Das Mädchen Johanna - Johanna Korbmacher - E-Book

Das Mädchen Johanna E-Book

Johanna Korbmacher

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Beschreibung

Johanna Korbmacher beginnt ihre Autobiographie als junges Mädchen, dessen Zukunft noch auf es wartet, und die es mit eigenem Willen und Wollen selbstbestimmt gestalten will. Sie beschreibt ihren ereignisreichen, spannenden und berührenden Lebensweg von ihrer Jugendzeit, einige Jahre vor dem 1. Weltkrieg bis ca. ein Jahr nach dem 2. Weltkrieg.

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Vorwort

Bezugnehmend auf den Titel des Buches war die Autorin Johanna Korbmacher zum Ende des 2. Weltkrieges natürlich kein Mädchen mehr sondern eine gestandene und reife Frau. Die Autobiographie allerdings beginnt sie als junges Mädchen, dessen Zukunft noch auf es wartet, und die es mit eigenem Willen und Wollen selbstbestimmt gestalten will. Diesen Gestaltungswillen erkennen wir beeindruckend von der ersten bis zur letzten Seite.

Johanna wurde 1892 geboren und war demnach 54 oder 55 Jahre alt, als der autobiographische Roman abrupt endet. Sie beschreibt ihren Lebensweg von ihrer Jugendzeit einige Jahre vor dem 1. Weltkrieg bis ein bis zwei Jahre nach dem 2. Weltkrieg. Sie starb 1962.

Ihre Enkelkinder erinnern sich gut, dass die Großmutter gelegentlich über ihre Absicht sprach, eine Autobiographie zu schreiben. Warum es dann nicht zum letztendlichen Abschluss kam, entzieht sich deren Kenntnis. Sie haben darüber Vermutungen, die aber durch nichts belegt sind. Fakt ist, es gab eine dicke dunkelbraun gemusterte Ledermappe mit vielen Schreibmaschinenseiten und etliche noch in Sütterlinschrift geschriebene Seiten, die das vorliegende Buch ausmachen.

Ansonsten - es ist nichts hinzugefügt und nichts weggelassen worden. Natürlich gibt es Korrekturen, die Rechtschreibung, die Zeichensetzung und kleine Stolpersteine die Grammatik oder auch Formulierungen betreffend. Aber das war es dann auch.

Das vorliegende Buch repräsentiert einerseits ein Stück Zeitgeschichte und ist so vielleicht für einen, wenn auch kleinen Leserkreis durchaus interessant. Andererseits repräsentiert es für die Familie einen Ausschnitt Familiengeschichte, auch das kann für die Eine und den Anderen aus der Familie von Interesse sein.

Die Leserin und der Leser werden bemerken, dass Johannas politische Haltung geprägt war durch das Deutsche Kaiserreich bzw. den Wilhelminismus. Ihr Patriotismus war ausgeprägt und zieht sich durch ihr gesamtes Leben.

Den zweiten Weltkrieg bewertete sie ebenso wie ihr Ehemann Wilhelm im Gegensatz zum ersten Weltkrieg nur noch als zerstörerisch und lebensfeindlich, stellt jedoch auf keinen Fall einen Widerspruch zu ihrem Patriotismus dar.

Last but not least soll nicht unbemerkt bleiben: Die Generation Johanna Korbmachers und zwar in allen von beiden Weltkriegen betroffenen Ländern musste zwei Weltkriege mit all ihren Folgen bewältigen. Sie hat ihre Heimatländer im direkten und im übertragenen Sinne zweimal in Trümmern gesehen, nicht nur Häuser und Fabriken sondern auch unzählig viele Menschen in ihrer geistigen und seelischen Dimension. Und all diese Menschen, ebenso ihre Kinder, haben zweimal trotz aller Zerstörungen und Traumata, die zweifelsfrei bis heute tiefgreifende Spuren hinterlassen haben, ihre jeweiligen Länder erfolgreich wiederaufgebaut.

Ekkehard Stein

Inhalt

Johannas unbeschwerte und hoffnungsvolle Jugendzeit vor dem 1. Weltkrieg; ihre Berufsentscheidung und ihre Ausbildung, ihr Freundeskreis; die Trennung von der ersten großen Liebe

1. Weltkrieg; als Schwester erst an der Ost-, später an der Westfront; Leitung eines Soldatenheimes: Rückkehr zum Ende des 1.Weltkrieges nach Deutschland über Brüssel

Berlin 1919, „Bruderkampf“; Hilfe eines nervenkranken Feldgrauen; im gleichen Jahr Einsatz in Ostpreußen und Litauen bei den dort verbliebenen deutschen Truppen; Korruptheit und moralischer Verfall deutscher Soldaten; Suizidversuch; zurück in Deutschland Aufbau einer Kohlengroßhandlung; Judenprogrom; der Betrug bzw. die Veruntreuung des Betriebskapitals durch ihren Verlobten; erste Begegnung ihres späteren Ehemanns Wilhelm

Die Kohlengroßhandlung; Trennung vom Verlobten; Rettungsversuch der Großhandlung; Eheschließung; Geburt der einzigen und gemeinsamen Tochter; die Kindheit ihrer Tochter

Johannas erfolgreicher Kampf, ihren Ehemann nach fünfjähriger Arbeitslosigkeit wieder in seine frühere Arbeit zu vermitteln

2. Weltkrieg, Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Krieges; Tod des Ehemannes nach einem Jaboangriff; Mithilfe beim Wiederaufbau des Werkes, in dem ihr Ehemann bis zu seinem Tode tätig gewesen war

Das Mädchen Johanna

Dumpf ist das Licht in der kleinen, abgeschrägten Stube. Die Maschine surrt und surrt. Das junge, blonde Mädchen steht mit zusammengepressten Lippen davor. Es will diese Arbeit nicht tun, die man seit Tagen bemüht ist, ihm beizubringen. Lernen will es, mehr Wissen erwerben. Ein richtiger Kaufmann will es werden. Immer schon wollte es dieses dem Vater sagen, doch er lässt dazu keine Zeit; zwingt sein Kind in eine Arbeit hinein, die es nicht mag. Stickig und heiß ist's im Raum.

Johanna kann einfach nicht mehr. Dreht sich herum, stellt die surrende Maschine ab, setzt ihre Kappe auf, und zu der jungen Frau sich wendend, sagt sie: "Ich komme nicht mehr wieder - nie mehr!"

Dann ist sie draußen, rennt durch die Straßen, den Berg hinauf und hält erst ein in ihrem hastigen Lauf, als sie oben im Wald den geliebten Tannenweg erreicht hat. Hier kann Johanna verschnaufen; hier kann sie überlegen, was werden soll.

Mit großen Augen wird Mutter sie anschauen und Vater wird sie zwingen wollen, das Begonnene zu vollenden.

Aber sie will sich nicht zwingen lassen. Sie will alles wissen um kaufmännische Dinge; will weiterkommen, will ins Leben hinein, immer mehr lernen, nicht in einem dumpfen stickigen Raum ihr junges blühendes Leben einzwängen lassen.

Um sie herum ist blühendes Leben in der Natur.

Hochsommertag! Aus dem Boden steigt ein Summen herauf. Durch das Laub der jungen Bäume streicht es. In den Zweigen der Birken, Tannen und Buchen, die hier durcheinander wachsen, zwitschert und jubiliert es.

Wenn nur ein Mensch ihr raten, helfen könnte. Aber ganz allein ist sie, muss alleine fertig werden damit.

So wandert Johanna stundenlang durch den summenden, duftenden Wald. Die Wege sind ihr vertraut, darum kennt sie keine Angst. Immer, wenn sie Kummer hat in ihrem jungen Herzen, wandert sie hierher, dann wird es ganz ruhig in ihr und klar.

Morgen will sie die Entscheidung herbeiführen. Wenn sie heute nach Hause kommt, will Johanna noch nichts sagen, damit noch Ruhe ist. Mit guten Erfolgen hat sie die Schulzeit beendet. Nun aber will sie auch weiter. Wie ein Mann zum Kaufmann wird, so will sie es auch, und wenn sie auch nur ein Mädchen ist.

Und der Morgen kommt. Hastig blättert sie die Zeitungen durch und findet das, was sie sucht. Es ist eine Lehrstelle für den kaufmännischen Beruf für ein junges Mädchen ausgeschrieben. Johanna geht an ihren Schrank und findet das Zeugnis; denn das muss sie ja mitbringen.

Nun steht sie vor dem Chef der Firma.

Sie kann die Stelle, wo sie von Grund auf alles kaufmännische Wissen erlernen kann, haben, falls die Eltern den Lehrvertrag unterzeichnen. Freudig blitzen die jungen Augen den Allgewaltigen an. Dann ist's ja gut. Das wird sie auch noch fertigbringen, die Eltern hierher zu bringen, da sie nun weiß, dass ihr Zeugnis gut ist und gefallen hat.

'Aber', denkt sie plötzlich, 'ob die Eltern kommen, wenn sie es nicht schriftlich beweisen kann?' "Ach", druckst Johanna, "würden Sie mir das in einem Brief sagen können, dass ich tatsächlich hier lernen kann?" "Ja, das kann ich tun", meint der Chef und lächelt über den Eifer des jungen Mädchens. Und dann hält Johanna den Brief in den Händen, der über ihre Zukunft entscheidet und die Eltern versöhnlich stimmen soll.

Nun steht sie mitten in der Arbeit und ist froh.

Mit dem Copierbuch fing es an. Der Kaufmann der Vorkriegszeit begann immer damit. Wohl gab’s Schreibmaschinen, aber alle wichtigen Sachen wurden handgeschrieben und gingen durch das Copierbuch.

Johanna lächelt, wenn sie an die erste Zeit ihrer Lehrlingsjahre zurückdenkt.

Manchmal war's schwer. Aber doch war es schön; denn man lernte viel. Und in den Abendstunden verbesserte Johanna noch ihre englischen Sprachkenntnisse.

Sie erinnert den ersten Heiligen Abend im ersten Lehrjahr. Sie wurden alle in die Privatwohnung des Chefs eingeladen. Für jeden stand ein gefüllter Teller mit Süßigkeiten bereit. Außerdem ein persönliches Geschenk. Ein Handschuhkasten mit ein Paar Lederhandschuhen für Johanna. Es war etwas Besonderes damals, Lederhandschuhe zu tragen. Und darum war sie auch stolz.

Die kleine Feier ist zu Ende, man nimmt seine Geschenke, bedankt sich für alles und geht ins Büro hinunter, um einzupacken und nach Hause zu gehen. Da steht plötzlich der Chef vor Johanna und reicht ihr einen kleinen blauen Briefumschlag.

"Sie hatten das vergessen, Johanna, das lag unter Ihrem Weihnachtsteller". "Danke", stammelt sie verwirrt. Ganz rot wird sie, jung und schüchtern, wie sie ist. Dann fühlt sie ein festes, kleines, rundes Geldstück im Umschlag. Wieder wird Johanna rot und stammelt ihren Dank. Der Chef schmunzelt über das junge unbeholfene Ding und weiß, dass er Johanna erfreut hat.

Ein Goldstück liegt darin: Zwanzig Mark!

Das Herz schlägt ihr bis zum Halse hinauf. Wie wird Mutter sich freuen, denkt Johanna und freut sich erst jetzt ganz richtig auf Weihnachten, weil sie Mutter damit beschenken kann.

-.-

Schnee liegt auf den Höhen der Stadt.

Wenn die Arbeit am Abend getan ist, ist's schon 8 Uhr vorbei. Aber doch sieht man ganze Scharen junger Menschen zu den bewaldeten Höhen hinaufwandern, ihren Rodelschlitten hinter sich herziehend. Ist das ein Spaß, bei prachtvollem Frostwetter die Bergstraßen hinaufzusteigen. Lustige Neckworte fliegen von Gruppe zu Gruppe. Eine halbe Stunde dauert der Anstieg und in drei Minuten schon ist man wieder unten, wo umsichtige Menschen Asche streuen, um die Schlittenfahrer aufzuhalten.

Johanna und ihre unzertrennliche Freundin Toni sind immer beisammen auf ihren Fahrten. Es sind beide junge, lebendige und kräftige Naturen, die das Leben mit seinen Schattenseiten noch nicht kennen und glauben, alles bezwingen zu können. Das ist ja das Schöne an der Jugend. Dieses lebendig Kräftige bringt sie ja nur vorwärts. Und hat die Jugend ihre Ziele fest verankert im Auge, dann kann sie so viel erreichen.

In Toni steckt ein Kobold, oft ganz verträumt, dann aber ist sie wieder die Lustigste im ganzen Kreis der jungen Freunde.

‘Wie erinnere ich jenen Sommerabend!‘

Toni ist beglückt. Sie hat ihren jungen Schwarm gesehen. Er hat sie begrüßt. Von der Handelsschule her kennt sie ihn. Egon heißt er und ist Schwede. Alle nordischen Sagen werden in Toni wach, und alles Gute dichtet sie ihrer jungen, erwachenden Liebe an. So kommt sie zur Mutter, setzt sich auf die Sofalehne, "Ach," ruft sie aus, "ich bin ja so glücklich, Mutter!“ Doch die Mutter ist eine resolute Frau. Hat acht Kinder geboren, sechs Töchter und zwei Jungen. Toni ist die verträumteste unter ihnen. Die Mutter schüttelt leicht lächelnd den Kopf und denkt, sie wird schon wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückfinden.

Abend um Abend treffen Toni und Johanna sich nach Büroschluss. Sie haben einen gemeinsamen Weg nach Hause. Aber immer wandern sie erst ein Stück bergan, zum Wald hinauf, bis zum Forsthaus. Da erwartet sie eine überdachte Bank; und ein Spruch, in großen Buchstaben, auf ein Holzbrett gezeichnet, lädt ein zum Verweilen:

"Tretet ein in dieses Waldes Räume,

Arm und Reich soll gleich willkommen sein.

In dies niedere Moos, Gesträuch und Bäume,

Prägt Euch Glauben an die Allmacht ein.

Schonet darum selbst die kleinste Pflanze,

Schonung sei der stille Dank allein.

Und zum Lohne mög' dies Ganze,

Auch die späte Nachwelt noch erfreuen."

Und beide sitzen verträumt auf der Bank. Sie fühlen und ahnen ein wenig vom großen Leben, das in der Welt brandet, auf und ab, auf und ab. Unvermittelt nähert sich langsam - von jenseits des Waldes kommend, von der Augenklinik her - ein Leichenwagen. Schauer fährt durch ihren jungen Leib. Sie halten sich fest an den Händen, ganz fest, als der Tod sie streift. Es ist fast dunkel, nur von der Laterne am Teich drüben dringt ein matter Schein zu ihnen hin. Keine spricht ein Wort. Haben sie Angst, Angst vor dem Tode? Als der Wagen vorbei ist, springen sie auf und rennen, rennen, als könnten sie dem Tode davonlaufen. Doch am andern Morgen ist alles vergessen; sie sind wieder jung, wollen leben, leben und lachen.

-.-

Johanna, Toni, Selly, Lilli und Wupp haben einen gemeinsamen Leseabend in der Woche, an denen auch ihre jungen Freunde der benachbarten und bekannten Familien teilnehmen. Diese Abende sind wunderschön. Die Eltern kennen sich alle und sind damit einverstanden, dass einmal, an einem Dienstagabend der Woche, von 9 - 11 Uhr, die jungen Menschen zusammenkommen dürfen.

Sie wollen in die klassische Literatur eindringen, ihre Schulkenntnisse erweitern. Der Reihe nach werden die Klassiker durchgearbeitet, die hebbelschen Dramen, Schiller, Goethe. Mit verteilten Rollen lesen sie vor, und wenn eines dieser Schau- und Trauerspiele oder Dramen im Theater gegeben wird, gehen sie alle hin.

In der zweiten Stunde werden die schönen, deutschen Volkslieder gesungen. Die wohlklingende Altstimme der Kränzchenfreundin Lene paart sich wundervoll mit dem hellklingenden Sopran von Wupp. Herrliche, jugendfrohe Stunden sind das. "Helios" nennen sie sich, wollen sich als Kinder des griechischen Sonnengottes sehen. Der "Sonnenpriester" - Leiter des "Helios" - ist Eugen, der Junglehrer. Er ist klug, aber ein wenig eitel und muss sich immer etwas zur Geltung bringen. Wenn er aufsteht, den Abend einzuleiten, streicht er stets über sein kleines, schwarzes Schnurrbärtchen. Eine Verlegenheitsgeste ist es, er aber meint, es sähe besonders weltmännisch aus. Der Sonnenpriester deklamiert für Johanna, die es beim Elternabend vortragen soll: "Das verlassene Mägdlein" von Moerike.

"Früh, wenn die Hähne kräh'n,

Ehe die Sternlein schwinden,

Muss ich am Herde stehen,

Muss Feuer zünden."

Aus der Ecke tönt der lustigen Wupps Stimme dazwischen: "Muss ich am Feuer stehen, muss Herde zünden." Alles lacht belustigt auf. Der Sonnenpriester ist aus dem Konzept gebracht. Er schüttelt den Kopf, dass sein lustiges, neckendes Mädchen Wupp, das er so mag, immer solche ironisierenden Streiche machen muss. Und Ewald, der ältere Bruder -"der Geizige" wird er genannt, weil er den Daumen auf die Kasse hält - schießt einen wütenden Blick zu ihr hin.

Weil Wupp so jung, so schön, so lustig und oft so übermütig ist, meint der "Geizige", sie sei für seinen geliebten, jungen, klugen Bruder zu schade.

Wie schnell sind diese frohen Jugendjahre vorbei. Der grausame Krieg zerstört bald, was junge Liebe erträumt. So ist das Leben, auf und ab, auf und ab wirft es die Menschen. Aber noch ist man jung, noch will man lachen und fröhlich sein, denn noch ist es die blühende, goldene Zeit, noch sind es die Tage der Rosen. Herrlich frohe Jugendjahre sind es, die alle hier in fast fünfjähriger Kameradschaft durchleben.

Die Sonntage verbringen sie fast immer zusammen. Es ist zu schön, dieses frohe Wandern über Berg und Tal und durch die Wälder der Heimat.

Durch Johannas Erinnerung klingt leise das "Heckenrosenlied" und ein wenig Heimweh nach jener sorglos, unbeschwerten Zeit fällt sie an.

Eine Apfelspardose steht auf dem Tisch, jeden Dienstagabend. Jeder Zuspätgekommene muss etwas opfern. Das Ersparte wird im Sommer für eine Tagesfahrt verwandt und im Winter für einen festlichen Weihnachtsgabentisch.

Eine Sommerfahrt in einem Kremser steht lebendig in Johannas Erinnerung.

Eugen liebt alles Schöne, auch andere junge Mädchen hin und wieder, und wenn es nur für fünf Minuten ist. Auch Wupp, seine Herzliebste macht es so. Und dabei haben sie sich so gern. Auch vor dieser Fahrt war ein kleiner Zank zwischen ihnen. Aber aus Trotz kamen doch beide mit. Sie vergnügen sich im Kreise der anderen, sprechen selbst kein Wort miteinander. Ewald, der "Geizige", ist froh, dass sie nicht zusammensitzen, er würde sich freuen, wenn sie ganz auseinanderkämen. Er selbst fühlt, dass keines der jungen Mädchen zu ihm drängt. So kommt zu seinem Geiz auch der Bruderneid hinzu; er gönnt auch andern kein Glück.

Nun ist der Abend da. Die Heimfahrt wird angetreten und der "Geizige" sorgt dafür, dass das frohe, lachende Mägdlein Wupp nicht neben seinem jungen Bruder zu sitzen kommt. Volkslieder werden angestimmt. Frohe und ernste Weisen erklingen, begleitet vom schaukelnden Rhythmus des Wagens. Als nach Stunden die Ampel angezündet wird und ihr rosafarbenes Licht auf alle wirft, sitzen Eugen, der Sonnenpriester, und Wupp in verliebter Eintracht nebeneinander.

Alles lacht laut vor Vergnügen, denn keiner hat bemerkt, wie beide im Dunkel des langen Wagens zueinander hinfanden. Nur der "Geizige" lächelt ein sauersüßes Lächeln. Nun hat man ihm doch ein Schnippchen geschlagen, hat doch die Liebe, so erfinderisch, wieder ihren Weg gefunden.

Eine Kladde hat der "Helios" angelegt, wo jeder seine Gedanken - in Lyrik oder Prosa - eintragen kann. Manch kleiner Beitrag kommt zustande.

Und wie schon so oft muss Johanna - noch nach Jahren, wenn das junge Grün hervorbricht - an jenes kleine Liedchen denken, das Eugen - der Sonnenpriester - nach einem Streit mit seinem Mädchen eingetragen hat:

"Ich kann das junge Grün nicht sehen,

Mich schmerzt der lust'ge Mai.

Ich möcht' am liebsten sterben gehen,

Wär' alles dann vorbei."

Und er, der junge Dichter, ist schon längst nicht mehr. 21 Jahre nur währte sein Leben. Auf Russlands Fluren verfloss sein Blut, wo er auch begraben wurde.

Und dann steht Per, der "Seltsame" vor Johannas Augen, und ein Verslein von ihm geht ihr durch den Sinn:

Frage:

"Was ist Realistik?

Ich hab sie dick.

Was ist ideal?

Hohl und schal.

Und was geben uns heute die Götter?

Spötter!

Antwort:

Realistik und Ideal sind beide nicht hohl und schal.

Und wer sie recht zu nehmen weiß,

wird gekrönt mit dem höchsten Preis,

den uns die Götter geben: Leben! Leben!"

Auch sein Leben ist früh dahin. Er liegt in Flandern begraben.

Johanna denkt zurück. So richtig ausgelassen lustig - wie die andern oft waren - konnte sie eigentlich nie sein. Lag es an der Mutter? Die so bigott fromm war, dass alles Frohe, das in Johanna war, als Sünde abgetan und erstickt wurde? Darum hatte Johanna auch so viel Hemmungen. Und doch war sie von Natur ein froher Mensch. An allem Schönen konnte sie sich erfreuen. Nur so persönlich mittun in ausgelassener Freude, das konnte sie nicht. War das Sünde, wenn sie mit den andern in eine Oper ging, in ein Drama, in ein Schau- oder Trauerspiel? Nein! Warum begriff das die Mutter nicht. Oder hatte all' das seelische und körperliche Leid, das Johannas Mutter in ihren Jugend- und Ehejahren durchlebt hatte, sie so unzugänglich gemacht? War die Mutter deshalb so herb?

So gab es damals immerzu Differenzen zwischen Johanna und der Mutter. Sie hatte doch selbst die Erlaubnis gegeben, dass Johanna an diesem schönen kameradschaftlichen Beisammensein der "Heliositen" teilnehmen durfte.

Aber sie erlag wohl immer wieder den Einflüsterungen all' der heuchlerischen Frömmigkeit um sie her? Den Brüdern und Schwestern im "Herrn", die immer aufs Neue versuchten, die Mutter in ihren Bann zu ziehen.

Aber Johanna war das egal; sie war fleißig und kam in ihrem Beruf vorwärts.

Jedoch eigene Wünsche durfte sie nicht haben. Wenn ein neues Kleid gekauft werden musste, tat es die Mutter. Auch die Art der Verarbeitung dieses Kleidungsstückes bestimmte sie.

Das erweckte in Johanna immer wieder Trotz.

Ein Hochsommertag auf dem Rhein zieht durch ihre Erinnerung. Der "Helios" hatte seine Sommerfahrt angetreten.

Eine Menge Ratschläge begleiten Johanna. Dies schickt sich nicht, das tut man nicht, und dieses macht man so und jenes so. Johanna ist froh, als sie das Haus verlässt und zum Bahnhof eilt. Sie will heute alle diese Belastungen von sich abwerfen, will fröhlich sein wie die andern. Und doch fällt es ihr schwer.

Das sind die Hemmungen, die durch die jungen Jahre ihres Lebens gehen.

Und die Sonne lacht, als der Zug Königswinter erreicht. Ist das schön hier! Der breite Strom, der silbern aufleuchtet. Und erst die Wanderung zum Drachenfels, wo gefrühstückt werden soll. Und alles ist froh. Die kleine Gesellschaft jubelt ihre Lieder in den herrlichen Sonnentag hinaus und erfreut sich ihres Daseins. Auch in Johanna verblasst langsam alles Trübe, was sie oft von hause her begleitet.

Alle sind wie die Kinder heute, übermütig und lustig. Ein ganzer, langer Tag gehört ihnen, ja. Ganz unbeschwert dürfen sie ihn genießen. Ewald, der "Geizige" hat die Kasse. Brote, Eier und Obst hat jeder noch mitgebracht. Aber zu Mittag wollen sie draußen essen, ganz vornehm, einmal wollen sie tun, als ob sie Geld in Hülle und Fülle hätten. Dann wandern sie vom Drachenfels abwärts durchs Nachtigallental zum Petersberg. Das Hotel ist neu erbaut. Fein sieht's hier aus. Aber sie wagen sich doch hinein. Ganz leise treten sie auf mit ihren derben Stiefeln, haben Angst, der Boden der Halle und die Teppiche könnten leiden. Dann lassen sie sich im Garten nieder, da fühlen sie sich nicht so beengt. Hermann, in diesen Dingen der Anführer, weil er der Größte unter ihnen ist, ruft den Ober herbei. Er bestellt Bier für die Freunde, denn sie haben Durst nach dem anstrengenden Marsch. Die Mädchen - keusch und züchtig erzogen - trinken Sprudelwasser. Das Bier kommt. Kein Flaschenbier, auch nicht in schäumenden Krügen und Gläsern, wie die Freunde es erwarteten und in der Heimat gewöhnt waren. Nein! Hier gibt's Bier in feinen, geschliffenen Karaffen. Noch nicht einen halben Liter ist in jeder, aber dafür kostet er eine Mark. Der kleine Kreis ist 'geplättet'. Und Ewald, der "Geizige", möchte am liebsten vor aller Welt die Kasse nachzählen, ob sie diese Sonderbelastung noch erträgt. Doch ein Blick von Eugen genügt, dass er es unterlässt. Das Geld reicht, da die Freunde ihr Bier selbst bezahlen, es geht nicht zu Lasten der Allgemeinkasse.

Doch alle sind froh, als der Petersberg überwunden ist. Im Marschschritt geht's durch den Wald hinab ins Tal, in das Wirtshaus "Zum kühlen Grund". Hier lassen sie es sich wohl sein. Hier gibt's auch richtiges Flaschenbier für die durstigen Kehlen der jungen Freunde. Und dann singen sie die frohen Rheinlieder und uralte Volkslieder und sind restlos glücklich. Sie sind noch so jung und das Leben liegt in seiner ganzen Herrlichkeit vor ihnen, und sie genießen es.

Am Frühnachmittag landen sie wieder in Königswinter. Sie mieten ein Benzinboot; nach Rolandseck geht die Fahrt. Die Heliosmädchen sind begeistert, als sie an Rhöndorf vorbeifahren und vom Strand aus eine Menge Studenten ihnen lebhaft zuwinken. Ein Schwimmer kommt mit kräftigen Schlägen auf das Boot zu. Und Lene, die "Forsche", nimmt in ihrer übermütigen Laune die rote Rose von ihrer Brust und wirft sie begeistert dem Schwimmer zu.

Die Heliosfreunde sind voller Schabernack und necken Lene und "Hon", der Lene mächtig verehrt. Der weiß vor Eifersucht nicht, was er alles sagt, um den Schwimmer in Lenes Augen herabzusetzen. Doch Lene kümmert das nicht. Sie winkt und winkt, bis durch eine Schwenkung des Bootes der Schwimmer ihren Blicken entschwindet.

Johanna ist angesteckt von Lenes Ausgelassenheit und läuft, um die Studenten noch einmal sehen zu können, schnell auf die andere Bootseite. Der Motorkasten ist im Wege, und der Rock des weißen Kleides, das ihr die Mutter kaufte und nach ihrem eigenen Geschmack für Johanna anfertigen ließ, hängt in einem Fetzen herunter. Das ist ein Gaudium für die Heliosfreunde. Das Lachen ist auf ihrer Seite; denn wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Aber Johanna denkt: 'Gott sei Dank, dass das Kleid hin ist, ich konnte es ja doch nicht leiden.'

Ob Mutter schimpfen wird, ist ihr egal, der Tag ist trotzdem wundervoll.

Lilly, eine Heliosfreundin, näht ihr das Kleid oben auf dem Rolandsbogen notdürftig wieder zusammen.

Und als Abschluss des Tages landen sie im "Ännchen" zu Godesberg und schunkeln bei der "Lindenwirtin, der jungen". Doch die Lindenwirtin ist gar nicht mehr so jung. 50 Jahre ist sie schon alt. Im schwarzgescheitelten Haar, von grauen Fäden durchzogen, ein wenig matronenhaft schon, steht sie inmitten der kleinen Gesellschaft, die wissbegierig alle Bilder und Texte, die an den Wänden des schmalen Zimmers geschrieben stehen, erklärt haben will.

Dann essen sie zu Abend und freuen sich, als Krönung des Tages ihrer Rheinfahrt, auch an dieser historischen Stätte gewesen zu sein. Bevor sie Abschied nehmen vom Rhein, gehen sie noch einmal hinaus, durch den Garten der "Lindenwirtin".

"Wo ist Lilly?" ertönt es neben Johanna. Erwin, einer von den Heliosfreunden, sucht sein Mädchen. Johanna weiß, wo Lilly ist, denn kurz vorher entdeckt sie jenen Studenten, Lillys Jugendschwarm aus der Heimat.

Er war aller junger Mädchen Schwarm, der lange Oberprimaner, der so verwegen die hellblaue Stürmermütze trug.

"Nichts wie hellblau!" ertönte es, wenn er irgendwie auf der Bildfläche erschien, und jedes junge Mädchen wusste, wer gemeint war.

Johanna verrät Erwin nichts. Warum soll sie ihm sagen, dass Lilly bei Karl sein wird, hinter jenen Bäumen? Erwin und Lilly werden den Weg schon wieder zueinander finden.

Und sie fanden ihn auch. Es ist die einzige feste Bindung, die für's Leben geschlossen wurde, welche aus dieser frohen Jugendgemeinschaft hervorgegangen ist.

-.-

Ein junger Architekt, ein Sportsfreund der Heliosfreunde, bemüht sich um Johanna. Auf dem Wege ins Büro oder am Abend auf dem Heimweg begegnet er ihr immer. Er sieht gut aus. Ein feiner schmaler Kopf mit hoher Stirne. Lange, schmale Hände hat er, wohlgeformt. Diese Hände liebt Johanna, denn unter diesen Händen entstehen die schönsten Entwürfe für Kirchen- und Rathausneubauten. Er ist ein Künstler in seinem Fach. Und es macht sie stolz, dass er um sie wirbt. Als er nach Wochen die entscheidende Frage an sie richtet, sagt sie: "Ja!"

Dann küsst er sie.

Johannas erster Kuss! Ganz anders hatte sie ihn sich erdacht. Ist so die Liebe? So still, so gemessen? Ein Her- und Hinüberdrängen in stürmischer Jugendlust, so meinte sie, wäre es. Ganz anders aber ist es nun. Ruhig und still hält er sie in seinen Armen. Kommt es daher, dass er fünf Jahre älter ist?

Und doch ist Johanna froh. Sie ist nun nicht mehr so einsam innerlich, hat jetzt auch einen Menschen, der zu ihr gehört, dem sie ihre kleinen und größeren Sorgen sagen kann.

Nun braucht sie nicht mehr am späten Abend, wenn alle schlafen, leise auf die Veranda hinauszuschlüpfen und in die Nacht hinaus zu träumen. Nun hat sie einen lebendigen Menschen zur Seite, dem ihre sehnsüchtigen Gedanken gelten dürfen.

Es ist Sommer und ganz furchtbar heiß. Wer nicht seinen Geschäften und seinem Beruf nachgehen muss, wagt sich erst gegen Abend ins Freie. Doch Johanna ist jung. Sie wundert sich, dass die älteren Menschen stöhnen und nur mühsam ihr Tagewerk vollenden in der Glutzeit dieser Sommerwochen. Sie empfindet es nicht. Froh und beschwingt schreitet sie aus bei ihren Wanderungen mit ihrem Jugendfreund Walter, der sie lieb hat und an den sie glaubt und dem sie vertraut.

Ihre Seele ist allem Schönen zugetan. Immer schon war sie durch die Wälder, Berge und Täler ihrer Heimat mit offenem Blick gewandert. Am liebsten ganz allein. Sie ist glücklich, wenn aus den kahlen Ästen und Zweigen der Bäume und Sträucher die Knospen hervorbrechen, sich bald öffnen und größer und größer werden, bis die Bäume im fertigen Blattschmuck stehen. Dann ist Johanna ganz still und zieht begierig den frischen Erdgeruch ein, den das Frühjahr bringt.

Es ist so schön, das Werden draußen zu sehen. Das Leben. Ein Werden und Vergehen.

Nun wandern sie zu zweit, und Johanna lernt die Natur noch besser verstehen. Lernt sehen, und was ihr bisher verschlossen geblieben ist, klärt sich nun unter der Anleitung ihres jungen Freundes. Ein Skizzenbuch begleitet ihn immer. Jedes Motiv, das ihn fesselt, begeistert, muss er festhalten. Und Johanna liegt neben ihm im dürren Gras und freut sich, teilzuhaben an dem Werden einer Skizze, eines Bildes.

"Farnkraut wollen wir suchen, Johanna". Und er erklärt ihr, warum er das haben muss. "Junges Farnkraut muss es sein, wo die Spitzen noch eingerollt sind, wo sie erst beginnen, heraus zu drängen, Figuren zu bilden." Und er führt sie ein in seine Künstlerwelt, lehrt sie mit seinen Augen in die Feinheiten der Natur eindringen.

Und Johanna lernt sehen und begreifen, warum dieser Halm des Farnkrauts ihn begeistert, warum er jenen nicht gebrauchen kann. Als Vorbild zu Ornamenten dienen sie ihm, für die schönen schmiedeeisernen Tore und Gitter.

Er arbeitet viel. Und Johanna, für die Arbeit Leben bedeutet, begreift ihn und sein emsiges Schaffen.

Bei Ausschreibungen von Wettbewerben beteiligt er sich und erringt Preise:

den 2. Preis für einen Kirchenbau,

den 1. Preis für ein Krematorium und

den 1. Preis für einen großen Städtebebauungsplan,

letzteren mit seinem Chef zusammen.

Der Chef, ein feiner, liebenswerter Mensch im reifen Mannesalter, verfasste einige Zeilen auf Johanna, nachdem er sie durch ihren Verlobten kennengelernt hatte. Nur an den Schluss dieser Verse erinnert sie sich:

"und auch das kleine Rehlein scheu,

dass sich Johanna nennet."

'War sie so scheu damals!' denkt Johanna später. Ja! Es fiel ihr schwer, bei fremden Menschen, die neu in ihr Leben traten, aus sich herauszugehen.

Und doch verstand sie auch damals schon, ihre Arbeit zu beherrschen und voranzukommen, sich im Beruf frei von all' diesen Hemmungen zu machen.

'Wie zwiespältig der Mensch doch sein kann', denkt Johanna oft. "Mädchen Johanna," sagte der Chef ihres Verlobten einmal zu ihr, "Sie müssen Ihren kaufmännischen Geist auf Walter übertragen. Sie müssen diesen Ausgleich schaffen, sonst geht er trotz seiner künstlerischen Begabung zugrunde.

Hat er zu wählen zwischen einem Objekt von 100.000,- Mark, wo er all' seine künstlerischen Ideen hineinlegen kann und zwischen einem Industrieobjekt von 2.000.000,- Mark, wo er streng sachlich bleiben muss, schlägt er letzteres aus. Der Verdienst ist ihm Nebensache. Dass er ihn braucht, um seine künstlerischen Neigungen bei seinen weniger ertragreichen Objekten austoben zu können, begreift er noch nicht."

So kommt es, dass Johanna und Walter oft sehr ernste Gespräche auf ihren Waldspaziergängen führen, Gespräche, wo er seine Ansicht - auch wenn sie unrichtig ist - gegen ihre Ansicht setzt. Er versucht, Johanna nach seinem Geschmack zurechtzubiegen, und er ist für seine Jahre ein viel zu konservativer und steifer Mensch.

Kommt es daher, dass er als fünfter seiner Geschwister der Jüngste, das Nesthäkchen war? Ein Nachkömmling, 15 Jahre nach dem vierten Kind ins Leben trat? Seine Mutter bereits zu alt für ihn war?