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Ich hatte nicht das Gefühl, als würde er nach Aurora gehören. Ich hatte eher das Gefühl, als würde er zu mir gehören, egal wo ich war. Aber das lag ja nicht in meiner Hand und in seiner auch nicht. Schon immer wollte die 16-jährige Sasha in die Rolle ihrer liebsten Romanheldinnen schlüpfen und Abenteuer in fernen Welten erleben. Nicht ahnend, dass die Geschichten ihres Großvaters über Parallelwelten tatsächlich wahr sind, landet sie plötzlich unfreiwillig in Aurora - einer modernen Monarchie. Neben einem Leben am Hofe erwartet Sasha hier auch die ganz große Liebe. Doch Palastintrigen und Verrat drohen ihre Träume zu zerstören ... Einmal Prinzessin sein! Der erste Roman in Anna Jarzabs spannender Jugendbuch-Reihe entführt Leser in eine Parallelwelt, in der eine Monarchie herrscht. Eine Geschichte voller Fantasy, Romantik, Geheimnisse und Verrat - für alle Fans der Bestseller-Trilogie Selection. "Das Licht von Aurora" ist der erste Band der Aurora-Reihe.
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Seitenzahl: 585
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Und verfolgt mich ein Gott im dunkeln Meere, so will ich’s dulden … Denn ich habe schon vieles erlebt, schon vieles erduldet, Schrecken des Meers und des Kriegs, so mag auch dieses geschehen!
Homer: Odysee
Aber fürchte dich nicht vor Größe; einige werden groß geboren, andere arbeiten sich zu Größe empor,
Prolog
In der 10. Klasse belegte ich einen Philosophiekurs, um Punkte für meinen Abschluss zu sammeln. Zu Beginn der allerersten Unterrichtsstunde schrieb mein Lehrer, MrEarly, drei Wörter an die Tafel: kata to chreon.
Die Bedeutung des Ausdrucks sei wie auch seine Herkunft nicht ganz eindeutig, sagte er, aber die Übersetzung laute ungefähr »gemäß der Schuldigkeit«. Die alten Griechen, so MrEarly, glaubten, dass das Universum eine Ordnung und alles seinen Preis habe, der früher oder später zu zahlen sei. Das Universum, erklärte er, strebe nach Harmonie und Gleichgewicht. Was geboren wird, muss eines Tages sterben. Asche zu Asche. Alles zerfällt.
Die alten Griechen sind zwar schon seit Jahrhunderten tot, aber sie waren da etwas auf der Spur. Die Wissenschaft lehrt uns, dass Materie weder erschaffen noch zerstört werden kann und auf jede Aktion eine gleich starke und entgegengesetzte Reaktion erfolgt – jede Schuld wird über kurz oder lang vollständig beglichen. An viel mehr aus dem Kurs kann ich mich nicht erinnern, aber dieser Gedanke ist hängen geblieben. Kata to chreon.
ES WAR KURZ VOR MITTERNACHT. Im Schloss war es ruhig, aber durch die offenen Schlafzimmerfenster konnte sie hören, wie eine leichte Brise die Blumen und Blätter im Garten unterhalb des Balkons rascheln ließ. Derselbe sanfte Wind trug den Duft von Rosen und Flieder herein und legte ihn ihr wie ein Tuch um den Hals. Am Himmel tanzten die Polarlichter. Normalerweise hoben die leuchtenden Spiralen aus grünem Licht ihre Stimmung, aber heute Nacht machten sie sie melancholisch. Schon seit Tagen hielt sie nach bösen Omen oder Zeichen einer bevorstehenden Katastrophe Ausschau, nach etwas, das ihr mit Gewissheit sagte, dass sie die falsche Entscheidung traf und einen gefährlichen Weg einschlug. Sonst war sie nicht so abergläubisch, aber nun summte Angst unter ihrer Haut wie eine eingesperrte Fliege an der Fensterscheibe und sie fragte sich, ob das Universum vielleicht doch noch auf ungeahnte Weise eingreifen und ausnahmsweise für Klarheit sorgen würde. Aber es war bereits kurz vor zwölf und noch immer hatte sich nichts geklärt. Sie war ganz auf sich allein gestellt, niemand stand ihr mit Ratschlägen zur Seite. Und die Tür zu ihrem Schicksal schloss sich von Sekunde zu Sekunde weiter.
Noch konnte sie sich umentscheiden. Sie musste um Mitternacht nicht gehen. Sie konnte sich in ihr bequemes, vertrautes Bett legen, die Augen schließen und darauf warten, dass der nächste Tag wie alle anderen vorangegangenen begann. Sie konnte die bleiben, die sie war – Juliana, Prinzessin des Vereinigten Staatenbundes von Columbia und rechtmäßige Thronfolgerin. In sechs Wochen würde sie ihrer machtgierigen Stiefmutter die Regentschaft entreißen und den Rang einnehmen, für den sie geboren worden war. Und wäre das alles gewesen, was ihr bevorstand, wäre sie vielleicht geblieben. Aber es ging nicht bloß darum, wer sie war. Es ging um so viel mehr.
Zum einen war da ihr Vater. Eine einzige Kugel aus dem Gewehr eines Scharfschützen hatte den einst mächtigen Mann auf einen unbeweglichen Koloss reduziert. Nicht lange vor dem verhängnisvollen Schuss hatte ihr der König etwas anvertraut, das Juliana immer noch ein Rätsel war. Die Kugel, die ihn fast das Leben, aber in jedem Fall den Kern seiner Persönlichkeit – seinen Verstand – gekostet hatte, stammte aus der Waffe eines Attentäters. Der Königliche Elitedienst war einfach davon ausgegangen, dass die Libertas den Anschlag verübt hatte, obwohl sich die Rebellengruppe weder zu dem Verbrechen bekannt hatte noch Beweise für ihre Schuld vorlagen. In den Monaten, die seit dem Vorfall vergangen waren, hatten sich Zweifel in Juliana geregt. Aber ganz egal wer letztendlich dahintersteckte – jemand hatte versucht, ihren Vater zu töten. Es war anzunehmen, dass dieser Jemand versuchen würde, auch sie zu töten. Juliana wollte nicht sterben, doch wenn sie blieb, machte sie das für den Rest ihres Lebens zu einer wandelnden Zielscheibe. Vielleicht war es feige von ihr – genau genommen wusste sie, dass es das war –, aber in ihrem Leben gab es nichts, das ihr so wichtig war, als dass sie dafür freiwillig in den Tod gehen würde.
Der Gedanke, dass sie ihr Land im Stich ließ, beschämte sie natürlich. Wenn Thomas wüsste, was sie plante und sogar bereits getan hatte, würde er bestimmt versuchen, sie davon abzubringen. Sechs Monate zuvor, noch vor dem Attentat, hatte der König verkündet, sie mit dem Feind vermählen zu wollen, um ein gewisses Maß an Frieden und Sicherheit für den Staatenbund sicherzustellen. Vergeblich hatte er versucht, Juliana davon zu überzeugen, dass dies die einzige Möglichkeit war. Sie hatte sich geweigert, seine Beweggründe zu verstehen, und vehement protestiert, ein böses Gesicht aufgesetzt, ihn angeblafft und die verzogene Göre gegeben, um ihn umzustimmen. Ohne Erfolg. Thomas hatte ihr erklärt, dass man manchmal Opfer für das Gemeinwohl bringen müsse, woraufhin sie sich ihm gegenüber furchtbar benommen und kaum mehr mit ihm geredet hatte, nicht einmal nach dem Attentat auf ihren Vater. Wie gern hätte sie Thomas um Rat gefragt, aber sie konnte sich nicht überwinden, auch nur ein Wort zu ihm zu sagen. Und jetzt waren es nur noch fünf Minuten, bis sie ihn verraten würde, bis sie alle verraten würde, all die Menschen, die sich von der königlichen Familie Kraft, Führung und Rettung erhofften. Was auch immer als Nächstes geschah, wann und wie ihr Leben auch zu Ende ging, sie würde es ewig bereuen, dass sie ihm nicht für seine Freundschaft gedankt und sich von ihm verabschiedet hatte.
Drei Minuten vor zwölf. Wenn sie ihren Komplizen um Mitternacht treffen wollte, musste sie sich jetzt auf den Weg machen. Als er ihr vor ein paar Tagen das Angebot gemacht hatte, war sie angewidert gewesen. In all den Jahren, die sie ihn kannte, hatte sie ihn nie gemocht. Er war ihr immer zu glatt gewesen, glitschig wie ein Aal; dass ihm Unsicherheit und Verzweiflung geradezu aus jeder Pore drangen, stieß sie besonders ab, weil sie befürchtete, in ihren schwachen Momenten ebenso zu wirken. Ihr Vater hatte stets betont, dass man sich bei anderen Menschen genau an den Dingen stört, die man auch an sich selbst nicht mag. Dieser Gedanke jagte ihr besonders bezüglich jener Person eisige Schauer über den Rücken. Sollte sie ihm wirklich ähneln, war das vielleicht der Grund, warum sie tat, was sie tat. Weglaufen, sich verstecken, sich vor den eigenen Pflichten drücken – genau das hätte auch er gemacht. Schließlich war er derjenige, der ihr dabei half.
Erst hatte sie nicht begriffen, was er ihr da vorschlug. Wie konnte ausgerechnet er ihr das in Aussicht stellen, was sie sich am meisten wünschte: die Chance auf ein normales Leben fernab des Schlosses und aller offiziellen Verpflichtungen, die Chance, sie selbst zu sein, wer auch immer das war. Aber dann erzählte er ihr von der Libertas und dass sie ihr die Flucht ermöglichen würde, wenn der Preis stimmte. Er selbst war nur der Überbringer der Botschaft, der Strippenzieher. In Wirklichkeit interessierte sich der Monade für sie. Der Monade würde sie befreien.
Eine Sache musste Juliana noch erledigen, bevor sie aufbrach. Schnell schrieb sie eine Nachricht an Thomas und faltete sie – in dem Wissen, dass die Botschaft ihn nur dann erreichen würde, wenn sie unauffällig war – zu einem Stern, den sie an den Seiten mit dem Daumennagel eindrückte, damit er sich wölbte. Dann legte sie ihn in die Schublade ihres Nachttischs. Die Nachricht war kurz, denn zum Schreiben war nicht viel Platz, aber viel hatte sie auch nicht zu sagen:
TUT MIR LEID, T, ES GEHT NICHT. ICH WÜNSCHTE, ICH WÄRE BESSER, ABER ICH BIN ES NICHT. J
Sie schloss die Schublade, durchquerte das Zimmer und blieb vor einem Bild stehen, das vor langer Zeit gemalt worden war. Es zeigte St.Lawrence, den ehemaligen Landsitz ihrer Mutter, der jetzt ihr gehörte. Als Kind hatte sie jeden Sommer an den Ufern des Sternsees verbracht. Er war die Kulisse einiger ihrer schönsten Erinnerungen. Die Vorstellung, dass sie vielleicht nie wieder nach St.Lawrence kommen, ihre Mutter vielleicht nie wiedersehen würde, brach Juliana das Herz. Ihre Mutter war verbannt worden und musste den Rest ihres Lebens in einem Land im Norden fristen. Dabei bestand ihr einziges Verbrechen darin, den König geliebt zu haben und nicht genug zurückgeliebt worden zu sein. Diese alte Wunde begann zu pochen, als Juliana ein letztes Mal das majestätische, historische Landgut betrachtete und an ihre verlorene Kindheit dachte. Schnell schob sie den Gedanken beiseite, wohl wissend, dass Nostalgie dem Phantomschmerz eines fehlenden Körperteils glich – manchmal tat es weh, obwohl da nichts mehr war.
Juliana trat hinaus auf den Balkon, um einen letzten langen Blick auf den Schlossgarten zu werfen, ihren absoluten Lieblingsort in der Festung. Weit oben ragte der Turm in den Himmel, schwärzer als die Nacht selbst. Sie stellte sich vor, wie Thomas friedlich in seinem Zimmer schlief und nicht ahnte, dass sie, wenn er wieder erwachte, längst weg sein würde. Sie stellte sich den General vor, wie er in seinem Büro saß und bis ins kleinste Detail durchdachte Pläne für eine Zukunft schmiedete, an der sie nicht mehr teilhaben würde. Ersterem gegenüber spürte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm den Rücken gekehrt hatte, aber der andere konnte von ihr aus in der Hölle schmoren.
Über ihr tanzten die Polarlichter, wie sie es immer getan hatten und auch weiter tun würden, ob sie da war oder nicht. Ihre unbekümmerte Schönheit erinnerte Juliana daran, wie unbedeutend sie selbst im Angesicht der Unendlichkeit war. Ein tröstlicher Gedanke. Betrachtete man das große Ganze, spielte sie gar keine Rolle. Diese Gewissheit erleichterte ihr das Vorhaben ungemein.
THOMAS JENSEITS VON AURORA
Es war nicht leicht, sich an diesen Himmel ohne Polarlichter zu gewöhnen. Bevor er herübergekommen war, hatte er nicht geahnt, wie sehr er sie vermissen würde. Er war zwar nicht sonderlich sentimental veranlagt, aber nur diese leere schwarze Decke über sich zu haben, auf der ein paar Sterne funkelten, war schon komisch. Er griff in die Tasche und zog eine Handvoll Toggles hervor, die er sich eins nach dem anderen in den Mund steckte. Erst ließ er die Schokolade ein wenig auf der Zunge schmelzen und biss dann sanft auf den fruchtigen Kern. Toggles waren sein einziges Laster; auf der Erde gab es nichts Vergleichbares. Deshalb hatte er auch nicht widerstehen können und eine Packung mitgenommen – obwohl es strengstens verboten war, Dinge aus seinem Universum, die es hier nicht gab, mitzubringen. Aber Thomas kaute fast zwanghaft Toggles, wenn er nervös war, und außerdem erinnerten sie ihn an daheim. Sie waren das Risiko also durchaus wert.
Er hatte dieses Universum durch eine Tür betreten, die es nicht gab. Niemand hatte ihn dabei gesehen – die Sonne war vor ein paar Stunden untergegangen und der kurze, ruhige Abschnitt der South Kenwood Avenue, der am Bixler Park entlangführte, lag verlassen da. Sein Eintreten war ohne Probleme verlaufen. Nur ein leichtes Beben, das die Ketten der Schaukeln auf dem Spielplatz zum Rasseln gebracht hatte, hatte seine Ankunft angekündigt. Während er hinter dem dicken Stamm einer Eiche auf seinen Analog wartete, spielte Thomas mit seinem goldenen KED-Ring, ließ den Daumen über das eingravierte Motto gleiten: Übertreffen heißt überdauern.
Um 21.40Uhr verließen Grant Davis und seine Freunde ein Restaurant in der 75. Straße. Thomas beobachtete, wie Grant sich verabschiedete, von der Gruppe löste und, die Hände in den Taschen, über die Straße lief. Er kam geradewegs auf ihn zu.
Thomas dachte darüber nach, wie merkwürdig das doch war, was gleich passieren würde. Dabei hatte er noch die Wahl. Er konnte Grant einfach vorbeigehen lassen und warten, bis er im warmen gelben Licht des Hauses verschwunden war, in dem er mit seiner Mutter wohnte – einer Rechtsprofessorin und Hobbyornithologin, die mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr und bei der örtlichen Lebensmittelkooperative einkaufte.
Aber wenn er jetzt nicht handelte – was machte er dann hier? Ja, er hatte eine Wahl, aber nur theoretisch. Das hier war seine Mission. Der General verließ sich ebenso auf ihn wie – selbst wenn sie davon nichts wussten – die Bürger des Landes, das zu beschützen und dem zu dienen Thomas einen feierlichen Eid geschworen hatte. Heute Nacht lastete das Schicksal eines ganzen Universums auf seinen Schultern. Er konnte sein Versprechen jetzt nicht brechen, auch wenn Zweifel an ihm nagten und er sich fragte, ob er wirklich das Richtige tat.
Grants Schritte wurden lauter, je näher er kam. Thomas machte sich bereit. Das hier erforderte absolute Präzision. Nichts durfte schiefgehen. Wenigstens war der Park menschenleer. Niemand würde mitbekommen, was hier gleich geschah.
Als Grant bis auf wenige Meter herangekommen war, trat Thomas hinter dem Baum hervor und hob den Blick, um ihm in die Augen zu sehen.
Es war unheimlich, seinem Analog von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Irgendwie fühlte es sich unnatürlich an, als verstoße es gegen die grundlegendsten Gesetze der Physik – was ja auch der Fall war. Eigentlich war es nicht vorgesehen, dass Menschen ihre Universen verließen. Deshalb gab es eine Grenze, einen Schleier zwischen den Welten, eine angeblich unüberwindbare Barriere. Und doch hatten die Wissenschaftler aus Thomas’ Universum einen Weg hindurch gefunden. Natürlich nicht ohne Konsequenzen. Sich von einem Universum ins andere zu bewegen, erzeugte Störungen, ein Ungleichgewicht von Masse und Energie mit manchmal verheerenden Folgen. Das kleine Beben, das Thomas verursacht hatte, war nur ein Bruchteil davon – ein Welleneffekt, ausgelöst durch sein plötzliches Eintreten und die Energie, die nötig gewesen war, um ihn hierherzubringen. An sich war das kein großes Problem. Ein kleines Ungleichgewicht erzeugte eine kleine Störung, die augenscheinlich niemand bemerkt hatte. Die zweite Komplikation jedoch, die beim Überschreiten der Grenze auftrat, war ganz anderer Natur.
In Thomas’ Welt wurde es das Analogproblem genannt: Kurz gesagt durften sich Analoge – Doppelgänger, in Ermangelung eines besseren Wortes – aus verschiedenen Universen nicht berühren. Geschah es doch, wurde einer von ihnen aus dem Universum hinauskatapultiert, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Normalerweise traf es den Analog, der sich am falschen Ort befand. Jedes Universum kannte seine Bewohner und rief sie durch die Weiten des Hyperraums zu sich. Thomas aber musste auf der Erde bleiben. Er durfte nicht zurückgeworfen werden. Deshalb trug er ein enges, schmales Armband aus glänzendem Silber am Handgelenk, das ihm erlauben würde zu bleiben.
Thomas hatte in seiner Welt alles für Grant vorbereitet. Auf der anderen Seite warteten drei Agenten des Königlichen Elitedienstes. Sie würden Grant in Gewahrsam nehmen und dafür sorgen, dass ihm nichts zustieß, bis er in sein Heimatuniversum zurückkehren konnte. Jetzt musste Thomas nur noch nahe genug an Grant herankommen, um ihn zu berühren. Wenn alles nach Plan lief, würde Grant wie eine Puppe hinübergeschleudert, um auf der anderen Seite Thomas’ Platz einzunehmen. Aber Thomas hatte schon vor langer Zeit die Erfahrung gemacht, dass solche Dinge selten nach Plan liefen.
Grant musterte Thomas von oben bis unten und versuchte eine Erklärung für das zu finden, was er da vor sich sah. »Wow«, flüsterte er.
In Thomas’ Adern rauschte das Adrenalin. Ein leicht versengter Geruch hing in der Luft, als hätte irgendwo in der Nähe ein Blitz eingeschlagen. Thomas’ Fingerspitzen prickelten vor elektrischer Spannung. Es war so weit. Der Zeitpunkt war gekommen. Er musste nur noch einen Schritt nach vorne machen, um Grant zu berühren. Dann wäre es geschafft und seine wahre Mission würde beginnen.
Aber Thomas war wie gelähmt. Er hatte kaum darüber nachgedacht, wie es sich anfühlen würde, seinem Analog tatsächlich gegenüberzustehen. Klar, er wusste eine Unmenge über Grant, aber das waren alles nur Daten und Fakten, die er auswendig gelernt hatte, um erfolgreich in dessen Rolle schlüpfen zu können. Aber nichts davon brachte ihn jetzt weiter. Mit einem Mal hatte er unzählige Fragen, wollte wissen, wie es war, Grant zu sein, in seiner Haut zu stecken und diese Welt – seine Welt – durch seine Augen zu sehen.
Dr.Moss hatte ihn davor gewarnt. »Glauben Sie bloß nicht, dass Sie diese Begegnung so einfach wegstecken werden, nur weil Sie wissen, dass er Ihr Analog ist«, hatte Mossie gesagt. Aber Thomas hatte ihm nicht geglaubt. Und jetzt war es zu spät. Die Zeit drängte. Grant Davis musste verschwinden.
»Wer bist du?«, fragte Grant mit vor Angst und Wut erstickter Stimme.
Thomas zögerte. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte, wusste, dass er eigentlich gar nicht mit ihm reden sollte. Und dieses kurze Zögern, so kurz, dass nicht einmal eine Maus hätte vorbeihuschen können, nutzte Grant und stürzte sich auf Thomas.
Er packte ihn am Kragen des Pullovers, der seinem eigenen bis ins kleinste Detail glich. »Wer bist du?«, schrie er. In seinen Augen spiegelte sich Entsetzen.
»Ich bin du«, erwiderte Thomas aufrichtig.
Diese Antwort traf Grant so unvermittelt, dass Thomas ihn abschütteln und wegstoßen konnte. Grant stolperte rückwärts, aber nur ein paar Schritte, dann fing er sich wieder, holte aus und traf diesmal mit geballter Faust Thomas’ Kinn.
Als Thomas die Augen öffnete, lag er auf dem harten Beton des Bürgersteigs und war allein. Er war nicht nur allein – es gab nicht den geringsten Hinweis, dass Grant je hier gewesen war.
Thomas rappelte sich auf und berührte vorsichtig das Kinn. Grants Faust hatte ihn nur gestreift, der Schlag würde sicher keine Spuren hinterlassen. Grant war eindeutig ähnlich stark und schnell, aber offensichtlich untrainiert, und er hatte bei Weitem nicht Thomas’ Nahkampferfahrung. Hätte Thomas nicht gezögert, wäre Grant nicht einmal zum Ausholen gekommen. Trotzdem verspürte Thomas ein wenig Stolz – schließlich hatte sein Analog genauso reagiert, wie Thomas es an seiner Stelle getan hätte. Er hatte um sein Leben gekämpft.
Der Bixler Park lag ruhig und verlassen da. In Thomas machte sich Müdigkeit breit – ein ungewohntes Gefühl für ihn. Also schob er die Hände in die Taschen und lief die South Kenwood Avenue hinauf, auf das warme gelbe Licht seines Zuhauses zu.
Kapitel 1
»Was liest du da?«
Ich sah von meinem Buch auf und stellte fest, dass Grant Davis vor mir stand. Ich blickte mich um, weil ich wissen wollte, mit wem er redete. Mich meinte er bestimmt nicht. In all den Jahren, die wir schon auf dieselbe Schule gingen, hatte er nicht mehr als drei Worte mit mir gewechselt. Aber bis auf uns beide war niemand hier. Ich musste völlig baff ausgesehen haben, denn Grant lachte und ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen.
Wie schräg ist das denn?, dachte ich kurz, beschloss dann aber mitzuspielen. Wie oft passiert es schon, dass der beliebteste Junge der Schule in deiner Lieblingsbuchhandlung auftaucht und mit dir redet?
Grant Davis war, um es ganz offen zu sagen, das prächtigste Exemplar der Spezies Mensch, das je das Licht der Welt erblickt hat. Als ich in der vierten Klasse war und er in der fünften, hatte ich mich bis über beide Ohren in ihn verknallt. Die nächsten paar Jahre war ich Feuer und Flamme für ihn gewesen, aber inzwischen war meine Schwärmerei allmählich abgekühlt und auf einen Haufen glimmender Kohlen reduziert.
Mein Herz machte einen kleinen ungewollten Hüpfer, als ich Grant aus den Augenwinkeln betrachtete. Er war genau mein Typ: groß und breitschultrig, mit grasgrünen Augen, perfekten Gesichtszügen und dichtem blondem Haar, das immer ein bisschen verstrubbelt war und so aussah, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen. Aber er war nicht bloß attraktiv – ich kannte eine Menge gut aussehender Jungs, mit denen ich um nichts in der Welt hätte reden wollen. Grant war außerdem nett, charmant und bei Mitschülern, Lehrern und Schulpersonal gleichermaßen beliebt. Er wirkte immer so locker und unbekümmert. Auch jetzt, wie er so auf dem Stuhl lümmelte, machte er einen ungezwungenen und entspannten Eindruck, während ich steif und angespannt dasaß und eine abgegriffene Taschenbuchausgabe von Shakespeares Was ihr wollt umklammert hielt, als wäre das Buch alles, was ich besaß.
»Suchst du was, Sasha?«, fragte er mit einem belustigten Funkeln in den Augen.
»Ich wollte nur wissen, mit wem du redest«, erwiderte ich und zog die Augenbrauen hoch.
»Mit dir natürlich.« Er breitete die Arme aus und machte eine ausladende Geste.
Wir befanden uns in der Leseecke von 57th Street Books, die in den Tiefen des unterirdischen Bücherlabyrinths versteckt war. 57th Street Books war meine Lieblingsbuchhandlung in Hyde Park, einem gemütlichen Universitätsviertel im Süden Chicagos, wo ich mit meinem Großvater lebte. Ich traf in dem Laden so gut wie nie jemanden, den ich kannte, und Grant zwischen den Bücherregalen zu sehen, war, als würde ich einem Eisbären dabei zuschauen, wie er sich am Strand von Malibu sonnte.
»Siehst du sonst noch jemanden? Ich glaube, wir sind die Einzigen hier.«
»Genau das mag ich an diesem Ort«, erwiderte ich. »Normalerweise ist es so ruhig.«
»Ist das ein Wink mit dem Zaunpfahl?« Grants Ton war immer noch neckisch.
»Schon möglich.« Ich versuchte mir ein Lächeln zu verkneifen. Ohne Erfolg. »Was machst du hier?« Mir war nicht entgangen, dass er keine Bücher bei sich trug.
»Ich steh auf Lesen.« Er klang beleidigt. »Bücher sind mein Leben.«
Ich sah ihn zweifelnd an. »Ich erinnere mich ziemlich genau daran, dass du im Englischkurs mal eine Buchbesprechung über Matrix machen wolltest.«
»Na gut«, erwiderte er grinsend. »Aber zu meiner Verteidigung möchte ich dich darauf hinweisen, dass ich aus verlässlicher Quelle erfahren hatte, dass Matrix auf einem Buch basiert.«
»Und wer war diese Quelle?«
»Johnny Hogan«, gab er widerstrebend zu.
Ich stöhnte auf. »Johnny Hogan? Dann hast du deine gerechte Strafe bekommen. Ich glaube, das letzte Buch, das Johnny gelesen hat, war Hop on Pop.«
Sein Lächeln geriet kurz ins Wanken und ich merkte, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wovon ich sprach. »Das Buch von Dr.Seuss, mit dem man Lesen lernt? Hop on Pop?«
»Weiß ich doch.« Grant verdrehte die Augen.
»Sah aber gerade nicht so aus«, stichelte ich.
Grant zuckte mit den Schultern und lehnte sich zu mir. Mein Herz schlug so schnell, dass ich es bis in den Hals spüren konnte. »Also, bekomme ich eine Antwort auf meine Frage? Was liest du da?«
Ich drehte das Buch so, dass er den Titel sehen konnte.
»Was ihr wollt, hm? Nie gehört.«
»Das ist für Englisch, bei Ms Dunne. Aber ich habe es schon mal gelesen.« Mehrmals, um genau zu sein. Was ihr wollt war eins meiner Lieblingsbücher. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, dass Grant sich für meine Hausaufgaben interessierte, aber er hatte schließlich gefragt.
»Worum geht es?« Grant machte es sich auf dem Stuhl gemütlich, als würde gleich die Märchenstunde anfangen.
»Willst du das wirklich wissen?«
Er nickte.
»Na gut. Es geht um ein Mädchen namens Viola, die nach einem Schiffsunglück in einem fremden Land strandet und sich als jemand anderes ausgeben muss, um ihre wahre Identität geheim zu halten.« Das schien sein Interesse zu wecken; er richtete sich in seinem Stuhl auf und seine Augen weiteten sich. Ich fuhr fort: »Aber dann verknallt sie sich in den Typen, für den sie eigentlich arbeitet, und darüber hinaus verliebt sich die Frau, um die besagter Typ wirbt, in Viola, die als Junge verkleidet ist. Es ist eine Komödie.«
»Was du nicht sagst.«
»Eine wirklich lustige noch dazu. Sofern man Shakespeare mag.«
»Was du offensichtlich tust. Dem Zustand deines Buchs nach zu schließen.«
Ich betrachtete mein ramponiertes Taschenbuch. Die Seiten waren gelb und wellten sich und der Deckel war so verschlissen, dass er nur noch durch einen schmalen Streifen Papier, der jeden Moment zu reißen drohte, mit dem Buchrücken verbunden war. Aus irgendeinem Grund sprach mich Was ihr wollt auf eine ähnliche Weise an, wie es früher Die Zeitfalte und Alice im Wunderland getan hatten. Ich konnte mich glücklich schätzen: Vor allem, wenn man bedachte, wie sich die Dinge hätten entwickeln können, war mein Leben bisher sehr schön verlaufen. Aber schon vor dem Tod meiner Eltern hatte sich ein kleiner Teil von mir immer danach gesehnt, aus dem Alltag herausgerissen und in ein großes Abenteuer geschleudert zu werden. Meine Lieblingsheldinnen waren allesamt Mädchen, die sich plötzlich in einer fremden Welt behaupten mussten. Ich konnte einfach nicht anders, als sie zu beneiden. Ihre Erlebnisse machten stärkere, klügere und bessere Menschen aus ihnen oder zeigten ihnen vielmehr, dass sie es schon immer gewesen waren.
»Das kann man wohl sagen. Was ihr wollt ist mein Lieblingsstück von Shakespeare. Die meisten Mädchen mögen Romeo und Julia lieber, weil sie es so romantisch finden.« Ich spielte mit dem Anhänger meiner Kette, einem Halbmond, an dem ein kleiner Stern baumelte. Ich hatte ihn zu meinem sechzehnten Geburtstag von Großvater bekommen und immer wenn ich nervös war, nestelte ich daran herum.
»Und du siehst das anders?«
»Es ist schon okay. Die Sprache ist toll, aber Romeo und Julia fand ich immer ziemlich dämlich.« Warum erzählte ich ihm das alles? Was kümmerten ihn meine Ansichten über fiktive Figuren? Aber er sah mich interessiert an, hing förmlich an meinen Lippen, und das brachte mich total aus der Fassung. Hier neben Grant Davis zu sitzen, fühlte sich ausgesprochen unwirklich an, ähnlich wie ein schöner Traum, in dem alles ein bisschen neben der Spur ist.
»Wieso denn?«
»Das ist vielleicht nicht besonders originell, aber meiner Meinung nach gibt es fast immer eine bessere Lösung für Liebeskummer, als sich umzubringen.«
Grant schmunzelte.
Ich sah auf die Uhr. »Oh, Mist. Ich hatte keine Ahnung, dass es schon so spät ist. Ich muss heim.« Ich packte meine Sachen und stand auf. Grant erhob sich ebenfalls.
»War nett … mit dir zu reden, Grant«, sagte ich, unsicher, wie ich das Gespräch beenden sollte. Hatte er mich aus einem bestimmten Grund angesprochen oder war ihm einfach nur langweilig gewesen? Und was hatte er überhaupt in der Buchhandlung gewollt? Ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht zum Stöbern gekommen war.
»Ich kann dich begleiten«, bot er an.
»Schon okay«, sagte ich, mit einem Mal ganz verlegen. Meine Wangen wurden heiß. »Musst du nicht.« Ein Teil von mir wollte unbedingt hierbleiben und weiter mit ihm reden. Ich war neugierig und konnte spüren, wie die alten Gefühle für ihn wieder aufflammten. Aber ein anderer Teil wollte so schnell wie möglich weg von ihm. Solange sich niemand in der Nähe befand, war es ja völlig okay, mit Grant zu plaudern. Aber er gehörte zu den beliebtesten Leuten der Schule und ich … nicht. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, draußen in der wahren Welt mit ihm herumzulaufen, als wären wir Freunde.
»Ich bestehe aber darauf«, sagte er hartnäckig, nahm mir die Tasche aus der Hand und hängte sie sich über die Schulter. »Gehen wir. Ich will nicht, dass du zu spät kommst.«
Es war schon fast sechs, aber draußen war es jetzt, Anfang Mai, noch so hell, dass ich meine Augen mit der Hand abschirmen musste, als wir den dunklen Buchladen verließen. Wir gingen die 57. Straße hinunter, bogen dann links auf die South Kenwood Avenue ab und durchquerten den Bixler Park in betretenem Schweigen. Ich kannte das Viertel wie meine Hosentasche – ich lebte hier seit meinem siebten Lebensjahr in einem baufälligen viktorianischen Haus, das Großvater in den frühen Achtzigern gekauft hatte – und Hyde Park war nicht besonders groß, höchstens fünfzehn mal fünfzehn Blocks. Und ich war mir ziemlich sicher, dass Grant schon sein Leben lang hier wohnte. Aber während wir zusammen durch die vertrauten Straßen gingen, kam es mir fast so vor, als wäre ich zum ersten Mal hier. Alles schien irgendwie schöner als sonst: Das Gras war eine Spur grüner, die alten Sandsteingebäude und die Häuser mit den farbigen Giebeln wirkten heller und gepflegter und die sanfte Brise, die vom Lake Michigan herüberstrich, roch besser und fühlte sich kühler an als noch vor zwei Stunden. Wahrscheinlich bildete ich mir das alles nur ein und in Wirklichkeit hatte sich rein gar nichts verändert. Trotzdem fühlte es sich so an.
Grant schlenderte lässig dahin, das Gesicht zum Himmel gewandt, um die wärmenden Sonnenstrahlen aufzufangen. Er schien es nicht eilig zu haben. Ich dagegen schon. Hinsichtlich des Abendessens war Großvater ziemlich streng: Punkt sechs, ohne Ausnahme.
»Wo wohnst du?«, fragte Grant.
»South Kenwood, zwischen 52. und 53. Straße.«
»Gar nicht weit weg von uns also. Wir wohnen Ecke 54. Straße und Ridgewood.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Meine Mutter und ich. Wir sind nur zu zweit.«
»Wir auch«, sagte ich. »Nur Großvater und ich.«
»Ja, ich hatte mich schon gewundert … Was ist mit deinen Eltern? Wenn ich fragen darf.«
»Sie sind gestorben.« Der Teil war den Leuten immer besonders unangenehm. Sie wussten nicht, wie sie reagieren sollten, und meistens lief es darauf hinaus, dass sie sich entschuldigten. Aber obwohl mir meine Eltern jeden Tag fehlten, tat es nicht mehr weh, darüber zu sprechen. Eigentlich war es mir sogar lieber, nicht um den heißen Brei herumreden zu müssen. Nichts zu sagen, nur um eine unangenehme Situation zu vermeiden, kam mir wie ein Verrat an ihrem Andenken vor.
»Tut mir leid«, sagte Grant, so wie ich es erwartet hatte. Er massierte sich den Nacken – eine Verlegenheitsgeste, wie mir schien.
»Schon okay. Es ist lange her. Was ist mit deinen Eltern?«
Er zuckte mit den Schultern. »Geschieden. Mein Vater ist Anwalt und lebt in Los Angeles. Ich habe ihn schon länger nicht mehr gesehen. Dein Großvater unterrichtet an der Uni, stimmt’s?«
»Genau, er ist Professor für Physik. Nach dreißig Jahren ist er in Rente gegangen, aber als er mich geerbt hat, war er gezwungen, die Arbeit wieder aufzunehmen. Früher hatte ich deswegen ein schlechtes Gewissen, aber mittlerweile glaube ich, dass die Uni ihm eigentlich gefehlt hat. Ihm wäre jede Ausrede recht gewesen, um wieder zu unterrichten.«
»Meine Mutter ist auch Professorin, aber sie hasst ihre Arbeit. Sie jammert immer über die ›Büropolitik‹, was auch immer das sein mag.«
Ich grinste. »Großvater auch. Er geht den Leuten aus seinem Institut aus dem Weg, wo er nur kann. Physik mag er, Physiker nicht.«
»Und was magst du?«, fragte Grant.
Ich sah ihn erstaunt an. »Was meinst du damit?«
»Ich möchte wissen, was dich bewegt.« Er hielt mir seine Faust vors Gesicht, als hätte er ein Mikrofon in der Hand. »Sasha Lawson – was willst du werden, wenn du groß bist?«
Ich lehnte mich vor und tat so, als würde ich hineinsprechen. »Das weiß ich noch nicht.«
»Das weißt du noch nicht? Ich dachte, du hast deine Zukunft schon bis ins kleinste Detail geplant.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ach, keine Ahnung. Du bist so zielstrebig. Hammernoten, tonnenweise außerschulische Aktivitäten. Du wirkst einfach wie einer dieser Menschen, die genau wissen, was sie tun.«
»Dann geht mein Masterplan ja auf«, erwiderte ich lächelnd. »Aber nein. Ich weiß es noch nicht.« Es trieb Großvater zur Verzweiflung, dass ich noch nicht wusste, welches Hauptfach ich belegen wollte, geschweige denn, auf welches College ich gehen würde. Er behauptete, er habe schon im Alter von sechs Jahren den Entschluss gefasst, Physiker zu werden. Aber das hatte ich immer schon für eine Übertreibung gehalten. »Und du?«
»Ich bin ab Herbst an der Loyola eingeschrieben«, antwortete Grant. Die Loyola University war nur wenige Meilen von Hyde Park entfernt und ich war überrascht, dass Grant nicht weiter von zu Hause wegging. »Aber ich weiß noch nicht, was ich dort machen werde.«
Als wir die Ecke erreichten, wo die 54. Straße auf die South Kenwood Avenue traf, blieben wir stehen.
»Willst du mich wirklich bis ganz nach Hause begleiten?«, fragte ich.
»Es sind nur noch ein paar Blocks, Sasha. Ich glaube, ich werde es überleben.« Er blickte mich mit zusammengekniffenen Augen an, als würde er mich sonst nicht scharf sehen können. »Willst du mich etwa loswerden?«
»Nein, nein, das nicht, es ist nur …« Ich verstummte, als wir die Straße passierten, in der Grant wohnte.
»Was?«, fragte er und zog das Wort in die Länge.
»Ich wundere mich nur«, sagte ich. »Du hast praktisch noch nie mit mir geredet. Und heute tauchst du wie aus dem Nichts auf und bestehst regelrecht darauf, mich nach Hause zu bringen. Willst du irgendwas von mir?«
Grant vergrub die Hände in den Taschen seiner Jeans. »Nein, nicht wirklich. Aber ich …« Er blieb stehen und sah mich an.
Ich erwiderte seinen Blick und versuchte seine Gedanken zu lesen, aber das erwies sich als ziemlich schwierig, denn schließlich kannte ich Grant kaum. Er wirkte jedoch ehrlich und gleichzeitig auch vorsichtig.
Grant holte tief Luft, bevor er weiterredete. »In einem Monat bin ich mit der Schule fertig. Irgendwie denke ich deshalb über all das nach, was ich gern anders gemacht hätte.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Ich habe viel an dich gedacht«, gab er zu und vermied es plötzlich, mich anzusehen.
»An mich? Warum?«
»Ich weiß es auch nicht!« Mit jeder Sekunde schien er weiter zu schrumpfen. Ich hatte noch nie erlebt, dass Grant etwas peinlich oder unangenehm war. Das war eine ganz neue Seite an ihm, die im absoluten Gegensatz zu seinem Der-Coole-von-der-Schule-Image stand. Es war ein eigenartiger, intimer Moment. Langsam tat es mir leid, dass ich es ihm so schwer machte. »Du bist so klug und cool. Noch dazu ist es nicht zu übersehen, wie hübsch du bist. Du weißt doch, dass du hübsch bist, oder?«
Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf erwidern sollte, also beließ ich es bei einem schlichten »Danke«.
»Keine Ursache.« Er scharrte mit den Füßen. »Jedenfalls wollte ich einfach ein bisschen Zeit mit dir verbringen und dich besser kennenlernen.« Er hob die Hände, als würde er sich ergeben wollen. »Ich werde auch nichts Komisches versuchen, versprochen.«
Ich lachte und seine Anspannung ließ sichtlich nach. »Ich glaube dir ja. Entschuldige die ganze Nachfragerei. Ich hab’s bloß nicht verstanden.«
Grant lächelte und mein Magen machte einen spektakulären Satz. Wir verstummten, und als wir weitergingen, ließ die Angespanntheit zwischen uns langsam nach.
In Gedanken wiederholte ich immer wieder seine Worte: Ich habe viel an dich gedacht. Du bist so klug und cool. Noch dazu ist es nicht zu übersehen, wie hübsch du bist. Am liebsten hätte ich ihn mit Fragen bombardiert, aber selbst meine – zugegebenermaßen bescheidene – Erfahrung mit Jungs sagte mir, dass das keine gute Idee wäre.
Ein paar Meter vor unserem Haus blieb Grant erneut stehen. »Darf ich dich was fragen?« Ich nickte. »Hast du schon mal über den Abschlussball nachgedacht?«
Was für eine blöde Frage – natürlich hatte ich über den Abschlussball nachgedacht! Die Mädchen in meiner Klasse redeten von so gut wie nichts anderem mehr, schließlich war es bloß noch eine Woche bis dahin. Aber ich war davon ausgegangen, dass mich sowieso niemand einladen würde, und so war es dann natürlich auch gekommen. Ich war nicht allzu enttäuscht – es gab nicht mal einen bestimmten Jungen, mit dem ich gern hingegangen wäre –, aber ich konnte nicht leugnen, dass ich trotzdem ein kleines bisschen neugierig auf den Ball war. Allein um zu sehen, worum alle so einen Wirbel veranstalteten.
»Wie, nachgedacht?«, fragte ich. Vielleicht war das eine blöde Antwort, aber die ganze Situation war einfach zu schräg. Ich wusste, sobald die Haustür hinter mir zufiel, würde ich mich nur schwer davon überzeugen können, dass das alles wirklich passiert war.
»Würdest du, also, äh, vielleicht, mit mir hingehen wollen?« Grant sah mich so durchdringend an, dass ich einfach nicht wegschauen konnte. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Erwartung und Angst.
Ich war völlig baff. Ich konnte nicht glauben, dass von allen Jungs, die ich kannte, ausgerechnet Grant vor mir stand und meiner Antwort entgegenfieberte. »Ist das dein Ernst?«
»Aber es ist auch egal. Du gehst wahrscheinlich mit jemand anderem oder hast an dem Abend schon was vor. Du kannst ruhig Nein sagen, ist schon okay.« Er lächelte mich an, als wollte er mir Mut machen. »Ich verspreche dir, dass ich nur ein bisschen am Boden zerstört sein werde.«
»Das ist unfair!«, rief ich mit gespielter Empörung. »Du willst mir ein schlechtes Gewissen machen, damit ich Ja sage.«
»Und, funktioniert’s?«
»Nein«, erwiderte ich.
Das fasste er als Abfuhr auf und zuckte mit den Schultern, als würde es ihm nichts ausmachen. Aber ich wusste, dass das nicht stimmte, und so beeilte ich mich, die Sache klarzustellen, denn diese Chance wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.
»Du musst mir kein schlechtes Gewissen machen. Ich würde wahnsinnig gern mit dir zum Abschlussball gehen.« Dann überkam mich eine Welle der Peinlichkeit und ich schob ein gestelztes »Danke für die Einladung« hinterher.
»Gern geschehen.« Er grinste. »Es wird lustig, versprochen.«
»Ich nehme dich beim Wort«, sagte ich, ebenfalls mit einem Grinsen im Gesicht. »Aber jetzt muss ich wirklich reingehen.« Großvater würde ziemlich sauer werden, wenn ich zu spät käme, und das Letzte, was ich nach diesem seltsamen, aber schönen Nachmittag gebrauchen konnte, war ein Vortrag über die Vorzüge der Pünktlichkeit.
»Ist gut«, erwiderte Grant und gab mir meine Tasche. Dann kam er einen Schritt auf mich zu, als wollte er mich umarmen oder so, machte aber im letzten Moment einen Rückzieher. »Wir sehen uns morgen.«
»Ja. Bis dann.« Ich wandte mich um und ging zum Haus. Auf den Stufen blieb ich noch einmal stehen und drehte mich zu ihm um.
Er war noch da, die Hände tief in den Taschen, die Haare vom Wind zerzaust. Er winkte kurz und ich winkte zurück, ehe ich durch die Tür in den dunklen Hausflur verschwand.
Kapitel 2
Wenn es um einen Abschlussball ging, war eine Woche Vorbereitungszeit nicht gerade ideal. Die erste Hürde, die es zu überwinden galt, war, Großvaters Erlaubnis einzuholen. Da ich noch nie auf einem Schulball, geschweige denn bei einem Date, gewesen war, konnte ich nicht vorhersagen, wie er reagieren würde.
Als ich am nächsten Morgen nach unten kam, saß Großvater bereits am Küchentisch. Wie immer trug er die rahmenlose Gleitsichtbrille auf der Nase und war ins tägliche Kreuzworträtsel vertieft. Statt mich wie ein normaler Mensch zu begrüßen, rief er: »Zweirädrige Kutsche mit neun Buchstaben.«
»Hmm. Versuch’s mal mit Barutsche«, schlug ich vor und schüttete mir Frühstücksflocken in eine Schale. Ich war kein Kreuzworträtselfreak, das Wort war mir bloß vor Kurzem in einem Buch begegnet und ich hatte es nachschlagen müssen. Das war typisch Großvater. Er stellte mich unheimlich gern auf die Probe.
»Sehr gut«, erwiderte er zufrieden.
»Bisschen einfach, findest du nicht?«, neckte ich ihn und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch.
»Heute ist ja auch erst Dienstag«, brummte Großvater. Dann sah er endlich auf und musterte mich leicht misstrauisch. »Es ist sieben Uhr und du bist hellwach. Warum siehst du so fröhlich aus?«
»Kann ich nicht einfach gute Laune haben?« Die rosa Wolken von gestern Nachmittag hatten sich noch nicht ganz verzogen. Ausnahmsweise hatte ich gut geschlafen und war glücklich und ausgeruht aufgewacht. Natürlich hatte ich da gute Laune.
»Wahrscheinlich schon.« Großvater schrieb mit Bleistift Barutsche in die Kästchen. Dann schlug er die Zeitung auf, schüttelte sie und tat so, als würde er sich in einen Artikel vertiefen. »Hast du schon mit den College-Bewerbungen angefangen?«
Ich stöhnte. »Ich bitte dich. Es ist gerade mal Mai. Bewerbungsschluss ist erst im Herbst.«
Er blieb hartnäckig: »Du hast mir noch immer nicht gesagt, wo du dich bewerben willst.«
»Das liegt daran, dass ich mich noch nicht entschieden habe.« Aus Angst, dass er dann ausflippen würde, hatte ich Großvater nichts davon erzählt, aber es fiel mir wirklich schwer, mich für ein College – und damit für eine Zukunft – zu entscheiden. Ich hatte keine Ahnung, was ich studieren sollte. Und obwohl ich wusste, dass Großvater unbedingt wollte, dass ich an eine Eliteuniversität ging – oder besser noch an die University of Chicago, wo mir ein Teil der Studiengebühren erlassen würde und ich weiter daheim wohnen könnte –, konnte ich mich mit keiner dieser Vorstellungen so recht anfreunden. Nur eins wusste ich ganz bestimmt: Ich musste weg aus Hyde Park. Ich hing zwar an Chicago und dem kleinen Viertel, in dem ich aufgewachsen war, aber langsam wollte ich mal was anderes kennenlernen. Großvater war zufrieden mit seinem überschaubaren, ereignisarmen Leben, ich aber sehnte mich nach Abenteuern, und die würde ich sicher nicht erleben, wenn ich das tat, was Großvater für mich vorschwebte. Ihm das beizubringen, würde schwer werden. Deshalb hatte ich mich bisher auch davor gedrückt.
Außerdem gab es noch ein dringenderes Thema. Etwas, das ich beim Abendessen am Vorabend nicht angeschnitten hatte, weil ich noch zu sehr mit der Frage beschäftigt gewesen war, ob ich das alles nicht bloß geträumt hatte. »Äh, Großvater?«
»Hm?«, brummte er, ohne von der Zeitung aufzusehen.
»Grant Davis hat gefragt, ob ich ihn zum Abschlussball begleite«, sagte ich, auch wenn ich nicht davon ausging, dass Grant ihm ein Begriff war. Großvater hatte ein schlechtes Gedächtnis für Namen und Gesichter und meine beste Freundin Gina war wahrscheinlich die Einzige unter meinen Mitschülern, die er tatsächlich zuordnen konnte.
Trotzdem weckte die Erwähnung einer potenziellen Verabredung seine Aufmerksamkeit. »Wer?«
»Grant Davis«, wiederholte ich. »Er ist … ein Junge. Von meiner Schule.«
»Und er will mit dir zum Abschlussball gehen?«
»Du könntest wenigstens versuchen, nicht ganz so schockiert zu klingen«, murrte ich. Manchmal fragte ich mich, ob Großvater mich für einen ebenso großen Einzelgänger hielt, wie er es aus freien Stücken war. »Es ist schließlich nicht vollkommen abwegig, dass jemand mit mir zum Abschlussball will.«
»Ich habe auch gar nicht gesagt, dass es abwegig ist.« Großvater legte die Zeitung beiseite, viertelte ein hart gekochtes Ei und streute Salz darauf.
Ich schlug ihm sanft auf die Hand. »Du weißt genau, dass Dr.Reingold gesagt hat, du sollst weniger Natrium essen.«
»Halt mir keine Vorträge, Alexandra. Das ist mein Metier.« Immer wenn ich ihn ärgerte, redete Großvater mich mit meinem vollen Namen an. Dementsprechend oft bekam ich ihn auch zu hören. Ich wurde schon so lange von allen Sasha genannt, dass es mich überrascht hätte, wenn außer Großvater überhaupt noch jemand meinen richtigen Namen wüsste. »Und versuch jetzt nicht, das Thema zu wechseln. Dieser Junge. Wer ist das? Sind seine Eltern Lehrer?«
»Seine Mutter unterrichtet an der juristischen Fakultät.« Diese Information tat Großvater mit einem Achselzucken ab. Ihn interessierte niemand, der kein Wissenschaftler war. »Sein Vater lebt in Kalifornien.«
»Ist er nett?« Er konnte mir dabei nicht richtig in die Augen schauen. Ganz offensichtlich war ihm das Gespräch unangenehm. Der ganze Mädchenkram in meinem Leben hatte Großvater schon immer Unbehagen bereitet. Ich konnte ihm natürlich keinen Vorwurf machen, aber in solchen Momenten merkte ich deutlich, wie sehr mir meine Mutter fehlte.
Ich fragte mich, wie mein Vater wohl darauf reagiert hätte. Wahrscheinlich wie jeder Vater. Misstrauisch und überfürsorglich wie Ginas Vater, als sie mit ihrem Freund Jeff zusammenkam. Aber woher sollte ich das wissen? Meine Eltern waren seit fast zehn Jahren tot. Ich war damals erst sieben gewesen und all meine Erinnerungen an sie waren verschwommen und bruchstückhaft. Ich wusste eigentlich gar nicht mehr, wie sie gewesen waren. Großvater war da auch keine Hilfe, weil er fast nie von ihnen sprach. Vor dem Unfall hatte ein eher kühles Verhältnis zwischen ihm und meinen Eltern geherrscht. Als ich zu ihm kam, waren wir quasi Fremde gewesen. Ich hatte mich nie getraut, ihn nach dem Grund zu fragen, aber im Lauf der Jahre hatte ich mir zusammengereimt, was wahrscheinlich schon immer offensichtlich gewesen war: Er hatte meinen Vater nicht gemocht. Und irgendwie war es mir lieber, den Grund dafür nicht zu kennen. Ich liebte Großvater und meine Eltern. Wenn etwas ihre gemeinsame Vergangenheit getrübt hatte, war es besser, wenn ich keine Einzelheiten wusste. Aber trotzdem spukte mir die Frage im Kopf herum: Was hatte Großvater an meinem Vater auszusetzen gehabt, dass sie sich so hatten entfremden können? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung.
»Ja, Großvater«, versicherte ich. »Er ist nett.«
»Wie gut kennst du ihn?«
»Wir gehn schon ewig zusammen zur Schule.« Es war besser, ihm nicht zu sagen, dass ich Grant eigentlich gar nicht so gut kannte. Das würde nur Großvaters Misstrauen schüren und meine Chancen auf seine Erlaubnis verringern.
»Verschluck keine Silben«, brummte er. »Das klingt, als wärst du dumm.« Ich verdrehte die Augen. »Also gut, einverstanden. Aber ich möchte ihn kennenlernen, bevor du mit ihm ausgehst. Brauchst du Geld für ein Kleid?«
Ich wappnete mich. Ballkleider waren teuer und ich hatte nicht mehr genug Zeit, um eins online zu kaufen. Ich würde also die Kaufhäuser nach einem Nullachtfünfzehn-Kleid – und im Angebot – abklappern müssen. Wenigstens hatte ich Gina, die mir bei der Suche helfen konnte. Sie hatte einen unschlagbaren Riecher für Schnäppchen und einen tollen Geschmack – jedenfalls einen besseren als ich. »Ja, irgendwie schon.«
»Und wie viel?«
»Hundert vielleicht?« Ich wand mich. Es war mir unangenehm, Großvater um Geld zu bitten, aber ich hatte kaum Ersparnisse und auch keinen Grund gehabt, den Kauf eines Ballkleids einzuplanen.
Er zog fünf Zwanzig-Dollar-Scheine aus seinem Portemonnaie und überreichte sie mir feierlich. »Das ist eine Belohnung, weil du so brav und fleißig bist. Ich gebe es dir nicht, weil ich muss, sondern weil du es dir verdient hast.«
Ich nahm das Geld und schenkte ihm mein schönstes Lächeln. »Danke, Großvater. Du bist der Beste.«
Kapitel 3
Die Tage bis zum Abschlussball vergingen wie im Flug. Gina und ich liefen uns auf der Michigan Avenue die Füße wund, bis wir endlich das perfekte Outfit für mich fanden: ein kurzes, schulterfreies Kleid in Marineblau mit herzförmigem Ausschnitt und einer glitzernden Tüllschicht, heruntergesetzt auf 99,99Dollar. Es war zwar nicht direkt mein Stil – normalerweise war ich mehr so der Jeans-und-T-Shirt-Typ –, aber beim Blick in den Spiegel musste ich zugeben, dass ich mich wirklich schön darin fühlte. Ich hoffte, Grant würde das genauso sehen.
Ehe ich michs versah, war es Samstagabend und Gina, Jeff und ich warteten im Wohnzimmer unseres Hauses auf Grant.
»Er ist spät dran«, bemerkte Gina. Sie saß in Großvaters Sessel und zappelte ungeduldig herum. Hinter ihr ragte ihr Freund auf und nippte gelegentlich an dem Flachmann, den er in der Innentasche seines Jacketts verstaut hatte. Jeff studierte im ersten Jahr an der Northwestern University und Gina hatte ihn vor ein paar Monaten bei einem Konzert kennengelernt. Mir persönlich war er zu mürrisch und verschroben, aber er stand total auf Gina, also ging mich das nichts an. Er war groß und schlaksig und sah normalerweise aus, als würde er seine Klamotten und Haare nie waschen. Aber für diesen Abend hatte Gina ihn erfolgreich in den alten Smoking ihres Bruders gesteckt, der Jeff an den Armen und Beinen etwas zu kurz und überall sonst etwas zu groß war.
»Er kommt schon noch«, beharrte ich. Ich lief vor dem offenen Kamin auf und ab, meine Nerven lagen blank. Sich diesen Moment auszumalen und darauf hinzufiebern, war eine Sache. Jetzt, da er unmittelbar bevorstand, sah das Ganze anders aus. Und wenn nun Großvater Grant nicht mochte? Ich sagte mir, dass diese Sorge unbegründet war – ich hatte ja schließlich nicht vor, Grant zu heiraten –, aber trotzdem konnte ich den Gedanken nicht abschütteln.
Ich betrachtete die gerahmten Fotos auf dem Kaminsims. Es waren vor allem Schulfotos, die meine Entwicklung von einem schlaksigen Kind mit buschigem Haar zu einem im Großen und Ganzen doch recht ansehnlichen Teenager dokumentierten. Außerdem gab es noch ein paar Bilder von Großvater und mir an verschiedenen Orten. Mein Lieblingsfoto zeigte uns auf einem Pier am Lake Okoboji, wie wir einen zehn Pfund schweren Forellenbarsch zwischen uns hielten. Die Erinnerung daran ließ mich lächeln. Der einzige Lichtblick in Bezug auf den Tod meiner Eltern war, dass ich meinen Großvater hatte kennenlernen dürfen. Er konnte zwar manchmal bärbeißig sein, aber ich wusste, dass er mich liebte und dass ich mich glücklich schätzen konnte, bei ihm ein Zuhause gefunden zu haben, als mir meins unter den Füßen weggerissen worden war.
Von meinen Eltern und mir gab es nur ein Foto. Als ich es ansah, wurde mir – wie immer, wenn ich an sie dachte – weh ums Herz. Obwohl diese Traurigkeit wie eine Glocke in meinem Herzen schallte, ließ ich mich davon nicht unterkriegen und betrachtete weiter das Bild. Es stammte von unserem letzten Ausflug nach Disney World. Wir standen vor Cinderellas Schloss und lächelten in die Sonne. Es war nur wenige Monate vor dem Unfall aufgenommen worden und wir sahen so glücklich darauf aus, nicht ahnend, welche Katastrophe sich am Horizont zusammenbraute. Meine deutlichsten Kindheitserinnerungen stammten von dieser Reise. Ich steckte damals mitten in meiner Märchenphase und verlangte von allen, dass sie mich Prinzessin Juliana nannten – ein Name, der Mom und Dad irritierte. Ich schleifte sie mindestens ein Dutzend Mal ins Schloss, stolzierte darin umher und kommandierte meine Eltern herum wie Diener. Den Prinzessinnenhut, den sie mir damals gekauft hatten, besaß ich noch immer: ein Kegel aus Pappe, der mit einem Stoff aus rosa Kunstfaser überzogen war. Auf der Krempe war Juliana eingestickt und an der Spitze flatterte ein dünnes violettes Band. Als Mom wissen wollte, wie ich denn auf Juliana gekommen wäre, erklärte ich ihr, dass ich den Namen in einem Traum gehört hatte.
Außer meinen Eltern wusste niemand von den Juliana-Träumen, die mich begleiteten, seit ich denken konnte. Als Kind hatte ich sie sicher drei, vier Mal die Woche gehabt. Je älter ich wurde, desto seltener wurden sie, dafür aber umso lebhafter. Doch wie es bei den meisten Träumen der Fall ist, verblassten sie fast sofort nach dem Aufwachen.
Ich war darin nicht ich selbst, sondern ein Mädchen namens Juliana, das mir aufs Haar glich. Die Träume verliefen chronologisch und waren ausgesprochen real, fast so, als würde ich wirklich Julianas Leben führen. Aber ihre Welt unterschied sich von der meinen. Ich konnte mich nicht an alle Unterschiede entsinnen – es gab so viele davon und Träume sind nun mal schwer zu fassen –, aber an eins erinnerte ich mich mit absoluter Sicherheit: In Julianas Welt tanzten am Himmel Polarlichter, und zwar nicht nur am Nord- und Südpol, sondern überall. Das gefiel mir am besten.
Mein letzter Juliana-Traum lag zwei Wochen zurück. Davor hatte ich monatelang keinen gehabt. Nach einem langen, anstrengenden Kampf mit meinen Physikhausaufgaben war ich um zwei Uhr morgens völlig erschöpft ins Bett gefallen. Ich konnte mich nur noch an Bruchstücke erinnern – ein Bild von einem prächtigen Landhaus, ein kleiner Origamistern, der irgendwie wichtig zu sein schien, und, wie immer, die grünen Bänder der Polarlichter am Nachthimmel. Das überwältigende Gefühl eines bevorstehenden Unheils, das ich nach dem Aufwachen verspürte, hatte mich fast den ganzen Tag nicht verlassen.
Es klingelte. Ich holte tief Luft und eilte zur Tür. Mein Herz war leicht, fühlte sich aber an wie ein zu prall gefüllter Luftballon, der von innen gegen meinen Brustkorb drückte.
Ich riss die Tür auf und da stand Grant in all seiner herausgeputzten Pracht. Das Blut rauschte in meinen Ohren, und als Grant mich anlächelte, schlug mein Herz einen Purzelbaum. Er war frisch rasiert, hatte die Haare leicht nach hinten gegelt und duftete nach Kiefernnadeln. Sein Anblick im Smoking ließ mir einen wohligen Schauer über den Rücken laufen. Ich konnte es gar nicht erwarten, mit ihm allein zu sein, und bereute es ein bisschen, Gina und Jeff zur Verstärkung geholt zu haben. Gleichzeitig fürchtete ich mich aber auch etwas davor. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun oder von dem Abend erwarten sollte. Und wenn ich so darüber nachdachte, wusste ich auch nicht, was von mir erwartet wurde.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Meine Mutter hat ewig an meiner Fliege rumgefummelt.« Grant trat einen Schritt zurück, um mich besser ansehen zu können. Er musterte mich ungeniert von Kopf bis Fuß, bis sich unsere Blicke trafen. »Wow. Du siehst toll aus.«
Ich lief knallrot an. »Danke.« Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann das zuletzt jemand zu mir gesagt hatte, aber ich wusste ganz sicher, dass es nicht in diesem Ton gewesen war. Noch immer konnte ich nicht fassen, dass all das hier tatsächlich geschah. Warum hatte Grant nicht eins der unzähligen Mädchen gefragt, mit denen er bisher ausgegangen war, sondern mich? Er kannte mich doch kaum. Aber ich beschloss, mich davon nicht verunsichern zu lassen. Warum auch? Er schien seine Entscheidung nicht zu bereuen und ich bereute sie auch nicht.
Er schüttelte eine kleine Plastikschachtel, in der sich weiße Blumen befanden. »Wolltest du ein Anstecksträußchen? Ich war mir nicht sicher, also habe ich eins besorgt. Aber wahrscheinlich war das eine doofe Idee. Du musst es nicht tragen.« Er hielt den Arm davor, als wollte er es vor meinem Blick schützen, und ich begriff: Er war ebenfalls nervös, vielleicht sogar genauso sehr wie ich.
»Klar trage ich es«, sagte ich und die Spannung wich aus seinen Schultern. Er streifte mir das Band über das Handgelenk und trat einen Schritt zurück. Seine Mundwinkel zuckten. Als ich die Blumen bewunderte – ein Gesteck aus schneeweißen Rosen mit etwas Grün und Schleierkraut –, streckte er den Arm aus und strich mir eine dunkelbraune Locke hinters Ohr. Eigentlich waren meine Haare glatt und normalerweise zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, was Gina als abschlussballuntauglich befunden und daraufhin einen Großteil des Nachmittags damit verbracht hatte, meinen Kopf mit einem Lockenstab und Haarspray zu bearbeiten. Mir war es fast zu viel des Guten, aber der Ausdruck auf Grants Gesicht besagte, dass Gina goldrichtig gelegen hatte.
»Mir gefällt’s, wenn du dein Haar so trägst«, sagte er leise.
Meine Haut kribbelte an der Stelle, wo seine Hand mich gestreift hatte. Eine Welle enormer Schüchternheit überkam mich und der Gedanke an den bevorstehenden Aufbruch machte mich ganz nervös.
»Können wir los?« Gina und Jeff kamen aus dem Wohnzimmer und die Diele fühlte sich mit einem Mal viel zu voll an. Alle drei blickten mich erwartungsvoll an.
»Ach ja, ich sollte euch vielleicht vorstellen. Grant, das ist Jeff und das ist Gina.« Auch wenn Grant auf die gleiche Schule ging wie Gina und ich, war es gut möglich, dass die beiden noch nie ein Wort miteinander gewechselt hatten. Die High-School-Hierarchie funktionierte nun mal nach ihren eigenen Regeln.
»Hi, Leute«, grüßte Grant in einem entspannten, freundlichen Ton und schüttelte Jeffs Hand, als wären sie alte Kumpel. Dann lächelte er Gina an. »Ich habe von deinem Rennen letzte Woche gehört. Echt cool.« Gina war eine tolle Läuferin und hatte beim Leichtathletikwettkampf am Donnerstag über jede Distanz gewonnen.
Sie warf mir einen Blick zu, als wäre sie überrascht, dass er davon wusste, aber mich konnte in Bezug auf Grant so schnell nichts mehr überraschen. Offensichtlich hatte er seine Hausaufgaben gemacht, worauf ich ziemlich stolz war. Ich wusste, wie schwer man gegen Ginas zynische Ader ankam.
»Danke, dass ihr auf mich gewartet habt.«
»Keine Ursache«, meinte Gina. Offenbar hatte er sie schon für sich gewonnen.
»Na dann«, sagte Grant. »Wollen wir los?«
»Erst muss ich dich noch meinem Großvater vorstellen«, erklärte ich fast entschuldigend.
»Aber klar doch. Gerne.«
»Freu dich nicht zu früh. Er ist nicht unbedingt nett.«
Grant lachte. »Jetzt stell uns schon vor.«
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Grant erschien mir langsam zu gut, um wahr zu sein. Ich rief nach Großvater, der einige Minuten später die Treppe herunterkam und nicht gerade begeistert darüber aussah, dass ich ihn gestört hatte. Aber er hatte schließlich darauf bestanden, meinen Begleiter kennenzulernen, also konnte er sich auch nicht beschweren.
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Dr.Quentin«, sagte Grant. Er streckte Großvater die Hand hin, die dieser nahm und höflich schüttelte. »Danke, dass ich Ihre reizende Enkelin zum Abschlussball ausführen darf.« Grant warf mir ein selbstzufriedenes Lächeln zu und ich verdrehte die Augen. Er gab sich unglaubliche Mühe, einen guten Eindruck zu machen, und je mehr Mühe er sich gab, desto mehr mochte ich ihn. »Um wie viel Uhr soll ich sie nach Hause bringen?«
Großvater überlegte kurz. »Mitternacht sollte reichen.«
»Großvater«, sagte ich und legte ihm die Hand auf den Arm, »mach dich mal locker.« Großvater zufolge hatte meine Mutter das als Teenager immer gesagt, wenn sie fand, dass er zu streng mit ihr war. Das hatte er mir mal in einem Anflug von Nostalgie erzählt und es später sicher bereut, denn es wirkte jedes Mal.
»Na gut«, lenkte er ein. »Dann sagen wir ein Uhr. Aber keine Sekunde später.«
»Danke, Sir. Wir werden pünktlich sein«, versicherte Grant.
Großvater nickte und bemühte sich, nicht allzu angetan zu wirken von Grants Höflichkeit, aber ich konnte meine Freude nicht verbergen. Es gab niemanden auf der Welt, der so schwer zu beeindrucken war wie Großvater, und wenn es Grant sogar gelang, ihn für sich einzunehmen, hatte ich nichts mehr zu befürchten.
Mit einer für ihn untypischen Sentimentalität legte Großvater mir die Hand auf die Schulter und küsste mich auf die Stirn. »Viel Spaß, Kleines. Und pass auf dich auf.«
»Danke, Großvater. Das werde ich.«
Gina hakte sich bei mir unter. »Na los, Lawson. Sehen wir zu, dass wir in die Gänge kommen.«
Kapitel 4
Grant war ein katastrophaler Tänzer. Als wir im Hotel ankamen, wo der Abschlussball bereits in vollem Gang war, genierte er sich deswegen zunächst und sträubte sich jedes Mal, wenn ich ihn auf die Tanzfläche ziehen wollte. Schließlich packte ich ihn in einem plötzlichen Anflug von Mut einfach an der Hand – immerhin hatte ich schon zwei Gläser Bowle intus, die garantiert mit dem Inhalt irgendeines Flachmanns aufgepeppt worden war, als gerade keiner hingesehen hatte.
»Sag mal, Grant, was ist eigentlich los?«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Erst fragst du, ob ich dich zum Abschlussball begleite, und dann tanzt du nicht mal mit mir?«
»Ich kann nicht tanzen.« Er gestand mir dieses Geheimnis mit so leiser Stimme, dass ich ihn wegen der Musik fast nicht verstanden hätte.
Ich lachte, weil ich es für einen Scherz hielt, und er wandte verlegen den Blick ab. »Das ist mein Ernst«, sagte er mit düsterem, unnahbarem Gesichtsausdruck.
Ich drückte seine Hand, um wiedergutzumachen, dass ich gelacht hatte, und um ihm Mut zuzusprechen, ohne anzudeuten, dass er Zuspruch brauchte. Ich fühlte mich schwerelos und verwegen. Das hatte ich der Mischung aus frisierter Bowle und der Erkenntnis zu verdanken, dass Grant nicht perfekt war, sondern wie jeder andere Fehler und Ängste hatte. Das war eine ziemliche Erleichterung. Sosehr ich ihn auch mochte, ich war mir nicht sicher, wie lange ich es mit ihm ausgehalten hätte, wenn er wirklich so makellos gewesen wäre.
»Das hat mit Können wenig zu tun«, sagte ich. »Hör einfach auf die Musik und beweg dich.«
Er schüttelte vehement den Kopf. »Ich will nicht. Ich mache mich garantiert lächerlich.«
»Nie im Leben«, versicherte ich ihm und führte ihn durch die sich rhythmisch bewegende Menge in die Mitte des Ballsaals. Er stand ein Stück von mir entfernt und schaute sich um, als würde er damit rechnen, jeden Moment aus dem Hinterhalt angegriffen zu werden. Ich streckte die Arme aus und legte sie um seinen Hals. Grants Zurückhaltung hatte meine völlig ausgelöscht und es war mir egal, was die anderen dachten oder taten. Hauptsache, Grant und ich hatten einen schönen Abend.
»Leg deine Hände hier an meine Taille«, wies ich ihn an. Er tat wie befohlen. Wie Federn ruhten seine Finger auf meiner Hüfte, seine Brust hingegen war fest, nah und warm, was mich aber trotz der Hitze im Ballsaal nicht weiter störte. Ich bewegte mich im Takt zur Musik. »Na los«, redete ich ihm zu, »mach einfach nach, was ich mache.«
Er bemühte sich, meine Bewegungen, so gut er konnte, nachzuahmen. Erst tanzten wir langsam und ignorierten das ausgelassene Toben unserer Mitschüler, aber nach ein paar Minuten fühlte ich, wie Grant sich in meinen Armen entspannte. Im Nullkommanichts waren ein halbes Dutzend Lieder vorbei und Grants Nervosität hatte sich in Luft aufgelöst. Schon bald sprang er herum, wirbelte über die Tanzfläche und stieß die Fäuste in die Luft wie alle anderen.
»Ich liebe diesen Song!«, rief er.
Ich lachte. Obwohl wir von Menschen umgeben waren, fühlte es sich an, als gäbe es nur uns beide auf der Welt.
Vier Stunden später ließ ich mich keuchend auf einen Stuhl fallen. Meine Frisur sah verheerend aus, ein Schweißfilm überzog meine Haut und auf der Vorderseite meines Kleides prangte ein riesiger Fleck, weil Gina mir Bowle darübergeschüttet hatte. Es war der beste Abend meines Lebens. Sogar Jeff lächelte ab und zu, was meines Wissens sonst praktisch nie passierte.
»Komm«, sagte Grant und zog mich vom Stuhl hoch. Im Ballsaal des Hotels gingen die Lichter an – der Abschlussball war vorbei. Zwei Tische weiter machten Gina und Jeff rum. Die Angestellten des Hotels würden sie wohl mit Gewalt hinauswerfen müssen.