Das Mädchen und der Lord - Thomas Moore - E-Book

Das Mädchen und der Lord E-Book

Thomas Moore

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Beschreibung

Die kleine Lady und ihr Weihnachtswunder. New York, 1872: Die kleine Noelle lebt mit ihrer Mutter in ärmlichen Verhältnissen, als ein Brief aus England eintrifft: Ihr Großvater, Lord Dorincourt, möchte sie zu sich holen. Doch dass der erwartete Nachfolger »Noel« sich als kleines Mädchen mit blonden Locken entpuppt, überrascht den Lord. Er ist erleichtert, als wenig später ein Junge auftaucht, der behauptet, sein Enkel zu sein. Dann verschwindet aus dem Schloss wertvoller Schmuck, und alles deutet darauf hin, dass Noelle und ihre Mutter etwas damit zu tun haben. Noelle braucht dringend die Hilfe ihrer neuen Freunde – und ein wahres Weihnachtswunder. Der Klassiker »Der kleine Lord« in einer neuen Version erzählt

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Über Thomas Moore

Thomas Moore ist das Pseudonym des deutschen Autors Ben Kryst Tomasson, geboren 1969 in Bremerhaven. Er ist Germanist, Pädagoge und promovierter Diplom-Psychologe. Seine Leidenschaft gehört den Geschichten, die das Leben schreibt, den vielschichtigen Innenwelten der Menschen und dem rauen Land zwischen Nord- und Ostsee. Neben Kriminalromanen liest er selbst gern historische Romane. Von Ben Kryst Tomasson sind im Aufbau Taschenbuch Verlag die Bücher »Sylter Affären«, »Sylter Intrigen«, »Sylter Blut« und »Sylter Gift« lieferbar.

Informationen zum Buch

Die kleine Lady und ihr Weihnachtswunder.

New York, 1872: Die kleine Noelle lebt mit ihrer Mutter in ärmlichen Verhältnissen, als ein Brief aus England eintrifft: Ihr Großvater, Lord Dorincourt, möchte sie zu sich holen. Doch dass der erwartete Nachfolger »Noel« sich als kleines Mädchen mit blonden Locken entpuppt, überrascht den Lord. Er ist erleichtert, als wenig später ein Junge auftaucht, der behauptet, sein Enkel zu sein. Dann verschwindet aus dem Schloss wertvoller Schmuck, und alles deutet darauf hin, dass Noelle und ihre Mutter etwas damit zu tun haben. Noelle braucht dringend die Hilfe ihrer neuen Freunde – und ein wahres Weihnachtswunder.

Der Klassiker »Der kleine Lord« in einer neuen Version erzählt

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Thomas Moore

Das Mädchen und der Lord

Roman

Inhaltsübersicht

Über Thomas Moore

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Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Impressum

Erstes Kapitel

Die Frau saß am Straßenrand und weinte. Sie passte überhaupt nicht hierher, mit ihren glänzenden Haaren, die unter einem zarten Schleier zusammengefasst waren, dem feinen Kleid, das aus etlichen Lagen blauen Tülls bestand, und den noch feineren Schuhen, aus Seide vielleicht, an denen jetzt der Lehm und Staub der ungepflasterten Straße hafteten. Hinter ihr reihten sich die kleinen, aus Bruchsteinen oder Wellblech gebauten Häuser mit den grauen Schindeldächern.

Hier wohnten einfache Menschen, die wie Noelles Mutter in der nahegelegenen Fleischfabrik von Mr. Ragman oder in der Wäscherei von Mrs. Taylor arbeiteten, keine Damen wie diese hier. Die gehörte eher in die vornehmen Gegenden der Stadt, wo aus Backstein errichtete Gebäude mit hohen, schmalen Fenstern aufragten, Händler unter bunten Markisen ihre Waren feilboten und hübsche, geschlossene Kutschen mit sauber gestriegelten Pferdegespannen über das Pflaster rollten. In diesem Viertel dagegen war es allenfalls mal ein offener Einspänner, oft auch der Besitzer selbst, der seinen Wagen zog.

Noelle wollte sich in den Arm kneifen, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte, ließ es dann aber sein. Sie war schließlich kein kleines Kind mehr, im letzten Januar war sie acht geworden. Und sie wusste: Wenn sie etwas vor ihren Augen sah, dann war es auch echt. Kurz betrachtete sie ihr verblichenes graues Baumwollkleid und ihre einfachen Holzschuhe. Dann gab sie sich einen Ruck.

Es kam nicht darauf an, wer man war. Die Frau dort brauchte offensichtlich Hilfe. Und Noelle wollte gern etwas für sie tun.

»Guten Tag«, sagte sie höflich, und die Frau blickte auf. Ihre Augen waren gerötet, und von den Wimpern zogen sich schwarze Linien über die Wangen hinunter wie Spinnenbeine. Sie hatte ganz helle Haut und einen sehr roten Mund. Noelle wusste nicht recht, ob sie die Frau hübsch fand.

»Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte sie sich.

Die Frau zog ein Stofftaschentuch aus einer Tasche ihres blauen Kleides und tupfte die Spinnenbeine ab.

»Lucky«, jammerte sie. »Mein Lucky ist weggelaufen. Da war eine Katze, die ihn angegriffen hat. Er ist hinter ihr her wie ein geölter Blitz, und ich konnte ihn nicht halten. Und nun finde ich ihn nicht wieder.«

»Hm.« Noelle legte einen Finger an die Nasenspitze. »Ist Lucky Ihr Hund?«

Die Frau steckte das Taschentuch zurück und hob die Mundwinkel. »Du hast recht. Das hätte ich natürlich dazusagen sollen.«

»Und der Kater?«, fragte Noelle weiter. »Wie sah der aus?«

Die Frau schürzte die Lippen. »Hässlich wie die Nacht. Schwarz und riesengroß und mit einem roten Streifen über der Schnauze. Und tückischen gelben Augen.«

»Ah.« Noelle lächelte. »Ich wette, das war Rags, der Kater von Mr. Ragman. Das ist der Mann, dem die Fleischfabrik gehört.« Sie deutete nach Westen, wo die grauen Gebäude und Schornsteine aufragten, die dichten weißen Qualm ausstießen. »Wenn Sie dort nachsehen, finden Sie Ihren Lucky bestimmt.«

Die Augen der Frau folgten ihrem ausgestreckten Finger. »Meinst du?«

»Ganz sicher.« Noelle reichte der Frau eine Hand, um ihr aufzuhelfen. »Ich komme mit, und dann sehen wir gemeinsam nach.«

»Darfst du denn allein dorthin?«, fragte die Dame und rappelte sich auf.

»Meine Mutter arbeitet in der Fabrik«, erklärte Noelle ernst. »Und Mr. Ragman ist mein Freund.«

»Ah ja.« Die Stimme der Frau klang ein wenig belustigt. Noelle wusste nicht so recht, weshalb, doch das passierte ihr mit Erwachsenen öfter, und sie machte sich keine weiteren Gedanken darum.

Sie führte die Dame die staubige Straße entlang zum Fabrikgelände und informierte sie unterdessen darüber, dass sie mit ihrer Mutter, Mrs. Errol, in genau dieser Straße lebte, in der Nummer zehn. Ihre Mutter arbeitete, damit sie etwas zu essen hatten.

»Und dein Vater?«

»Der ist tot«, sagte Noelle. »Er war Kapitän. Sein Schiff ist im Sturm gesunken.«

»Oh.« Die Dame schaute sie betroffen an. »Da bist du sicher sehr traurig.«

Noelle dachte darüber nach. Ihre Freunde hatten alle eine Mutter und einen Vater, aber Noelle hatte nicht das Gefühl, dass ihr etwas fehlte. Sie und ihre Mutter hatten ein sehr liebevolles Verhältnis.

»Ich kann mich gar nicht richtig an ihn erinnern«, sagte sie der Dame. »Ich war erst drei, als er gestorben ist.«

»Und deine Mutter hat dich ganz allein großgezogen?«

»Ja.« Was hätte sie auch sonst tun sollen?, dachte Noelle, sprach es aber nicht aus. Sie hatte davon gehört, dass sich bei den Leuten, die Geld besaßen, die Mütter nicht selbst um ihre Kinder kümmerten, sondern Angestellte. Wozu sie dann überhaupt Kinder bekamen, hatte sie ihre Mutter gefragt, die darauf aber auch keine Antwort gewusst hatte. Für die Dame jedenfalls schien es unvorstellbar, dass eine Frau dazu in der Lage war, ein Kind alleine zu erziehen. Aber Noelles Mutter hatte es ganz wunderbar hinbekommen.

»Da sind wir.« Noelle wies auf das Tor zum Fabrikgelände. Die Frau war ein paar Schritte hinter ihr stehen geblieben und rümpfte die Nase.

»Das … riecht.«

Noelle schnupperte. Die Frau hatte recht, in der Luft lag der Geruch von Blut. Noelle war so daran gewöhnt, dass sie ihn gar nicht mehr wahrnahm. Er hing überall im Viertel und in den Kleidern ihrer Mutter, wenn diese abends von der Arbeit heimkam. Er gehörte dazu wie der Schrei des alten Hahns von Mr. Nixon am Morgen und das Klappern der Holzschuhe auf den Pflastersteinen vor dem Tor, wenn in der Fabrik Schichtwechsel war.

»Ich kann allein gehen und nach Lucky sehen«, bot sie an. »Warten Sie einfach hier.«

»Das wäre sehr nett.« Die Dame wirkte sichtlich erleichtert.

Noelle stürmte an Mr. Potts, dem Pförtner vorbei, und winkte ihm zu. Potts winkte zurück und lächelte. Seine Frau war sehr krank, und Noelle besuchte sie oft, um ihr Gesellschaft zu leisten. Das war es, was ihre Mutter ihr beigebracht hatte: Menschen mussten füreinander da sein. Alles Böse entstünde daraus, dass die Leute sich bekriegten, statt sich zu unterstützen. Dabei sei aller Reichtum wertlos, wenn man keine Freunde habe. Noelle versuchte, das zu beherzigen. Sie hatte jede Menge Freunde, Mr. Ragman und Mr. Nixon und Mr. und Mrs. Potts, und natürlich die gleichaltrigen Kinder, mit denen sie Murmeln warf oder um die Wette lief.

Sie rannte um das Fabrikgebäude herum zur Rückseite, wo die großen Müllbehälter standen. Dort bekam Rags sein Fressen, und auch heute lag er auf einem Mauervorsprung und blinzelte in die Sonne. Ein Stück über ihm kauerte ein kleiner Hund auf einem Sims und winselte erbärmlich. Wenn sein Fell nicht wie jetzt vor Staub und Dreck starrte, war er vermutlich schneeweiß. Wahrscheinlich war er Rags hinterhergejagt, der sich mit einem Sprung auf den Mauervorsprung in Sicherheit gebracht hatte, wohin der Hund ihm nicht folgen konnte. Nach oben war er im Eifer der Jagd gekommen, doch nun traute er sich nicht hinunter.

Noelle stemmte die Hände in die Seiten und schaute Rags böse an. »Das hast du doch mit Absicht gemacht«, schimpfte sie.

Sie streifte ihre Holzschuhe ab und stieg auf eine Mülltonne, die an der Hauswand stand. Von dort verlief ein Regenrohr aufs Dach, genau an dem Sims vorbei, auf dem der schmutzig-weiße Hund saß. Noelle kletterte behände an dem Rohr nach oben und hielt dem Hund die Hand hin, damit er sie beschnüffeln konnte. Zuerst kläffte er und wich zurück, dann schob er vorsichtig die Schnauze vor.

Noelle zauderte nicht lange und klemmte ihn sich beherzt unter den Arm. Der Hund strampelte, und Noelle ließ sich vorsichtig nach unten gleiten, riss sich dabei aber an einer scharfkantigen Schraube die Handfläche auf. Reflexartig zog sie die Finger zurück und verlor den Halt.

Sie fiel ein, zwei Meter, ruderte mit dem freien Arm und konzentrierte sich darauf, auf den Füßen zu landen. Kurz bevor sie aufkam, ließ sie den Hund los. Der landete auf den Pfoten, schüttelte sich kurz und sauste über den Hof zum Tor. Noelle schaffte es, nicht zu stürzen, obwohl sich ein paar spitze Steine schmerzhaft in ihre nackten Fußsohlen bohrten. Aber sie lief oft barfuß und war daran gewöhnt. Sie saugte an der offenen Stelle an ihrer Hand, um die Blutung zu stillen, streifte mit der anderen die Gesteinsbröckchen von ihren Füßen ab und schlüpfte wieder in ihre Holzschuhe. Nach einem letzten vorwurfsvollen Blick zu Rags rannte sie zurück auf die Straße.

Dort presste die elegante Dame gerade ihren Hund an sich, ohne sich darum zu kümmern, dass ihr hübsches blaues Kleid schmutzig wurde. Als Noelle zu ihr kam, blickte sie auf und lächelte.

»Danke«, sagte sie. »Tausend Dank.« Sie holte eine Leine hervor und befestigte sie am Halsband des Hundes. Dann strich sie Noelle über die Haare und schien sie zum ersten Mal richtig wahrzunehmen.

»Du bist wunderhübsch«, sagte sie. »Diese schönen blonden Locken, wie ein Engel. Aber das bist du ja auch.« Sie nahm eine Börse aus ihrer Handtasche und hielt Noelle einige Geldscheine hin. »Hier, das ist für dich. Davon kannst du dir ein paar Süßigkeiten kaufen.«

Noelle wehrte ab. Sie hatte der Frau geholfen, weil es selbstverständlich war, und nicht, weil sie etwas dafür wollte. Doch die Dame bestand darauf.

»Bitte, tu mir den Gefallen«, drängte sie. »Ich hätte sonst ein furchtbar schlechtes Gewissen.« Ihr Blick wanderte über die grauen Mauern der Fleischfabrik zu den qualmenden Schloten. Wahrscheinlich dachte sie, dass es einem schlechtgehen musste, wenn man hier lebte. Dabei fand Noelle das ganz und gar nicht.

Die Frau streckte die Hand noch weiter vor. »Mach mir die Freude, ja?«

Noelle wollte nicht unhöflich sein, also nahm sie das Geld und bedankte sich artig. Sie sah der eleganten Dame nach, die mit ihrem winzigen Hund an der Leine davonging. Als sie aus ihrem Blickfeld verschwunden war, lief Noelle zu Mr. Potts, dem Pförtner, und legte ihm die Scheine auf den Tresen.

»Für die Medizin«, erklärte sie. Mrs. Potts war bei einem Arzt gewesen, der meinte, ihre Krankheit heilen zu können. Sie hatte eitrige Geschwüre an den Unterschenkeln und Füßen, die jede Bewegung, das Gehen und sogar das Sitzen und Liegen zur Qual machten. Allerdings brauchte sie dafür eine Arznei, die sehr teuer war. Mr. Potts konnte sie nicht bezahlen.

Die Augen des Pförtners weiteten sich und begannen feucht zu schimmern. »Das kann ich nicht annehmen.«

»Aber warum denn nicht?« Noelle war ehrlich verblüfft. Mr. und Mrs. Potts benötigten das Geld, und sie selbst hatte es bekommen, ohne sich besonders dafür anstrengen zu müssen. Sie war nur ein paar Meter an einem Rohr nach oben geklettert und hatte auf dem Rückweg einen kleinen Sprung gemeistert. Der Riss in ihrer Hand hatte inzwischen aufgehört zu bluten und tat auch kaum noch weh.

»Ihr besitzt doch selbst nicht viel«, erklärte der Pförtner.

»Aber wir sind gesund«, beschied ihm Noelle. »Und wir haben alles, was wir brauchen.«

Damit drehte sie sich um und hüpfte davon.

* * *

Am Haus angekommen, putzte sie sich die staubigen Schuhe sorgfältig an der Matte ab, ehe sie die Tür öffnete. Ein Windstoß wehte ein paar rot-gelbe Blätter hinein, die auf dem festgestampften Boden liegen blieben. Die Tage waren noch warm, doch es roch bereits nach Herbst. Noelle sammelte die Blätter ein, warf sie zurück auf die Straße und schloss die Tür.

Ihre Wohnung bestand nur aus einem einzigen Raum. In einer Ecke befand sich das breite Bett, in dem sie mit ihrer Mutter schlief. Als ihr Vater noch lebte, hatte sie ein eigenes gehabt, aber das war ihr zu klein geworden, und sie hatten es im letzten Winter in Stücke gehackt und verfeuert. Der große gusseiserne Herd, den sie zum Kochen und zum Heizen benutzten, hatte lange Zeit eine wohlige Wärme abgegeben.

Neben dem Bett saßen Noelles Puppen, die sie hütete wie einen Augapfel. Zwischen den beiden stand die Blechdose mit den Glasmurmeln. Sie war bis obenhin gefüllt. Noelle hatte in den letzten Wochen eine gute Hand gehabt. Am Anfang hatte sie nur eine einzige Murmel besessen, die ihr Mr. Potts geschenkt hatte. Sie hatte fleißig geübt, ehe sie sich auf einen Wettstreit mit ihren Freunden eingelassen hatte, und seitdem hatte sie immer mehr gewonnen.

Außer dem Bett und dem Ofen gab es noch einen Tisch mit vier Stühlen und einen alten, abgewetzten Sessel, in dem ihre Mutter Platz nahm, wenn sie Handarbeiten zu erledigen hatte, ein Waschbecken und eine Wanne aus Emaille. Sonntags durfte Noelle darin baden, nachdem ihre Mutter mit Eimern Wasser vom Brunnen geholt und es auf dem Herd erwärmt hatte. Dann seifte sie Noelle mit dem weichen Schwamm ein, wusch ihr die Haare und kämmte sie anschließend so lange, bis die blonden Locken golden glänzten und ihr weich auf die Schultern fielen.

Noelle trat in den Raum und stieß einen verblüfften Laut aus.

»Mummy?«

Ihre Mutter lag auf dem Bett, den Kopf im Kissen vergraben, den rechten Arm mit der linken Hand umklammert. Als sie Noelles Stimme hörte, richtete sie sich auf, und Noelle sah, dass ihr Gesicht verzerrt und ihre Augen gerötet waren. Ängstlich lief sie zu ihr hin.

»Was ist denn, Mummy?«, fragte sie erschrocken. »Geht es dir nicht gut?«

Ihre Mutter lächelte gequält. »Ich hatte einen Unfall in der Fabrik. Ich habe mir den Arm in einer Maschine eingeklemmt.«

Noelle setzte sich vorsichtig neben sie auf das Bett und strich ihr über die dunklen Haare, die sich um ihr blasses Gesicht ringelten.

»Tut es weh?«, fragte sie besorgt.

»Ja, mein Schatz.«

»Sehr?«

Ihre Mutter nickte.

»Dann musst du zum Arzt gehen.«

»Dafür haben wir kein Geld, mein Engel.«

»Oh.« Noelle biss sich auf die Lippen. Ihr Magen zog sich zusammen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Ihre Mutter streckte die gesunde Hand nach ihr aus. »Nicht weinen, mein Liebling.«

Noelle schluckte. »Ich habe etwas ganz Dummes gemacht, Mummy.« Sie erzählte ihr von der eleganten Dame und dem kleinen Hund, den sie im Hof der Fleischfabrik gerettet hatte.

»Aber das war doch nicht dumm«, sagte ihre Mutter. »Das war sehr freundlich von dir.«

Noelle nickte heftig. »Ja. Deswegen hat mir die Dame auch Geld gegeben.«

Ein hoffnungsvolles Leuchten glomm in den Augen ihrer Mutter auf. »Viel?«

»Ich glaube schon.« Noelle wischte sich die Tränen ab, doch es kamen immer neue. »Aber ich habe es nicht mehr. Ich habe es Mr. Potts geschenkt, damit er die Medizin für seine Frau kaufen kann.« Sie holte tief Luft. »Ich hole es zurück«, sagte sie und wurde ganz traurig. »Der arme Mr. Potts, er hat sich so gefreut. Doch nun brauchen wir es ja selbst.«

Sie wollte aufspringen, aber ihre Mutter hielt sie fest. »Nein. Es war gut, dass du es ihm gegeben hast. Mrs. Potts geht es viel schlechter als mir. Sie hat es nötiger.«

»Wirklich?«

»Ja, mein Engel.«

Noelle wurde von einem warmen Gefühl durchflutet. Sie kuschelte sich an ihre Mutter, vorsichtig, um ihr keine weiteren Schmerzen zuzufügen, und zog die Decke ein Stück höher.

»Aber du brauchst auch jemanden, der dir hilft«, sagte sie.

Ihre Mutter betastete den verletzten Arm und stöhnte leise. »Ja«, gab sie zu. »Läufst du und holst Mrs. Flynn? Vielleicht kann sie etwas für mich tun.«

Noelle sprang auf und eilte zur Tür.

»Ich bin gleich wieder da«, versprach sie und rannte nach draußen.

* * *

Mrs. Flynn lebte allein in einem winzigen Wellblechhaus am Ende der Straße. Auf den Nachbargrundstücken standen ebenfalls Wellblechhäuser, in der Mitte der Straße ein paar schlichte hölzerne Gebäude mit kleinen Nutzgärten, am Anfang einige mehrstöckige Backsteinhäuser mit Feuertreppen wie das, in dem Noelle mit ihrer Mutter lebte. In einem davon befand sich ein kleines Geschäft, das Lebensmittel, Seife, Bürsten und andere Dinge verkaufte. Niemand, der hier wohnte, verdiente viel Geld, und alle besaßen nur das Nötigste zum Leben. Die Menschen trugen schlichte graue Gewänder und derbe Schuhe. Viele Gesichter waren von tiefen Falten durchzogen, doch sie lächelten trotzdem, wenn sie Noelle sahen.

Die Straße war nur am oberen Ende gepflastert. Kam man näher zur Fleischfabrik, bestand sie nur noch aus Sand, Schotter und spitzen Steinen. Eine dunkle Wolke, die aus den Schornsteinen der Fleischfabrik kam, hing beständig über dem Viertel und färbte die Wäsche grau, die an langen, zwischen den Häusern durch die Hinterhöfe gespannten Leinen hing. In der Luft lag der Geruch nach Rauch und Fleisch und manchmal auch nach Blut.

Rund um das Haus von Mrs. Flynn herum befanden sich Beete, in denen alle möglichen Kräuter wuchsen, kein Obst und Gemüse wie bei den anderen, und natürlich auch keine Zierpflanzen, denn so etwas konnte sich in dieser Gegend niemand leisten. Nein, es waren Heilkräuter, die Mrs. Flynn regelmäßig erntete und an langen Schnüren trocknete, die sich quer durch ihr Haus zogen. Sie hatte viel über Krankheiten und Arzneien von einer alten Chinesin gelernt, die in Manhattan im Viertel der chinesischen Einwanderer lebte, die beim Bau der Eisenbahn mitarbeiteten.