Das Mündel des Apothekers - Stefan Thomma - E-Book

Das Mündel des Apothekers E-Book

Stefan Thomma

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Beschreibung

Der Apotheker Riesinger nimmt nach seiner kinderlosen Ehe ein Mündel an, dem er seinen Besitz vererben kann. Als sie 16 Jahre alt ist, wird Katharina mit dem geldgierigen Hofmeister verheiratet. Ihr Traum Ärztin zu werden platzt. Als Katharinas Stiefvater ermordet aufgefunden wird, kann sie sein Erbe nicht antreten, denn dazu benötigt sie ihren Ehemann. Doch der ist im 30-jährigen Krieg spurlos verschwunden. Der einzige Hinweis führt Katharina nach Augsburg. Doch jemand setzt alles daran, dass sie ihr Ziel nicht erreicht …

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Stefan Thomma

Das Mündel des Apothekers

Historischer Roman

Zum Buch

Anno Domini 1620 Nachdem die Ehe des Apothekers Riesinger kinderlos blieb, nimmt der Witwer ein Mündel an, um seinen stattlichen Besitz vererben zu können. Das Mündel, Katharina, wird im zarten Alter von 16 Jahren mit dem geldgierigen und machthungrigen Wilhelm Hofmeister verheiratet. Ihr Traum Ärztin zu werden platzt. Als der Apotheker ermordet aufgefunden wird, begibt sie sich auf die Suche nach dem Verbleib ihres Gatten, der im 30-jährigen Krieg auf mysteriöse Weise verschwunden ist. Da Katharina ihn zwingend zum Erbantritt benötigt, entscheidet sie sich dazu, mit ihrem Jugendfreund Simon ins ferne Augsburg zu reisen. Aber jemand scheint alles daran zu setzen, dass sie ihr Ziel nicht erreichen. Katharina hat nur zwölf Wochen Zeit, um ihren Ehemann zu finden, anderenfalls geht das Erbe an die Stadt. Eine Odyssee beginnt.

Stefan Thomma wurde 1970 in Oberstdorf im Allgäu geboren und wuchs als Sohn des Museumspflegers auf, was seine Affinität zu Historischem früh prägte. Geschichten und Erlebtes erzählte er seit seiner Jungend schon gerne und schmückte sie reichlich aus. Nach seiner Meisterprüfung im Heizung-Sanitär-Handwerk veränderte er sich räumlich und lebt heute mit seiner Familie in Thannhausen im Mittelschwaben und leitet eine Niederlassung im Fachgroßhandel für Haustechnik. Bei der Recherche für einen Tagesausflug stieß der Autor auf alte Aufzeichnungen der ehemals freien Reichstadt Nördlingen, die ihn fesselten und zum Schreiben eines historischen Romans animierten.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Vermeer_Lady_Maidservant_Holding_Letter.jpg und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Noerdlingen-1643-Merian.jpg

ISBN 978-3-8392-6892-6

Personenverzeichnis

Personen in Nördlingen:

Katharina Riesinger, Mündel des Apothekers

Benedikt Riesinger, Apotheker und Ratsmitglied

Elfriede Breitenbach, Haushälterin der Riesingers

Simon Mühlbichler, Zimmermann

Eberhard Widmann, Pastor

Erich Stracke, Stadthauptmann

Mathilda Holzinger, Hebamme

Georg Schillinger, Bürgermeister

Wolfgang Gundelfinger, Ratsmitglied

Jakob Seefried, Richter des Stadtgerichts

Nepomuk Fromme, Bader

Hans Griebel, Totengräber

Jörg Egger, Scharfrichter

Wilhelm Hofmeister, Kaufmannssohn

Josef Hofmeister, Kaufmann und Vater von Wilhelm

Heidrun, Base der Bäckerin aus der Judengasse

Elena Rittmeister, Hübschlerin

Erzherzog Ferdinand*, König von Ungarn, Kroatien, Böhmen. Ab 1637 als Ferdinand III. deutscher Kaiser

Heinrich, Söldner

Timo, Söldner

Luise Furtner, Gewürzhändlerin aus Heidelberg

Helmut Furtner, Gewürzhändler aus Heidelberg

Personen in Augsburg:

Martha Stützle, Hebamme

Engelhard Metzner, Stadtmedicus

Michael Metzner, Doktor und Sohn des Stadtmedicus

Sigismund Franz von Habsburg*, Bischof von Augsburg

Personen in Saint Hubert:

Vinzenz von Hüttenstein, Abt

Ferdinand I.*, Kurfürst und Erzbischof von Köln, Hildesheim, Lüttich und Münster

Schwester Judith, Krankenschwester

Personen in Florenz:

Francesco de Manzoni, Händler aus Neapel

* historisch belegte Personen

Vorwort

Nach dem »Prager Fenstersturz« begann am 23. Mai 1618 der Große Krieg, der erst wesentlich später als der »30-jährige Krieg« in die Geschichtsbücher einging. Kämpften anfangs noch Protestanten gegen Katholiken und standen sich die Landsknechte noch aus Überzeugung gegenüber, änderte sich das im Verlauf des Krieges. Nicht selten wechselten Söldner mehrmals die Seiten und kämpften für den, der mehr bezahlte.

Die entscheidende Kampfhandlung und die mit den meisten Opferzahlen in kürzester Zeit war wohl die Schlacht bei Nördlingen. Die protestantische und damals Freie Reichsstadt sympathisierte mit den Schweden zum Erhalt ihres gemeinsamen Glaubens.

Nach der Rückeroberung Regensburgs zogen die kaiserlich-bayerischen Truppen Richtung Nördlingen, um die Schweden endgültig aus Süddeutschland zu vertreiben. Mehrere Hundert Bürger unterstützten ihre Glaubensbrüder und trafen Vorkehrungen, um eine Belagerung der Stadt zu erschweren. Häuser und Hütten außerhalb der Stadtmauern wurden abgerissen, um den Angreifern die Deckung zu nehmen. Dunghaufen vor den Toren sollten die Geschosse abbremsen und die Feuergefahr dezimieren. Selbst die St. Emmeranskirche auf dem Friedhof wurde niedergebrannt und Grabsteine entfernt.

Hunger und Not der einfachen Bevölkerung bereits vor dem Krieg ist für uns moderne Menschen kaum vorstellbar. Die erwirtschafteten Mittel reichten in den wenigsten Familien aus, um alle zu ernähren. An den Erwerb von Kleidung und Alltagsgegenständen war kaum zu denken. Die marodierenden Söldnerheere zogen durch das Land und nahmen sich noch von dem, was ohnehin nicht ausgereicht hatte. Der Krieg ernährte den Krieg. Es wurde gebrandschatzt, geraubt, erpresst, geplündert, vergewaltigt und gemordet. Im Schlepp der Söldner zog der Tross, der oft größer war als das eigentliche Heer. Frauen begleiteten ihre Männer im nicht enden wollenden Krieg, gebaren ihre Kinder im Feldlager und zogen weiter von Schlachtfeld zu Schlachtfeld. Marketender1 belieferten die Kämpfer mit Alltagsgegenständen und Hübschlerinnen2 sorgten sich um Männer, die keine Frau hatten. Mit Krankheiten und Seuchen im Gepäck, infizierten sie die bereits ausgezehrten Menschen. Etwa ein Drittel der damaligen Bevölkerung überlebte dies nicht. In Nördlingen waren von 4.000 Einwohnern nur noch 800 übrig. Am 3. Februar 1635 fanden zeitgleich 25 Hochzeiten statt, da es nach der Belagerung eine große Zahl von Witwen gab. Unverheiratete wurden dazu genötigt, den Bund der Ehe einzugehen, um geschäftsfähig zu werden oder es zu bleiben. Im reformierten Glauben wurde die Ehe gestärkt und als von Gott gewolltes höchstes Gut gepredigt.

Frauen waren während dieser Zeit rechtlose und bevormundete Geschöpfe. Bis zu ihrer Heirat unterstanden sie dem Vater, der das Oberhaupt der Familie bildete. Danach war der Gatte ihr Vormund. Das Erbrecht war regional unterschiedlich geregelt. In den meisten Fällen konnten weibliche Nachkommen ohne ihren Ehemann keine Erbansprüche stellen, auch wenn es sich um Nachlässe ihrer eigenen Eltern handelte. Wie sich das Ganze im Adoptivfall verhalten hatte, lässt sich heute nur noch schwer nachvollziehen.

Allein der Beruf, und somit der Stand der Eltern, entschied über die Zukunft der in die Familie hineingeborenen Kinder. Die unterste Gesellschaftsschicht bildeten die Unehrenhaften. Das waren zum einen jene, die als unehrlich galten, wie Schäfer, Müller, Türmer3, Leineweber, und zum anderen Menschen, die Berufe ausübten, die mit Schmutz oder Tod in Berührung kamen, wie beispielsweise Henker, Abdecker, Bader, Totengräber, Prostituierte, Gassenkehrer oder Büttel. Als ebenso unehrenhaft galt das »fahrende Volk«. Hausierer und Schauspieler wurden nicht selten als »gott- und herrenloses Gesindel« beschimpft. Wer einmal unehrenhaft war, der blieb es sein Leben lang. Heiraten von Angehörigen unterschiedlicher Stände war zwar möglich, allerdings verlor der Bessergestellte dadurch seinen Stand. So heirateten Henker meist untereinander, weshalb sie sich auch gegenseitig »Vetter« nannten.

Da auch in größeren Städten wesentlich weniger hingerichtet wurde, als man vermuten könnte, übten Scharfrichter viele weitere Tätigkeiten für den täglichen Broterwerb aus. Sie leerten Abortgruben, waren für die Sauberkeit in der Stadt zuständig oder unterstützten bei Bedarf den Totengräber oder Abdecker. Der Verkauf von »Glücksbringern« in Form von abgetrennten Daumen eines erhängten Diebes oder von Seilstücken vom Galgen brachte so manchen Kreuzer in die Familienkasse. Ihre medizinischen Kenntnisse standen dem Fachwissen eines studierten Medicus oft nicht nach oder übertrafen diese sogar. Durch die Versorgung der gefolterten Delinquenten und das Sezieren von Gerichteten, woran kaum jemand Anstoß nahm, erlangten sie ihre heilerischen Fähigkeiten.

Betäubungsmittel im heutigen Sinne gab es nicht. Es soll sogenannte »Schlafschwämme« gegeben haben, eine Mixtur aus verschiedenen Kräutern, die auf einen Schwamm oder ein Tuch geträufelt wurden. Allerdings war die Dosierung äußerst schwierig und führte nicht selten zum Tod. Als Pflanzen zur Herstellung werden oft Bilsenkraut, Stechapfel, Tollkirsche und Alraunwurzel genannt. Letztere wuchsen laut Aberglauben am besten auf dem Schindanger direkt unter dem Galgen. Genährt von Blut, Sperma und Exkrementen der Gehängten, würden sie prächtig gedeihen.

Der Aberglaube der unwissenden Bevölkerung war so weit verbreitet wie der christliche Glaube selbst. Alles, was nicht rational erklärt werden konnte, wurde dem Teufel zugeschoben und musste Hexerei sein. Nahm sich jemand selbst das Leben, wurde er automatisch zu einem Wiedergänger. Dieser könne, wenn er auferstanden war, allein durch Berührung Menschen töten. Selbstmörder wurden geköpft, mit Gesicht und Bauch nach unten begraben, damit die schädigenden Kräfte ins Erdinnere abgeleitet wurden und so keinen Schaden anrichten konnten. Teilweise wird berichtet, dass Pfähle durch die toten Körper getrieben wurden, um ein späteres Auferstehen zu verhindern. Ein Dornengestrüpp erfüllte aber in der Regel auch diesen Zweck.

1 Ein Marketender begleitet und versorgt Soldaten und Truppen mit Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs.

2 Früherer Name für Prostituierte.

3 Turmwächter.

Prolog

Augsburg, 10. November Anno Domini 1620, abends

Im flackernden Schein des Talglichts erschien der Gebärstuhl wie ein Folterinstrument, auf dem die völlig entkräftete Frau schon seit Stunden saß. Ein Sturm von Schmerzen fegte wie Hagelschlag über ihren Körper hinweg, als die Wehen erneut einsetzten. Ihr Atem quoll in weißen Schwaden aus dem Mund, den sie für einen weiteren Schmerzensschrei aufgerissen hatte.

Die Lehrmagd der Hebamme kniete weinend und vor Kälte zitternd am Boden und betete. Ihre erste Geburt hatte sie sich bei Gott einfacher vorgestellt. Wenn die erfahrene Geburtshelferin jetzt nicht bald käme, würde der Tod der Gebärenden und ihres Kindes unausweichlich eintreten.

Schweiß tropfte der Wöchnerin aus dem Haar. Trotz geschlossener Fenster spürte sie einen Windstoß, als der Novembersturm wieder Fahrt aufnahm. Elena war die Kälte jedoch gewohnt. Seit Kriegsbeginn lebte sie in einem Zelt und zog mit dem Tross der kaiserlichen Truppen. Im letzten Winter kam sie mit etwas Glück beim Augsburger Stadtmedicus unter. Er überließ ihr eine spartanisch eingerichtete Kammer, die über einen separaten Eingang zu erreichen war. Bei seinen wohlhabenden Freunden konnte sie sich einiges verdienen. Doch nachdem der feiste Tuchhändler ihr beiwohnte, blieb das Monatsblut aus. Er versicherte ihr, sie zu unterstützen, und bezahlte im Voraus ihre Unterkunft.

Elenas kraftlose Schreie wichen einem Wimmern, als die Türe krachend aufgestoßen wurde und die Hebamme hereinstürmte. Mit ihr drängten sich dutzende Schneeflocken in die Kammer.

»Heilige Maria und Josef sei Dank! Sie ist da!«, rief die Magd und wischte sich die Tränen von den Wangen.

»Ich hoffe, ich komme noch nicht zu spät!«, keuchte Martha Stützle. »Die Wege sind kaum passierbar.«

»Sie hat keine Kraft mehr, sich noch länger auf dem Stuhl zu halten. Das Kind will aber einfach nicht kommen!«

»Ist es ihre erste Geburt?«, erkundigte sich die Hebamme, während sie den Bauch von Elena abtastete.

»Ja. Und ich hab extra eine Axt unter den Gebärstuhl gelegt, um böse Geister zu vertreiben und ihre Entbindung zu erleichtern.«

»Die mag wohl die Geister vertrieben haben, aber gegen eine Steißlage hilft sie halt nicht.«

Mit wenigen Handgriffen hatte die erfahrene Geburtshelferin die Lage des Ungeborenen korrigiert.

»So, und jetzt pressen!«, wies sie die Wöchnerin an.

Elena nickte mit geschlossenen Augen fast unmerklich. Mit fest aufeinandergepressten Lippen folgte sie den Anweisungen von Martha, die schon Hunderte von Frauen entbunden hatte. Immer wieder forderte sie die Gebärende auf, zu pressen.

»Ich kann nicht mehr!«, stöhnte Elena.

»Wenn du jetzt aufgibst, stirbst nicht nur du, sondern auch dein Kind. Reiß dich zusammen! Und noch einmal!« Ein letztes Mal sammelte die Hübschlerin all ihre Kräfte. Das Greinen eines Neugeborenen erklang. Erschöpft nahm Elena ihr Kind entgegen.

»Es ist ein gesunder Junge.« Wieder setzten die schon bekannten Schmerzen ein.

»Bekomme ich noch ein Kind?«

»Nein, das ist nur die Nachgeburt. Gleich hast du alles überstanden.« Doch erneut erklang das Greinen eines Kindes, das schnell in Leinen gepackt, Marthas Lehrmagd übergeben und aus der Kammer geschafft wurde.

»Wo ist mein zweites Kind?«

»Du hast nur eines auf die Welt gebracht, meine Liebe. Ich habe dir doch erklärt, dass die erneuten Wehen von der Nachgeburt ausgelöst wurden.«

»Aber ich habe es doch gehört! Was habt ihr mit meinem Kind gemacht?«, schrie Elena panisch und versuchte aufzustehen.

»Du bleibst schön sitzen!« Martha drückte sie wieder zurück in den Gebärstuhl.

»Die Strapazen der Geburt haben dich ja total verwirrt. Jetzt schlaf erst einmal und ruh dich aus. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«

*

Am darauffolgenden Abend peitschte der Schneeregen gegen die Butzenglasscheiben, die kaum noch Licht in das Haus ließen, als das Pochen an die Türe der Nördlinger Stadtapotheke immer heftiger wurde.

»Jaja«, murmelte die Haushälterin Elfriede Breitenbach, während sie in Richtung Hauseingang schlurfte. Ihre Gelenke machten sich seit langem durch ihr Übergewicht schmerzhaft bemerkbar, wodurch alles etwas langsamer ging. Viele Jahre war sie nun schon in Diensten des ehrwürdigen Apothekers Benedikt Riesinger. Seit dem Tod seiner Frau lebten die beiden allein in dem großen Patrizieranwesen nahe dem Rathaus. Knarzend öffnete sich die Türe zur Offizin4. Triefend nass stand eine schwarze Gestalt auf den Stufen.

»Hochwürden? Was verschafft uns die Ehre eines so ungewöhnlichen Besuchs?«

»Hier ist euer Mündel5 und ich muss dringend den Apotheker sprechen«, erwiderte Pastor Eberhard Widmann und übergab Elfriede das kleine Bündel.

»Ein Mündel?«, wiederholte die Haushälterin verblüfft.

»Das hat schon seine Richtigkeit. Riesinger weiß, dass ich heute komme.«

»Aha. Er ist oben in seinem Arbeitszimmer am Kamin. Ich werde Euch gleich bei ihm ankündigen. Kann ich Hochwürden etwas anbieten?«, fragte sie der Höflichkeit halber nach.

»Macht Euch keine Umstände, ich bin in Eile«, murrte der hagere Kirchenmann im Vorbeigehen und war schon auf der Treppe, die in das obere Stockwerk führte. Seine knochigen Hände hielten sich bei jedem Schritt am Treppengeländer fest und hievten den dürren Körper Stufe um Stufe empor. Schmunzelnd blickte die Haushälterin in das zufriedene Gesichtchen des Neugeborenen.

»Mein Gott, bist du ein süßes Kind. Jetzt werden wir uns erst einmal um dich kümmern.«

»Mein lieber Benedikt«, begann der Pastor im Vieraugengespräch mit dem Apotheker, »es hat besser geklappt, als ich befürchtet hatte. Nur der Rückweg war sehr beschwerlich. Ich hoffe, der Herrgott wird uns verzeihen.«

»Mit Sicherheit, Hochwürden. Danke für Eure Hilfe. Ich werde mein Wort halten. Die St. Georgskirche soll ihre Seitenorgel bekommen, wie Ihr es euch gewünscht habt. Und ich hab einen Erben und jemanden, der sich um mich kümmert, wenn ich alt und krank bin. Ach, noch etwas, Hochwürden. Ich brauche ja nicht zu betonen, dass unsere Unterhaltung hier nie stattgefunden hat. Und das Kindlein hat ein grausamer Mensch einfach in der Kälte vor der Kirche abgelegt.«

»Ich unterliege der kirchlichen Schweigepflicht. Das versteht sich doch von selbst, werter Riesinger. Gehabt Euch wohl!«

4 Werkstatt, Arbeitsraum mit angeschlossenem Verkaufsraum.

5 Unmündige Person, die eines Vormundes bedarf.

Kapitel 1

Nördlingen, 9. Juli Anno Domini 1634 14 Jahre später.

Ein heißer Luftschwall blies Katharina ihre strohblonden Locken ins Gesicht, als sie die Türe des Schulhauses öffnete und ins Freie hinaustrat. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand bereits erreicht und verwandelte die Freie Reichsstadt in einen Backofen. Schon um 5 Uhr begann der Unterricht, als es noch kühl und der Gestank in den Gassen erträglich war. Der Stadtrat hatte zwar einige Verbote erlassen, doch es wurden nach wie vor die Inhalte der Nachtpfannen in den Gassen entleert und verendete Tiere mussten oft tagelang auf ihre Abholung warten.

»Psst«, vernahm sie von der Seite.

»Simon? Hast du etwa auf mich gewartet?«

»Ja, ähm, ich wollte dich fragen, ob wir nicht später zur Eger … ich meine, ob wir uns nicht abkühlen sollten bei der Hitze«, stotterte Simon Mühlbichler mit hochrotem Kopf. Der sonst recht redegewandte Junge brachte gegenüber Katharina kaum einen ganzen Satz über die Lippen. Seit Wochen hatte er sich vorgenommen, das hübsche Apothekermündel anzusprechen, hatte es aber im letzten Moment immer wieder verschoben, weil er sich fürchtete, eine Abfuhr von ihr zu bekommen.

»Mein Stiefvater ist am frühen Nachmittag meistens beim Bader, um Heilmittel auszuliefern. Da könnte ich mich eine Weile davonschleichen.«

Sichtlich erleichtert stapfte der Zimmermannssohn neben seiner Angebeteten über das bucklige Kopfsteinpflaster, als sich ihnen hinter der nächsten Hausecke vier Halbwüchsige in den Weg stellten.

»Na, was haben wir denn hier für ein hübsches Paar«, spottete ihr Rädelsführer. Katharina kannte ihn. Es war der Kaufmannssohn Wilhelm Hofmeister. Seine Eltern gehörten zu den reichsten Patriziern in der Stadt. Mit seinem feuerroten Haarschopf und der blassen Haut wirkte er kränklich, war aber von kräftiger Statur. Im Gesicht wuchs ihm nur ein leichter roter Haarflaum, obwohl er einige Jahre älter war als Katharina und Simon. In seiner Handfläche zappelte eine einbeinige Spinne und kämpfte gegen ihren bevorstehenden Tod an.

»Die schöne Apothekerstochter und das hässliche Holzwürmchen. Weiß dein Vater, dass du dich mit bettelarmen Handwerkern herumtreibst, die sich nicht mal eine ordentliche Kleidung leisten können?«

»Das geht dich nichts an. Lasst uns in Frieden!«

Wilhelm trat einige Schritte auf Simon zu, packte ihn an seinem Hemdkragen und kam ihm dabei so nahe, dass sich ihre Nasen fast berührten.

»Pass auf, was du tust, Holzwürmchen. Such dir das Weibsvolk unter deinesgleichen aus. Hast du mich verstanden? Und jetzt verschwinde, bevor wir dich windelweich prügeln.«

»Hört sofort auf damit!«, schrie Katharina und stürmte auf Wilhelm zu. Sie ergriff seinen Arm, der noch immer Simons Hemdkragen zuschnürte, und biss mit aller Kraft in sein blasses Fleisch. Sofort ließ er von Simon ab, sprang einen Schritt zurück und brüllte laut auf:

»Ah! Du elendes Miststück! Da meint man es gut mit euch Weibern und das ist dann der Dank dafür! In der Hölle sollst du schmoren! Los, kommt! Soll sie doch mit Bettlern ihr Nachtlager teilen!«, schimpfte er und verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war.

»Geht es dir gut, Simon?«

»Geht schon wieder. Der Kerl hätte mir die Kragenweite beinahe auf null gestellt. Sollen wir trotzdem noch zur Eger heute?«

»Gerne, ist ja keinem etwas passiert. Mit Mädchen in meinem Alter komme ich ohnehin nicht klar. Die sind neidisch, weil ich als Einzige auf die Lateinschule darf.«

»Das hat bestimmt dein Stiefvater eingefädelt, weil er im Rat sitzt. Stimmt’s?« Katharina nickte und strich sich ihre Haarsträhne hinter das Ohr.

»Am Baldiger Tor ist links ein kleines Waldstück. Da ist der beste Platz. Beim schiefen Baum. Ich werde auf dich warten«, versprach er und lief nach Hause.

Wie Katharina geahnt hatte, packte Apotheker Riesinger nach dem Mittagessen einige Kräuter und Heilmittel in einen Korb.

»Ich bin eine Weile außer Haus. Der Bader Fromme erwartet dringend meine Lieferung.« Katharina wusste genau, dass es ihm nicht um die Lieferung ging. Dazu hätte er auch sie schicken können. Vielmehr sehnte er sich nach einer Unterhaltung unter Fachleuten, und beim Bader traf man eben diesen und jenen.

Kaum war Benedikt Riesinger außer Sichtweite, schlich sich das Apothekermündel aus dem Haus. Als sie die Stadt am Baldiger Tor verlassen hatte, blickte sie sich mehrfach um und fand schnell die Stelle, die Simon ihr beschrieben hatte. Doch sie war allein.

Hat Mühlbichler kalte Füße bekommen nach dem Zusammentreffen mit Wilhelm?

»Psst, hier oben!« Über sich sah sie Simon aus dem Fensterausschnitt eines Baumhauses auf sie herabschauen. Seine Gesichtszüge erhellten sich, als ihre Blicke sich trafen. Mit ein paar gekonnten Schwüngen hangelte er sich vom Baum.

»Schön, dass du da bist, Katharina. Das Wasser ist so herrlich erfrischend, lass uns gleich hineinspringen.«

»Ich setze mich nur ans Ufer und kühle meine Beine ab.«

»Wie? Bist du wasserscheu?«

»Ich kann nicht schwimmen! Ist deine Neugierde jetzt befriedigt?«

»Das tut mir leid, aber warum kannst du nicht schwimmen? Jeder kann das.«

»Ich glaube, es war ein Fehler, hierherzukommen.«

»Na, wenn das kein Zufall ist«, spottete Wilhelm Hofmeister, der diesmal ohne seine Freunde durch das Gebüsch schlüpfte. »Und wieder in so reizender Begleitung.«

»Himmelherrgott, was willst du ständig von uns? Wer bist du? Ein Büttel? Der Bürgermeister oder der Pastor?«, fragte Katharina wütend.

»Hör auf zu fluchen und halt dein vorlautes Maul, Weib!«, schrie Wilhelm. Er bückte sich, riss einige kniehohe Brennnesseln aus dem Unterholz und peitschte damit auf Simons Rücken ein.

»Und du verkaufst mich wohl für blöd! Das ist meine letzte Warnung!«

»Bist du von Sinnen? Hör sofort auf damit!«, schrie Katharina und stürzte sich auf Wilhelm. Es entstand ein wildes Handgemenge. Gemeinsam überwältigten sie Hofmeister und warfen ihn in die Eger. Die Strömung trieb ihn rasch einige Meter flussabwärts.

»Das werdet ihr mir noch büßen!«, schrie der Kaufmannssohn und ruderte heftig mit den Armen. Simon und Katharina mussten unweigerlich lachen. Als sie sich etwas beruhigt hatten, strich sie ihm über den Rücken.

»Das sieht böse aus. Gib mir dein Hemd.« Sie tauchte es in den Fluss und legte Simon das tropfnasse Stück Stoff über die Schultern.

»Das tut gut, danke!«

»Ich muss wieder nach Hause. Wenn mein Stiefvater vor mir zurück ist, gibt es mächtigen Ärger.« Katharina drückte seine Hand und verschwand im Unterholz.

Kaum hatte sie die Türe zur Offizin hinter sich geschlossen, kam ihr Stiefvater nach Hause.

»Wo steckst du denn schon wieder, Katharina«, rief die Haushälterin. »Dachte ich’s mir doch. Kind, du sollst lernen, wie man einen Haushalt führt, anstatt dich für Kräuter und Salben zu interessieren!«

Katharinas Interesse lag mehr an den Heilmitteln und den Geheimnissen der Medizin als an Putzen und Kochen. In der Offizin ihres Stiefvaters herrschte akribische Ordnung, was nicht zuletzt auch Katharinas Verdienst war. In den Regalen aus gewachstem Nussbaumholz standen irdene Töpfe und Glasbehälter sorgfältig aufgereiht und mit deren Inhalt beschriftet. An der Decke hingen Sträuße von Kräutern und Heilpflanzen zum Trocknen, bis sie weiterverarbeitet werden konnten. Der massive Verkaufstresen, auf dem eine Waage und verschiedene Mörser bereitstanden, war noch von Benedikts Eltern, die das Geschäft aufbauten. Die Riesingers hatten in den letzten Jahrzehnten durch den Handel mit Barchent und anderen Tuchwaren einen stattlichen Reichtum erwirtschaftet. Benedikt schwenkte dann auf den Verkauf von Heilmitteln um, als die Pfingstmesse in Nördlingen immer mehr an Bedeutung verlor.

»Elfriede hat recht«, mischte sich jetzt auch ihr Stiefvater ein. »Du wirst schon bald heiraten und Kinder bekommen, da nützt dir das Apothekerwissen nichts. Dein Mann wird für euch sorgen.« Entsetzt blickte Katharina zwischen Elfriede und Benedikt hin und her.

»Herrgott, ich will aber nicht heiraten, vor allem wüste ich ja nicht mal, wen.«

»Hör auf zu fluchen! Und das lass mal meine Sorge sein. Ich finde schon den Richtigen für dich.«

»Ihr wollt mich verschachern wie ein Stück Vieh?«

»Katharina, es ist doch nur zu deinem Besten«, erklärte ihr Stiefvater. »Merkst du denn nicht, wie die Kerle, allen voran dieser Zimmermannssohn Mühlbichler, dir hinterherstellen wie brunftige Hirsche? Ich kann dich nicht ewig vor Übergriffen schützen.«

Ohne ein weiteres Wort rannte Katharina aus dem Apothekerhaus. Schnellen Schrittes marschierte sie in nordwestlicher Richtung durch die Stadt. Dicke Wolken schoben sich vor die Sonne. Der auffrischende Wind blies Katharina den Straßenstaub in die Augen. Beim Brot- und Tanzhaus kam ihr Mühlbichlers jüngerer Bruder entgegen.

»Michel, lauf schnell zu Simon und sag ihm, ich muss ihn dringend sprechen. Ich warte am schiefen Baum auf ihn«, bat Katharina den Dreikäsehoch und verließ die Stadt am Baldiger Tor.

»Ist der Teufel hinter dir her, Mädchen?«, lachte ein Wachmann und seine Kameraden pfiffen ihr hinterher. Vor der Brücke, unter der die Eger floss, bog sie links zum bewaldeten Flussufer ab. Einen Steinwurf entfernt, verdeckt durch Büsche und Sträucher, stand der schiefe Baum. Die Baumkrone der Weide ragte fast bis zur Mitte des Flusslaufs. Zusammengekauert saß sie in einer Ecke des Baumhauses und wickelte sich in eine löchrige Decke. Regen setzte ein. Dicke Tropfen klatschten auf das Laub der Bäume und in den Fluss.

»Was ist denn passiert?«, fragte Mühlbichler außer Atem. Katharina erzählte, was ihr Stiefvater vorhatte.

»Der Tag musste ja irgendwann mal kommen. Weißt du denn schon, wer der Glückliche sein wird?«

»Nein, aber allein die Tatsache, dass ich heiraten soll, ist schon schlimm genug. Somit platzt auch mein großer Traum, die erste studierte Ärztin von Nördlingen zu werden.«

»Du willst Medizinerin werden? Keine Universität dieser Welt lässt ein Weib studieren!«

»Da irrst du, mein Lieber. An der Medizinschule von Salerno sind auch Frauen zugelassen.«

»Ach, daher warst du erst beim Stadtmedicus. Zuerst dachte ich, du wärst krank.«

»Du spionierst mir nach?«

Simon wurde rot und senkte seinen Blick.

»Nun ja. Du bist kein Mädchen, das man als Junge einfach so anspricht. Ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte, und bin dir gefolgt.«

»Hm. Ja, ich war dort. Aber auch das erste und letzte Mal.«

»Warum? Was ist denn passiert?«

»Ach, dieser aufgeblasene Neunmalklug. … ›Das Gehirn eines Weibes ist nicht in der Lage, die komplexen Abläufe im menschlichen Körper zu erfassen. Denn das weibliche Gehirn ist erwiesenermaßen kleiner als das des Mannes …‹ Eine Unverschämtheit war das.«

»Schließt die Tore! Wir werden angegriffen!«, rief ein Wachmann.

»Was zum Teufel ist da draußen los?«, fragte Simon, während er und Katharina durch den kleinen Fensterausschnitt auf das Baldiger Tor blickten. Regungslos beobachteten sie, wie berittene Soldaten mit Hellebarden6 und Schlachtschwertern die Egerbrücke überquerten.

»Warum verriegeln die das Tor nicht? Mein Gott, das sind ja Hunderte«, stellte Katharina fest. Die Wachen schafften es nicht mehr rechtzeitig, das Tor zu schließen. Die ersten Soldaten waren schon auf der anderen Seite der Stadtmauer.

Als die beiden ans Baldiger Tor schlichen, wunderten sie sich, dass es immer noch offen stand. Auch von kriegerischen Handlungen war nichts zu hören. Stattdessen waren Männer damit beschäftigt, einen Erdhügel aufzuschütten, um die Brücken vor den Toren zu blockieren.

»Was waren das für Soldaten?«, fragte Katharina den Wachmann am Tor.

»Schwedische Kämpfer, die uns helfen, die kaiserlichen Truppen zu vertreiben. Es wird nicht mehr lange dauern und die Katholischen werden uns belagern. Seht ihr die Häuser vor den Stadttoren? Die werden heute alle noch abgerissen, damit die kaiserlichen Truppen keine Deckung haben. Selbst die St. Emmeranskirche auf dem Totenhügel wird heute noch niedergebrannt. Macht lieber, dass ihr heimkommt.«

Entsetzt blickten Simon und Katharina sich an.

»Ich bringe dich nach Hause«, flüsterte Mühlbichler und legte seinen Arm um sie.

Bürger rannten besorgt durch die Straßen und verschwanden in ihren Häusern. Ein Bub zerrte ein quiekendes Schwein in den Stall. Manch einer vernagelte die Fenster oder verbarrikadierte die Haustüre.

Katharina und Simon schauten verwundert, als sie Soldaten vor der Apotheke sahen.

*

Kopfschüttelnd kontrollierte Riesinger währenddessen die langen Zahlenkolonnen in seinen Geschäftsbüchern.

»Da stimmt doch etwas nicht!« Die Haushälterin stürmte mit ihrem Wäschekorb ins Haus, dass die Türe, vom Wind angetrieben, ins Schloss knallte. Riesinger erschrak und zuckte zusammen.

»Herrgott, Elfriede! Jetzt kann ich von vorn anfangen!«

»Irgendetwas scheint in der Stadt los zu sein«, berichtete sie außer Atem.

»Was wird schon los sein? Anderen wird der Wind auch Türen und Fensterläden zuschlagen.« Im selben Augenblick stürmten Soldaten in die Offizin. Die Eingangstüre krachte gegen die Wand, dass ein Stück Putz herausbrach und auf den Dielenboden bröselte.

»Einquartierung!«, rief der Stadthauptmann Stracke.

»Wie bitte?«, erwiderte der Apotheker entgeistert.

»Wir haben 500 schwedische Soldaten zu versorgen. Diese sind unter der Führung von Oberstleutnant Deubitz in die Stadt eingezogen. Ich selbst habe das Kommando über 600 Nördlinger Bürger. Habt Ihr nicht gesehen, dass an allen Ecken und Enden Vorbereitungen auf einen Angriff der kaiserlichen Truppen laufen?«

»Ähm, nein.«

»Wie Ihr wisst, sind die schwedischen Besatzer Protestanten wie wir. In Regensburg konnten sie die kaiserlich-bayerischen Truppen nicht mehr aufhalten. Vor vier Tagen wurde die Stadt Regensburg übergeben und wir sollen das nächste Ziel sein. Um weiterhin evangelisch zu bleiben, mussten wir die Hilfe von unseren schwedischen Freunden, Feldmarschall Horn und Herzog Bernhard, annehmen. Erste Dörfer im Ries wurden von den Katholischen bereits geplündert.«

»Und warum erfahre ich das als Ratsmitglied erst jetzt? Wir sollen uns gegen Tausende Kaiserliche stellen?«, entgegnete Riesinger.

»Ich führe nur die Befehle aus! Unsere Stadt ist nahezu uneinnehmbar. Vergesst das nicht. Und in einigen Tagen erwarten wir 25.000 Mann zur Verstärkung. Das sollte wohl reichen, werter Herr Apotheker. Ihr werdet zwei Offiziere bei Euch aufnehmen!« Nachdem ihn der Apotheker nur anstarrte, fuhr er fort: »Ich kann bei Euch auch vier verlauste einfache Soldaten einquartieren, wenn Euch das lieber ist.«

»Nein, das ist schon in Ordnung. Sie sollen hereinkommen. Meine Haushälterin wird ihnen ihre Unterkunft zeigen.«

Elfriede führte die Soldaten die Treppe hinauf, während Katharina und Simon die Offizin betraten.

»Ah, der junge Mühlbichler hat unsere Tochter ausgeführt«, spottete der Apotheker. Seine Augen formten sich zu schmalen Schlitzen und musterten den Burschen.

»Für dich ist es besser, du gehst jetzt. Und lass die Finger von Katharina!«

»Aber er hat doch niemandem was getan. Im Gegenteil, er hat mich beschützt.«

»Ich denke, wir haben uns verstanden.«

Die junge Frau ballte ihre Fäuste, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

6 Speerartige Stoß- und Hiebwaffe im späten Mittelalter, die aus einem langen Stiel mit axtförmiger Klinge und scharfer Spitze besteht.

Kapitel 2

Mit einem gewaltigen Knall schlugen die ersten Kanonenkugeln der kaiserlichen Truppen in der Stadtmauer ein. Mütter zerrten ihre Kinder nach Hause und verbarrikadierten sich. Jeder wehrfähige Bürger war in Alarmbereitschaft oder bereits auf dem Wehrgang. In einer nächtlichen Aktion gelang es den kaiserlichen Truppen, die Eger umzuleiten. Die Kornmühle stand dadurch still und Brände konnten nur noch schwer gelöscht werden.

Nachdem Katharina mit Hilfe von Simon einige Fässer mit Wasser befüllt hatte, eilten sie ins Gerberviertel, um ihrer Freundin, der Hebamme Holzinger, zu helfen.

»Wir müssen uns beeilen!«, trieb Mühlbichler sie an. »Es ist nur noch ein klägliches Rinnsal im Flussbett.«

»Ja, und die Leute wühlen den ganzen Dreck auf beim Abschöpfen. Hoffentlich ist das Wasser noch genießbar, bis wir bei Mathilda sind.«

»Die Felder außerhalb der Stadt sind auch komplett verwüstet. Überall sieht man Laufgräben und Geschützstellungen.«

»Glaubst du, die Tore halten den Geschützen stand?«

»Die Schweden haben direkt vor die Stadteingänge Hügel aus Erde und Kuhmist aufgeschüttet. Das soll die Geschosse so weit abbremsen, dass sie keinen Schaden mehr anrichten.«

»Auf Ideen kommen die«, staunte Katharina.

Das Gerberviertel hatte wesentlich stärker unter den Angriffen gelitten als die Mitte der Stadt. Mathilda lief schimpfend um ihre kleine Kate7.

»Schaut nur!«, rief sie zu Simon und Katharina, »die haben mir doch glatt ein Loch ins Dach geschossen. Na, denen werde ich jetzt helfen. Auf alte Weiber mit Kanonen schießen.«

»Was hast du vor, Mathilda?«, fragte Katharina.

»Den katholischen Herren da draußen werde ich jetzt ein leckeres Süppchen kochen!« Achselzuckend sahen sich Simon und Katharina an. Über Mathildas Feuer hing ein Kessel, in dem eine Mischung aus Harz, Öl und Tierfett brodelte.

»Kommt her und helft mir!« Gemeinsam schleppten sie den schweren Kessel die Treppe zum Wehrgang hinauf. Frauen warfen mit Steinen nach den Belagerern, die mit Sturmleitern versuchten, die Stadtmauer zu überwinden.

»Macht mal Platz für ein schweres Geschütz!«, bat Mathilda die Steinewerferinnen. Nachdem sie den Kessel abgestellt hatten, rief die Hebamme zu den Angreifern: »Seht mal her, ihr Hübschen!«, und walkte ihre großen Brüste unter ihrem Kleid. »Schaut es euch genau an! Ihr werdet es nur einmal sehen!«, spottete sie und kippte den Inhalt des Kessels auf die Soldaten hinab. Brüllend vor Schmerz wälzten sich die Getroffenen auf dem aufgeschütteten Dunghaufen. »Und das ist für das Loch in meinem Hausdach«, schimpfte sie weiter und schleuderte einen faustgroßen Stein hinunter. Sie traf einen Soldaten am Brustbein, der atemringend zusammenbrach. »Kommt, wir machen noch mal eine Mischung an«, lachte Mathilda und stapfte mit ihrem Kessel die Treppe hinab.

»Was ist los mit dir, Mathilda?«, fragte Katharina besorgt, als sich die Hebamme, geplagt von Schwindel, am Türstock festhielt.

»Es geht bestimmt gleich wieder«, beschwichtigte sie. »Ich bin schließlich keine zwanzig mehr. Der Kessel war mir wohl zu schwer.« Mathilda tropfte der Schweiß von den Haaren, die unter ihrer Haube herauslugten.

»Du bist blass, als hättest du dich übergeben! Leg dich lieber etwas hin.« Simon reichte ihr einen Becher Wasser, den sie in einem Zug austrank.

Katharina wischte mit einem Tuch den Schweiß von ihrer Stirn. Erschrocken zog sie die Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.

»Du hast ja Fieber! Und was ist das für eine Schwellung an deinem Hals?«

»Mir geht es seit heute Morgen schon nicht so gut.«

Ein junges Mädchen stürmte in die Kate, dass alle drei erschrocken hochfuhren.

»Wir brauchen eine Hebamme! Dringend!«, rief sie.

»Bist du nicht die Kleine vom Bäcker aus der Judengasse?«, fragte Katharina.

»Ja. Meine Mutter liegt seit gestern Nacht in den Wehen.«

»Seit gestern Nacht? Und warum braucht ihr dann erst jetzt eine Hebamme?«

»Der alte Geizkragen wollte sich bestimmt wieder meinen Lohn sparen!«, krächzte Mathilda. Das Mädchen blickte beschämt zu Boden und stocherte mit ihren nackten Füßen in den Binsen. »Sag ihnen, ich mach mich gleich auf den Weg.«

»In deinem Zustand kannst du unmöglich dort hin!«, schimpfte Katharina.

»Dann wirst du das erste Mal allein ein Kind auf die Welt begleiten.«

»Ich?«, entrüstete sich das Apothekermündel. »Ich bin doch keine Hebamme. Ich hab dir zwar schon öfter mal geholfen, aber allein kann ich das nicht!«

»Wenn ihr meiner Mutter nicht helfen wollt, wird sie sterben«, schluchzte das Mädchen.

»Und was wird aus dir?«, fragte Katharina die Hebamme.

»Keine Angst, ich hab schon Schlimmeres mitgemacht. Und Simon ist ja auch noch da.«

»Er wird den Bader für dich holen! Versprich mir das!«

»Ja, und jetzt verschwindet, bevor es zu spät ist.«

»Dann musst du mir aber zur Hand gehen!« Die Bäckerstochter nickte eifrig.

»Und wenn es die Kaiserlichen zu bunt treiben, werde ich ihnen ordentlich den Hintern versohlen«, kicherte die Hebamme.

Gebückt, als könnten sie sich somit vor den kaiserlichen Kanonen schützen, huschten die beiden durch die Straßen. Gesteinsbrocken der geborstenen Mauern erschwerten ihr Vorankommen. Mehrfach erschraken sie, wenn weitere Einschläge der Geschütze zu hören waren. In den Gassen saßen Bauern und Handwerker aus den umliegenden Dörfern, die vor den Soldaten in die Stadt geflüchtet waren. Schon wenige Tage nach der Belagerung Nördlingens waren ihre Vorräte aufgebraucht. Hunger war jetzt ihr ständiger Begleiter.

Der Bader Nepomuk Fromme sägte vor der Baderstube einem verletzten Soldaten ein Bein ab. Dieser wurde von den Schmerzen bewusstlos und bekam von all dem nichts mehr mit. Frommes Bademägde versorgten die Verwundeten im überfüllten Haus.

»Zunächst brauche ich heißes Wasser und Leinenstreifen«, wies das junge Apothekermündel die umherstehenden Frauen an. Die nassgeschwitzte Bäckerin war geschwächt und stöhnte. Die Tochter hielt ihre Hand und wischte den Schweiß von der Stirn ihrer Mutter. Nachdem Katharina den Bauch der Gebärenden abgetastet hatte, erklärte sie:

»Das Kind liegt falsch herum. Aber ich hab Mathilda schon mal zugeschaut, wie sie das im Leib gedreht hat.«

»Sie hat schon mal zugeschaut«, wiederholte Heidrun, die Base der Bäckerin, abwertend. »Ich hab’s ja gleich gesagt, dass ein so junges Ding keine Ahnung hat.«

Katharina schmierte sich die Hände mit Gänsefett ein und ertastete die Lage des Kindes. Mit Hilfe eines Stockes führte sie eine Schnur ein und befestigte eine Schlinge um ein Beinchen des Ungeborenen. So sollte die Steißlage aufgehoben und das Kind mit den Beinen voran das Licht der Welt erblicken.

»So, und jetzt pressen!«, forderte Katharina die sichtlich geschwächte Frau auf, während sie sanft an der Schur zog. Sie bekam das Beinchen zu fassen.

»Gleich habt Ihr es geschafft.« Mit letzten Kräften bäumte sich die Bäckerin noch einmal auf.

Die Anwesenden starrten auf das Neugeborene. Das Gesicht war blau angelaufen. Der Körper leblos. Katharina tätschelte seine Wange und gab ihm mehrmals einen Klapps auf den Hintern. Vergebens.

»Bäckerin, Euer Kind … es atmet nicht. Die Nabelschnur hatte sich um den Hals gewickelt und es erstickt«, berichtete ihr Katharina voller Mitgefühl.

»Kindsmörderin!«, schrie Heidrun.

»Hätte ich nicht geholfen, wären jetzt beide tot«, versuchte sie sich zu rechtfertigen.

»Du hast dem Kind beim Drehen im Leib die Nabelschnur um den Hals gewickelt. Hexe!«

»Ich bin mir sicher, sie hat ihr Möglichstes getan«, beschwichtigte die Wöchnerin. »Hab Dank für deine Hilfe.«

»Nein, nein! So einfach kommst du mir nicht davon, Kindsmörderin! Scher dich raus hier! Du wirst noch von mir hören!«, prophezeite ihr Heidrun.

*

Aufgewühlt und den Tränen nahe schlich sie in die Offizin, um einige Heilkräuter und etwas zu essen für Mathilda herzurichten. Als sich Katharina an diesem Tag erneut davonschleichen wollte, versperrte ihr der Stiefvater den Weg.

»Nein, du bleibst hier! Deine Hebamme muss ab jetzt ohne dich zurechtkommen. In den Straßen wimmelt es vor Pestilenz- und Ruhrkranken8. Der Totengräber bekam vom Rat die Anweisung, die eisenbeschlagenen Räder vom Leichenkarren mit Filz zu umwickeln, weil die Bürger fast durchdrehen, wenn sie das ratternde Geräusch ständig hören müssen.«

»So viele sind schon gestorben?«, fragte Katharina entsetzt. Benedikt nickte nur betroffen.

»Die meisten Bürger hassen uns, weil wir uns das tägliche Brot noch leisten können. Vier Gulden verlangen die mittlerweile für einen Laib! Nur wenige können sich das noch leisten.«

»Ich kann nicht einfach zuschauen, wie Mathilda stirbt. Sie hat doch sonst niemanden.«

»Sei vernünftig. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die kaiserlichen Truppen über unsere Stadt herfallen. Dann Gnade uns Gott! Gestern gelang es ihnen, in den beschädigten Deininger Turm einzudringen und auf unsere Männer zu schießen. Die letzte Chance war, den Turm anzuzünden und die Angreifer auszuräuchern.« Dass die halb verhungerten Nördlinger die verkohlten Leichen aßen, verschwieg er ihr vorsichtshalber.

»Was ist da draußen los?«, wunderte sich Katharina und öffnete die Türe der Offizin.

»Habt ihr es schon gehört?«, fragte der Pastor Widmann.

»Was gehört?«

»Einige unserer Männer haben heute Nacht die Eger wieder in die Stadt geleitet. Die Mühle arbeitet also wieder. Und sie erbeuteten sogar haufenweise Lebensmittel von den Kaiserlichen. Deshalb feiern wir jetzt einen Dankgottesdienst. Wir haben gesiegt!«

»Das ist ja wundervoll«, freute sich Katharina und blickte zu ihrem Stiefvater, der ebenfalls erleichtert war.

Die Glocken vom Daniel läuteten, bis sich die St. Georgskirche bis auf den letzten Platz gefüllt hatte. Freude und Erleichterung war in den Gesichtern der Nördlinger zu sehen. Selbst verfeindete Nachbarn schenkten sich ein Lächeln.

Kurz nachdem Pastor Widmann mit der Messe begonnen hatte, stürmte der Bürgermeister in die Kirche. Die Gläubigen drehten neugierig ihre Köpfe Richtung Haupteingang. Widmann stockte in seinem Satz. Die Schuhe des Stadtoberhaupts klopften bei jedem Schritt auf den Steinboden, bis er in der Mitte stehen blieb.

»Ich weiß nicht, wer das Gerücht des Sieges in die Welt gesetzt hat, aber es ist nicht wahr! Die kaiserlichen Truppen haben das lang erwartete Heer vernichtend geschlagen. Man sagte mir, dass wohl mehr als 12.000 schwedische Soldaten nicht mit dem Leben davongekommen und über 4.000 in Gefangenschaft geraten sind. Die davonlaufenden Schweden wurden von der kaiserlichen Reiterei verfolgt und getötet.«

»Das ist eine Lüge!«, schrie einer.

»Die Kaiserlichen haben doch gar keine Munition mehr!«, brüllte ein anderer. Ein lautes Stimmengewirr entstand. Bürgermeister Schillinger bestieg die Kanzel, um sich Gehör zu verschaffen.

»Die kaiserlichen Truppen sind bereits auf dem Rückweg. Wir werden spätestens morgen die bedingungslose Kapitulation unterzeichnen müssen. Geht nach Hause und versucht zu retten, was noch zu retten ist. Versteckt oder vergrabt alles, was von Wert ist!«

7 Hütte, einfaches Haus.

8 Die Ruhr: Schwere Durchfallerkrankung, oft mit blutigem Stuhl.

Kapitel 3

Seit fast drei Tagen versteckte sich Katharina im Dachboden des Apothekerhauses und hoffte, so den Übergriffen der Kaiserlichen zu entkommen. Die Besatzer zogen plündernd durch die Stadt. Was sie gebrauchen konnten, stahlen sie, und in den Wirtshäusern wurde gesoffen, ohne zu bezahlen. Frauen wurden auf offener Straße Opfer lüsterner Landsknechte. Wer sich gegen sie stellte, bezahlte mit seinem Leben.

Neben Soldaten und Verwundeten strömte auch Trossvolk nach Nördlingen. Allen musste Quartier gegeben werden. Bei den Riesingers wurden einige Marketenderinnen und Hübschlerinnen aufgenommen. Der Apotheker war fest davon überzeugt, dass Schillinger das mit Absicht so eingefädelt hatte, gab es doch in der letzten Zeit einige Unstimmigkeiten zwischen ihnen beiden.

Elfriede brachte dem Apothekermündel täglich mehrmals zu essen und versorgte sie.

»Wenn es stimmt, was die Leute sagen, kommt heute noch Erzherzog Ferdinand nach Nördlingen. Ich hoffe sehr, dass er dem Treiben hier ein Ende setzt.«

»Das wird auch langsam Zeit! Hier oben ist es alles andere als gemütlich«, murrte Katharina.

Unter dem Dach des Patrizieranwesens war ab der Mittagszeit eine fast unerträgliche Hitze und die kleinen Fenster an den Giebelseiten des Hauses ließen nur wenig Licht in den Raum. Von den Dachbalken hingen Spinnweben, die wie graue Tücher wirkten. Alles war mit einer dicken Staubschicht überzogen. Aus Langeweile begann Katharina, Kisten und Säcke zu durchstöbern, die vor längerem achtlos abgestellt worden waren. Sie enthielten Tuchballen aus vergangenen Tagen, andere Kleidung ihrer längst verstorbenen Stiefmutter.

Nicht mehr lange, dann würden sie mir vielleicht passen, dachte sie sich. Ein Kleid nach dem anderen betrachtete sie und hielt es vor ihren Körper, um abzuschätzen, wie es an ihr wirkte. Auf dem Boden der Kiste blieb ihr Blick auf einem Buch haften.

Der Einband war aus dunkelbraunem Leder gefertigt und an den Ecken mit schweren Metallbeschlägen versehen. Um es aufzuschlagen, musste ein Riegel geöffnet werden. Es war unverschlossen. Katharina setzte sich unter eines der kleinen Fenster und fing an zu blättern.

›Freitag, 3. Februar 1612: Wenn ich ihn sehe, schlägt mein Herz schneller. So also fühlt sich die Liebe an.

Mittwoch 11. Juli 1612: Heute ist es passiert. Josef war so einfühlsam und trotzdem wild und stürmisch. Das würde ich mir von Benedikt auch wünschen …‹

Was zur Hölle waren das für Aufzeichnungen? Und wer war Josef?, fragte sie sich.

›Benedikt hat mir ja schon lange nicht mehr beigewohnt. Er war so außer sich, als er erfuhr, dass ich mich ausgerechnet einem Hofmeister hingegeben habe. Ich kann von Glück reden, dass Benedikt es für sich behalten hatte. Sonst hätte man mich wohl mit der Schandgeige um den Hals aus der Stadt gejagt. Es tut mir leid, Benedikt. Es war ein Fehler von mir …‹

Katharina blieb der Mund offen stehen. Daher also der Familienstreit.

Als sie weiter im Buch blätterte, fiel eine einzelne Seite heraus. Ein Brief an meinen Stiefvater. Vom Augsburger Stadtmedicus?

›Mein lieber Freund Benedikt, sicherlich erinnert Ihr Euch noch an Elena, die im Doktorenhaus die kleine Kammer bewohnte. Sie behauptet, von Euch schwanger zu sein. Ich dachte mir, Ihr solltet das erfahren. Vielleicht ist ja doch etwas Wahres daran. Euer alter Freund Engelhard Metzner, Augsburg 8. März 1620.‹

Das wird ja immerbesser. MeineStiefmutter lässtsich auf einen Hofmeister ein und der Stiefvater schwängert eine Frau in Augsburg. Moment mal. 8. März 1620?

Nachdem sich immer mehr Menschen auf dem Rathausplatz einfanden und ein wirres Stimmendurcheinander entstand, blickte Katharina neugierig aus dem kleinen Giebelfenster.

»Nördlinger Bürger, hört mich an«, begann Erzherzog Ferdinand seine Rede. »Ihr habt mich enttäuscht. Meineidig seid ihr geworden, eines irren Glaubens wegen. Ihr alle seid beschuldigt, ein freiwilliges Bündnis mit den Schweden eingegangen, und dem nicht genug, habt ihr Widerstand während der Belagerung dem Kaiser gegenüber geleistet. Die bedingungslose Kapitulation wurde bereits am 7. September unterzeichnet und sämtliche Waffen der Stadt konfisziert. Ich fordere von Euch eine Brandschatzung in Höhe von 100.000 Reichstalern sowie 8.000 Reichstaler für die der Artillerie entstandenen Kosten. Alle Besitzungen, die Gustav Adolf der Stadt vermacht hat, sind an die katholischen Klöster zurückzugeben. Im Gegenzug wurden meine Offiziere angewiesen, Plünderungen, Diebstähle und Misshandlungen aufs Härteste zu bestrafen. Die Stadt Nördlingen soll weiterhin den Status der Freien Reichsstadt und der evangelischen Konfession behalten dürfen, wenn …« Jubel brach unter den Bürgern aus. Freudig umarmte jeder seinen Nebenmann.

»… wenn ihr mir den Treueeid neu leistet«, beendete der kleine, bucklige Erzherzog unter Jubel seine Ansprache.

Na endlich komme ich aus diesem staubigen Loch, freute sich Katharina und stürmte die Treppen hinab.

Vor dem Apothekerhaus stapelte sich der gesamte Warenbestand der Trossweiber. Riesinger hatte ihn für einen guten Preis aufgekauft.

»Schafft einfach alles in die Offizin«, wies Riesinger die Marketenderinnen an.« Die Kühe und Ziegen bringen wir vorerst im Pferdestall unter.« Neben Mehl und Getreide waren es hauptsächlich württembergischer Wein, Bier, Speck und Salz, aber auch Töpfe, Pfannen, Seile und eben alles für den täglichen Bedarf. Die Waren hatten die Trossweiber den Soldaten abgekauft, die in württembergischem Gebiet plünderten. Doch das störte den Apotheker nicht sonderlich. Bei der momentanen Lage würde er nicht lange auf seiner Ware sitzenbleiben. Es gab immer noch einige Familien, die sich etwas leisten konnten, und die Bauern würden ihn für das Vieh einfach kostenlos mit Milch und Fleisch versorgen, bis die Schuld abgetragen war.

Elfriede humpelte schimpfend in gebückter Haltung, unter dem Gelächter der Hübschlerinnen, einem ausgebüxten Huhn hinterher. Doch dieses genoss gackernd und flügelschlagend seine Freiheit.

»Wir wollten uns bei euch bedanken und uns verabschieden, Elfriede. Wir ziehen mit dem Tross weiter. In Nördlingen bleibt ja nur ein kleiner Trupp.« Die Haushälterin stützte ihre Arme in die Hüften und streckte den Rücken durch.

»Wir haben zu danken. Eure Waren und Lebensmittel hat uns der Himmel geschickt. In Zeiten wie diesen ist es nicht einfach als Händler. Und vielleicht kommt ihr wieder mal in die Gegend. Ihr seid immer willkommen«, bedankte sich die Haushälterin und verabschiedete die Frauen.

Auf dem Marktplatz bildete sich erneut eine Menschenansammlung. Einige schimpften und hoben drohend die Fäuste.

»Was ist denn nun schon wieder!«, murrte Elfriede und stapfte neugierig Richtung Rathaus.

»Im Namen des Kaisers werden die hier Anwesenden der gemeinschaftlichen Plünderung und Unzucht angeklagt und zum Tode durch Enthauptung verurteilt. Die Urteile werden heute Mittag auf dem Galgenberg vollstreckt!«, rief ein kaiserlicher Offizier auf dem Marktplatz aus.

»Hängt die Lumpen doch gleich hier auf, dann sparen wir uns den Fußmarsch!«, brüllte der Schmied.

»Das Urteil ist viel zu milde! Die Bastarde gehören aufs Rad geflochten!«, schimpfte ein anderer. Als Elfriede dem Apotheker davon berichtete, hörte dieser interessiert zu und verschwand darauf wieder in der Offizin.

*

Bereits eine Stunde vor Mittag fanden sich Dutzende Neugierige vor dem Hexenfelsen ein. Riesinger hatte auf seinen Pferdekarren einen provisorischen Verkaufsstand gezimmert und verpflegte die Anwesenden mit Bier und württembergischem Wein.

Es herrschte schon eine ausgelassene Stimmung, als der Nördlinger Scharfrichter kurz vor Mittag die beiden Verurteilten zur Richtstatt brachte. Seine Miene war ausdruckslos. Die quer über sein Gesicht verlaufende Narbe schien zu leuchten. Die gefesselten Todeskandidaten wurden auf den zehn Fuß hohen Hexenfelsen geführt, somit hatte auch bei größeren Zuschauermengen jeder eine gute Sicht. Die Verurteilten hatten ihre kniende Haltung bereits eingenommen, als der kaiserliche Offizier die Anklage noch einmal verlas.

»Fangt endlich an!«, erklangen Rufe aus der Menge.

»Genau, sonst geht vorher der Wein noch aus!«, lachte ein Mann. Der Henker hielt das Richtschwert mit beiden Händen und holte zum Hieb aus. Durch seinen Schwung mit dem Schwert glitten ihm die Füße auf dem moosigen Untergrund weg und er landete samt seinem Mordwerkzeug auf dem Hintern. Die Menge grölte und brüllte vor Lachen.

»Wohl etwas aus der Übung, Egger!«, spotteten die Ersten. Sichtlich nervös, holte der Scharfrichter erneut aus, verfehlte sein Ziel und streifte den Kopf des Verurteilten nur leicht. Das Richtschwert traf klirrend den Felsen, dass es Funken schlug. Wieder grölten und brüllten die Zuschauer. Dem kaiserlichen Offizier gelang es nur mit Mühe, seine stoische Miene zu bewahren. Der Henker hatte einen hochroten Kopf. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Sollte es ihm diesmal nicht gelingen, würde ihn die Menge wahrscheinlich lynchen.

»Hier, Henker, trink mal einen kräftigen Schluck Zielwasser, dann wird es schon klappen«, spottete ein junger Bursche unter Gelächter der anderen und reichte ihm einen Becher Wein. Sichtlich erbost, schlug Egger dem Lümmel das Gefäß mit dem Fuß aus der Hand und rief: