Das Mädchen aus dem Lager – Der lange Weg der Cecilia Klein - Heather Morris - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Mädchen aus dem Lager – Der lange Weg der Cecilia Klein E-Book

Heather Morris

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach dem weltweiten Erfolg des Bestsellers »Der Tätowierer von Auschwitz« das neue Buch der Autorin Heather Morris

Ihre Schönheit rettete ihr das Leben – und wurde ihr zum Verhängnis

1942: Cecilia Klein ist sechzehn Jahre alt, als sie in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wird. Fasziniert von ihrer Schönheit, trennt der Kommandant des Lagers sie von den anderen Gefangenen und missbraucht sie regelmäßig. Cilka lernt schnell, dass ihre unfreiwillige Machtposition Überleben bedeutet. Doch nach der Befreiung von Auschwitz wird Cilka von den Russen als Kollaborateurin angeklagt und in das brutale Gefangenenlager Workuta in Sibirien geschickt. Dort steht sie vor neuen und gleichzeitig schrecklich vertrauten Herausforderungen. Unter unvorstellbaren Bedingungen muss sie die Kranken im Lager versorgen. Doch sie stellt auch fest, dass in ihrem Herzen trotz allem Elend noch Raum für Liebe ist.

»Die Vergangenheit gibt ihre Geheimnisse nie leicht preis. Aber Geschichten wie die von Cilka verdienen es, erzählt zu werden. Sie war nur ein kleines Mädchen, wurde dann aber zur mutigsten Person, die Lale Sokolov je getroffen hat.« Heather Morris

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.de

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Das Mädchen aus dem Lager – Der lange Weg der Cecilia Klein« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

Übersetzung aus dem Englischen von Elsbeth Ranke

© Heather Morris 2019Titel der englischen Originalausgabe:»Cilka’s Journey«, Zaffre, an imprint of Bonnier Books UK, London 2019© der deutschsprachigen Ausgabe:Piper Verlag GmbH, München 2020Redaktion: Kerstin KubitzCovergestaltung: FAVORITBUERO, München nach einem Entwurf von Michael StorringsCoverabbildung: IIdiko Neer/Arcangel; Francisco Goncalves/Getty Images; M Ede/Shutterstock.com

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Vorbemerkung der Autorin

Kapitel 1

KZ Auschwitz, 27. Januar 1945

KZ Auschwitz-Birkenau, Februar 1945

Gefängnis Montelupich, Krakau, Juli 1945

Kapitel 2

Ein Zug ins Arbeitslager WorkutLag, Sibirien, 160 Kilometer nördlich des Polarkreises, Juli 1945

Auschwitz, 1942

Kapitel 3

WorkutLag, Sibirien

Birkenau, Kommandantur, 1942

Kapitel 4

Auschwitz-Birkenau, 1943

Kapitel 5

Bardejov, Tschechoslowakei, 1940

Kapitel 6

Kapitel 7

Auschwitz-Birkenau, Sommer 1943

Kapitel 8

Kapitel 9

Auschwitz-Birkenau, 1944

Kapitel 10

Kapitel 11

Bardejov, Tschechoslowakei, 1942

Kapitel 12

Auschwitz-Birkenau, 1942

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Auschwitz-Birkenau, Winter 1943

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Auschwitz-Birkenau, 1944

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Auschwitz-Birkenau, 1943

Bardejov, Tschechoslowakei, 1941

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Bardejov, Tschechoslowakei, 1939

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

WorkutLag, Sibirien, Juni 1953

Kapitel 29

Auschwitz-Birkenau, 1944

Kapitel 30

Auschwitz-Birkenau, 1944

Kapitel 31

Kapitel 32

Auschwitz-Birkenau, 1944

Kapitel 33

Epilog

Košice, Tschechoslowakei, Januar 1961

Anmerkungen der Autorin Heather Morris

Zusatzinformationen

Nachwort von Owen Matthews

Workuta – die weiße Hölle

Dank

Haben Sie eine Geschichte zu erzählen?

Widmung

Meinen Enkeln Henry, Nathan, Jack, Rachel und Ashton.

 

Vergesst nie den Mut, die Liebe, die Hoffnung – ein Geschenk derer, die überlebt haben, und derer, die nicht überlebten.

Vorbemerkung der Autorin

Dieses Buch ist ein fiktives Werk auf Grundlage dessen, was ich aus erster Hand von Lale Sokolov, dem Tätowierer von Auschwitz, über Cecilia »Cilka« Klein erfahren habe, der er in Auschwitz-Birkenau begegnet ist; weitere Quellen waren andere Personen, die sie persönlich kannten, und meine eigene Recherche. Der Text verflicht Fakten und Berichte mit den Erfahrungen weiblicher Holocaustüberlebender und den Erlebnissen von Frauen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs in das sowjetische Gulag-System verschleppt wurden; dennoch handelt es sich um einen Roman und nicht um eine Dokumentation über Cilkas Leben. Die verschiedenen Protagonisten sind teils von Menschen, die tatsächlich gelebt haben, inspiriert (manchmal stehen sie dabei für mehr als ein Individuum), teils vollständig erfunden. Zu diesen grauenhaften Abschnitten unserer Geschichte gibt es viele Tatsachenberichte, und ich ermutige jeden interessierten Leser, sich damit zu beschäftigen.

Mehr Informationen über Cecilia Klein und ihre Familie sowie zum Gulag entnehmen Sie bitte dem Anhang zu diesem Roman. Ich hoffe, dass über Cilka und die, die sie einst kannten, nach der Veröffentlichung dieses Buchs noch weitere Details ans Licht kommen.

Heather Morris, Oktober 2019

Kapitel 1

KZ Auschwitz, 27. Januar 1945

Cilka starrt den Soldaten an, der vor ihr steht, ein Angehöriger der Infanterieeinheit, die ins Lager eingerückt ist. Er sagt etwas auf Russisch, dann auf Deutsch. Turmhoch überragt der Soldat das achtzehnjährige Mädchen. »Du bist frei.« Sie weiß nicht, ob sie diese Worte wirklich gehört hat. Die einzigen Russen, die sie bisher im Lager gesehen hat, waren ausgemergelte, halb verhungerte Kriegsgefangene.

Kann es wirklich sein, dass es Freiheit gibt? Kann dieser Albtraum vorüber sein?

Als sie nicht reagiert, beugt er sich herunter und legt ihr die Hände auf die Schultern. Sie fährt zusammen.

Schnell zieht er die Hände zurück. »Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken.« Er spricht weiter in stockendem Deutsch. Schüttelt den Kopf, offenbar kommt er zu dem Schluss, dass sie ihn nicht versteht. Mit einer weiten Handbewegung wiederholt er die Worte langsam. »Du bist frei. Du bist sicher. Wir sind die sowjetische Armee, und wir sind hier, um euch zu helfen.«

»Ich verstehe«, flüstert Cilka und zieht sich den Mantel enger um ihre schmale Gestalt.

»Verstehst du Russisch?«

Cilka nickt. Als Kind ist sie mit einem ostslawischen Dialekt in Berührung gekommen, dem Russinischen.

»Wie heißt du?«, fragt er sanft.

Cilka blickt auf in die Augen des Soldaten und sagt klar und deutlich: »Ich heiße Cecilia Klein, aber meine Freunde nennen mich Cilka.«

»Ein hübscher Name«, sagt er. Seltsam, einen Mann anzusehen, der nicht einer ihrer Peiniger ist und doch bei so guter Gesundheit. Seine hellen Augen, die runden Wangen, das blonde Haar, das unter seiner Mütze hervorsieht. »Woher kommst du, Cilka Klein?«

Die Erinnerung an ihr altes Leben ist verblasst, verschwommen. Irgendwann war es zu schmerzlich geworden, sich zu erinnern, dass es ihr früheres Leben mit ihrer Familie in Bardejov wirklich gegeben hat.

»Ich komme aus der Tschechoslowakei«, bringt sie mit brüchiger Stimme heraus.

KZ Auschwitz-Birkenau, Februar 1945

Cilka sitzt in der Baracke, so nahe wie möglich an dem einzigen Ofen, der etwas Wärme abgibt. Sie weiß, dass sie bereits aufgefallen ist. Die anderen halbwegs gesunden Frauen, auch ihre Freundinnen, wurden schon vor Wochen von der SS in Kolonnen aus dem Lager getrieben. Die verbliebenen Häftlinge sind zu Skeletten abgemagert, krank oder Kinder. Und dann ist da noch Cilka. Sie sollten alle erschossen werden, aber in der Hast, selbst wegzukommen, überließen die Nazis sie ihrem Schicksal.

Außer den Soldaten sind jetzt noch andere Offizielle hier – Beamte der Spionageabwehr, hat Cilka gehört, aber sie weiß nicht so genau, was das bedeutet –, um eine Sachlage zu regeln, für die die gemeinen Soldaten nicht ausgebildet sind. Sie haben die Aufgabe, Recht und Ordnung durchzusetzen und vor allem jede mögliche Bedrohung vom Sowjetstaat abzuwenden. Daher, so haben ihr die Soldaten gesagt, befragen sie alle Gefangenen, um den jeweiligen Haftgrund zu bestimmen und zu klären, ob sie mit den Nazis kollaboriert haben. Die fliehende deutsche Wehrmacht gilt als Staatsfeind der Sowjetunion, und jeder, der irgendeine Verbindung zu ihr hat, ist per se ein Feind der Sowjets.

Ein Soldat betritt die Baracke. »Mitkommen«, sagt er und zeigt auf Cilka. Gleichzeitig packt eine Hand ihren rechten Arm und zieht sie auf die Beine. Mehrere Wochen sind vergangen, und sie hat viele Male mit angesehen, wie andere aus der Baracke zum Verhör gebracht wurden. Jetzt ist eben sie an der Reihe. Sie ist achtzehn Jahre alt, und sie kann nur hoffen, dass man ihre Lage versteht: Um zu überleben, hatte sie keine andere Wahl, als zu tun, was sie getan hat. Das oder den Tod. Sie kann nur hoffen, dass sie bald zurück darf in ihre Heimat, die Tschechoslowakei, dass es irgendwie vorwärtsgeht.

Als sie in das Gebäude geführt wird, das die Sowjets als Kommandozentrale nutzen, versucht Cilka, den vier Männern zuzulächeln, die am anderen Ende des Raums sitzen. Schließlich sind sie hier, um ihre Peiniger zu bestrafen, nicht sie. Es ist eine gute Zeit, es gibt nichts mehr zu verlieren. Ihr Lächeln wird nicht erwidert. Ihr fällt auf, dass die Uniformen sich leicht von denen der Soldaten draußen unterscheiden. Blaue Schulterstücke an den Jacken, und auf den Mützen, die vor ihnen auf dem Tisch liegen, ein Band im selben Blauton mit einem roten Streifen.

Schließlich lächelt ihr einer von ihnen doch zu und spricht sie in freundlichem Ton an.

»Sagen Sie uns bitte Ihren Namen.«

»Cecilia Klein.«

»Woher kommen Sie, Cecilia? Land und Stadt.«

»Ich komme aus Bardejov in der Tschechoslowakei.«

»Geburtstag?«

»17. März 1926.«

»Seit wann sind Sie hier?«

»Seit dem 23. April 1942, kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag.«

Der Beamte stutzt, mustert sie.

»Das ist lange her.«

»Hier ist das eine Ewigkeit.«

»Was haben Sie seit April 1942 hier gemacht?«

»Überlebt.«

»Ja, aber wie haben Sie das angestellt?« Er legt den Kopf schief. »Sie sehen nicht ausgehungert aus.«

Cilka antwortet nicht, aber sie fährt sich mit der Hand ins Haar, das sie sich vor Wochen selbst abgeschnitten hat, als ihre Freundinnen weggebracht wurden.

»Haben Sie gearbeitet?«

»Meine Arbeit war, zu überleben.«

Die vier Männer wechseln Blicke. Einer von ihnen nimmt ein Blatt Papier und tut, als würde er es lesen, bevor er spricht.

»Wir haben hier einen Bericht über Sie, Cecilia Klein. Darin steht, dass Sie überlebt haben, indem Sie sich beim Feind prostituiert haben.«

Cilka bleibt stumm, schluckt, sieht von einem Mann zum anderen, versucht zu erraten, was sie damit sagen wollen, was für eine Antwort sie von ihr erwarten.

Jetzt redet ein anderer. »Die Frage ist ganz einfach. Hast du die Nazis gefickt?«

»Sie waren meine Feinde. Ich war hier eine Gefangene.«

»Aber hast du die Nazis gefickt? Unseren Informationen nach, ja.«

»Wie viele andere hier musste ich alles tun, was die Befehlshaber von mir wollten.«

Der erste Beamte steht auf. »Cecilia Klein, wir verlegen Sie fürs Erste nach Krakau; dort wird über Ihr weiteres Schicksal entschieden.« Er sieht ihr nicht mehr in die Augen.

»Nein«, entfährt es Cilka, während sie aufsteht. Das kann nicht wahr sein. »Das können Sie mir nicht antun! Ich bin ein Häftling hier.«

Einer der Männer, der bisher geschwiegen hat, fragt ganz ruhig: »Sprechen Sie Deutsch?«

»Ja, ein bisschen. Ich bin seit drei Jahren hier.«

»Und wie wir hören, noch viele weitere Sprachen, dabei kommen Sie aus der Tschechoslowakei.«

Cilka widerspricht nicht, hebt die Augenbrauen, versteht nicht, was das zur Sache tut. Sprachen hat sie in der Schule gelernt, andere hat sie im Alltag aufgeschnappt.

Die vier Männer wechseln wieder Blicke.

»Dass Sie mehrere Sprachen sprechen, deutet darauf hin, dass Sie ein Spion sein könnten und alles von hier an jeden weitergeben, der dafür bezahlt. Das werden wir in Krakau prüfen.«

»Sie können sich auf eine Verurteilung zur Zwangsarbeit gefasst machen«, bemerkt der erste Beamte.

Cilka braucht einen Moment, bis sie reagiert, und schon packt sie der Soldat, der sie hergebracht hat, am Arm, zerrt sie davon, während sie ihre Unschuld hinausschreit.

»Ich musste das tun, ich wurde vergewaltigt! Nein! Bitte!«

Doch die Soldaten reagieren nicht; es ist, als hörten sie sie nicht. Sie wenden sich der Nächsten zu.

Gefängnis Montelupich, Krakau, Juli 1945

Cilka hockt in der Ecke einer feuchten, stinkenden Zelle. Sie hat Mühe mitzuzählen, wie die Zeit vergeht. Tage, Wochen, Monate.

Sie spricht nicht mit den Frauen neben sich. Jede, die die Wärter beim Sprechen erwischen, wird hinausgeschafft und kommt mit blauen Flecken und zerrissenen Kleidern wieder. Still bleiben, klein bleiben, sagt sie sich, bis du weißt, was hier los ist und was man sagen und machen muss. Sie hat einen Streifen von ihrem Kleid abgerissen und ihn sich über Mund und Nase gebunden, um den Gestank von menschlichen Ausdünstungen, Kot und Verwesung zu lindern.

Eines Tages holen sie sie aus der Zelle. Sie ist so schwach vor Hunger und erschöpft von der ständigen Wachsamkeit, dass ihr die Gestalten der Wärter und die Mauern und Böden schwerelos vorkommen wie in einem Traum. Sie steht hinter anderen Gefangenen in einem Korridor Schlange, langsam geht es auf eine Tür zu. Kurz kann sie sich an eine warme, trockene Mauer lehnen. Sie heizen die Korridore für die Wärter, nicht aber die Zellen. Und obwohl es draußen jetzt warm sein muss, scheint das Gefängnis die Kälte der Nacht aufzusaugen und den ganzen Tag über nicht loszulassen.

Als Cilka an der Reihe ist, betritt sie einen Raum, in dem hinter einem Tisch ein Beamter sitzt; sein Gesicht wird von einer einzelnen Lampe grünlich beleuchtet. Die Posten an der Tür bedeuten ihr, vor den Tisch zu treten.

Der Beamte blickt auf sein Blatt Papier.

»Cecilia Klein?«

Sie blickt sich um. Sie ist mit den drei stämmigen Männern allein im Raum. »Ja?«

Wieder blickt er nach unten und liest von seinem Schriftstück vor. »Sie werden wegen Zusammenarbeit mit dem Feind verurteilt, als Prostituierte und außerdem als Spionin. Ihre Strafe lautet auf fünfzehn Jahre Zwangsarbeit.« Er unterschreibt den Bogen. »Unterschreiben Sie hier, dass Sie verstanden haben.«

Cilka hat jedes Wort verstanden. Er hat deutsch gesprochen, nicht russisch. Ist das etwa ein Trick, fragt sie sich. Sie spürt die Blicke der Männer an der Tür. Sie weiß, dass sie etwas tun muss. Offenbar bleibt ihr nichts anderes übrig, als das Einzige zu tun, was sie tun kann.

Er dreht das Blatt Papier um und zeigt auf eine gepunktete Linie. Darüber ist etwas in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Wieder einmal steht sie vor derselben Alternative wie schon so oft in ihrem jungen Leben: entweder der schmale Pfad, der sich vor ihr öffnet, oder der Tod.

Der Beamte reicht ihr den Stift, dann sieht er gelangweilt zur Tür in Erwartung des Nächsten in der Schlange – er tut nur seine Arbeit.

Mit zitternden Fingern unterschreibt Cilka das Papier.

Erst als sie aus dem Gefängnis gebracht und auf einen Laster gestoßen wird, merkt sie, dass der Winter vorbei ist, der Frühling nie existiert hat, dass Sommer ist. Zwar ist die Wärme Balsam für ihren durchgefrorenen, ihren immer noch lebendigen Körper, doch das helle Licht tut ihr in den Augen weh. Noch bevor sie Gelegenheit hat, sich auf all das einzustellen, hält der Laster mit einem Ruck. Da, vor ihr, steht wieder ein Zug – ein rot angestrichener Viehwaggon.

Kapitel 2

Ein Zug ins Arbeitslager WorkutLag, Sibirien, 160 Kilometer nördlich des Polarkreises, Juli 1945

Der Boden des Waggons ist mit Stroh ausgelegt, und jede Gefangene versucht, sich einen kleinen Fleck zum Sitzen zu sichern. Ältere Frauen jammern, Babys wimmern. Die Geräusche leidender Frauen – eigentlich hatte Cilka gehofft, sie müsste das nie wieder hören. Vier Stunden lang steht der Zug im Bahnhof, die Hitze macht den Raum zu einem Backofen. Der gemeinsame Wassereimer ist bald geleert. Die Schreie der Babys werden kläglich und trocken; die alten Frauen wiegen sich nur noch in Trance. Cilka hat sich an einer Wand niedergelassen und genießt den spärlichen Luftzug, der durch die schmalen Ritzen dringt. Von der Seite lehnt sich eine Frau an sie, und gegen ihre aufgestellten Knie drückt ein Rücken. Sie wehrt sich nicht. Wozu kämpfen um Platz, den es nicht gibt.

Cilka kann durch die Ritzen erkennen, dass es dunkel ist, als der Zug seine ersten ruckenden Bewegungen macht; die Maschinen haben Mühe, die lange Wagenreihe von Krakau wegzuschleppen, weg, so scheint es, von jeder Hoffnung, je wieder nach Hause zu kommen.

Nur einen Moment der Hoffnung hatte sie sich gegönnt, als sie dort in dieser Baracke saß und wartete. Wie hatte sie das wagen können. Bestrafung ist ihr Schicksal. Vielleicht verdient sie sie ja. Aber als der Zug Fahrt aufnimmt, schwört sie sich, dass sie niemals wieder an einem Ort wie Block 25 enden wird.

Es muss andere Möglichkeiten geben zu überleben, als Zeuge von so viel Tod zu werden.

Wird sie je erfahren, ob die Freundinnen, die zum Marsch aus dem Lager getrieben wurden, es in die Sicherheit geschafft haben? Sie müssen. Einen anderen Gedanken kann sie nicht ertragen.

Als das regelmäßige Rattern des Zugs die Kinder und Babys in den Schlaf gewiegt hat, dringt durch die Stille der Aufschrei einer jungen Mutter, die ein abgezehrtes Kind im Arm hält. Das Kind ist tot.

Cilka fragt sich, was die anderen Frauen getan haben, um hier zu enden. Sind sie auch Juden? Die meisten Frauen im Gefängnis waren keine, wie sie aus verschiedenen Gesprächsbrocken geschlossen hat. Sie fragt sich, wohin sie fahren. Wie durch ein Wunder nickt sie ein.

Der Zug bremst so plötzlich, dass die Insassen durcheinanderpurzeln. Köpfe schlagen an, Glieder werden gezerrt, die Leute schreien vor Schmerz. Cilka fängt sich ab, indem sie sich an der Frau festhält, die sich die ganze Nacht an sie gelehnt hat.

»Wir sind da«, sagt jemand. Aber wo ist »da«?

Weiter vorn am Zug hört Cilka das Rattern von Toren, aber sie hat das Gefühl, dass niemand aussteigt. Mit Schwung schiebt jemand ihr Wagentor auf. Wieder wird Cilka von hellem Sonnenlicht geblendet.

Draußen stehen zwei Männer. Einer reicht einen Eimer Wasser in ausgestreckte Hände. Der zweite Soldat wirft mehrere Brote herein, dann kracht das Tor wieder zu. Erneut sitzen sie im Halbdunkel. Ein Handgemenge, weil die Frauen sich um die Brote balgen. Für Cilka eine allzu bekannte Szene. Die Schreie werden lauter, bis endlich eine ältere Frau aufsteht, die Hände hebt, nichts sagt; aber auch im Halbdunkel füllt sie den Raum mit ihrer Kraft. Alle verstummen.

»Wir teilen«, sagt sie; in ihrer Stimme liegt Autorität. »Wie viele Laibe haben wir?« Fünf Hände gehen hoch und zeigen, wie viele Brote sie haben.

»Gebt zuerst den Kindern, und den Rest teilen wir. Wenn eine nichts abbekommt, ist sie nächstes Mal die Erste. Einverstanden?« Die Frauen mit dem Brot reißen kleine Stücke ab und reichen sie den Müttern. Cilka geht leer aus. Sie ist aufgewühlt. Sie weiß nicht, ob es die beste Idee ist, das Essen den Kindern zu geben, falls der Ort, an den sie fahren, so ist wie der, an dem sie war. Die reine Verschwendung. Sie weiß, dass es ein furchtbarer Gedanke ist.

Mehrere Stunden lang steht der Zug still. Die Frauen und Kinder verstummen wieder.

Diesmal zerreißt der Schrei eines Mädchens die Stille. Als ihre Nachbarinnen sie beruhigen und versuchen herauszufinden, was los ist, reckt sie schluchzend eine blutige Hand hoch. Cilka sieht sie im flimmernden Licht, das durch die Ritzen dringt.

»Ich sterbe.«

Die Frau direkt neben ihr sieht auf das Blut, das ihr Kleid befleckt.

»Sie hat ihre Regel«, sagt sie. »Alles in Ordnung, sie stirbt nicht.« Das Mädchen schluchzt weiter.

Das Mädchen an Cilkas Beinen – es ist etwas jünger und trägt ein ähnliches Kleid – richtet sich auf und ruft: »Wie heißt du?«

»Ana«, wimmert das Mädchen.

»Ana, ich bin Józia. Wir kümmern uns um dich«, sagt sie und blickt sich im Waggon um. »Oder?«

Die anderen nicken murmelnd.

Eine der Frauen nimmt das Gesicht des Mädchens zwischen die Hände und hält es vor ihres.

»Hattest du noch nie deine Regel?«

Das Mädchen schüttelt den Kopf. Die ältere Frau zieht sie zu sich an die Brust, wiegt sie, beruhigt sie. Cilka spürt eine merkwürdige Sehnsucht.

»Du stirbst nicht; du wirst eine Frau.«

Ein paar Frauen reißen schon Stoffstreifen vom Saum ihrer Kleider und reichen sie der Helferin.

Der Zug rumpelt vorwärts, Józia rutscht auf den Boden. Ihr entfährt ein kleines Kichern. Unwillkürlich kichert Cilka mit. Ihre Blicke kreuzen sich. Józia sieht ein bisschen aus wie ihre Freundin Gita. Dunkle Brauen und Wimpern, ein kleiner, hübscher Mund.

Viele Stunden später hält der Zug wieder. Wasser wird unsanft hereingeschoben, und Brot kommt angeflogen. Diesmal wird beim Halt genauer kontrolliert, und die junge Mutter muss ihr totes Baby an die Soldaten abgeben. Man muss sie mit Gewalt im Waggon zurückhalten, damit sie nicht ihrem Kind hinterherstürzt. Als sich das Tor krachend schließt, verstummt sie; die anderen helfen ihr in eine Ecke, wo sie sich ihrer Trauer überlässt.

Cilka sieht, wie genau das Mädchen, das an ihren Knien lehnt, seit sie den Zug bestiegen haben, das alles beobachtet, die Hand vor dem Mund. »Józia, richtig?«, fragt sie. Sie spricht Polnisch, die Sprache, die sie sie hat reden hören.

»Ja.« Langsam dreht Józia sich um, sodass sie Knie an Knie sitzen.

»Ich bin Cilka.«

Ihr Gespräch scheint Frauen um sie herum zu ermutigen. Cilka hört auch andere ihre Nachbarinnen nach dem Namen fragen, und bald wird überall im Waggon leise geflüstert. Sprachen werden identifiziert, Plätze getauscht, damit Landsleute nebeneinandersitzen können. Die Frauen erzählen sich gegenseitig ihre Geschichten. Einer Frau wurde vorgeworfen, sie habe mit den Deutschen kollaboriert, indem sie ihnen in ihrer polnischen Bäckerei Brot verkaufte. Eine andere wurde verhaftet, weil sie deutsche Propaganda übersetzte. Wieder eine andere wurde von den Nazis festgenommen, und da sie mit ihnen gemeinsam in Gefangenschaft geriet, wurde sie der Spionage für sie bezichtigt. Es ist unglaublich, aber es gibt lautes Gelächter – und Tränen –, während jede Frau zum Besten gibt, wie sie in diese missliche Lage geraten ist. Einige Frauen bestätigen, dass der Zug auf dem Weg zu einem Arbeitslager ist, aber wo es liegt, wissen sie nicht.

Józia erzählt Cilka, dass sie aus Krakau kommt und sechzehn Jahre alt ist. Cilka öffnet den Mund, um von sich zu berichten, aber ehe sie dazu kommt, erklärt eine Frau in der Nähe lautstark: »Ich weiß, warum sie hier ist.«

»Lass sie in Ruhe«, mahnt die kräftige ältere Frau, die dafür gesorgt hatte, dass das Brot geteilt wurde.

»Aber ich habe sie gesehen, im Pelzmantel mitten im Winter, während wir am Erfrieren waren.«

Cilka schweigt. Im Nacken spürt sie ein Brennen. Sie hebt den Kopf und sieht der Frau gerade in die Augen. Die Frau hält ihrem Blick nicht stand. Sie kommt ihr vage bekannt vor. War sie nicht auch eine der Langzeithäftlinge in Birkenau? Hatte sie nicht einen warmen, bequemen Arbeitsplatz im Verwaltungsgebäude?

»Und du, wenn du ihr Vorwürfe machst«, sagt die ältere Frau, »was bringt dich denn in diesen luxuriösen Zug auf Urlaubsfahrt?«

»Nichts, ich habe nichts getan«, grummelt die Frau leise.

»Wir haben alle nichts getan«, erklärt Józia zur Verteidigung ihrer neuen Freundin.

Mit zusammengebissenen Zähnen wendet sich Cilka von der Frau ab.

Sie spürt Józias freundlichen, tröstenden Blick auf ihrem Gesicht und wirft ihr ein schwaches Lächeln zu, bevor sie den Kopf zur Wand dreht. Sie schließt die Augen und versucht, die plötzliche Erinnerung an Schwarzhuber abzublocken – den Schutzhaftlagerführer in Birkenau –, wie er in diesem kleinen Raum über ihr steht, sich den Gürtel aufschnallt, und hinter der Wand das Weinen von Frauen.

 

Beim nächsten Halt des Zuges bekommt Cilka ihre Ration Brot. Instinktiv isst sie nur die Hälfte davon und steckt sich den Rest in den Ausschnitt. Sie blickt sich um, fürchtet, jemand könnte es gesehen haben und versuchen, es ihr wegzunehmen. Wieder wendet sie das Gesicht der Wand zu, schließt die Augen.

Irgendwie schläft sie.

Als sie wieder wach wird, erschrickt sie, so nahe beugt sich Józia über sie. Józia streckt die Hand aus und berührt Cilkas kurz geschorene Haare. Cilka versucht, dem Reflex zu widerstehen, sie wegzuschieben.

»Ich mag deine Haare«, sagt die traurige, müde Stimme.

Entspannter reckt auch Cilka die Hand und fährt der Jüngeren über die Haarstoppeln.

»Ich mag deine auch.«

Cilka ist im Gefängnis frisch geschoren und entlaust worden. Für sie ist das eine vertraute Prozedur, denn sie hatte es dort so oft bei Gefangenen mitbekommen, aber für Józia dürfte sie wohl neu sein.

Um nur irgendwie das Thema zu wechseln, fragt sie: »Bist du mit jemandem zusammen hier?«

»Mit meiner Großmutter.«

Cilka folgt Józias Blick zu der älteren Frau, die sich vorhin zu Wort gemeldet hat und immer noch einen Arm um Ana, das junge Mädchen, gelegt hat. Sie beobachtet sie beide genau. Kurz nicken sie einander zu.

»Vielleicht willst du näher zu ihr rücken«, sagt Cilka.

Dort, wo sie hinfahren, könnte es sein, dass die ältere Frau nicht lange durchhält.

»Sollte ich wohl. Vielleicht hat sie Angst.«

»Stimmt. Ich habe auch Angst«, sagt Cilka.

»Wirklich? Du wirkst gar nicht ängstlich.«

»Bin ich aber. Wenn du wieder reden willst, ich bin hier.«

Józia steigt vorsichtig über und um die anderen Frauen herum, die zwischen Cilka und ihrer Großmutter hocken. Cilka späht weiter durch die Lichtschlitze in der Wagenwand. Ein kleines Lächeln huscht ihr über das Gesicht, als sie sieht und spürt, wie die Frauen zur Seite rücken, um ihrer neuen Freundin Platz zu machen.

 

»Neun Tage, glaube ich. Ich zähle mit. Wie lange noch?«, murmelt Józia vor sich hin.

Im Waggon ist jetzt etwas mehr Platz. Cilka hat mitgezählt, wie viele gestorben sind, weil sie krank waren, verhungert oder verwundet von ihren früheren Verhören, wie viele Leichen hinausgetragen wurden, wenn der Zug für Brot und Wasser hielt. Elf Erwachsene, vier Kinder. Manchmal wird etwas Obst hereingeworfen mit dem trockenen Brot, das die Mütter ihren Kindern im eigenen Mund aufweichen.

Józia hat sich neben Cilka zusammengerollt, ihr Kopf liegt auf Cilkas Schoß. Sie schläft unruhig. Cilka ahnt, was für Bilder ihr durch den Kopf jagen. Vor ein paar Tagen ist ihre Großmutter gestorben. Sie hatte so stark und mutig gewirkt, aber dann hatte sie zu husten angefangen. Es wurde immer schlimmer, irgendwann zitterte sie, schließlich verweigerte sie ihre Essensration. Und dann hörte sie auf zu husten.

Cilka sah Józia stumm am Wagentor stehen, als der Leichnam ihrer Großmutter grob zu den wartenden Posten hinuntergestoßen wurde. Es tat Cilka so weh, dass sie sich krümmte, keine Luft mehr bekam. Aber es kam kein Laut – und keine Tränen.

Auschwitz, 1942

Hunderte Mädchen werden an einem heißen Sommertag von Auschwitz nach Birkenau getrieben. Vier Kilometer. Ein langsamer, qualvoller Marsch für viele, die schlecht sitzende Stiefel tragen oder, schlimmer noch, gar keine Schuhe. Als sie durch das hoch aufragende Backsteintor treten, sehen sie Bauarbeiten für Baracken. Die Männer, die dort arbeiten, halten inne und starren die Neuankömmlinge entsetzt an. Cilka und ihre Schwester Magda sind seit etwa drei Monaten in Auschwitz, wo sie gemeinsam mit anderen slowakischen Mädchen arbeiten.

Von der großen Lagerstraße biegen sie in eine eingezäunte Zone ein, in der mehrere Baracken fertiggestellt, andere noch im Bau sind. Sie müssen anhalten und in der sengenden Sonne Schlange stehen; es kommt ihnen wie Stunden vor.

Von hinten hören sie Bewegung. Cilka blickt über die Schulter zum Eingang des Frauenlagers und sieht einen hochrangigen SS-Mann mit Gefolge an den Reihen von Mädchen entlanggehen. Die meisten Mädchen halten den Kopf gesenkt. Nicht so Cilka. Sie will sehen, wer sich so vor einer Gruppe unbewaffneter, wehrloser Mädchen schützen muss.

»Obersturmführer Schwarzhuber«, grüßt einer der Wachleute. »Sie überwachen heute die Selektion?«

»Ja.«

Der SS-Mann schreitet weiter die Schlange von Mädchen und Frauen ab. Vor Cilka und Magda bleibt er kurz stehen. Als er am Ende der Reihe angekommen ist, dreht er sich um und kommt zurück. Diesmal kann er die gesenkten Gesichter sehen. Hin und wieder hebt er mit seinem Schlagstock das Kinn eines Mädchens an.

Er kommt näher. Bleibt vor Cilka stehen, Magda ist hinter ihr. Er bewegt den Stock. Cilka kommt ihm zuvor und hebt das Kinn, sieht ihm direkt ins Gesicht. Wenn sie ihn auf sich aufmerksam macht, wird er ihre Schwester übersehen. Er greift nach ihrem linken Arm, studiert wohl die verblasste Nummer auf ihrer Haut. Cilka hört Magda hinter sich schwer atmen. Schwarzhuber lässt ihren Arm fallen, geht wieder an den Anfang der Schlange, und Cilka hört ihn mit dem SS-Mann neben ihm reden.

 

Wieder wurden sie sortiert. Links, rechts; klopfende Herzen, vor Angst verkrampfte Körper. Cilka und Magda wurden erwählt, noch einen Tag weiterzuleben. Jetzt stehen sie Schlange, um noch einmal schmerzhaft gezeichnet zu werden – ihre Tätowierungen werden nachgefärbt, damit sie nie mehr verblassen. Sie stehen nahe beieinander, berühren sich aber nicht, obwohl sie nichts lieber tun würden, als einander beizustehen. Sie flüstern nur – Worte des Trosts, der Ungewissheit.

Cilka zählt, wie viele Mädchen vor ihr stehen. Fünf. Bald ist sie an der Reihe, dann Magda. Wieder wird sie jemandem ihren linken Arm hinhalten, der die undeutlichen blauen Zahlen in ihre Haut stechen wird. Ihre erste Markierung bekam sie vor drei Monaten bei ihrer Ankunft in Auschwitz, und jetzt wieder nach ihrer erneuten Selektion für das neue Lager, Auschwitz II – Birkenau. Sie erschaudert. Es ist Sommer, die Sonne brennt auf sie herab. Sie hat Angst vor dem Schmerz, der ihr bevorsteht. Beim ersten Mal hatte sie vor Entsetzen aufgeschrien. Diesmal nimmt sie sich fest vor zu schweigen. Zwar ist sie immer noch erst sechzehn, aber sie kann sich nicht länger wie ein Kind benehmen.

An den anderen Mädchen in der Schlange vorbei späht sie zum Tätowierer. Er sieht dem Mädchen, dessen Arm er hält, in die Augen. Sie sieht ihn einen Finger auf die Lippen legen, schsch. Er lächelt ihr zu. Er sieht zu Boden, als das Mädchen weitergeht, dann blickt er auf und sieht ihm nach. Er nimmt den Arm des nächsten Mädchens in der Reihe und sieht nicht mehr, wie das vorige Mädchen sich nach ihm umdreht.

Vier. Drei. Zwei. Eine. Jetzt ist sie an der Reihe. Kurz sieht sie aufmunternd zu Magda hinter sich, dann tritt sie vor. Sie steht vor dem Tätowierer, mit hängenden Armen. Er greift vorsichtig nach ihrem linken Arm und hebt ihn an. Zu ihrer eigenen Verwunderung zieht sie ihn zurück, fast unbewusst, sodass er sie ansehen, ihr in die Augen blicken muss, in denen, sie weiß es, die Angst steht, die Abscheu davor, schon wieder verunstaltet zu werden.

»Es tut mir leid. Es tut mir so leid«, flüstert er ihr freundlich zu. »Bitte, gib mir deinen Arm.«

Sekunden vergehen. Er versucht nicht, sie anzufassen. Sie hebt den Arm und hält ihn ihm hin.

»Danke«, sagt er lautlos. »Es geht ganz schnell.«

Während ihr das Blut über den Arm tropft – allerdings weniger als letztes Mal –, flüstert Cilka: »Sei vorsichtig bei meiner Schwester«, bevor sie so langsam wie möglich weitergeht, damit Magda gleich aufholen kann. Neugierig hält sie nach dem Mädchen Ausschau, das vor ihr dran war. Sie blickt sich nach dem Tätowierer um. Er hat ihr nicht nachgesehen. Sie sieht das Mädchen, das fünf Plätze vor ihr gewesen war, vor Block 29 stehen und tritt zu ihm und den anderen, die auf ihre Einweisung in ihre »Wohnung« warten. Sie mustert das Mädchen. Selbst mit dem geschorenen Schädel und dem plumpen Kleid, das alles verbirgt, was sie vielleicht an Kurven hat oder einmal hatte, ist sie hübsch. Ihre großen, dunklen Augen zeigen nichts von der Verzweiflung, die Cilka schon so oft gesehen hat. Sie will dieses Mädchen kennenlernen, das den Tätowierer dazu gebracht hat, ihm nachzusehen. Bald kommt Magda nach, sie wimmert unter dem Schmerz der Tätowierung. Im Moment kann kein Wachmann sie sehen, und Cilka umklammert die Hand ihrer Schwester.

Als die Mädchen in Block 29 an diesem Abend ein bisschen Platz auf einer Pritsche finden, die sie mit mehreren anderen teilen müssen, und einander vorsichtig fragen, woher sie kommen, erfährt Cilka, dass das Mädchen Gita heißt. Sie kommt aus einem Dorf in der Slowakei, gar nicht sehr weit entfernt von Cilkas und Magdas Heimatstadt Bardejov. Gita stellt Cilka und Magda ihren Freundinnen Dana und Iwanka vor.

Am nächsten Tag nach dem Appell werden die Mädchen an ihre Arbeitsplätze geschickt. Cilka kommt nicht wie die anderen zur Arbeit ins Kanada, wo sie die Habseligkeiten, den Schmuck und die Erbstücke sortieren, die die Gefangenen nach Auschwitz mitbringen, und sie für den Versand nach Deutschland fertig machen. Aufgrund einer Sonderanweisung soll sie sich im Verwaltungsgebäude melden, wo sie arbeiten wird.

Kapitel 3

WorkutLag, Sibirien

Es wird kälter. Nicht auf einen Schlag, eher nach und nach; sie spüren es in der Nacht, plötzlich merken Cilka und die anderen, dass sie sich eng aneinanderkuscheln. Sie tragen alle Sommerkleidung. Cilka weiß nicht, welcher Monat es ist, sie vermutet, August oder September, und sie weiß nicht, wohin sie fahren; allerdings wird bei den Halten russisch gesprochen.

Ein Tag geht in den anderen über. Krankheiten machen sich im Waggon breit. Schreckliche Hustenanfälle rauben den Frauen die wenige Energie, die sie noch haben. Die Wortwechsel werden seltener und kürzer. Bei den letzten paar Halten hatten Männer aus Mitleid mit der Ladung ihre eigenen Kalsony, wie sie sie nannten, ausgezogen und zu ihnen hineingeworfen. Cilka und Józia hatten diese weiten, noch warmen Unterhosen über ihre frierenden Beine gezogen und den Männern dankbar zugewinkt.

Drei Tage nach dem letzten Halt kommt der Zug quietschend zum Stehen, und die schweren Tore werden aufgeschoben. Vor ihnen liegt eine weite, leere Landschaft aus Morast und gelbgrünem Gras.

Diesmal werden sie nicht nur von einem oder zwei Posten begrüßt. Über die ganze Länge des Zuges verteilen sich Dutzende Uniformierte mit Gewehren.

»Na wychod!«, rufen sie. Aussteigen!

Während sich die Frauen auf die Füße rappeln und viele von ihnen zusammensacken, weil ihre Beine sie nicht mehr tragen, brüllen sie immer weiter.

Cilka und Józia treten zum ersten Mal seit Wochen nach draußen und stellen sich zu den anderen. Sie haken zwei ältere Frauen unter, die kaum stehen können. Keiner muss ihnen sagen, was sie tun sollen; vorn bildet sich eine Schlange, sie wissen, wohin es geht. In der Ferne sehen sie ein paar karge Gebäude über die weite, flache Ebene verteilt. Wieder ein Lager, denkt Cilka, umgeben vom Nichts. Doch der Himmel hier ist anders – ein unglaublich weites Graublau. Sie trotten mit den anderen vorwärts in Richtung der Bauten. Cilka versucht, die Waggons zu zählen, manche spucken Männer aus, manche Frauen und Kinder; Menschen jeden Alters in verschiedenen Stadien von Krankheit und Elend. Manche waren von Anfang an im Zug, andere sind unterwegs dazugekommen.

Für Cilka steht die Zeit still, als sie sich an einen früheren Marsch erinnert, den Marsch dorthin. Die Kolonne damals führte in ein Leben ohne ein bestimmtes Ende. Diesmal kennt sie das Ende der Frist, falls sie so lange überleben sollte. Fünfzehn Jahre. Wird die Arbeit erträglicher, wenn man ein Ende kennt? Kann man überhaupt an ein Ende glauben?

Kurz darauf steht Cilka vor einer korpulenten Frau in einer dicken kakifarbenen Uniform. Ihre eigene Kleidung ist für dieses Wetter immer noch zu dünn. Sie müssen weit im Norden sein. Sie spürt kaum ihre Hände und Füße.

»Imja, familija?«, bellt die Frau Cilka an und prüft eine Liste auf einer einfachen Schreibunterlage. Vorname, Nachname.

»Cecilia Klein.«

Als ihr Name abgehakt ist, betritt Cilka mit den anderen einen breiten Betonbunker. Sofort geht ihr Blick an die Decke und sucht nach unheilvollen Duschköpfen. Wasser oder Gas? Die Erleichterung, nichts Bedrohliches zu sehen, macht ihr die Knie weich; sie muss sich an Józia festhalten.

»Alles in Ordnung?«, fragt Józia.

»Ja, ja, schon gut. Ich dachte, wir müssten vielleicht duschen.«

»Ich würde gern duschen – genau das bräuchten wir.«

Cilka zwingt sich zu einem Lächeln. Zwecklos zu erklären, was sie befürchtet hatte. Angesichts der Verblüffung auf den Gesichtern rundum ahnt sie, dass wohl erst wenige von ihnen schon etwas Ähnliches durchgemacht haben. Nur Überlebende von dort oder aus anderen Lagern tragen die Last des Wissens darüber, was ihnen womöglich allen bevorsteht.

Während sich der Raum füllt, treten mehrere männliche Wachen ein. »Ausziehen. Sofort.«

Frauen sehen sich hilflos um. In verschiedenen Sprachen wird geflüstert, und erst als mehrere langsam anfangen, ihre Kleider abzulegen, begreifen sie.

Cilka raunt Józia zu: »Du musst dich ausziehen.«

»Nein, Cilka. Das kann ich nicht, nicht vor Männern.«

Offenbar hat Józia im Gefängnis nur den Kopf rasiert bekommen und nicht den ganzen Rest. Cilka weiß, dass gleich sämtliche Haare an ihren Körpern geschoren werden.

»Hör zu. Du musst tun, was sie dir sagen.«

Cilka fängt an, die Knöpfe an Józias Kleid aufzuknöpfen. Józia schiebt verunsichert ihre Hand weg, blickt sich nach den anderen Frauen um, die zum Teil noch angezogen sind, zum Teil bereits nackt. Die meisten halten sich die Hände vor die Scham und über die Brüste. Langsam fängt Józia an, sich auszuziehen.

»Beeil dich«, sagt Cilka. »Lass deine Kleider einfach fallen.«

Cilka sieht auf zu den Männern an den Türen, die Kommandos brüllen. Bei ihrem Grinsen und Lästern wird ihr übel. Sie sieht auf das Häufchen Kleider zu ihren Füßen. Sie weiß, dass sie die Sachen nicht wiedersehen wird.

Die Männer an den Türen verschwinden, als vier andere Wachleute hereintreten, jeder mit einem dicken Schlauch in der Hand. Der enorme Druck des eiskalten Wasserstrahls trifft die Frauen mit voller Wucht, unter Heulen und Schreien werden sie niedergerissen, zu Haufen zusammengetrieben. Als der Chlorgeruch überhandnimmt, wird aus dem Geschrei ein Würgen und Husten.

Cilka wird an eine rissige Fliesenwand geschmettert, an der sie sich den Arm aufschürft, während sie zu Boden geht. Sie sieht, wie die Wachleute genüsslich auf ältere, gebrechliche Frauen zielen, die sich ihnen fest entgegenzustemmen versuchen. Alle verlieren den Kampf. Cilka rollt sich wie ein Baby zusammen und bleibt in dieser Haltung, bis das Wasser abgestellt wird und die Wachen lachend abziehen.

Als die Frauen sich hochrappeln und zur Tür schlurfen, greifen manche nach einem tropfnassen Kleidungsstück, um sich zu bedecken. Beim Ausgang erhält jede ein dünnes graues Tuch, in das sie sich einwickelt. Barfuß auf dem kiesigen, kalten Boden gehen sie zum nächsten Betongebäude, das genauso aussieht wie das vorige.

Cilka sieht Józia vor sich und holt sie schnell ein.

»Geben sie uns jetzt neue Kleider?«, fragt Józia.

Sie wirkt abgespannt, zutiefst niedergeschlagen. Dabei wird es noch viel schlimmer kommen, denkt Cilka. Vielleicht kann sie sie für den Moment aufmuntern.

»Ich hoffe – Grau steht mir nicht besonders.« Cilka freut sich, als Józia den Mund zu einem kurzen Grinsen verzieht.

Grob werden sie in vier Reihen gedrängt; von innen dringt Protestgeschrei zu den Wartenden. Mehrere Frauen brechen schockiert aus der Reihe aus – sie werden zur Zielscheibe für die Wachen mit ihren Gewehren. Zwar schießen sie daneben, aber die Hast, in der die Frauen mit einem Satz in die Reihe zurückspringen, ist für die Uniformierten beste Unterhaltung.

Cilka spürt Józia neben sich zittern.

Als Cilka und Józia das Gebäude betreten, sehen sie, was mit den Frauen vor ihnen geschieht. Vier Männer stehen hinter vier Stühlen. Daneben mehrere kräftige Frauen, ebenfalls in kakifarbenen Uniformen.

Jetzt tritt die Frau vor ihr vor und muss sich auf einen Stuhl setzen. Die Haare der Frau werden grob zusammengerafft und mit einer großen Schere auf einmal abgeschnitten. Ohne Zeit zu verlieren, greift der Mann statt zur Schere jetzt zum Rasierer und schabt der Frau damit über den Schädel. Blut tropft ihr über Gesicht und Rücken. Eine der Frauen neben ihr wird auf die Füße gezerrt, muss sich umdrehen und einen Fuß auf den Stuhl stellen. Entsetzt sehen Józia und Cilka mit an, wie der Mann ihr ohne erkennbare Emotion und besondere Vorsicht die Scham rasiert. Als er zum Zeichen, dass er fertig ist, den Kopf hebt, schiebt die Wachfrau die Gefangene weg und winkt Józia heran.

Cilka wechselt schnell in die Nachbarschlange, damit sie als Nächste rasiert wird. So kann sie während dieser Demütigung wenigstens neben Józia stehen; sie selbst hat das alles schon mitgemacht. Gemeinsam gehen sie zu den Stühlen. Ohne Anweisung setzen sie sich. Cilka schaut so viel wie möglich zu Józia, steht ihr wortlos bei; es tut ihr in der Seele weh, die Tränen über ihre Wangen laufen zu sehen. Sie weiß, dass das junge Mädchen zum ersten Mal einer so brutalen Behandlung ausgesetzt ist.

Als die Köpfe geschoren sind, steht Józia zu langsam auf, und eine der Wachfrauen klatscht ihr mit dem Handrücken ins Gesicht, während sie auf die Füße gezerrt wird. Cilka stellt den Fuß auf den Stuhl und blickt dem Mann vor ihr in die Augen. Er reagiert mit einem dünnen, zahnlosen Lächeln, und sie weiß, dass sie einen Fehler gemacht hat.

Als Cilka und Józia weitergehen, bedeckt nur mit ihrem grauen Tuch, rinnt Cilka Blut über den Schenkel – ihre Strafe dafür, dass sie gewagt hat, tapfer zu sein. Józia muss sich übergeben; doch es kommen unter großem Würgen nur Galle und eine wässrige Flüssigkeit.

Sie folgen anderen durch einen langen Korridor.

»Was jetzt?«, schluchzt Józia.

»Ich weiß nicht. Aber egal, was kommt, streit nicht, kämpf nicht mit ihnen; versuch, unsichtbar zu sein, und tu, was dir gesagt wird.«

»Das rätst du mir? Einfach hinnehmen, egal was, alles hinnehmen?« Ihre Stimme wird lauter, Wut verdrängt die Scham.

»Józia, ich war schon einmal hier, vertrau mir.« Cilka seufzt. Doch gleichzeitig ist sie auch erleichtert über Józias Stärke und Trotz. Dieses Feuer wird sie an einem Ort wie diesem brauchen.

»Hat das etwas mit den Zahlen auf deinem Arm zu tun?«, fragt Józia.

Cilka sieht auf ihren linken Arm, der das Tuch über ihrem Körper hält – alle können ihre Tätowierung sehen.

»Ja, aber frag mich nie wieder danach.«

»Na gut«, sagt Józia. »Ich vertraue dir. Wenigstens schreit da vorn niemand, dann kann es so schlimm ja nicht sein, oder?«

»Hoffen wir, dass wir warme Kleider bekommen. Ich erfriere. Ich spüre meine Füße schon nicht mehr.« Cilka versucht, aufmunternd zu klingen.

Als sie am Ende des Korridors einen Raum betreten, liegen am Eingang Haufen von grauen Tüchern. Wieder stehen Wachfrauen mit ausdruckslosem Gesicht daneben. Dahinter hören sie männliche Stimmen.

»Ty moja«, du gehörst mir, hört Cilka einen Wachmann zu einer Frau direkt vor ihnen in der Schlange rufen. Die Frau dahinter, eine ältere, schlurft vor. Jetzt sind Cilka und Józia an der Reihe.

»Weiter mit dir, alte Hexe!«, schreit ein Posten die Frau an. Cilkas Herz rast. Was ist hier los?

»He, Boris, worauf wartest du?«

»Ich will sie erst mal sehen.«

Die Frau vor Cilka wendet sich mit einem mitleidigen Blick zu den jüngeren Mädchen um und flüstert: »Die Dreckskerle suchen sich aus, wen sie ficken wollen.« Sie betrachtet Cilka und Józia von oben bis unten. »Ihr werdet keine Probleme haben.«

»Was meint sie damit: Sie suchen uns aus?«, fragt Józia.

Cilka schüttelt ungläubig den Kopf. Geht das wirklich wieder von vorn los?

Sie wendet sich Józia zu, sieht ihr in die Augen. »Hör zu, Józia. Wenn einer der Männer dich aussucht, geh mit ihm.«

»Warum? Was will er von mir?«

»Er will deinen Körper.«

Hoffentlich kann sie ihr später erklären, dass er ihren Körper haben kann und nichts weiter; ihren Kopf, ihr Herz, ihre Seele bleiben ihm verwehrt.

»Nein, nein, ich war noch nie bei einem Jungen. Cilka, bitte, verlang das nicht. Lieber würde ich sterben.«

»Nein, würdest du nicht. Du musst leben. Wir müssen leben. Hörst du? Verstehst du mich?«

»Nein, ich verstehe nicht. Ich habe nichts getan, ich dürfte gar nicht hier sein.«

»Bestimmt dürften die meisten von uns gar nicht hier sein, aber wir sind nun mal hier. Wenn ein einzelner Mann dich zu seinem Besitz erklärt, lassen die anderen dich in Ruhe. Verstehst du mich jetzt?«

Józias Gesicht ist angespannt, verstört. »Ich … ich glaube, ja. Cilka, nicht wahr, du hast das schon einmal erlebt?«

»Halt den Kopf hoch, lass dir die Angst nicht anmerken.«

»Gerade eben hast du noch gesagt, ich soll unsichtbar sein.«

»Das war eben, jetzt ist jetzt; so schnell kann sich das ändern.«

Auch Cilka blickt zu den Männern auf.

Birkenau, Kommandantur, 1942

Cilka sitzt neben Gita, beide arbeiten eifrig, flüchtig begegnen sich ihre Blicke, sie lächeln sich kurz an. Cilka wurde bei der Selektion aus der Schlange geholt und für diese Arbeit bestimmt statt für das Kanada. Und sie ist dankbar, dass auch Gita jetzt hier arbeitet. Aber hoffentlich kann sie irgendwie auch Magda in die Wärme holen. Gitas Haare sind immer noch kurz geschoren, aus irgendeinem Grund darf Cilka ihre jedoch wachsen lassen. Strähnen fallen ihr über Gesicht und Ohren.

Sie merkt nicht, wie zwei SS-Männer hinter sie treten; ohne Vorwarnung fassen sie sie am Arm, reißen sie hoch. Als sie aus dem Raum geführt wird, sieht sie sich mit einem flehenden Blick nach Gita um. Jedes Mal, wenn sie getrennt werden, könnte es das letzte Mal sein, dass sie einander sehen. Sie bekommt noch mit, wie eine Aufseherin zu Gita tritt und ihr mit der Hand auf den Kopf schlägt.

Sie versucht, sich zu wehren, als sie nach draußen und hinüber ins Frauenlager geschleift wird. Gegen die beiden Posten kommt sie nicht an. Es ist ruhig im Lager – die Frauen sind alle bei der Arbeit. Sie gehen an den Wohnbaracken der Frauen vorbei bis zu einem identischen Gebäude, das aber von einer Backsteinmauer umgeben ist. Cilka stößt sauer auf. Sie hat gehört, dass die Frauen hierher zum Sterben kommen.

»Nein … bitte …«, stammelt sie. »Was ist los?«

Auf der unbefestigten Straße draußen parkt ein glänzendes Auto. Die Posten öffnen das Tor und betreten den Hof. Einer der Posten klopft stramm an die Tür des linken Gebäudes, und als die Tür aufgeht, stoßen sie sie hinein und schlagen sie hinter ihr zu. Cilka liegt hingestreckt auf einem unebenen Boden, und vor ihr, vor ganzen Reihen leerer roher Holzpritschen, steht der Mann, den sie von der Selektion her kennt, der ranghohe SS-Mann, Schwarzhuber.

Er ist ein imposanter Kerl, im Lager sieht man ihn selten. Mit seinem Schlagstock klopft er auf seinen hohen Lederstiefel. Ausdruckslos starrt er auf eine Stelle über Cilkas Kopf. Sie richtet sich an der Tür auf, tastet nach der Klinke. Wie ein Blitz fliegt der Stock durch die Luft und trifft ihre Hand. Vor Schmerz schreit sie auf und gleitet zu Boden.

Schwarzhuber kommt zu ihr herüber und hebt seinen Stock auf. Er steht über ihr wie ein Riese. Schwer atmend glotzt er sie an.

»Du wohnst jetzt hier«, sagt er. »Steh auf.«

Sie rappelt sich auf die Füße.

»Komm mit.«

Er führt sie hinter eine Mauer zu einem kleinen Raum mit einem einzelnen Holzbett, auf dem eine Matratze liegt.

»Du weißt, dass jeder Block einen Blockältesten hat?«, fragt er.

»Ja.«

»Also, du wirst Blockälteste in Block 25.«

Cilka findet keine Worte, keinen Atem. Wie kann man von ihr – wie kann man von irgendwem – erwarten, Blockälteste in diesem Block zu werden? In dieser Baracke verbringen Frauen ihre letzten Stunden, bevor sie in die Gaskammer geschickt werden. Und wird sie je Magda oder Gita wiedersehen? Es ist der entsetzlichste Augenblick ihres Lebens.

»Du hast ziemliches Glück«, sagt Schwarzhuber.

Er nimmt seine Mütze ab, schleudert sie durch den Raum. Mit der anderen Hand schlägt er weiter kräftig mit dem Stock auf sein Bein. Bei jedem Schlag zuckt Cilka zusammen in Erwartung, selbst geprügelt zu werden. Mit dem Stock schiebt er ihr die Bluse hoch. Aha, denkt Cilka, deshalb also. Mit zitternden Händen knöpft sie die beiden obersten Knöpfe auf. Dann legt er ihr den Stock unters Kinn. Seine Augen scheinen nichts zu sehen. Das hier ist ein Mann, dessen Seele längst tot ist, nur sein Körper noch nicht.

Er streckt die Arme zur Seite, und Cilka interpretiert diese Geste als Aufforderung: »Zieh mich aus.« Sie tritt einen Schritt näher, bleibt auf Armlänge und fängt an, die vielen Knöpfe an seiner Jacke aufzuknöpfen. Ein Stockschlag auf den Rücken lässt sie schneller arbeiten. Er muss den Stock ablegen, damit sie ihm die Jacke abstreifen kann. Er nimmt sie ihr aus der Hand, wirft sie seiner Mütze nach. Das Unterhemd zieht er selbst aus. Langsam macht sich Cilka daran, seinen Gürtel und die darunterliegenden Knöpfe zu öffnen. Sie geht in die Hocke, zieht ihm die Stiefel von den Waden.

Als sie den zweiten los hat, verliert sie das Gleichgewicht, er stößt sie hart auf das Bett. Er hockt rittlings über ihr. Panisch versucht Cilka sich zu bedecken, bis er ihre Bluse aufreißt. Sie spürt seinen Handrücken auf ihrem Gesicht, als sie die Augen schließt und sich dem Unvermeidlichen fügt.

»Das sind die Blatnyje«, flüstert eine Wachfrau an der Zigarette vorbei, die ihr zwischen den Lippen klemmt.

Die Stimme holt Cilka zurück in die Gegenwart.

»Was?«

»Die Männer, vor denen ihr gleich Parade lauft. Das sind die Blatnyje, Sonderhäftlinge mit hoher Stellung im Lager.«

»Ach, keine Soldaten?«

»Nein, Gefangene wie ihr, sie sind schon lange hier und arbeiten auf guten Posten bei der Lagerleitung. Aber die hier gehören gleichzeitig zur Kaste der Kriminellen. Da haben sie ihre eigene Rangordnung.«

Cilka versteht. Eine Hierarchie zwischen Alten und Neuen.

Sie betritt den Raum, Józia hinter ihr, beide nackt und zitternd. Sie hält inne, mustert das Spalier von Männern, zwischen denen sie durchgehen muss. Dutzende Augen ruhen auf ihr.

Der Mann, der in der rechten Reihe ganz vorn steht, tritt einen Schritt vor, und sie wendet sich um und sieht ihm in die Augen, keck taxiert sie ihn, kommt zu dem Schluss, dass er wohl der Anführer eines Clans ist. Nicht viel größer als sie, stämmig, ganz und gar nicht ausgehungert. Sie schätzt ihn auf kaum älter als Ende zwanzig, Anfang dreißig. Sie mustert sein Gesicht, sieht hinter die Körpersprache, die er ihr entgegenschleudert. Sein Gesicht verrät ihn. Traurige Augen. Aus irgendeinem Grund hat sie keine Angst vor ihm.

»Endlich«, tönt es irgendwo aus der Reihe der Männer.

»Hast dir verdammt Zeit gelassen, Boris.«

Boris streckt Cilka die Hand entgegen. Sie nimmt sie nicht, geht aber auf ihn zu. Mit einem Blick über die Schulter fordert sie Józia auf weiterzugehen.

»Hierher, Kleine«, sagt ein anderer Mann. Cilka betrachtet den Mann, der Józia angafft. Ein riesiger Kerl, aber mit Buckel. Seine Zunge schießt aus dem Mund heraus und wieder hinein, entblößt übel geschwärzte, kaputte Zähne. Er hat mehr ungestüme Energie als Boris.

Und Józia wird ausgesucht.

Cilka sieht zu dem Mann namens Boris.

»Wie heißt du?«, fragt er.

»Cilka.«

»Geh dir Kleider holen, ich komme zu dir, wenn ich dich brauche.«

Cilka geht weiter an den aufgereihten Männern entlang. Sie grinsen sie alle an, mehrere kommentieren ihre Haut, ihren Körper. Sie holt Józia ein, beide stehen sie wieder draußen, werden in einen anderen Betonbunker gescheucht.

Endlich wirft man ihnen Kleider zu. Ein Hemd ohne Knöpfe, Hosen in dem gröbsten Gewebe, das Cilka je zu spüren bekommen hat, ein schwerer Mantel, eine Mütze. Alles grau. Die kniehohen, viel zu großen Stiefel kommen ihr später zugute, als sie ihre Füße gegen die Kälte mit allen Lumpen umwickelt hat, die sie auftreiben konnte.

Angezogen verlassen sie den Bunker. Cilka schützt mit der Hand ihre Augen vor dem blendenden Sonnenlicht. Sie mustert das Lager, das einer Stadt gleicht. Da sind Baracken zum Schlafen, aber sie stehen nicht in Reihen wie in Birkenau. Sie haben verschiedene Formen und Größen. Hinter dem Gelände sieht sie einen kleinen Hügel, auf dem ein großes kranähnliches Gebilde aufragt. An dem Zaun, hinter dem sie eingeschlossen sind, stehen in Abständen Wachtürme, die aber längst nicht so bedrohlich wirken wie die, die sie aus der Vergangenheit kennt. Cilka taxiert aufmerksam den oberen Rand des Zauns. Keine Isolatoren, er scheint nicht elektrifiziert zu sein. Als ihr Blick hinter den Zaun auf die trostlos kahle Landschaft fällt, die sich bis an den Horizont erstreckt, wird ihr klar, dass man hier auch keine Elektrozäune braucht. Da draußen könnte man gar nicht überleben.

Sie trotten auf die Gebäude zu, die ihr Zuhause werden sollen, einfach nur der Vorderfrau nach, ohne zu wissen, wer sie führt oder den Weg weist; da schleicht sich eine Frau mit breitem, wettergegerbtem Gesicht heran. Obwohl die Sonne scheint, beißt der kalte Wind an jedem Stück unbedeckter Haut – sie sind so weit im Norden, dass auch jetzt im Spätsommer Schnee liegt. Die Frau trägt mehrere Schichten Mäntel, stabil wirkende Stiefel, ihre Mütze hat sie tief ins Gesicht gezogen und unter dem Kinn festgebunden. Sie schneidet Cilka und Józia Grimassen.

»So, ihr seid also die Glücklichen! Habt euch Männer angelacht, die euch beschützen sollen, wie man hört.«

Cilka senkt den Kopf, sie will sich nicht auf ein Gespräch mit ihr einlassen. Sie übersieht das Bein, das ihr gestellt wird, und schlägt mit den Händen in den Taschen der Länge nach auf den Boden.

Als Józia ihr die Hand reicht, um ihr aufzuhelfen, bekommt sie selbst einen Stoß in den Rücken und stürzt. Die beiden Mädchen liegen nebeneinander auf dem eiskalt-feuchten Boden.

»Bei mir bringen euch eure Blicke gar nichts. Jetzt bewegt euch, los.«

Cilka rappelt sich als Erste hoch. Józia liegt noch auf dem Boden, nimmt schließlich Cilkas Hand und lässt sich aufhelfen.

Cilka wagt einen Blick in die Runde. Unter den Hunderten Frauen mit den gleichen Kleidern, den geschorenen Köpfen und den im Mantel verborgenen Gesichtern lässt sich unmöglich erkennen, wer mit ihnen im Waggon gewesen ist.

Während sie eine Baracke betreten, werden sie von der barschen Frau abgezählt. Cilka hat sie für eine Aufseherin gehalten, aber sie trägt keine Uniform, und als sie an ihr vorbeigeht, fällt Cilka die Nummer auf, die auf ihren Mantel und ihre Mütze aufgenäht ist. Wohl eine Art Blockälteste, denkt Cilka.

In dem Raum stehen an einer Seite Einzelbetten, in der Mitte ist ein Freiraum mit einem Ofen, der eine Art Wärme verbreitet. Die Frauen ganz vorn sind schon hingelaufen und drängen sich mit ausgestreckten Händen um ihn herum.

»Ich bin eure Brigadierin, und ihr gehört mir«, erklärt die Anführerin. »Ich heiße Antonina Karpowna. An-to-ni-na Kar-pow-na«, wiederholt sie langsam und zeigt mit dem Finger auf sich, damit allen klar wird, wie wichtig sie ist. »Gut, ihr glücklichen Setschki, ich hoffe, euch ist klar, dass ihr eine der besten Häftlingsbaracken im Lager habt.« Cilka glaubt ihr sofort. Keine Pritschen. Richtige Matratzen. Jede eine Decke. »Ihr organisiert euch selbst«, sagt die Brigadierin mit trockenem Grinsen und verlässt die Baracke.

»Was sind Setschki?«, flüstert Józia.

»Weiß nicht, aber etwas Gutes kann es nicht sein.« Cilka zuckt mit den Schultern. »Wahrscheinlich heißt es Häftling oder so.«

Cilka sieht sich um. Bisher hat noch niemand ein Bett für sich beansprucht; die Frauen vor ihnen sind direkt auf den Ofen zugelaufen. Cilka fasst Józia am Arm und zieht sie ans hintere Ende des Raums.

»Warte, wir suchen uns erst Betten aus. Setz dich hier drauf.«

Cilka nimmt das letzte Bett und schiebt Józia auf das davor.

Beide untersuchen, worauf sie sitzen. Eine dünne graue Decke über einem verwaschenen Laken auf einer mit Sägemehl gefüllten Matratze.

Jetzt beeilen sich auch die anderen Frauen, sich ein Bett auszusuchen; sie schubsen und drängeln einander im Kampf um den Ort, an dem sie heute und wer weiß wie viele Nächte schlafen werden, solange sie eben überleben.

Wie sich zeigt, ist für jede ein Bett da. Mützen werden abgenommen und an die Stelle gelegt, wo das Kissen wäre, wenn sie eines bekommen hätten.

Cilka schaut auf die Ecke gegenüber von ihren Betten.

Zwei leere Eimer erwidern ihren Blick. Sie seufzt. Solange sie in dieser Baracke wohnt, werden die sie daran erinnern, wie sie nach dem scheinbar besten Schlafplatz gegiert hat. Sie hatte sich ein bisschen Privatsphäre erhofft: eine Wand auf der einen, Józia auf der anderen Seite. Alles Gute, jede Bequemlichkeit hat einen Haken. Das sollte sie inzwischen eigentlich wissen.

Jetzt, wo sie sich ihren Platz gesichert haben, stupst Cilka Józia an, und gemeinsam gehen sie, die Arme vorgestreckt, in Richtung Ofen. Cilka spürt, dass sie sich schon gleich am ersten Tag ein paar Feinde gemacht hat.

Eine stämmige, robuste Frau unbestimmten Alters stößt Józia in den Rücken. Sie stürzt, schlägt mit dem Gesicht auf dem harten Holzboden auf. Ihre Nase blutet.

Cilka hilft Józia auf die Beine, zieht ihr das Hemd ins Gesicht und über die Nase, stillt das Blut damit.

»Warum hast du das getan?«, fragt ein junges Mädchen.

»Pass auf, du Hure, sonst kriegst du dasselbe«, keift die Dicke ihr ins Gesicht.

Die anderen beobachten den Streit.

Cilka will reagieren, Józia verteidigen, aber sie muss noch herausfinden, wie hier alles läuft, wer diese Frauen sind, ob sie irgendwie alle miteinander auskommen können.

»Schon gut«, stammelt Józia zu dem Mädchen gewandt, das für sie eingestanden ist, eine schlanke junge Frau mit heller Haut und blauen Augen. »Danke.«

»Ist alles in Ordnung?«, fragt das Mädchen in russisch gefärbtem Polnisch. Sie fasst sich immer wieder an ihren eigenen geschorenen Kopf.

»Das wird schon wieder«, erwidert Cilka.

Das Mädchen mustert besorgt Józias Gesicht.

»Ich bin Natalja.«

Józia und Cilka stellen sich vor.

»Bist du Russin?«, fragt Józia.

»Ja, aber meine Familie hat in Polen gelebt. Erst jetzt soll das plötzlich kriminell sein.« Sie blickt kurz zu Boden. »Und ihr?«

Józias Gesicht sieht auf einmal ganz verknautscht aus. »Sie wollten wissen, wo meine Brüder sind. Und sie haben mir nicht geglaubt, als ich gesagt habe, ich weiß es nicht.«

»Schsch«, beschwichtigt Cilka sie leise.

»Es tut mir leid«, sagt Natalja. »Vielleicht sollten wir im Moment nicht darüber reden.«

»Oder überhaupt nie«, tönt die Stimme der stämmigen Frau von ihrem Bett; sie dreht ihnen den Rücken zu. »Das sind doch immer nur Abwandlungen von ein und derselben Jammergeschichte. Egal, ob wir etwas getan haben oder nicht, jedenfalls haben sie uns zu Volksfeinden erklärt, und hier sollen wir durch Arbeit umerzogen werden.«

Immer noch schaut sie niemanden an. Sie seufzt.

Im Ofen knistert das Feuer.

»Und was jetzt?«, fragt jemand.

Niemand weiß eine Antwort. Einige der Frauen gehen zurück zu ihrem Bett und verkriechen sich unter der Decke in ihre eigenen stillen Gedanken.

Cilka nimmt Józia am Arm und führt sie zu ihrem Bett. Sie schlägt die Decke auf und drängt das Mädchen, die Schuhe auszuziehen und sich hinzulegen. Ihre Nase blutet nicht mehr. Cilka geht zurück zum Ofen. Natalja legt gerade vorsichtig Kohle aus einem Eimer in die glühend heiße Öffnung; die Klappe öffnet und schließt sie mithilfe ihres Mantelsaums.

Cilka sieht auf den Kohlevorrat. »Das reicht nicht für die ganze Nacht«, sagt sie halb zu Natalja, halb zu sich selbst.

»Ich frage nach mehr«, flüstert Natalja. Sie hat rosige Wangen und feine Glieder, aber sie wirkt zäh. In ihren Augen erkennt man, dass sie glaubt, es wird sich alles finden. Cilka weiß, wie schnell dieser Glaube zerplatzen kann.

»Vielleicht warten wir einfach und sehen, was sie machen. Wenn man um nichts bittet, riskiert man weniger, geschlagen zu werden.«

»Sie werden uns doch wohl nicht erfrieren lassen«, erwidert Natalja mit den Händen auf den Hüften. Sie flüstert nicht mehr. Mehrere andere Frauen stützen sich in ihren Betten auf und lauschen dem Gespräch.

Cilka lässt den Blick über all die Gesichter schweifen, die ihr jetzt zugewandt sind. Sie erkennt nicht richtig, wie alt die Frauen sind, aber sie meint, Józia und sie sind bei den jüngsten. Sie erinnert sich, was sie erst vor Kurzem selbst gesagt hat. Fall nicht auf, sei unsichtbar.

Ende der Leseprobe