Das Lied der Novizin - Sarah Dunant - E-Book

Das Lied der Novizin E-Book

Sarah Dunant

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Beschreibung

Gegen ihren Willen wird Serafina von ihrer Familie ins Kloster gegeben. Sie ist wütend und terrorisiert den ganzen Konvent. Um die widerspenstige Novizin zu zügeln, übergibt die Äbtissin Serafina sie in die Obhut der Klosterapothekerin. Schwester Zuana kennt Serafinas Seelenpein wie keine andere. Sie ging ebenfalls nicht aus freien Stücken ins Kloster. Inzwischen aber hat sie in der Sorge um die Kranken ihre Bestimmung gefunden. Sie stellt ihre Heilmittel selbst her und kümmert sich liebevoll um die Gebrechen und Leiden ihrer Mitschwestern. Auch Serafinas Seele scheint durch Zuanas Hilfe zu heilen. Oder träumt sie doch noch immer von der Freiheit - und der Liebe ihres Lebens?

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Seitenzahl: 702

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Über die Autorin

Sarah Dunant hat sich durch ihre Weltbestseller DAS ZEICHENDER VENUS und VENEZIANISCHE GEHEIMNISSE als Autorin Historischer Romane einen Namen gemacht. Um für ihren neuen Roman, DAS LIEDDER NOVIZIN, zu recherchieren und die Atmosphäre des Klosterlebens in sich aufzunehmen, verbrachte sie einige Zeit in einem italienischen Konvent. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in England und Italien. Besuchen Sie auch Sarah Dunants Internetseite:www.sarahdunant.com

Sarah Dunant

DAS LIEDDER NOVIZIN

Historischer Roman

Übersetzung aus dem Englischenvon Gabi Reichart

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2009 by Sarah Dunant

Titel der englischen Originalausgabe:

"SACRED HEARTS"

Published by arrangement with Virago Press,

An Imprint of Little, Brown Book Group

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2010/2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Cathrin Wirtz, New York

Titelillustration: © Michael Trevillion; © Brenda Kean/Alamy;

© SuchBild , Pauline Schimmelpenninck Büro für Gestaltung Umschlaggestaltung: Pauline SchimmelpenninckBüro für Gestaltung, Berlin

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7325-0437-4

Sie finden uns im Internet unter

www.luebbe.de

Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

Anmerkung zum historischen Hintergrund des Romans

Bis Mitte der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts waren die Kosten für eine Mitgift im katholischen Europa derart stark angestiegen, dass die meisten Adelsfamilien es sich nicht leisten konnten, mehr als eine Tochter zu verheiraten. Die übrigen jungen Frauen wurden– zu einem wesentlich niedrigeren Preis– in Klöster geschickt. Historiker schätzen, dass bis zur Hälfte aller adeligen Frauen in den großen Städten und Stadtstaaten Italiens Nonnen wurden.

Nicht alle von ihnen gingen aus freien Stücken…

Diese Geschichte ereignet sich in der norditalienischen Stadt Ferrara im Kloster Santa Caterina…

Tägliche Abfolge der Gebetszeiten in einem Benediktinerkloster des sechzehnten Jahrhunderts

(Die genauen Uhrzeiten ändern sich je nach Uhrzeit von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang)

Laudes

Tagesanbruch

Prim

erste Stunde des Tages Morgenmahlzeit

6 Uhr morgens

Terz

dritte Stunde des Tages Arbeitszeit

9 Uhr morgens

Sext

sechste Stunde des Tages Hauptmahlzeit des Tages

12 Uhr mittags

Non

neunte Stunde des Tages Arbeitszeit

3 Uhr mittags

Vesper

vor Sonnenuntergang kleinere Mahlzeit

5 Uhr nachmittags

Komplet

vor dem Zurückziehen

7 Uhr dreißig abends

Matutin

2 Uhr nachts

Erster Teil

KLOSTER SANTA CATERINA,FERRARA, 1570

Eins

Bevor das Geschrei beginnt, ist die Stille der Nacht erfüllt von ihren ganz eigenen, speziellen Geräuschen.

In einer ebenerdigen Zelle ist Suora Ysbetas Schoßhund, wie ein Baby in ein Seidentuch eingewickelt, in seinen Träumen auf der Jagd, und anhand seines erstickten Grunzens und Knurrens kann man sein Vergnügen erahnen, wenn er ein Kaninchen gestellt hat. Ysbeta ist ebenfalls auf der Jagd. Ihr Silbertablett dient ihr als Spiegel, sie hat ihre rechte Hand erhoben und bekommt mit einer Fischgrätenpinzette ein störrisches weißes Haar an ihrem Kinn zu fassen. Sie zieht kräftig, und brennender Schmerz und Befriedigung machen sich mit ein und demselben Atemzug Luft in einem kurzen ›Aahaa‹.

Auf der anderen Seite des Hofes schlafen zwei junge Frauen gemeinsam auf einer Einzelpritsche, beide mollig und rundwangig wie Kinder. Sie halten einander eng umschlungen, liegen da wie Zweige zum Feuermachen, und ihre Gesichter sind einander so nahe, dass sie ihren Atem auszutauschen scheinen; eine atmet ein, während die andere ausatmet. Ein. Aus. Ein. Aus. In der Luft hängt ein schwacher, süßlicher Geruch. Engelwurz vielleicht. Oder süße Minze, als hätten die beiden vom selben Zuckerkuchen gegessen oder aus derselben Tasse Gewürzwein getrunken. Was auch immer sie zu sich genommen haben, es hat sie in einen tiefen Schlaf fallen lassen, und ihre Zufriedenheit breitet sich wie ein leises Summen des Wohlbehagens im Zimmer aus.

Suora Benedicta indessen kann kaum an sich halten, weil ihr Kopf so angefüllt ist mit Musik. Heute Abend ist es eine Intonierung für das Graduale am Dreikönigsfest, in dem die verschiedenen Stimmen wie farbige Teppichknüpffäden miteinander verwoben werden. Manchmal bewegen sie sich so schnell, dass sie sie kaum aufschreiben kann. Sie ergeben einen regelrechten Wald von weißen Noten auf ihrer Schiefertafel. Es gibt Nächte, in denen sie scheinbar überhaupt nicht schläft, oder die Stimmen in ihrem Kopf sind so hartnäckig, dass sie kurz davor ist, laut mitzusingen. Dennoch wird sie am nächsten Tag von niemandem gerügt, und sie wird auch nicht aufgeweckt, wenn sie im Refektorium zwischendurch auf einmal einnickt. Ihre Kompositionen verhelfen dem Kloster zu Ehre und Gönnern, und deshalb sieht man über ihre Sonderlichkeiten hinweg.

Im Gegensatz dazu ist die junge Suora Perseveranza süchtig nach der Musik des Leidens. Ein einzelnes Talglicht wirft Schatten über ihre Zelle. Ihr Gewand ist so dünn, dass sie die feuchte Winterkälte spürt, als sie sich an die Steinmauer lehnt. Sie zieht den Stoff über ihre Waden und Oberschenkel und dann etwas sachter über ihren Bauch nach oben, und sie stößt eine Reihe von leisen Stöhnlauten aus, als das Material an den offenen Wunden darunter festklebt und hängen bleibt. Sie hält inne, atmet ein- oder zweimal tief durch, um zur Ruhe zu kommen. Dann zieht sie fester, als sie auf Widerstand trifft, bis die halbwegs neu gebildete Haut reißt und sich zusammen mit dem Stoff löst. Das Kerzenlicht enthüllt einen um ihre Taille geschlungenen Ledergürtel, auf dessen Innenseite sich eine Reihe kurzer Nägel befinden. Einige davon haben sich so tief in das Fleisch darunter gebohrt, dass man nichts als die verkrusteten, geschwollenen Wunden erkennen kann, wo das Leder und die Haut miteinander verschmolzen sind. Langsam und voller Absicht drückt sie auf einen der spitzen Stifte. Ihre Hand zuckt unwillkürlich zurück, und sie stößt einen kleinen Schrei aus, aber in den Schrei mischt sich ein Hochgefühl, eine Herausforderung an sich selbst, als sie sich mit ihren Fingern wieder dem Gürtel nährt.

Sie richtet ihren Blick auf die Wand gegenüber, wo das flackernde Licht auf ein geschnitztes Holzkreuz fällt; Christus, jung, lebendig, die Muskeln scheinen in der Holzmaserung zu spielen, während sein Körper an den Nägeln zerrt, und in sein Gesicht ist der Schmerz eingebrannt. Sie starrt ihn an, ihr Körper zittert, das Gesicht ist tränennass, die Augen leuchten. Holz, Eisen, Leder, Fleisch. Ihre Welt ist in diesem Augenblick enthalten. Sie ist Teil Seiner Qualen. Er ist Teil ihrer. Sie ist nicht allein. Schmerz wird zum Genuss. Sie drückt wieder gegen den Eisenstift, und ihr Atem strömt mit einem langen, befriedigten Stöhnen aus ihr heraus, ein beinahe tierisches Geräusch, verzehrt und verzehrend.

In der Zelle nebenan halten Suora Umilianas Finger kurz über den klimpernden Perlen ihres Rosenkranzes inne. Die Laute der Hingabe der jungen Schwester sind wie der Geschmack von Honig in ihrem Mund. Als sie jünger war, hatte sie Gott ebenfalls über offene Wunden gesucht, aber jetzt in ihrer Funktion als Novizenmeisterin ist es ihre Pflicht, das geistige Wohlergehen der anderen über ihr eigenes zu stellen. Sie senkt den Kopf und wendet sich wieder ihren Perlen zu.

In ihrer Zelle über der Krankenstation ist Suora Zuana, die Klosterapothekerin, mit ihrer eigenen Art von Gebet beschäftigt. Sie sitzt über Brunfels’ großes Kräuterbuch gebeugt, und ihre Stirn ist konzentriert gerunzelt. Neben ihr liegt die kurz zuvor fertiggestellte Zeichnung einer Geranie, deren Blätter sich als wirkungsvoll bei der Stillung von Blutungen bei Schnitt- und Fleischwunden erwiesen hatten– eine der jüngeren Nonnen hat angefangen, Blutklümpchen auszuscheiden, und nun sucht Suora Zuana nach einem Mittel, eine Wunde zu heilen, die sie nicht sehen kann.

Perseveranzas Stöhnen hallt im oberen Klostergang wider. Im vergangenen Sommer, als die Hitze dafür gesorgt hatte, dass sich ihre Wunden zu infizieren begannen und diejenigen, die in der Kapelle neben der jungen Nonne saßen, sich über den Geruch beklagten, hatte die Äbtissin sie zur Behandlung in die Apotheke geschickt. Zuana hatte die entzündeten Wunden gewaschen und verbunden, so gut sie konnte, und ihr eine Wundsalbe gegeben, um die Schwellungen zu lindern. Sonst gibt es nichts, was sie tun könnte. Obwohl die Möglichkeit bestand, dass Perseveranza sich eines Tages durch eine schwerere Infektion vergiften könnte, ist sie ansonsten gesund. Nach dem, was Zuana über die Funktionsweise des Körpers weiß, hält sie es jedoch nicht für wahrscheinlich. Die Welt ist voller Geschichten über Männer und Frauen, die jahrelang mit derartigen Verstümmelungen leben; Perseveranza spricht zwar gerne über den Tod, aber trotzdem ist klar, dass sie zu viel Freude aus ihren Qualen zieht, um ihr Leben vor der Zeit beenden zu wollen.

Zuana teilt diese Leidenschaft für Selbstkasteiung nicht. Bevor sie ins Kloster gekommen war, war sie als das einzige Kind eines Professors für Medizin aufgewachsen. Der Hauptlebensinhalt ihres Vaters hatte darin bestanden, die Macht der Natur, den Körper zu heilen, zu erforschen, und sie kann sich an keinen Moment in ihrem Leben erinnern, in dem sie seinen Eifer nicht geteilt hatte. Sie hätte wie er einen guten Arzt oder Lehrer abgegeben, wäre es ihr möglich gewesen. Wie die Dinge lagen, hatte sie das Glück, dass sein Name und sein Besitz nach seinem Tod ausgereicht hatten, um ihr eine Zelle im Kloster Santa Caterina zu kaufen, wo so viele adelige Frauen aus Ferrara einen Platz finden, um ihr Leben in der Obhut Gottes fortzusetzen.

Dennoch erzittert jedes Kloster ein wenig, wie gut es auch darauf eingestellt sein mag, wenn eine Frau aufgenommen wird, die eigentlich nicht dort sein möchte.

Zuana sieht von ihrem Tisch auf. Das Schluchzen aus der Zelle der vor Kurzem angekommenen Novizin ist jetzt zu laut geworden, um es zu ignorieren. Was als gewöhnliches Weinen begonnen hatte, war nun zu einem wütenden Geheul geworden. Als Apothekerin gehört es zu Zuanas Aufgaben, die Neuankömmlinge, sollte die Situation kritisch werden, mittels eines Schlaftrunks ruhigzustellen. Sie dreht das Stundenglas um. Der Trunk ist bereits gemischt und wartet in der Apotheke. Die einzige Frage ist, wie lange sie noch warten soll.

Es ist eine heikle Angelegenheit, das Ausmaß der Not einer Novizin zu beurteilen. Sobald die Feiern vorüber sind, die Familie aufgebrochen ist und die großen Tore zur Welt verriegelt sind, ist ein gewisses Maß an Verunsicherung nur zu natürlich, und selbst die gläubigsten unter den jungen Frauen werden mitunter von plötzlicher Panik erfasst, sobald sie sich mit der Einsamkeit und Stille der geschlossenen Zelle konfrontiert sehen.

Diejenigen mit Verwandten innerhalb des Klosters gewöhnen sich am leichtesten ein. Die meisten von ihnen haben schon als Kleinkinder Klosterkuchen und Kekse gegessen und sind während ihrer vielen Besuche im Laufe der Jahre verwöhnt und umsorgt worden, sodass das Kloster für sie bereits zu einem zweiten Zuhause geworden war. Wenn– was nicht ungewöhnlich ist– der Tag des Eintritts selbst eine Flut erschöpfter Tränen hervorruft, ist immer eine Tante, Schwester oder Kusine in der Nähe, um sie zu trösten oder ihnen Mut zuzusprechen.

Andere, die vielleicht eher Träume von einem Bräutigam aus Fleisch und Blut gehegt hatten oder einen Lieblingsbruder oder eine geliebte Mutter zurücklassen, weinen ebenso sehr ihrer Vergangenheit nach, wie sie sich vor der Zukunft fürchten. Die zuständigen Schwestern gehen behutsam mit ihnen um, wenn sie aus Kleidern und Unterröcken steigen und mehr aus Nervosität denn vor Kälte zittern, wenn sie ihre nackten Arme in Erwartung des Nonnengewands in die Höhe strecken. Aber alle Fürsorge der Welt kann über den Verlust von Freiheit nicht hinwegtäuschen, und auch wenn manche den Serge-Stoff später vielleicht durch Seide ersetzen (derartige modische Verstöße werden eher ignoriert als erlaubt), können Mädchen mit zarter Haut und fehlender Neigung zur Selbstkasteiung in jener ersten Nacht durch das Jucken und Kratzen fast in den Wahnsinn getrieben werden. Ihre Tränen rühren zum Teil vom Selbstmitleid her, und es ist besser, sie direkt zu weinen– denn Selbstmitleid kann zu einem langsam wirkenden Gift werden, wenn man es gären lässt.

Irgendwann beruhigt sich der Sturm von selbst, und das Kloster fällt in den Schlaf. Die wachhabende Schwester wird die Gänge abschreiten und bis zur Stunde der Matutin Buch führen, zwei Stunden nach Mitternacht, um dann in der Dunkelheit durch das große Kloster zu schreiten und der Reihe nach an jede Tür zu klopfen, dabei aber die Zelle des letzten Neuzugangs auszulassen. Es ist Brauch in Santa Caterina, dass der Neuankömmling seine erste Nacht ohne Störung verbringt, damit er am nächsten Tag ausgeruht und besser darauf vorbereitet ist, sein neues Leben zu beginnen.

Heute Nacht jedoch wird niemand viel Schlaf finden.

Auf dem Grund des Stundenglases ist der Sandhügel beinahe vollständig, und das Wehklagen ist so heftig geworden, dass Zuana es sowohl in ihrem Bauch als auch in ihrem Kopf spürt, so als wäre eine versprengte Gruppe von Teufeln in die Zelle des Mädchens eingedrungen und würde gerade ihre Eingeweide aufspießen. Die jungen Internatsschülerinnen in ihrem Schlafsaal werden voller Entsetzen aufwachen. Die Stunden zwischen Komplet und Matutin stellen die längste Schlafphase des Klosters dar, und jede Störung wird zur Folge haben, dass das ganze Kloster am nächsten Tag übernächtigt und übellaunig sein wird. Zwischen den Schreien bemerkt Zuana eine sich überschlagende Stimme aus der Krankenstation, die sich zu einem unmelodischen Gesang erhebt. Nächtliches Fieber kann alle Arten von Visionen bei den Kranken heraufbeschwören, nicht alle von ihnen heilig, und es wird nicht hilfreich sein, wenn die Verrückten und Kranken in den Chor mit einstimmen.

Eilig verlässt Zuana ihre Zelle, ohne sich die Mühe zu machen, eine Kerze mitzunehmen, da ihre Füße den Weg ohnehin besser kennen als ihre Augen. Sie geht die Treppe hinunter in den Kreuzgang, und als sie den großen Klosterhof betritt, bleibt sie eine Sekunde lang stehen, wie so oft, und bewundert seine reine, vollkommene Schönheit. Vom ersten Augenblick an, als sie vor sechzehn Jahren hier stand und die Mauern um sie herum sie zu erdrücken drohten, hatte der Klosterhof ihr Raum für Frieden und Träume geboten. Am Tag ist die Luft so still, dass es wirkt, als wäre die Zeit stehen geblieben, während man in der Dunkelheit beinahe das Rauschen von Engelsflügeln hinter sich hören kann. Nicht jedoch in dieser Nacht. Heute Nacht ragt der Steinbrunnen in der Mitte wie ein graues Schiff aus einem schwarzen Meer hervor, und das Schluchzen des Mädchens hallt durch den Hof wie ein wilder Wind. Es erinnert sie an die Geschichte, die ihr Vater ihr über seine Reise nach Indien zu erzählen pflegte, wo er Pflanzenmuster sammelte. Sie waren damals auf ein Handelsschiff gestoßen, das verlassen in aufgewühlten Gewässern schaukelte, und das einzige Lebenszeichen war das Kreischen eines verhungernden Papageis gewesen, den man an Bord zurückgelassen hatte. »Stell dir nur vor, Carissima. Wenn wir die Sprache dieses Vogels verstanden hätten, welche Geheimnisse hätte er uns wohl verraten können?«

Im Gegensatz zu ihm hat Zuana das Meer nie gesehen, und die einzigen Sirenenstimmen, die sie kennt, sind jene von sich erhebenden Sopranen in der Kapelle oder heulenden Frauen in der Nacht. Oder das Jaulen von kleinen, aber zuweilen erstaunlich lauten Hunden– wie derjenige, der jetzt in Suora Ysbetas Zelle kläfft, ein verfilztes, übel riechendes Haarknäuel mit scharfen Zähnen, der in das Klagegeheul einstimmt. Ja, es ist jetzt eindeutig Zeit für den Schlaftrunk.

Die Luft in der Krankenstation ist erfüllt vom Rauch des Talglichts und des Rosmarins, den sie ständig brennen lässt, um den üblen Geruch nach Krankheit zu bekämpfen. Sie geht an der jungen Chorschwester vorbei, die unter inneren Blutungen leidet; sie liegt zusammengerollt da und hat die Augen auf eine Art und Weise fest geschlossen, die eher von Gebet als von Schlaf zeugt. Die Schwestern in den übrigen Betten sind so alt, wie sie krank sind. Ihre Lungen sind durchdrungen von der Feuchtigkeit des Winters, sodass sie beim Atmen gurgeln und krächzen. Die meisten sind für alles taub außer den Stimmen der Engel, aber dennoch waren sie sich nicht zu schade dafür, in einen Wettstreit zu treten, wessen Gesang der süßeste sei.

»Oh, süßer Jesus! Es kommt. Rette uns alle.«

Während Suora Clementias Ohren noch scharf genug sind, um den Ballen einer Katzenpfote auszumachen, ist ihr Verstand so getrübt, dass sie das Geräusch als den Schritt eines Teufelsboten oder das erste Anzeichen für die zweite Rückkehr Jesu halten könnte.

»Psssstt.«

»Hört das Schreien. Hört das Schreien!« Die alte Frau sitzt kerzengerade im letzten Bett, und sie schlägt um sich, als wollte sie einen unsichtbaren Angriff abwehren. »Die Gräber öffnen sich. Wir werden alle vernichtet.«

Zuana fängt ihre Hände ein und zieht sie auf die Laken hinunter. Sie hält sie fest, und dann wartet sie darauf, dass die Nonne ihre Anwesenheit bemerkt. In dem langen Silentium, das von der Komplet bis zum Tagesanbruch andauert, wird den Kranken und den Verrückten vergeben, wenn sie die Regel brechen, aber andere riskieren eine strenge Buße für überflüssiges Reden.

»Schhh.«

Auf der anderen Seite des Klosterhofs schwillt ein weiteres Heulen an, gefolgt von einem Krachen und dem Splittern von Holz. Sie schiebt die alte Nonne sanft zurück auf das Bett und beruhigt sie, so gut sie kann. Der scharfe Geruch nach frischem Urin steigt von den Laken auf. Es kann bis zum Morgen warten. Die Pflegeschwestern werden behutsamer mit ihr umgehen, wenn sie ein bisschen geschlafen haben.

Sie nimmt das Nachtlicht und geht rasch in die Apotheke hinter einer Tür am hinteren Ende der Krankenstation. Vor ihr tut sich eine Wand voll Tiegel, Fläschchen und Flaschen auf, die im Rhythmus der flackernden Flamme zu tanzen scheinen. Sie kennt jedes einzelne Behältnis; dieser Raum ist ihr Zuhause, und er ist ihr sogar vertrauter als ihre Zelle. Sie nimmt ein Glasgefäß aus einem Schubkasten und greift nach kurzem Zögern nach einer Flasche auf dem zweiten Regal, entkorkt sie und fügt ein paar weitere Tropfen des Sirups hinzu. Eine Novizin, die nicht nur das Silentium bricht, sondern auch Möbel zerstört, wird ein stärkeres Schlafmittel benötigen.

Als Zuana in den Hauptkreuzgang zurückkehrt, bemerkt sie einen Lichtstreifen unter der Tür zur äußeren Kammer der Äbtissin. Madonna Chiara wird wach und angekleidet sein; wahrscheinlich sitzt sie an ihrem geschnitzten Walnussschreibtisch, mit erhobenem Kopf, vor sich das geöffnete Gebetbuch unter dem silbernen Kreuz. Sicherlich trägt sie einen Umhang um die Schultern geschlungen, um die nächtliche Zugluft abzuwehren. Sie wird nicht eingreifen– außer wenn Zuanas Einschreiten aus irgendeinem Grund scheitern sollte. Es besteht eine Übereinkunft hinsichtlich derartiger Angelegenheiten.

Zuana bewegt sich rasch den Korridor entlang und bleibt kurz vor Suora Magdalenas Tür stehen. Sie ist die älteste Nonne im Kloster, so alt, dass niemand mehr lebt, der ihr Alter kennt. Aufgrund ihrer Altersschwäche sollte sie bereits seit langer Zeit auf der Krankenstation sein, aber ihr Wille und ihre Frömmigkeit sind so stark, dass sie keinen anderen Trost außer dem Gebet zulässt. Sie spricht mit niemandem und verlässt niemals ihre Zelle. Unter allen Seelen in Santa Caterina muss Gott sicherlich am meisten nach der ihren verlangen. Dennoch hält Er sie immer noch auf Abstand. Bisweilen, wenn Zuana nachts an ihrer Zelle vorübergeht, könnte sie beschwören, dass sie die Bewegung ihrer Lippen durch das Holz hören kann, und jedes Wort bringt sie dem Paradies ein kleines Stück näher.

»Denn der Herr ist gut, und seine Güte währet ewiglich. Danket ihm und lobet seinen Namen.« Die Worte des Psalms strömen ungebeten in Zuanas Kopf, als sie weiter den Gang entlanggeht.

Das neue Mädchen ist in der Doppelzelle in der Ecke. Manche mögen argumentieren, dass dies eine unglückliche Wahl war. Vor weniger als einem Monat hatte hier Suora Tommasa mit ihrer süßen Stimme die neuesten Madrigalgesänge gesungen, Verse, die sie am Hof gelernt und dann eingeschmuggelt hatte– bis eine heimtückische Wucherung in ihrem Gehirn aufgebrochen war. Sie hatte einen Anfall erlitten, war ohnmächtig zusammengebrochen und nicht wieder aufgewacht. Sie hatten kaum das Erbrochene von den Wänden gewaschen, als bereits dem Neuzugang zugestimmt wurde. Zuana fragt sich nun, ob sie vielleicht nicht gründlich genug gereinigt hatten. Im Laufe der Jahre hat sich in ihr der Verdacht gefestigt, dass Klosterzellen länger als andere Orte an ihrer Vergangenheit festhalten. Sie wäre gewiss nicht die erste junge Novizin, die spürt, dass die Wände um sie herum Verzückung oder Böswilligkeit ausstrahlen.

Das Schluchzen wird lauter, als sie den äußeren Riegel löst und die Tür aufschiebt. Für eine Sekunde hat sie ein Bild vor ihrem inneren Auge, von einem Kind mit einem endlosen Trotzanfall, das auf dem Bett um sich schlägt oder wie ein in die Enge getriebenes Tier in der Ecke hockt, aber stattdessen zeigt der Kerzenschein eine flach an die Wand gedrückte Gestalt, deren Gewand bis auf die Haut von Schweiß durchtränkt ist und deren Haare rund um ihr Gesicht kleben. Als sie durch das Gitter in der Kirche einen Blick auf sie erhascht hatte, war ihr das Mädchen als zu zart erschienen, um eine derartige Stimme zu haben, aber in natura ist sie kräftiger, und jeder Schluchzer wird von einer starken Lunge genährt. Der nächste Schrei bleibt ihr in der Kehle stecken. Wen hat sie vor sich? Eine Kerkermeisterin oder eine Retterin? Zuana kann immer noch den Schrecken jener ersten Tage spüren, auch den Schrecken darüber, dass jede einzelne Nonne gleich aussah. Wann hatte sie begonnen, die Unterschiede unter dem Habit zu erkennen? Wie seltsam, dass sie sich nicht mehr an etwas erinnern kann, wovon sie einmal dachte, sie würde es nie vergessen.

»Benedictus«, sagt sie ruhig. Das Wort signalisiert ihre Absicht, das eigentlich herrschende Silentium zu brechen. In ihrem Kopf kann sie die Stimme der Äbtissin hören, die die Absolution hinzufügt: »Deo gratias.« In ihrer Buße wird anerkannt werden, dass der Verstoß im Rahmen ihrer Pflichterfüllung im Kloster notwendig war.

»Gott sei mit dir, Serafina.« Sie hält die Kerze höher, damit das Mädchen sehen kann, dass in ihren Augen keinerlei Böswilligkeit liegt.

»Aaaaargh!« Der angehaltene Atem explodiert in einem Wutausbruch. »Ich bin nicht Serafina. Das ist nicht mein Name.«

Die Worte treffen Zuana als Speichelspritzer im Gesicht.

»Du wirst dich besser fühlen, wenn du ein wenig Schlaf gefunden hast.«

»Ha-ha!… Ich werde mich besser fühlen, wenn ich tot bin.«

Wie alt ist dieses Mädchen? Fünfzehn? Vielleicht sechzehn? Jung genug, um ein Leben zu haben, dem man freudig entgegensehen kann. Alt genug, um zu wissen, wenn dieses Leben massiv eingeschränkt wird. Was hatte die Äbtissin ihnen erzählt, als sie ihre Zustimmung zu ihrer Aufnahme gegeben hatten? Dass sie aus einer Adelsfamilie aus Mailand stammte, die wichtige Geschäftsverbindungen nach Ferrara unterhielt und der Stadt ihre Loyalität beweisen wollte, indem sie ihre Tochter einem ihrer bedeutendsten Klöster anvertraute: ein reines Kind, das für Gottes Liebe erzogen worden war, mit einer Stimme wie eine Nachtigall.

»Vielleicht bin ich schon tot. Begraben in diesem… diesem stinkenden Grab.« Sie stampft wütend auf, und ein Knäuel Pferdehaare fliegt durch die Luft.

Zuana hält die Kerze höher und nimmt die Zerstörung im Raum in sich auf: Das Bett ist auf die Seite gekippt, die Matratze und das Kissen sind aufgerissen, und die Füllung liegt überall verstreut herum. Das Chaos ist auf seine Weise eindrucksvoll.

Das Mädchen reibt sich mit dem Handrücken heftig über die Nase, um den Strom von Tränen und Schleim aufzuhalten. »Ihr versteht nicht.« Und nun liegt ein wütendes Flehen in der Stimme. »Ich sollte nicht hier sein. Ich bin gegen meinen Willen hergeschickt worden.«

Zuana sieht sie vor sich, wie sie in einer Wolke aus Samt vor dem Altar kniet, mit gesenktem Kopf, während der Priester sie durch die Litanei der Zustimmung leitet.

»Was ist mit dem Gelübde, das du in der Kapelle abgelegt hast?«, fragt sie sanft.

»Worte. Ich habe Worte gesagt, das ist alles. Sie kamen aus meinem Mund, nicht aus meinem Herzen.«

Ah. Jetzt sind die Dinge klarer. Der Satz ist so bekannt wie jede Litanei. Worte aus dem Mund, nicht aus dem Herzen: der offizielle Begriff für Zwang. Vor einem ordentlichen Gericht mit einem mitfühlenden Richter ist das die Verteidigung, die eine Ehefrau vielleicht benutzen würde, um eine desperate Ehe annullieren zu lassen, oder eine Novizin vor ihrem Bischof, um ihr Gelübde zu lösen. Aber sie sind hier weit entfernt von einem Gericht, und es würde weder dem Mädchen noch dem Kloster helfen, die ganze Nacht wach zu bleiben und über das Problem zu debattieren.

»Dann musst du es der Äbtissin sagen. Sie ist eine weise Frau und wird dich leiten.«

»Wo ist sie jetzt?«

Zuana lächelt. »Wie der Rest von uns versucht sie zu schlafen.«

»Ihr glaubt, ich sei dumm?« Und wieder erhebt sich ihre Stimme. »Sie interessiert sich nicht für mich. Für sie bin ich bloß eine weitere Mitgift. Oh, ich habe keinen Zweifel daran, dass mein Vater großzügig dafür gezahlt hat, mich versteckt zu halten.«

Jedes Wort, das das Silentium bricht, schmerzt den Herrn so sehr, wie es die Nonne schmerzen sollte, die es äußert, doch Güte und Nächstenliebe sind ebenfalls Tugenden innerhalb dieser Mauern; und außerdem fühlt sich Zuana jetzt verpflichtet. »Selbst zu der größten Mitgift gehört eine Seele«, erwidert sie freundlich. »Das wirst du bald genug verstehen.«

»Nein! Oh!« Und das Mädchen schlägt den Kopf gegen die Wand, hart genug, dass beide das dumpfe Geräusch hören können. »Nein, nein, nein.«

Aber als jetzt die Tränen kommen, sind es ebenso Tränen der Verzweiflung wie der Wut oder des Schmerzes, als wüsste sie, dass der Kampf bereits halb verloren ist und ihr nichts weiter bleibt, als darüber zu trauern. Es gibt einige Schwestern in Santa Caterina, Frauen von beträchtlichem Vertrauen und Mitgefühl, die glauben, dass dies der Augenblick ist, in dem Christus erstmals wahrhaft in die Seele der jungen Frau einzieht und Seine große Liebe die Saaten der Hoffnung und des Gehorsams in den Boden der Verzweiflung sät. Zuanas Ernte hatte länger gebraucht, und im Laufe der Jahre hatte sie allmählich verstanden, dass der einzige wahre Trost, der sich bietet, der ist, den man selbst fühlt. Obwohl es nichts ist, auf das sie stolz ist, ist es in Augenblicken wie diesem unmöglich, etwas anderes vorzutäuschen.

»Hör mir zu«, sagt sie ruhig und tritt näher. »Ich kann dir die Tore nicht öffnen. Aber wenn du mich lässt, kann ich dafür sorgen, dass diese Nacht leichter zu ertragen ist. Und das wird dir in gewisser Hinsicht auch den morgigen Tag erleichtern, das verspreche ich dir.«

Und jetzt hört das Mädchen zu. Sie kann es spüren. Ihr Körper hat zu zittern begonnen, und ihr Blick huscht hin und her. Was geht ihr durch den Kopf? Flucht? Die Zelle ist nicht verriegelt, und es gibt niemanden, um sie aufzuhalten. Wenn sie wollte, könnte sie sich einfach an ihr vorbei aus der Tür drängen, durch die Kreuzgänge und den Korridor zum Pförtnerhaus laufen– nur um festzustellen, dass nicht die Pförtnerin in der Nacht die Schlüssel zum Haupttor hat, sondern die Äbtissin. Oder sie könnte in die Gärten hinauslaufen, durch die Obstgärten, bis sie schließlich die Außenmauern erreichen würde– diese sind jedoch so glatt und hoch, dass jeder Kletterversuch dem Erklimmen einer Eisplatte gliche. Das alles ist denjenigen, die im Kloster leben, allgemein bekannt. In der Tat werden einige von blankem Entsetzen erfasst, wenn sie sich vorstellen, sie wären draußen in der Welt.

»Nein. Nein…« Doch es ist mehr ein Stöhnen als ein Protest. Sie bedeckt ihr Gesicht mit den Händen und lässt sich langsam die Wand hinunterrutschen, und dabei schrammt ihr Rücken an den Steinen entlang, bis sie hockt, zusammengekauert, niedergeschmettert vor Gram.

Zuana kniet sich neben sie auf den Boden.

Sie zuckt zurück. »Geht fort von mir. Ich will Eure Gebete nicht.«

»Auch gut«, antwortet Zuana scheinbar leichthin und fegt das Rosshaar zur Seite, um einen sicheren Platz für die Kerze zu schaffen. »Denn unser Herr ist inzwischen sicherlich taub.« Sie lächelt, damit das Mädchen versteht, dass die Worte freundlich gemeint sind. Aus der Nähe im Kerzenlicht betrachtet hat sie ein recht hübsches Gesicht, auch wenn es jetzt ein bisschen verquollen und fleckig vor Zorn ist. Zuana fallen ein halbes Dutzend kichernder junger Novizinnen ein, die ihr nur zu gerne helfen würden, ihre Schönheit wiederherzustellen.

Sie zieht das Glasfläschchen unter ihrem Gewand hervor und entkorkt es.

»Hör auf zu weinen.« Sie gibt ihrer Stimme nun einen entschlossenen Klang. »Diese Panik, die du jetzt empfindest, wird vorübergehen. Und es wird weder dir noch deinem Fall helfen, wenn du das Kloster die ganze Nacht wachhältst. Verstehst du mich?«

Ihre Blicke treffen sich über dem Gefäß.

»Hier.«

»Was ist das?«

»Etwas, das dir helfen wird, zur Ruhe zu kommen.«

»Was?« Sie berührt es nicht. »Ich werde trotzdem nicht schlafen.«

»Wenn du das hier trinkst, wirst du schlafen, das verspreche ich dir. Der Trank besteht aus den Zutaten, die man Kriminellen auf dem Karren auf dem Weg zum Galgen verabreicht, damit ihre Benommenheit sie lange genug angesichts ihrer Qualen abstumpfen lässt, bis das Schlimmste vorbei ist. Denjenigen, die weniger leiden, verschafft es eine schnellere und süßere Erleichterung.«

»Der Galgen…« Sie lacht bitter. »Dann müsst Ihr der Henker sein.«

Also bin ich für sie die Kerkermeisterin, denkt Zuana. So sei es. Wie viel Energie es kostet, Auflehnung zu schüren. Und wie hart es ist, wenn man die Einzige ist… Sie hält ihr das Glasgefäß hin, wie man einem wilden Tier, das jeden Moment flüchten könnte, einen Leckerbissen anbietet.

Langsam, ganz langsam streckt das Mädchen die Hand aus, um das Gefäß zu nehmen. »Ich werde mich dadurch nicht geschlagen geben.«

Jetzt muss Zuana unwillkürlich lächeln. Wenn sie wüsste, wie man einen Trank herstellte, der das bewerkstelligen könnte, würde jedes Kloster im Land sie in seiner Krankenstation haben wollen. »Du musst dir keine Sorgen machen. Meine Aufgabe ist es, mich um deinen Körper zu kümmern, nicht um deine Seele.«

Der Blick des Mädchens bleibt auf Zuanas Augen gerichtet, als sie schluckt. Der Geschmack ist streng und lässt sie husten, weil ihre Kehle bereits rau ist vom Schreien. Wenn das Gerede über die Stimme einer Nachtigall nicht auch eine Lüge war, wird sie einen lindernden Sirup brauchen, um ihre Singstimme wiederherzustellen.

Sie trinkt aus und lehnt ihren Kopf wieder an die Wand. Die Tränen fließen weiter, aber nun weniger geräuschvoll. Zuana betrachtet sie aufmerksam. Die Heilerin in ihr beobachtet wachsam, wie die Wirkung der Droge einsetzt.

»Herr, höre mein Gebet, mein Hilferuf komme zu dir.«

Wann hatte sie das letzte Mal eine derart hohe Dosierung eingesetzt? Vor zwei, nein drei Jahren, und zwar bei einem Mädchen mit einer ähnlich hohen Mitgift, bei dem man geheim gehalten hatte, dass es unter Krampfanfällen litt. Ihre Panikattacke in der ersten Nacht hatte einen derart heftigen Anfall ausgelöst, dass sie von drei Schwestern festgehalten werden musste. Wäre ihre Familie einflussreicher gewesen, hätte das Kloster sich vielleicht gezwungen gesehen, sie dort zu behalten. Zwar ist Epilepsie einer der wenigen anerkannten Gründe für die Aufhebung eines Gelübdes, jedoch hängt dies, wie bei vielen Dingen, vom Grad des Einflusses ab. Damals war es Madonna Chiara gelungen, erfolgreich ihre Rückkehr in ihre Familie durchzusetzen, wenngleich mit nur einem Teil ihrer Mitgift. Die war aufgrund der für das Kloster entstandenen Unannehmlichkeiten etwas vermindert worden. Dies war den diplomatischen Fähigkeiten von Santa Caterinas derzeitiger Äbtissin zu verdanken gewesen– was sie jedoch mit diesem widerspenstigen jungen Geschöpf tun würde, blieb abzuwarten.

»Verbirg dein Antlitz nicht vor mir zur Zeit meiner Not!«

Die Stimme in Zuanas Kopf wird zu einem Flüstern.

»Vor lautem Stöhnen klebt mir die Haut an den Knochen.«

Als sie später daran zurückdenkt, kann sie sich nicht erinnern, warum sie speziell diesen Psalm ausgewählt hat, aber als sie einmal damit begonnen hatte, erweisen sich die Worte tatsächlich als passend genug.

»Ich gleiche der Dohle in der Wüste, bin wie eine Eule in den Ruinen. Schlaflos bin ich und wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.«

»Es wirkt nicht.« Das Mädchen richtet sich schwankend auf und schlägt wieder wild um sich.

»Doch, doch, es wirkt. Hör auf zu kämpfen und atme tief durch. Staub muss ich essen wie Brot und meinen Trank mit Tränen mischen.«

Die Novizin stößt einen kleinen Schrei aus und sinkt wieder in sich zusammen.

»Denn du hast mich aufgehoben und niedergeworfen. Meine Tage sind wie der ausgedehnte Abendschatten, und ich muss wie Gras verdorren.«

Sie stöhnt und schließt die Augen.

Jetzt wird es nicht mehr lange dauern. Zuana rückt näher, um sie stützen zu können, wenn sie zu rutschen beginnt. Das Mädchen schlingt die Arme eng um die Knie und lässt nach einer Weile den Kopf darauf sinken– gleichermaßen ein Zeichen der Müdigkeit wie der Niedergeschlagenheit.

»Du aber, Herr, thronst auf ewig, und dein Name dauert von Geschlecht zu Geschlecht.«

Draußen tritt wieder die Stille der Nacht ein, bewegt sich durch die Gänge, über den Klosterhof, bahnt sich ihren Weg unter den Türrahmen hindurch. Das Kloster lässt den Atem herausströmen, den es angehalten hatte, und gleitet in den Schlaf. Der Körper des Mädchens neigt sich allmählich in Zuanas Richtung.

»Er wendet sich dem Gebet der Enterbten zu und verschmäht nicht ihr Gebet.«

Es ist vorbei, die Rebellion ist beendet. In diesem Augenblick empfindet Zuana eine gewisse Traurigkeit, die sich mit Erleichterung mischt, als könnten die Worte des Psalms schließlich doch nicht ausreichen, um wirklich Trost zu gewährleisten. Sie tadelt sich selbst wegen der Unwürdigkeit dieses Gedankens. Ihre Aufgabe besteht nicht darin, zu hinterfragen, sondern ruhigzustellen.

Und das geschieht gerade. Bald schon wird das Mädchen das Bewusstsein verlieren. Zuana sieht sich in der Zelle um.

Am Eingang zur zweiten Kammer steht eine schwere Truhe. Wenn sie sie geschickt einräumt, kann eine Nonne eine halbe Welt darin verstauen. Sicherlich hat sie ihre eigene Bettwäsche mitgebracht; diejenigen, die sich mit ihrer Mitgift eine Doppelzelle erkaufen können, schlafen auf Seidenlaken und Gänsefederkissen. Der Bettrahmen kann ohne Hilfe aufgestellt werden, aber selbst wenn die Überreste der Matratze wieder an Ort und Stelle sind, wird sie eine dickere Decke benötigen. Wird der Körper des Mädchens nicht mehr von der Heftigkeit ihrer Qualen erhitzt, wird er feuchtkalt werden, und was als Wut und Empörung begonnen hat, könnte zu einem Fieber werden.

»Er machte den Sturm zum säuselnden Hauch; da wurden die Wogen des Meeres still.«

Sie lehnt sie sanft an die Mauer und geht hinüber zu der Truhe. Beim Öffnen des Deckels entströmt ihr eine duftende Welle von Bienenwachs und Kampfer. Ein Satz silberner Kerzenleuchter liegt in einem Stoffbett, ein Samtumhang und Leinenhemden neben einer hölzernen Christuskind-Puppe. Weiter unten findet sich eine Decke dicker persischer Webart und ein hübsches Stundenbuch mit kunstvoll geprägtem Deckel, zweifellos neu in Auftrag gegeben für ihren Eintritt ins Kloster. Sie kann sich vorstellen, dass einige Schwestern mit der Sünde des Neids zu kämpfen haben werden, wenn sie es in der Kapelle sehen. Als sie das Buch in die Hand nimmt, schlägt es bei einem aufwendig illustrierten Text des Lobgesangs auf: zierliche Figuren und Tiere verwoben in Ranken goldener Blätter, die im Kerzenlicht schimmern. Und wie ein Lesezeichen stecken ein paar handgeschriebene Blätter zwischen den Seiten. Waren sie gelesen und als zulässig betrachtet worden? Oder hatte die Schwester an der Pforte sie vielleicht zwischen derartigen Reichtümern übersehen? Es wäre nicht das erste Mal.

»Was tut Ihr da?« Sie ist jetzt wieder wach, und ihr Kopf zuckt trotz der Macht der Drogen in die Höhe. »Das sind meine.«

Mein. In den kommenden Monaten wird sie lernen müssen, dieses Wort seltener zu gebrauchen. Die Panik des Mädchens beantwortet ihre Frage. Offensichtlich handelt es sich nicht um Gebete. Vielleicht Gedichte? Oder sogar Briefe eines geliebten Menschen… So kostbar wie jedes Gebet… Das Licht ist zu trüb, um einzelne Worte zu erkennen. Es ist auch besser so. Was sie nicht lesen kann, kann sie auch nicht missbilligen.

Sie denkt an ihre eigene Truhe und daran, wie die Bücher darin ihr vor all den Jahren das Leben gerettet haben. Was wäre gewesen, wenn jemand es für angebracht gehalten hätte, sie zu beschlagnahmen? Sie hätte mehr als einen Schlaftrank gebraucht, um den Schmerz zu betäuben.

»Du hast ein reiches Leben darin.« Sie schlägt das Buch zu und legt es zurück in die Truhe. »Und du hast Glück, diese Räume zu haben«, fügt sie hinzu und zieht einen schweren Samtumhang heraus. »Die Schwester vor dir hielt an manchen Abenden zwischen Abendessen und Komplet hier Hof. Sie servierte Wein und Kekse und spielte Musik, sang sogar Hof-Madrigale.« Sie stellt das Bett auf und hievt die Überreste der Matratze zurück in den Rahmen.

»Von außen sind die Mauern abschreckend, ich weiß. Aber sobald du dich daran gewöhnt hast, muss das Leben hier drinnen nicht die Wüste sein, die du erwartest.«

»Es iss Eure Aufgabe, sich um mein’ Körper zu kümmern, nich’ meine Seele.« Zwar lehnt sie immer noch an der Wand, doch ihre Augen sind jetzt halb geschlossen, und ihre Worte gehen ineinander über. Während der Geist sich noch nicht ergeben mag, ist zumindest das Fleisch jetzt schwach.

»Und man freute sich, dass sie zur Ruhe kamen; er brachte jene zum ersehnten Hafenplatz.«

Zuana legt die Decke sorgfältig auf die aufgerissene Matratze, damit das Rosshaar nicht so sehr in ihre Haut sticht. Als sie fertig ist, sind die Augen des Mädchens wieder zugefallen.

Sie fasst sie unter den Achseln, legt sich den einen Arm des Mädchens über die Schulter und umfasst ihre Taille, um sie zu stützen. Ihr Körper ist so plump wie der eines Rebhuhns und scheint schwer aufgrund der Drogen. Die Reste eines parfümierten Öls, das sie am Morgen benutzt haben muss, vermischen sich mit bitterem Schweißgeruch. Sie spürt ihren Atem an ihrer Wange, scharf riechend wegen des Mohnsirups. Ah– neben den Klumpfüßigen und Schielenden nimmt Unser Herr auch die entzückendsten jungen Frauen in seine Obhut, um sie vor der Beschmutzung durch die Welt draußen zu bewahren. Sie selbst war nie derart begehrenswert gewesen. Nicht dass derartige Dinge für sie je eine Rolle gespielt hätten.

»Ich will nich’… schlafen«, lallt sie trotzig, als sie auf das Bett fällt.

»Pssst.« Sie wickelt sie in die Decke ein und steckt sie unter ihr fest wie bei einem Baby. »Danket dem Herrn, denn er ist gut, und seine Güte währet ewiglich.«

Aber es hört ihr niemand mehr zu.

Sie bugsiert den Körper des Mädchens auf die Seite, sodass ihre Wange auf der Matratze ruht, wie ihr Vater es sie gelehrt hat. Ihr Vater hatte einmal einen gewalttätigen Patienten behandelt, der– was ihr Vater nicht wusste– vor der Einnahme des Tranks ein Übermaß an Wein zu sich genommen hatte. Mitten in der Nacht hatte er einen Teil davon erbrochen und war beinahe an seinem eigenen Erbrochenen erstickt, als er bewusstlos auf dem Rücken lag. Versuch und Beobachtung. Der richtige Weg zum Erlangen von Wissen.

»Siehst du, wie die Wunder der Natur funktionieren, Faustina? Wie ein Medikament, das todbringend sein kann, zu einem Heilmittel wird, wenn man versteht, wie es wirkt, und man es mit anderen Substanzen ergänzt?«

Seine Stimme ist wie immer am Rande ihres Bewusstseins und wartet auf den Augenblick, wenn die Gebete beendet sind und Raum für ihre eigenen Gedanken ist.

Es gab eine Zeit, ganz am Anfang– sie kann sich nicht mehr genau erinnern, wie lange es anhielt–, als seine Nähe beinahe unerträglich war, weil sie sie so machtvoll an alles erinnerte, was sie nicht mehr haben konnte. Doch die Vorstellung, ohne ihn zu sein, war noch schlimmer gewesen, und schließlich hatte sich ihre Trauer abgemildert, sodass seine Anwesenheit zu einer Wohltat geworden war; er ist nun für sie ebenso sehr ein lebender Lehrer wie ein toter Vater. Natürlich weiß sie, dass es für eine Nonne eine Sünde ist, eher in der Vergangenheit als in der Gegenwart des Klosters zu leben, aber die Anwesenheit ihres Vaters ist so normal geworden, dass sie sich nicht mehr die Mühe macht, sie bei der Beichte zu erwähnen. Es gibt eine Grenze für eine Buße, die man für eine Sünde auf sich nehmen kann, die man nicht aufgeben kann– und auch nicht aufgeben will.

Während sie nun über die schlafende junge Frau wacht, bittet sie ihren Vater wieder, in ihre Gedanken einzutreten.

»Du musst die zusätzliche Dosis unbedingt in deinen Aufzeichnungen festhalten. Ich weiß– ich weiß–, ein paar Tropfen mögen dir wenig vorkommen, aber sie können viel sein. Ah, was für eine Harmonie in der Dosierung liegt, mein Kind. Kontrolle und Empirismus, Versuch und Beobachtung: die Kombination von alten Kenntnissen in unserer neuen Welt. Natürlich können wir nicht wie die Griechen vorgehen und mit unseren Heilmitteln Versuche an Kriminellen durchführen. Wäre das möglich, hätten wir vielleicht inzwischen das Geheimnis von Theriak wiederentdeckt, und unsere Herrschaft über alle Gifte wäre sichergestellt. Stell dir das mal vor! Dennoch haben wir bereits vieles gefunden, was verloren gegangen war. Und wenn du dir unsicher bist oder wenn es keinen Patienten gibt, an dem du neue Zusammensetzungen oder Mischungsverhältnisse testen kannst, kannst du sie immer noch an dir selbst ausprobieren. Bei einem Trank, der die Sinne betäubt, solltest du jedoch vorsichtig sein und ständig die Zeiten aufschreiben, bevor du einschläfst, damit du auf diese Weise möglichst genaue Werte hast, wenn du aufwachst.«

Sie lächelt. Es war ein hinreichend guter Rat für die ganzen Universitätsstudenten, die stundenlang im winterlichen Nebel von Ferrara Schlange gestanden hatten, um Zutritt zu seinen Vorlesungen und Leichensektionen zu erlangen. Im Laufe der Jahre hatte sie sogar einige dieser Studenten kennengelernt; von seiner Armee von eifrigen jungen Gelehrten/Ärzten, die sich der Sache verschrieben hatten, Gottes wunderbarem Universum die Geheimnisse zu entreißen. Und auch sie hatte vieles von seiner Weisheit gelernt, auch wenn sie es natürlich nie in der Öffentlichkeit hatte unter Beweis stellen können. Während seine Schüler an Höfen und Universitäten arbeiteten und ihr Wissen mit sich nahmen, diente sie Gott in einer anderen Form, in der das Streben nach Wissen erst an zweiter Stelle nach den Glaubensbekundungen kam, achtmal täglich, sieben Tage die Woche, bis der Tod sie scheidet. Kein Wunder, dass es am Anfang so sehr geschmerzt hatte. Es gab herzlich wenig Raum für Experimente innerhalb dieser Mauern. Keine Zeit für eine Nonne, hier zu ihrer eigenen Patientin zu werden.

Doch nachdem sie sich das Amt der Klosterapothekerin erarbeitet hat, tut sie nun dasselbe, was er getan hätte: Sie erntet ihre Pflanzen, destilliert ihre Säfte und macht sich Notizen zu ihrer Wirkung. So klein die Schritte auch sein mochten, sie bewegt sich vorwärts. Das ist mehr, als man ihr draußen ohne ihn je erlaubt hätte.

Mit einer Hand prüft sie den Puls des Mädchens: Er ist stabil, wenn auch ein wenig langsam. Wie lange wird sie schlafen? Es ist schon spät. Sie werden sie keinesfalls rechtzeitig zum Morgengebet wecken können, vielleicht nicht einmal zur Prim oder zur Terz. Wenn sie sie dann irgendwann aufwecken werden, wird ihr der Sinn nicht nach Widerstand stehen. Wie stark ihre Willenskraft auch sein mag, sie wird zumindest für eine Weile wegen ihrer körperlichen Verfassung gedämpft sein. Das Mädchen wird es ihr nicht danken, aber Zuana weiß eher als die meisten anderen, dass es eine Art Geschenk ist. Wenn auch wahre Akzeptanz nur von Gott kommt, kann trotzdem aus dem Vergehen der Zeit eine gewisse Art von Trost gewonnen werden; Stunde um Stunde, Tag um Tag fällt die Zeit wie dicke Schneeflocken, legt sich übereinander, wieder und wieder, bis das, was gewesen ist, allmählich überdeckt wird, und die ursprünglichen Formen und Farben unter der Decke dessen, was jetzt ist, verborgen sind.

Schließlich ertönt die Matutin-Glocke aus der Kapelle. Sie hört die Schritte der Wachschwester auf den Steinplatten, während sie durch die Gänge geht. Das Klopfen an den Türen klingt heute Nacht scharf. Die Gewohnheit lässt manche von ihnen aufstehen und sich in Bewegung setzen, bevor sie überhaupt merken, dass sie wach sind. Aber es wird auch andere geben, die gerade erst in den Schlaf gefunden haben und gerne weiterschlafen würden. Unter solchen Umständen ist es der wachhabenden Schwester erlaubt, einzutreten und die Schläferin einmal an der Schulter zu schütteln. Diejenigen, die sich daraufhin nicht erheben, werden ihr Vergehen später vor der Äbtissin beichten müssen.

Die Zelltüren beginnen sich zu öffnen, gefolgt von Füßescharren, als die Nonnen sich versammeln und der wachhabenden Schwester folgen, eine Prozession schwarzer Schatten, die sich durch die Finsternis bewegen. Kerzen flackern wie Leuchtkäfer in der Dunkelheit. Als sie an der Tür der Novizin vorbeikommen, unterdrückt jemand ein Gähnen.

Zuana wartet. Obwohl die Äbtissin von ihren nächtlichen Streifzügen weiß, ist es wichtig, die Routine des Klosters so wenig wie möglich zu stören. Die schweren Angeln der Tür zur Kapelle öffnen sich ächzend und schließen sich wieder, nachdem die Prozession hindurchgezogen ist. Ein weiteres Knarren von Holz verrät eine erste, dann eine zweite Nachzüglerin. Der Klang des Gesangs dringt bereits unter dem Türrahmen hervor, als sie die Zelle verlässt und die Dunkelheit durchquert. Vor sich bemerkt sie eine kleine Gestalt mit einem leichten Hinken, die sich von dem oberen Kreuzgang hinunter über den Hof bewegt. Das ist eine Nachtwandlerin, die sich verborgen halten möchte. Sie verdrängt die Vorstellung. Heute Nacht sind bereits genug Gefühle verbraucht worden. Es hat keinen Sinn, weitere Schwierigkeiten heraufzubeschwören.

Sie wartet, bis die Tür zur Kapelle sich wieder geschlossen hat, tritt dann schnell mit gesenktem Kopf ein und huscht zwischen den Chorstühlen hindurch zu dem großen Kreuz vor dem Gitter, das die Nonnen vom Rest der Kirche abtrennt, der für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Sie fällt davor auf die Knie und spürt die plötzliche Kälte des Steins durch ihr Gewand, bevor sie auf ihren Platz am Ende der zweiten Reihe der Chorstühle gleitet. Sie hat ihr Brevier nicht dabei– das Buch liegt auf dem Tisch in ihrer Zelle. Obwohl sie die Lesungen und Psalmen auswendig kennt, ist das Fehlen des Buches dennoch ein Regelverstoß. Der Blick der Äbtissin gleitet rasch über sie hinweg. Zuana öffnet den Mund und beginnt zu singen.

Das Kloster ist heute Nacht nicht in Hochform. Der Winter hat eine Reihe Kehlen rau gemacht, und der Gesang wird durch Hustenanfälle und Niesen unterbrochen. Nachts ist es in der Kirche empfindlich kalt, und etwa ein Dutzend Novizinnen in den Chorstühlen haben damit zu kämpfen. Mit ihren runden Wangen und der zarten Haut sehen sie zu jung aus, um sowohl so spät als auch so früh wach zu sein. Zuana ist aufgefallen, dass manche von ihnen, wenn sie müde sind, ihre Augen wie kleine Kinder mit den Fäusten reiben. Die eiserne Novizenmeisterin des Klosters, Suora Umiliana, ist der Meinung, dass jeder neue Schwung schlimmer als der vorherige ist, selbstsüchtiger und noch mehr den Nichtigkeiten des Lebens zugeneigt. Die Wahrheit ist wahrscheinlich vielschichtiger, da auch Umiliana sich verändert und im Laufe der Jahre inbrünstiger und fordernder geworden ist, während sie zumindest jung bleiben. So oder so empfindet Zuana Mitgefühl für sie. Mädchen ihres Alters sehnen sich nach Schlaf, und die Matutin, die die Nacht in der Mitte durchschneidet, ist das härteste aller Klostergebete.

Doch in seiner Unmenschlichkeit liegt auch seine Süße, denn der eigentliche Sinn der Matutin ist es, die Seele gegen den Widerstand des Körpers zu bezwingen und zu erreichen, und wenn man aus dem Schlaf gerissen wird, gibt es weniger Ablenkung durch den Lärm und das Geplapper des Verstandes. Zuana kennt Schwestern, die mit zunehmendem Alter dieses Gebet mehr als alle andere Gebetszeiten schätzen lernen, und sie dürsten danach wie nach Nektar. Denn hat man sich erst einmal so weit diszipliniert, die Müdigkeit zu überwinden, ist das Wunder, in Seiner Gegenwart zu sein, während der Rest der Welt schläft, ein seltenes Geschenk; eine Form von Privileg ohne Hochmut, ein Schwelgen ohne Maßlosigkeit.

Manche kommen Gott während solcher Momente so nahe, dass sie dafür bekannt sind, Engel über sich schweben zu sehen, oder, wie in einem Fall, zu sehen, wie die Gestalt Christi an dem großen hölzernen Kreuz die Arme löst und in ihre Richtung ausstreckt. Derartige Erschütterungen der Seele passieren eher während der Matutin als bei einem anderen Offizium. Das ist hilfreich für die jungen Schwestern, denn das gelegentliche Drama von Herzklopfen oder sogar Ohnmacht führt ihnen die Möglichkeit einer Ekstase vor Augen. Selbst Zuana, die noch nie zu Visionen neigte, hatte Momente voller Wunder erlebt: die Art und Weise, wie die nächtliche Stille die Stimmen wohlklingender machte oder wie ihr Atem die Kerzen in der Dunkelheit flackern ließ, wodurch die massiven Statuen zu schmelzen schienen und tanzende, fließende Schatten an die Wände warfen.

Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass heute Nacht derartige wundersame Ereignisse eintreten. Die alte Suora Agnesina sitzt fiebernd vor Hingabe an ihrem Platz, den Kopf zur Seite geneigt, aufmerksam wie immer, um die göttliche Note in dem menschlichen Chor wahrzunehmen, aber in den hinteren Chorstühlen ist Suora Ysbeta bereits eingeschlafen und gibt fast die gleichen keuchenden Geräusche von sich wie ihr widerlicher kleiner Hund. Für den Rest ist es schon eine Leistung, sich einfach nur auf den Text zu konzentrieren.

Um gegen ihre Müdigkeit anzugehen, richtet Zuana sich kerzengerade auf, bis ihre Schultern die Rückenlehne berühren. In den meisten Chorstühlen lehnen sich die Nonnen an glattes Holz an, das von der jahrelangen Reibung von Stoffen poliert wurde. Aber in Santa Caterina ist das anders. Die Rückenlehnen sind mit wunderbaren Intarsien verziert. Es gibt Hunderte von Holzschnitten aus verschiedenen farbigen Hölzern, die eingelegt und verklebt wurden, um Szenen und Bilder zu schaffen. Die Chorstühle waren ein Geschenk einer der Gönnerinnen des Klosters während der Regentschaft des großen Borso d’Este vor mehr als einem Jahrhundert. Es wird erzählt, dass ein Vater mit seinem Sohn länger als zwanzig Jahre bis zur Fertigstellung daran arbeitete. Wenn die Schwestern von Santa Caterina jetzt zu Gott beten, ruht jedes einzelne Rückgrat an einem anderen Bild ihrer geliebten Stadt: Straßen, Dächer, Schornsteine und Kirchturmspitzen, zu erkennen bis hin zu winzigen Stücken aus Kirsch- oder Kastanienholz, die die Kais und die dunklen Walnussadern des Flusses Po darstellen. Auf diese Weise ist ihre Geburtsstadt für sie immer präsent, auch wenn sie isoliert von ihr leben.

Wenn Zuanas Geist stark unter Ablenkung leidet, wie es heute Nacht der Fall ist, benutzt sie diese kleinen perspektivischen Juwelen als einen Weg, wieder eine Verbindung zu Gott herzustellen. Sie stellt sich die Stimmen vor, die in die Höhe schweben, eine Klangwolke, die hoch in das Kirchenschiff aufsteigt, durch das Dach der Kapelle in die Luft draußen, und sich dann wie eine lange Rauchfahne in genau diese Stadt bewegt; sie dreht und windet sich um Lagerhallen und Palazzos, bewegt sich seitlich an der Kathedrale vorbei, steht über dem nasskalten Graben rund um den Palast der D’Estes, bahnt sich ihren Weg durch die Fenster und setzt ein liebliches Echo in den großen Gemächern frei, bevor sie wieder hinausschlüpft. Danach kehrt sie an das Ufer des Flusses zurück und steigt von dort zu den Sternen und den Himmeln darüber auf.

Und die Schönheit und Klarheit dieses Gedankens lässt ihre Müdigkeit schwinden, sodass sie ebenfalls das Gefühl hat, frei zu schweben und sich etwas Höherem zuzuwenden, selbst wenn die Transzendenz sich nicht im Schlagen von Engelsflügeln oder der Wärme von Christus’ Armen in der Nacht offenbart.

In der Zelle auf der anderen Seite des Klosterhofs wirft sich die zornige Novizin unruhig hin und her, in einem Schlaf, der voll der Wunder und des Wahnsinns ist, den Drogenträume an sich haben.

Zwei

»Wie schnell hat sie sich beruhigt?«

»Nach dem Trank recht schnell. Sie schlief tief und fest, als ich ging.«

»Sehr tief, in der Tat. Ich konnte sie weder zur Prim noch zur Terz wecken.« Suora Umilianas Ton ist scharf. »Ich fürchtete bereits, Gott könnte sie in der Nacht zu sich genommen haben.«

»Es war meine Pflicht, sie ruhigzustellen. Meiner Erfahrung nach ist es einfach genug, zwischen Leben und Tod zu unterscheiden, wenn ein Körper warm ist und atmet.«

»Oh, ich hege keine Zweifel an Euren medizinischen Fähigkeiten, Suora Zuana. Aber ich sorge mich um ihre Seele… und es ist unmöglich, einer jungen Frau, die kaum sitzen, geschweige denn knien kann, den Trost Gottes anzubieten.«

»Schwestern, Schwestern, wir sind alle erschöpft, und es hilft niemandem, aneinander herumzunörgeln. Suora Zuana– ich danke Euch, dass Ihr sie ruhiggestellt habt. Das Kloster braucht nämlich seine Ruhe. Und Suora Umiliana, als Novizenmeisterin habt Ihr, wie immer, alles getan, was von Euch verlangt werden kann. Diese Novizin ist uns als Herausforderung gegeben worden. Und wir müssen für sie tun, was wir können.«

Die beiden Nonnen senken bei den Worten der Äbtissin gehorsam die Köpfe. Es ist früher Nachmittag, und sie befinden sich in ihrem Vorzimmer. Der Raum wird durch ein Holzfeuer beheizt, doch außerhalb seines unmittelbaren Umkreises bleibt die Luft bitterkalt. Die Äbtissin trägt einen Umhang aus Kaninchenfell um die Schultern, und neu punzierte Lederschuhe lugen unter ihrem Habit hervor. Sie ist dreiundvierzig Jahre alt, sieht jedoch jünger aus. Zuana ist aufgefallen, dass in letzter Zeit ein paar seidige Locken unter ihrem Schleier hervorschauen und ihr Gesicht dadurch weicher wirkt. Während manche vielleicht argwöhnen, es könnte Eitelkeit sein, derart weltlichen Details so viel Aufmerksamkeit zu schenken, so betrachtet Zuana es eher als einen Spiegel dessen, wie anspruchsvoll sie allem gegenüber ist; von der Lackierung der religiösen Gipsfiguren, die das Kloster für den Verkauf herstellt, bis hin zur Seelsorge für ihre Herde. Außerdem passen Gott und Mode besser zusammen, als die Menschen draußen sich vielleicht vorstellen können, und die Schwestern von Santa Caterina saugen die aktuellsten Stilrichtungen mit demselben Appetit in sich auf, mit dem ihre Chorstimmen die aktuellsten Komplexitäten der Vielstimmigkeit erforschen. In dieser Hinsicht sind sie immer noch echte Töchter ihrer modernen, musikalischen Stadt, auch wenn sie in klösterlicher Abgeschiedenheit leben.

»So. Lasst uns über die junge Seele nachdenken, um die es geht. Eure Gedanken zuerst, Suora Zuana. Wie findet Ihr sie?«

»Zornig.«

»Ja, nun, so viel konnten wir alle hören. Was sonst?«

»Verängstigt. Traurig. Empört. Sie hat jede Menge Tatkraft an den Tag gelegt.«

»Allerdings war wenig davon auf unseren Erlöser gerichtet, nehme ich an.«

»Nein. Ich glaube, man kann mit Sicherheit sagen, dass sie sich nicht berufen fühlt.«

»Ah, wie immer diplomatisch mit Worten, Zuana.« Sie lacht, und eine der Locken tanzt vor ihrer Stirn. Es ist nicht überraschend, dass sie sowohl von den Jüngeren als auch den Älteren bewundert wird, denn ihr Stil verbindet Elemente der gütigen älteren Schwester mit denen einer strengen Mutter. »Hatte sie dazu etwas zu sagen?«

»Sie hat mir gesagt, das Gelübde wäre aus ihrem Mund, aber nicht aus ihrem Herzen gekommen.«

»Ich verstehe.« Die Äbtissin schweigt. »Das waren die Worte, die sie benutzt hat?«

»Ja.«

Neben Zuana seufzt Suora Umiliana schwer, als handelte es sich um eine Bürde, die sie bereits auf den Schultern trüge. »Das habe ich bereits während der Zeremonie befürchtet. Sie öffnete den Mund, aber ich konnte kaum ein Wort hören.«

»Nun, falls man sie gezwungen hat, so hat sie nichts davon erkennen lassen, als ich sie zusammen mit ihrem Vater traf. Ist sie geschlagen worden, was meint Ihr, Zuana?«

Zuana fühlt wieder den Körper in ihren Armen, weich und schwer. Es hatte kein Anzeichen von Wunden gegeben, jedenfalls nichts, dessen das Mädchen selbst sich bewusst war. »Ich… ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube nicht.«

»Suora Umiliana. Wie steht es mit Eurem Eindruck?«

Die Novizenmeisterin faltet die Hände, als würde sie um Hilfe bitten, bevor sie spricht. Im Gegensatz zur Äbtissin ist sie eine korpulente Frau, deren Schleier so eng gebunden ist, dass er in ihre Gesichtszüge integriert zu sein scheint und ihr Gesicht zusammenquetscht. Ihre Wangen sind fett, ihr Mund ist klein und verkniffen, und ihre Oberlippe und ihr Kinn sind mit einem dünnen Flaum weißer Haare überzogen. Auch sie muss einmal jung gewesen sein, aber Zuana kann sich nicht erinnern, dass sie irgendwann einmal anders ausgesehen hat. Obwohl sie ihrer Novizenherde ein recht grausamer Hirte ist, gehen nur wenige aus ihrer harten Schule hervor, ohne ein Gespür für die Macht Christi entwickelt zu haben. Die älteren Schwestern, die sich in ihrer Suche nach seelischem Beistand an sie wenden, berichten, dass sie unter der Schale ihres zerknitterten Äußeren eine Seele so weich wie Seide besitzt. Manchmal hat Zuana etwas Ähnliches wie Neid auf die Eindeutigkeit ihrer Überzeugung empfunden, auch wenn es in einer derart engen Gemeinschaft nicht gut ist, darüber zu grübeln, was man nicht hat.

»Ich stimme mit Suora Zuana überein. In ihr tobt ein heftiger Sturm. Als wir sie nach der Zeremonie auskleideten, war ihr Gesicht wie eine schwarze Maske. Ich wäre nicht erstaunt, wenn ihre Erziehung mehr auf Eitelkeiten als auf den Geist ausgerichtet gewesen wäre.«

»Wenn das so ist, wird es eine Überraschung für ihre Familie sein«, sagt die Äbtissin und pariert sanft den angedeuteten Vorwurf in diesem Urteil. »Sie genießen einen exzellenten Ruf in Mailand. Einen der besten.«

»Sie hat bei der Komplet auch nicht gesungen– sie hat nicht einmal den Mund geöffnet.«

»Vielleicht sind ihr die Texte nicht vertraut«, sagt Zuana leise. »Nicht alle Neuankömmlinge kennen sie.«

»Selbst jene ohne Stimme sind in der Lage, die Worte laut zu lesen«, erwidert Umiliana scharf. Diese Spitze könnte sich vielleicht auf Zuana beziehen, vielleicht auch nicht– denn diese war damals völlig ohne musikalisches Gehör und in jeder Hinsicht unwissend im Kloster angekommen, ausgenommen ihre Heilmittel. »Man hat uns gesagt, ihr Gesang wäre wunderbar. Suora Benedicta war außer sich in der Erwartung ihrer Ankunft.«

»Das war sie in der Tat.« Die Äbtissin lächelt. »Obwohl ihr ein derartiger… übersteigerter Zustand nicht fremd ist, Ehre sei Gott. Und das Wohlergehen des Klosters ist ihr lieb und teuer. Die Hochzeit der Schwester des Herzogs bringt bereits adelige Besucher in unsere Kirche, und es wäre eine feine Sache, wenn dieser neue junge Singvogel seine Stimme rechtzeitig zum Fest der Agnes und zum Karneval wiederfindet. Wovon ich überzeugt bin.« Ihre Stimme ist jetzt bewusst beschwichtigend, weil die Novizenmeisterin offenbar aufgebracht ist. »Wir haben schon häufiger sehr unruhige Seelen in den Griff bekommen. Es ist kaum zwei Sommer her, seit die junge Carità ihre ersten Wochen in Tränen aufgelöst verbrachte. Und seht sie euch jetzt an: Sie ist die eifrigste Näherin im Kloster.«

Umiliana runzelt die Stirn, und ihr Gesicht wird noch verkniffener. In ihren Augen bringen Adelshochzeiten nur Ablenkung, und bei Suora Caritàs Berufung zu Stickarbeiten geht es ebenso sehr um Mode wie um den Trost des Betens. Es ist jedoch nicht die richtige Zeit, derartige Dinge zur Sprache zu bringen.

»Madonna Äbtissin? Wenn ich etwas vorschlagen dürfte…?« Und sie blickt zu Boden und lässt durchblicken, dass sie fortfahren wird, selbst wenn die Äbtissin es für angebracht halten sollte, sie zu unterbrechen. »Ich würde sie gerne für eine Weile von den übrigen Novizinnen trennen. Auf diese Weise hätte sie Zeit, über ihre Rebellion nachzudenken, und ihre Uneinsichtigkeit kann andere nicht anstecken.«

»Danke für diese Überlegung, Suora Umiliana.« Das Lächeln der Äbtissin folgt prompt und aufrichtig. »Ich bin jedoch zuversichtlich, dass unter Eurer Tutorenschaft nichts Derartiges passieren wird. Und eine Isolierung in diesem Stadium könnte sie möglicherweise eher aufregen als beruhigen.« Sie legt eine Pause ein. Zuana senkt den Blick. Sie hat ihn schon öfter erlebt, diesen stillen Autoritätskampf zwischen den beiden Frauen. »In der Tat denke ich, wir sollten auf jeden weiteren Unterricht verzichten, bis sie sich von den Nachwirkungen von Suora Zuanas Trank erholt hat.«

Zuana spürt, wie Umiliana erstarrt, obwohl ihr Gesichtsausdruck ungerührt bleibt. Innerhalb des Regelwerks der Benediktiner ist unverzüglicher Gehorsam wichtiger Bestandteil von Demut. »Wie Ihr wünscht, Madonna Chiara.«

»Ich denke, in diesem Stadium sollte nichts von dem, was letzte Nacht geschehen ist, diese vier Wände verlassen. Nach den letzten Zusammenkünften des Konzils von Trient mit den zahlreichen Weisungen und Vorschriften hat unser lieber Bischof wesentlich wichtigere Dinge zu tun, als sich um eine aufsässige Novizin zu kümmern. Vielleicht könntet Ihr das allen Novizinnen klarmachen, die Familienbesuche erwarten, Suora Umiliana.«

Die Novizenmeisterin neigt den Kopf und zögert dann, während sie auf ein Zeichen von Zuana wartet, woraufhin die beiden Nonnen den Raum gemeinsam verlassen werden.

»Oh– und Suora Zuana, würdet Ihr noch einen Moment bleiben? Ich muss mit Euch noch über Belange der Apotheke sprechen.«

Zuana hält den Blick gesenkt, bis die Tür sich geschlossen hat. Als sie aufblickt, ordnet die Äbtissin ihre Röcke und zieht ihren Umhang fester um sich. »Friert Ihr? Ihr könntet dichter ans Feuer kommen.«

Zuana schüttelt den Kopf. Der Schlafmangel macht sich allmählich bemerkbar, und sie braucht die Kühle, um geistig hellwach zu bleiben.

»Vielleicht solltet Ihr mir etwas über den Trank erzählen.«

»Es ist möglich, dass ich zu viel Mohnsirup hinzugefügt habe.« Sie erinnert sich an die Worte ihres Vaters. »Ein paar Tropfen mögen dir wenig erscheinen, aber sie können viel sein.«

»Nun, macht Euch nicht zu viele Vorwürfe. Sie hat schrecklichen Lärm gemacht, und ich hege Zweifel, ob Suora Umilianas Gebete allein sie hätten ruhigstellen können.«

»Ich habe Psalmen zitiert, während die Wirkung des Trankes einsetzte.«

»Tatsächlich? Welche denn?«

»Sie schrien zum Herrn in ihrer Bedrängnis, und er führte sie heraus aus ihren Ängsten…«

»…Er machte den Sturm zum säuselnden Hauch; da wurden die Wogen des Meeres still. Er brachte jene zum ersehnten Hafenplatz.«