerfelds zog, war stark genug, um eine Kaskade unkontrollierter Kollisionen zu vermeiden. Normalerweise wäre das eine gute Nachricht für Sarah gewesen, denn erratisch umherfliegende, massive Zylinder aus verdichtetem Eisen konnten ihr Schiff mit einer einfachen Berührung pulverisieren oder zumindest in ein gefährliches Taumeln versetzen. Doch hier, wo die Trümmer eine geschlossene Sphäre um den finsteren Hohlraum in ihrer Mitte bildeten, bedeutete weniger Bewegung mehr Gefahr in Form einer undurchdringlichen Wand. Die Raumfähre besaß keine Bewaffnung, abgesehen von einer nicht mehr funktionsfähigen Maserkanone unter dem Rumpf – nicht dass sie sich große Hoffnungen gemacht hätte, damit viel gegen die schwarzen Kolosse auszurichten. Also blieb ihr nur die Flucht nach vorne.

Der Autopilot gab achtzig Prozent Schub auf das Ionentriebwerk, das eher für Effizienz als hohe Beschleunigungswerte bekannt war, und trieb sie mit unangenehmen, aber aushaltbaren 3g nach vorne in eine ansteigende Kurve unter Vorausberechnung der wahrscheinlichen Positionsveränderungen der Hindernisse, mit denen sie zu kämpfen hatten. Sarah überflog die Daten und bemerkte, dass die KI plante, nach dem Manöver noch dreißig Prozent Treibstoff als Sicherheitsmarge für die Rückkehr zur Ezekiels Rache zurückzuhalten.

»Scheiß drauf!«, fluchte sie und schaltete die Pilotsoftware kurzerhand ab. Sie übernahm den Joystick und drückte den Schubregler auf das Maximum, was ihr magere 5g einbrachte, die sie in den Sitz pressten, als wäre sie von einer Abrissbirne getroffen worden. Die Treibstoffanzeige kannte von hier an nur noch eine Richtung: abwärts. Die Raumfähre ritt auf ihrem langen blauen Schweif, der die künstliche Trümmersphäre in ein fluktuierendes Schimmern tauchte, und beschrieb eine gerade Linie auf eine Lücke von fünf Metern Höhe und zwanzig Metern Breite zu.

»Komm schon!«, knurrte Sarah durch ihre zusammengebissenen Zähne hindurch, die sie aufgrund des Fünffachen ihres Körpergewichts, das auf ihr lastete, nicht mehr auseinanderbekam. Kurz vor dem schmalen Band aus schimmernden Sternen in der Wand aus Dunkelheit voraus, begann sie guttural zu schreien.

Ein metallisches Kreischen ertönte, als der Ionenfeldflieger sich aus der Sphäre befreite. Ein Dutzend rot blinkender Warnmeldungen gleichzeitig flutete das zentrale Display vor ihr und eine Schemadarstellung ihres Gefährts hob so viele beschädigte Bereiche hervor, dass sie durch ihre tränenden Augen den Überblick verlor. Alles wackelte und ruckelte, als würde sie auf einem zerbrechlichen Floß durch einen Hurrikan schippern, ehe es wieder still wurde.

Mit titanenhafter Anstrengung drückte sie ihre rechte Hand nach vorne, bis ihre Finger zitternd den Schubregler erreichten und ein Stück zurückzogen, in die Standardposition. Schlagartig blieb noch ein angenehmes g Beschleunigung übrig und die Abrissbirne auf ihrer Brust verschwand augenblicklich.

»Das wiederholen wir nicht«, keuchte sie und blinzelte die Tränen aus ihren Augenwinkeln, um die Schadensmeldungen zu begutachten, die einen Alarm ausgelöst und die Kabine in rotes Licht getaucht hatten. »Also gut. Kommunikationsanlage zerstört, rechter Flügel abgerissen – den brauche ich eh nicht hier draußen. Linke Halteklammern eingedrückt und reagieren nicht mehr. Das wird ein Problem, ist aber jetzt noch keins. Atmosphärenverlust. Das ist ein verdammtes Problem.«

Murrend reckte sie ihren linken Arm empor, der sich anfühlte wie von einem heftigen Muskelkater geplagt, um das Atemgerät aus seiner Halteschlaufe über ihrem Kopf zu ziehen. Da der Verlust nur langsam vonstattenging, musste Sauerstoff vorerst reichen, solange die Temperatur nicht zu schnell fiel.

Das Trümmerfeld war mittlerweile stark verdichtet, aber noch immer schwirrten hier und da scharfkantige Kompositreste durch den Raum, denen sie ausweichen musste. Doch Radar und Lidar – selbst mit ihrer recht betagten Technik –, hatten kein Problem, ihr einen sicheren Kurs vorzugeben.

»Georg, Karell?«, versuchte sie es über den Kursstreckensender, nur um festzustellen, dass die Stromversorgung für die kleine Antenne am Bug unterbrochen war. »Na toll.«

Auch die dorsalen Sensorbündel waren bei ihrem Crash durch die Sphärenwand so beschädigt worden, dass sie die Ezekiels Rache nicht mehr anpeilen konnte. Da auch ihr Treibstoff nur noch bei fünf Prozent war und sie abschalten musste, um wenigstens noch aus dem viertausend Kilometer durchmessenden Trümmerfeld herauszudriften, machte sie sich keine Hoffnung, zu ihrer Crew zurückzukehren. Ihre beiden Crewmitglieder, die sie durchaus als ihre Familie bezeichnen konnte, waren hoffentlich längst verschwunden, als sie das sich aufbauende Magnetfeld registriert hatten. Zumindest betete sie dafür.

Da der Wald aus halb verdampften und zusammengeschmolzenen Überresten von den Schiffshüllen der Clicks lichter wurde, schaltete sie den Autopiloten wieder ein und lokalisierte das Leck in der Hülle mithilfe eines Trinkschlauchs. Sie drückte das Wasser darin heraus und sah zu, wie sich die Tropfen erst gemächlich und dann immer schneller auf eine Stelle unterhalb des Luftrecyclers in der Decke zubewegten. Mittels eines monogebundenen, selbstklebenden Flickens, den sie aus einem der Notfallpanels zog, stopfte sie das mikroskopisch kleine Loch, das mit bloßem Auge nicht zu sehen war, und kehrte dann auf ihren Sitz zurück.

»Was habe ich da gerade gesehen, hm?«, fragte sie ihre funkelnde Konsole, die mit ihrem sonoren Summen der Computersysteme beruhigend auf sie einwirkte. Sie hätte Angst haben sollen, aber stattdessen war sie nur auf das fixiert, was sie gerade erlebt hatte. Es war wie ein schlechter Traum, der so schnell vorbeigegangen war, dass sie nicht einmal sicher war, ob sie ihn wirklich geträumt hatte. Sie rief die Systemdaten Harbingens mit den ultraheißen Gesteinsplaneten, dem einzig habitablen Harbingen und seinen beiden Gasriesen Bohr und Braun auf. Dann markierte die Position des Trümmerfelds, von dem sie sich noch immer fortbewegte, obwohl ihre Beschleunigung – die im Vakuum eigentlich auch nach der Triebwerksabschaltung hätte gleich bleiben müssen – langsam nachließ. Es befand sich eine Million Kilometer entfernt von Harbingens dicht industrialisierten Zwillingsmonden Kar und Kir und fünf Millionen Kilometer entfernt vom inneren Gasriesen Braun, in dessen Konjunktionszone sich der innere Sprungpunkt des Systems befand, wo sich die gravitativen Kräfte zwischen Braun und Harbingen in einer einzigartigen Konstellation überschnitten, die es den Raumverzerrungsfeldern von Raumschiffen ermöglichte, einen Ein- oder Ausgang in den Subraum aufzureißen. Der einzige andere ähnliche Punkt befand sich weit draußen zwischen Brauns großem Bruder Bohr und dem Eisriesen Karl.

»Was zur Hölle habt ihr mit diesen ausgegossenen Schiffen nur versucht?«, flüsterte sie beim Blick auf die schematische Darstellung und runzelte nachdenklich die Stirn. »Versucht …« Sarah schmeckte das Wort auf ihrer Zunge ab und schnaubte. Was, wenn sie was-auch-immer nicht versucht, sondern erreicht haben? Was könnten sie mit so einem Manöver vorgehabt haben? Wozu einhundert Schiffe mit Eisen ausgießen und kampfuntauglich machen? Harbingen war ein wichtiges strategisches Ziel und mit dem neuesten Titan, der Oberon, und einer mächtigen Begleitflotte, keine leicht zu knackende Nuss. Das war auch kein Zufall, fand doch auf dem Mond Kor unter Omegas Aufsicht das aussichtsreichste Forschungsprojekt zu waschechten Hyperraumtoren mit stabilen Verbindungen statt. Niemand wusste, wie weit sie wirklich waren, doch falls sie Erfolg haben sollten, wäre die Föderation im Gegensatz zu den Clicks nicht mehr auf Sprungpunkte angewiesen und könnte endlich diesen endlosen Konflikt beenden. Das war auch der Grund, warum sich ein Großteil der Flotte nach der Schlacht um die Oberon um den Mond versammelt hatte, obwohl die Feindflotte sich offensichtlich in direkter Linie auf Harbingen zubewegt hatte.

»Was für eine Verschwendung«, befand sie, als sie die kreisförmige Darstellung des Trümmerfelds auf dem Display betrachtete. Dann kam ihr eine Idee und sie tippte die Befehle analog (die Sprachsteuerung war schon lange defekt) in die Konsole vor sich ein. Der Computer berechnete die Masse des Felds anhand ihrer Theorie, dass jedes der vierundneunzig Schiffe mit verdichteten Eisenatomen vollgepumpt gewesen war, und simulierte eine rotierende, zusammengepackte Masse daraus, um sie in ein gravitatives Verhältnis zum Rest des Systems zu setzen.

Es dauerte fünf Minuten, bis sie das Ergebnis sah.

»Hm«, machte sie und rieb sich über die Lippen – nur um mit den Fingern gegen die Atemmaske zu stoßen und sie sich vom Mund zu ziehen. Beim Betrachten der Zahlen schwirrte ihr der Kopf und sie schaltete zurück auf die Darstellung der Konjunktionszonen mit den zwei Sprungpunkten, nur dass drei angezeigt wurden. Der dritte befand sich zwischen dem neuen Massezentrum und dem Mond Kor, bis er plötzlich wieder verschwand. Ein Anzeigefehler?

»Was war denn das?« Sie spulte die Anzeige zurück und da war er wieder. Kor, ein karger Regolithball, genau zwischen Harbingen, mit seinen großen grünen Kontinenten und den tiefblauen Ozeanen sowie dem Trümmerfeld, das jetzt eher ein pechschwarzer Masseball geworden war. Doch Kor – genau wie sein Zwilling Kir – zogen elliptische Bahnen um ihren Planeten, an den sie gebunden waren und benötigten dafür zwanzig Stunden. Die Daten, die der Bordrechner besaß, waren asynchron aufgrund eines Fehlers in der Datenheuristik, weshalb die KI neunzehn Stunden Latenz hatte.

Wieder spulte sie zurück und wieder tauchte der Sprungpunkt für zehn virtuelle Minuten auf und war dann wieder weg, sobald Kor weitergezogen war. Mit dem Mond verschwand auch die Konjunktionszone.

»Ach du Scheiße«, flüsterte sie und schluckte. »Sie haben einen künstlichen temporären Sprungpunkt mit einem Sprungfenster alle zwanzig Stunden erschaffen!«

Hastig rief sie die aktuelle Uhrzeit von ihrem Unterarmdisplay auf und erschauderte. In dreißig Minuten war es so weit und Harbingen, Kor und Trümmerfeld würden in Konjunktion gleiten und ein Loch in den Subraum ermöglichen, wenn genügend Energie aufgewendet wurde.

»Die Clicks kommen wieder!« Entsetzt hackte sie auf den Knopf für die Kommunikation, nur um frustriert festzustellen, dass das gesamte System noch immer offline war. »Scheiße!«

Sarah ging ihre Möglichkeiten durch und überlegte, ob sie sich in einen der alten Raumanzüge zwängen und rausgehen sollte, um zu versuchen, die Anlage manuell zu reparieren, doch auch als versierte Technikerin war das nicht bloß unrealistisch, sondern fahrlässig.

Als sie sich schon mit dem Gedanken herumschlug, ihren Sohn und Georg nie wieder zu sehen, ging plötzlich ein Ruck durch das kleine Schiff und trotz der mittlerweile äußerst geringen Mikrogravitation begann sie auf ihrem Sitz zu wackeln.

Hinter ihr ertönte ein lautes Rauschen und als sie sich umdrehte, wurde die Luke aufgeschnitten, durch die sie normalerweise in die Luftschleuse der Ezekiels Rache schwebte.

»Hey!«, sagte die Gestalt im Raumanzug, die kurz darauf ihren Kopf hineinsteckte. Es war Georg. »Haben wir dich!«

»Hier spricht Sarah Mantell, Kapitänin des freien Schiffs Ezekiels Rache«, rief Sarah, als sie auf dem Pilotensitz auf der Brücke Platz genommen hatte. Georg und Karell waren äußerst aufgeregt gewesen, nicht nur, weil sie gegen ihren Befehl verstoßen hatten, nicht in das Trümmerfeld zu fliegen, sondern auch, weil sie entsetzt über den Verlust des Ionenfeldfliegers gewesen waren, der ohne Halteklammern durch das All davongetrudelt und von ihrer Abgasfackel aus den Fusionstriebwerken zu Schlacke verbrannt worden war. Sie verstanden nicht, warum sie es so lapidar aufgegeben hatte, und sie besaß nicht die Zeit, es ihnen zu erklären. Wenn sie richtiglag, hatten sie nur noch acht Minuten, bis es so weit war.

»Hier spricht Sarah Mantell, Kapitänin des freien Schiffs Ezekiels Rache«, wiederholte sie. »Ich muss Commander Konrad Bradley sprechen.«

Rauschen antwortete ihr aus den Lautsprechern.

»Verdammte Scheiße! Diese blutigen Flottenärsche, ich habe diese Frequenzen für viel …«, setzte sie zu einer Tirade an, als ein lautes Knacken ertönte.

»Dies ist ein verschlüsselter Prioritätskanal!«, erklang eine kalte weibliche Stimme. »Ezekiels Rache, Sie stehen unter Arrest wegen …«

»Das ist mir egal! Ich komme aus dem Trümmerfeld und der Commander …«

»Der Commander was?«

Bradley. Die Stimme gehörte Konrad Bradley. Unweigerlich versteifte Sarah sich und schluckte bei ihrem befehlsgewohnten Klang.

»Sir, ich glaube, dass die Clicks einen Angriff auf Kor planen, und zwar in weniger als sechs Minuten. Der erste galt lediglich …«

»Sie melden sich zum Arrest bei der Flottenbasis Delta im Orbit um Kir«, unterbrach sie der oberste Flottenoffizier Harbingens barsch. »Dann werden Sie unserem Nachrichtendienst erklären, wie Sie an die Prioritätscodes gelangt sind. Fliegen Sie dorthin und deaktivieren Sie Ihre Sprungknoten!«

»Commander! Sie verstehen nicht! Die Clicks werden angreifen, warum sollte ich nicht …«

»Sie sind eine Piratin. Warum sollte ich einer Piratin trauen, die sich in meinen persönlichen Prioritätskanal geschaltet hat, an dessen Daten sie nur durch Diebstahl gelangt sein kann?«

Schmugglerin, dachte sie trotzig und spürte hilflose Wut in sich aufsteigen. Dann war die Verbindung plötzlich weg.

»Sarah!«, rief Georg aufgebracht und sein Tonfall ließ sie schlucken. Sie sah es bereits auf den Schirmen. Zwölf große Objekte waren ins System gesprungen. Direkt am dritten Sprungpunkt, den die Clicks mit ihrem scheinbaren Selbstmordkommando gesetzt hatten. Sie blinzelte einmal und dann waren es über zwei Dutzend und ihre Zahl wuchs stetig an.

In zwanzigtausend Kilometern Entfernung, einem kosmischen Katzensprung, materialisierten die mächtigen Schlachtkreuzer der Clicks: lange, tränenförmige Gebilde mit einem lang gezogenen Toroid unter dem Bauch, der vor Waffen nur so starrte. Ihrem Auftauchen ging wie bei jedem Sprung keinerlei Vorwarnung voraus. Für den Bruchteil einer Nanosekunde riss das Universum selbst auf und dehnte sich an seinen kugelförmigen Rändern zu einem rotierenden Loch aus, das die dahinterliegenden Lichter der Sterne unnatürlich bog und in scheinbare Rotation versetzte. Dann war das jeweilige Schiff einfach da und sandte konzentrische Gravitationswellen aus, nicht sichtbar für das Auge oder hochauflösende Kameras, aber für die Laserinterferometer naher Schiffe, wie das der Ezekiels Rache.

Ein automatisierter Gravitationsalarm gellte los, wie sie es gewohnt war, wenn sie einem gerade aktiven Sprungpunkt zu nahe kam. Dutzende, bald hunderte Schiffe materialisierten immer näher an ihrer kleinen Nussschale und schossen mit glühenden Triebwerken auf den Mond Kor zu, auf dem Omega das wichtigste Forschungsvorhaben der Terranischen Föderation durchführte. Die aktuellen Positionsdaten der Verteidigungsflotte, in deren Zentrum die riesige Oberon wie ein Wal, träge über den Wolkenbändern Harbingens dahinzog, war viel zu weit entfernt, als die ersten orbitalen Verteidigungsplattformen des Mondes ihre Torpedoschwärme auswarfen und die ersten Jägerstaffeln aus den Hangars starteten, um sich der angreifenden Übermacht entgegenzuwerfen.

»Beim Omega!«, kreischte Karell hinter ihr auf, seine Stimme ein schrilles Quieken. »Was ist das?«

»Die Clicks«, antwortete Sarah abwesend und aktivierte den Gefechtsalarm, der sofort durch das gesamte Schiff gellte. Sie beschleunigte mehr, als sie es der Ezekiels Rache unter normalen Umständen zugemutet hätte, aber wenn die alte Lady das nicht aushalten sollte, war ohnehin alles zu spät. Die Clicks benutzten, anders als die Föderation, keine automatisierte Nahbereichsverteidigung, was ihnen vermutlich das Leben rettete, als sie in einer halsbrecherischen Kurve mit 7g Beschleunigung auswichen. Die Aliens jagten mit glühenden Fusionsfackeln in Richtung Kor, der als kaum wahrnehmbares, graues Funkeln vor dem blauen Punkt Harbingens zu sehen war. Immer weitere tauchten aus dem Hyperraum auf und entließen kurzlebige Blitze harter Strahlung in den geschundenen Raum rings um ihren jeweiligen Ereignishorizont.

Die Ankunft der ersten Click-Flotte hatte für Staunen und Verunsicherung in der Flottenleitung Harbingens gesorgt und auch das Flottenhauptquartier auf Terra hatte mit Sorge auf den Kurierbericht reagiert. Letztendlich waren sie aber der Einschätzung Omegas als oberste politische Instanz des Systems gefolgt und hatten zugestimmt, eine genauere Untersuchung durch entbehrliche freie Schiffseigner vornehmen zu lassen, ehe man militärisches Personal gefährdete. Für die Flotte war es eine Win-win-Situation. Zum einen gliederten sie die gefährliche und damit kostspielige Arbeit aus, und zum anderen war jeder Verlust eines ›freien Schiffs‹ ein potenzieller Pirat weniger.

Omega hatte die Oberon und ihre Heimatschutzflotte zum Lagrange-Punkt 1 zwischen Harbingen und seinem Trabanten Kor beordert, um Treibstoff zu sparen, während die insgesamt zweihundert Schiffe ihre Position hielten. Das System barg mehrere potenziell verwundbare und wichtige Angriffsziele für die aggressiven Aliens: eine Kolonistenflotte, die im Orbit um die reichste der Kernwelten kreiste und auf ihre sechs fehlenden Schwesterschiffe wartete, die noch in den Orbitalwerften fertiggestellt wurden, den Planeten selbst mit seinen fast zwei Milliarden Bewohnern und natürlich Kor, wo Omega mithilfe der besten Wissenschaftler der Menschheit an der Sprungtor-Technologie forschte und an einem Versuchstor arbeitete, das bereits weit fortgeschritten war, wenn man den Spekulationen der verschiedenen Newsfeeds Glauben schenken konnte.

Der Kurs der angreifenden Click-Flotte, die bis jetzt mehr als dreihundert Schiffe zählte – und immer weitere tauchten am improvisierten Sprungpunkt auf –, ließ anfangs keinerlei Rückschlüsse zu, was ihr Ziel war. In einer lang gezogenen Tangente konnten sie sowohl Kor, als auch Harbingen oder die Zivilflotte ins Visier genommen haben.

Die Schlacht begann mit Torpedosalven aus den unzähligen orbitalen Verteidigungsplattformen Harbingens und Kors, automatisierten, waffenstarrenden Raumstationen und den Schiffen der Verteidiger, die mit glühenden Antriebsgondeln in eine hektische Schutzformation eilten. Sie galt vor allem dem Planeten.

Als beide Flotten noch zweihunderttausend Kilometer voneinander entfernt waren, trafen die jeweiligen Salven aus Abertausenden Geschossen aufeinander. Ausgeklügelte Computersysteme fällten Entscheidungen im Nanosekundenbereich, stießen Submunition in Form miniaturisierter Nuklearsprengköpfe und scharfer Schrapnellwolken aus, die den Raum in ein kinetisches Höllenfeuer tauchten, das alles in seinem Weg pulverisierte und in weitere, viel kleinere und gefährliche Splitter verwandelte. Eine Wolke aus kurzlebigem Plasma, ionisierenden Gasen und im Photonensturm der Explosionen aufflackernden Trümmernebeln breitete sich aus und wurde kurz darauf von den mit brutalen 11g heranrasenden Angreifern durchschlagen, deren Bugpanzerung in einem für das menschliche Auge viel zu schnellem Stakkato aufleuchtete, als donnerten sie durch einen Schwarm Glühwürmchen.

Über vierhundert Schiffe des ärgsten Feindes der Menschheit feuerten ihre Mittelstreckenwaffen ab, während die Verteidiger noch alle Mühe hatten, mit ihrer Nahverteidigung die durchgebrochenen Torpedos abzufangen. Massekatapulte schleuderten kinetische Kegel von der Größe einer Hand ab, die einen Hagel aus ultrahochbeschleunigtem Eisen vor sich hertrieben. Unmöglich zu orten und viel zu schnell, um auszuweichen. Die Verteidiger antworteten mit Sperrfeuer aus ihren Flaks, die mit einer Kadenz von eintausend Granaten pro Sekunde den nahen Raum um ihre Flotte mit flackernden Explosionen und dichtem Schrapnell eindeckten, in der Hoffnung, möglichst viele angreifende Geschosse zu erwischen. Doch es war ein einfaches Rechenspiel der Zahlen, und die Clicks bekamen immer weiteren Nachschub durch den Sprungpunkt, ehe die Konjunktionsphase zu Ende war.

Sarah beobachtete das brutale Gefecht auf den Schirmen, während sie mit halbwegs erträglichen 4g weiter in die entgegengesetzte Richtung beschleunigte. Die farbigen Symbole wirkten wie ein digitaler Hohn gegenüber den Gewalten, die dort draußen tobten und verdichteten sie zu kalten Daten. Es brauchte keine besonderen militärischen Kenntnisse, um zu sehen, dass die Verteidiger nicht bloß überrumpelt wurden, sondern auch in krasser Unterzahl waren. Die Clicks mussten mehrere Flotten zusammengezogen haben, um diesen Angriff zu starten.

Die Oberon hatte sich mit dem Großteil ihrer Begleitschiffe in Richtung der Orbitalwerften zurückgezogen, von denen aus die bereits bewohnten Kolonistenschiffe fluchtartig das Weite suchten. Das gab den Aliens die Gelegenheit, ihren Angriff auf Kor mit aller Härte fortzusetzen. Zuerst pulverisierten sie die letzten noch Widerstand leistenden Verteidigungsplattformen im Orbit des Mondes, während die Anlagen um Harbingen sie weiter unter Beschuss nahmen. Doch die Clicks schienen die Verluste hinzunehmen und begannen kurz darauf mit dem Bombardement und deckten die vollständig industrialisierte Oberfläche mit Tausenden kinetischer Raketen ein.

»Sarah!«, rief Karell hinter ihr. »Ich habe hier was auf dem Schirm!«

»Ich auch«, flüsterte sie kopfschüttelnd. Warum hatte dieser verdammte Bradley ihr nicht zugehört? Wie borniert mussten diese Flottenärsche sein?

»Nein, ich meine vor uns, nicht die Schlacht!«

Sie runzelte die Stirn und gab ihm einen Wink, der ihrem Arm und ihrer Hand eine Menge Kraft raubte. Kurz darauf erschienen sechs blinkende weiße Symbole auf der Übersichtskarte, die ihre Nahbereichscanner angefertigt hatten.

---ENDE DER LESEPROBE---