Das Objekt - Joshua Tree - E-Book

Das Objekt E-Book

Joshua Tree

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Beschreibung

Nominiert für den SERAPH 2023 in der Kategorie "bester Indie-Titel"! Am Gemini North Observatorium entdeckt die NASA-Physikerin Melody Adams in Teleskopdaten einen Himmelskörper nahe Pluto, der gar nicht existieren dürfte. Was sie für ein künstliches Objekt extraterrestrischen Ursprungs hält, wird von weiten Teilen der Wissenschaftswelt als Messfehler abgetan und die NASA scheut Ablenkungen von ihrem Artemis-Programm. Erst zwei Jahre später erhält Melody Besuch vom Secret Service. Das Objekt nähert sich Saturn und verhält sich eigenartig: Es wird langsamer. Letzte Zweifel an seinem künstlichen Ursprung schwinden und eine internationale bemannte Mission wird vorbereitet, um es abzufangen, ehe es wieder aus dem Sonnensystem verschwindet. Bald findet sich Melody an der Spitze des teuersten und gewagtesten Vorhabens der Menschheitsgeschichte wieder - nicht ahnend, dass sich an ihrem Ende ihr Verständnis von Raum und Zeit für immer verändern wird.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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DAS OBJEKT

JOSHUA TREE

INHALT

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Drei Jahre zuvor …

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Nachwort

VORWORT

Liebe Fans der Hard Science Fiction,

wenn ihr meine bisherigen Bücher kennt, dann wisst ihr, dass ich bei (fast) allen Geschichten auf eine wissenschaftlich fundierte und zumindest grundsätzlich glaubhafte Technologie setze und keine zu abstruse Space Fantasy schreibe. Da ich aber von meinem akademischen Hintergrund her aus der »Psycho-Ecke« komme und weder Physik studiert habe, noch Ingenieur bin, erfordert ein Buch wie dieses hier eine enorme Menge an Recherchen und Hilfe.

Darum habe ich eine Bitte an euch: Solltet ihr vom Fach sein und über Fehler stolpern, die mehr als eine Kleinigkeit sind (oder eine Kleinigkeit, die euch stört), schreibt mir gerne eine E-Mail mit der entsprechenden Richtigstellung – ihr findet sie im Nachwort. Auch, wenn es manche Leser so empfinden mögen und mir dann wütende Mails schreiben; nein, Fehler unterlaufen mir, ich baue sie nicht etwa ein, um euch zu ärgern :-). Also, seid gerne freundliche Besserwisser und korrigiert mich, wenn es angebracht ist, ich freue mich darüber.

Für viele der Berechnungen und physikalischen oder ingenieurtechnischen Fragen, die im Buch zu lösen waren, hat mir mein Freund und Kollege Ralph Edenhofer geholfen, dem ich an dieser Stelle von Herzen danken möchte für seine Zeit und Geduld (er ist übrigens selbst ein klasse Autor, wer c23 noch nicht gelesen hat, sollte das nachholen).

Jetzt wünsche ich euch aber viel Spaß mit Das Objekt und sende euch herzliche Grüße von meinem Schreibtisch an der Algarve.

Euer Joshua Tree

PROLOG

Sie träumte von Neugierde. Nicht von jener unruhigen Neugierde vor dem Zerreißen des Geschenkpapiers an Weihnachten, sondern dem tief empfundenen Wunsch nach Erkenntnis. Wie immer speiste sich diese Begierde, die eigentlich viel mehr ein Drang war, aus einer einzigen Faszination: den Sternen. Sie lagen ausgebreitet vor ihr, ein funkelndes Meer der Stille. Ihr Geist war weit, so sehr, dass seine Grenzen verschwammen. Das myriadenfache Leuchten veränderte sich, wurde zu einem komplexen Puzzle aus Photonen, die Wärme am Rande des Messbaren in das kalte Vakuum sandten. Sie waren die Boten der Vergangenheit, Relikte von Sternen, die seit Jahrtausenden, vielleicht Jahrmillionen ihren Wasserstoffvorrat verbraucht hatten. Wie ein kosmischer Atemzug hatten sie sich zu roten Riesen ausgedehnt und waren zu weißen Zwergen zusammengefallen, ehe sie zu kalten Gebilden ohne Leuchtkraft schrumpfen mussten und die letzten Photonen sie verließen. Doch nichts starb je wirklich, und so reisten die masselosen Elementarteilchen als Botschafter ihres einstigen heißen Ursprungs durch die kosmische Leere und trafen hier und jetzt auf ihre unsichtbare Netzhaut, um ihr das einschüchternd allumfassende Gebilde des Sternenpanoramas zu offenbaren.

Ein Bild für den Augenblick, flüchtig an Ort und Stelle, beständig in der Unendlichkeit von Raum und Zeit. Sie sah auf das Sonnensystem hinab, das sie ihr Zuhause nannte. Nein, sie sah es nicht, sie spürte es, hatte ein Gefühl für jedes seiner Objekte und ihrer relativen Lokalität. Sie sah die Orbitalmechanik vor sich, ein nur scheinbares Wirrwarr aus Ekliptik und leicht gekrümmten Bahnen. Sie fühlte die Bugwelle der Heliosphäre, wo die angeregten Teilchen der Sonne vom interstellaren Medium abgebremst wurden und sich zu einer Gischt aus Partikeln auftürmten, die einen sprunghaften Anstieg von Wärme erzeugten. Durch die ionisierenden Wasserstoffatome, ihre elektrische Ladung verloren hatten, tauchte sie in die Heliohülle ein und erfasste die relative Ruhe, weit entfernt vom glühenden Zentralstern des Systems und seiner planetaren Trabanten, die auf treuen Bahnen um ihr gravitatives Zentrum rotierten.

Es war nur ein Augenblick, eine Sekunde vielleicht, obwohl sich Zeitbegriffe des Traumes entzogen, und doch kam es ihr vor wie ein so komplexes Abbild eines einzigen Zustandszeitpunktes, dass es ausreichte, um ganze Bibliotheken zu füllen. Als ihr Verstand zu rasen begann, alles in sich aufsaugen und irgendwie abspeichern zu wollen, wusste sie, dass sich die Vorboten des verblassenden Traumes meldeten und ihn ihr entzogen. Enttäuschung kroch wie ein schleichender Infekt in ihre Knochen, sickerte unaufhaltsam in ihren Geist und weckte ihren Körper mit einem lähmenden Gefühl von Unzulänglichkeit, einer gewaltsamen Reduktion nach der Erfahrung gravitätischer Größe.

Melody hob ihren Kopf und blinzelte einige Male, ehe sie sich mit der Hand über die Stirn fuhr und dabei ein merkwürdiges Muster mit den Fingern abtastete. Es folgte ein unangenehmer Druckschmerz.

Seufzend entfernte sie sich von der Tastatur, die ihre Zweckentfremdung als Kissen mit einer Warnung auf dem Bildschirm quittiert hatte, dass die Feststelltaste aktiviert worden war, und rieb sich über die Augen.

»He, Adams«, hörte sie eine Stimme mit dem typischen bostoner Akzent, der jeden Vokal merkwürdig abrundete.

»Morgen, Winthrop«, grüßte sie ihren Kameraden, unterbrochen von einem mächtigen Gähnen, das ihren Kieferbogen knacken ließ. Als ihr der Duft frischen Kaffees in die Nase zog, schniefte sie, wie ein Tier, das Witterung aufnahm. »Wenn alle Kollegen so den Schichtwechsel einleiten würden, könnte ich glatt vergessen, warum ich hier bin und nicht in Houston.«

Winthrop, ein hagerer Mann mitte vierzig, mit erstaunlich vollem Haar, dafür, dass es bereits komplett ergraut war, grinste breit und überließ ihr die weiße Tasse mit dem NASA-Logo und der Aufschrift ›I Need My Space‹. Seine eigene führte er an die Lippen, schlürfte prüfend und nickte dann, ehe er damit auf ihren Monitor deutete.

»Was Spannendes gefunden?« Die Tatsache, dass seine Frage rhetorischer Natur war und bloß die obligatorische Verneinung ihrerseits vorbereitete wie ein lästiges Ritual, enttäuschte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Es war wie ein Schlag ins Gesicht ihres bereits verblassenden Traumes und weitaus realerer Träume, die nichts mit dem unruhigen Schlaf einer langen Nachtschicht zu tun gehabt hatten, bevor sie zerplatzt waren.

»Ich bin eingeschlafen«, gab sie unumwunden zu und schnüffelte an ihrem Kaffee. »Ohne Zucker?«

»Schwarz wie deine Seele und bitter wie der Ausdruck auf deinem Gesicht.«

»Charmant wie immer«, brummte sie.

»Du siehst wirklich müde aus«, befand Winthrop in versöhnlichem Tonfall. »Vielleicht solltest du dir einen Tag freinehmen.«

»Ich habe noch nie einen Tag freigenommen. Damit fange ich gar nicht erst an.«

»Du bist aber nicht mehr in Houston.«

»Ganz offensichtlich nicht.« Melody hatte keine Lust auf das nachfolgende Gespräch, das sie in den letzten zwei Monaten schon mehrfach geführt hatten, ohne dass es sie nach einer Wiederholung verlangte. Also tippte sie mit dem Daumen auf die Leertaste und gab ihren Nutzernamen und das zugehörige Passwort ein. »Ich habe, wie besprochen, die Brennweite beibehalten und Pluto im Blick behalten.«

Sie machte eine ironische Geste, als versuche sie, ihre Kaffeetasse zu zerquetschen.

»Unser armer Zwergplanet hat wohl einen Pickel bekommen«, stellte Winthrop fest und deutete auf die unscheinbaren Datenkolonnen auf dem Analyseschirm mit seinen vielen Linien, Wellendarstellungen und Zahlenkombinationen entlang der beiden x- und y-Achsen.

»Wahrscheinlich, weil er noch immer traurig ist, zu einem Zwergplaneten …« Sie unterbrach sich selbst und runzelte ihre Stirn, die sich mit einem schmerzhaften Ziehen zu Wort meldete, als sich die eingedrückten Tastenabdrücke verschoben. »Moment mal. Das ist eine Abweichung.«

»Vermutlich ein Messfehler.«

»Mhm«, machte sie abwesend und stellte ihre Kaffeetasse ab, was ihr Kleinhirn mit einer Welle der Enttäuschung kommentierte. In kurzer Abfolge kopierte sie die entsprechenden Zeilen in ein Simulationsprogramm, das sie in den letzten Wochen geschrieben hatte, wann immer sie sich gelangweilt hatte.

»Du musst noch die Faktoren für die Brennweitenunterschiede der verschiedenen Zeiträume eingeben«, bemerkte Winthrop, doch sie war bereits dabei und ignorierte ihn. Sie sah nur die Zahlen vor sich und fühlte die wachsende Aufregung in ihrem Bauch, die sie krampfhaft zu verscheuchen versuchte und so nur noch verstärkte.

Als sie alles fertig hatte, legte sie beide Programme nebeneinander und verglich die betreffenden Daten ein letztes Mal miteinander, ehe sie ›Enter‹ drückte und sich zurücklehnte. Ein grüner Ladebalken zeigte ihr, dass das Simulationsprogramm damit beschäftigt war, aus den Rohdaten optische Entsprechungen zu generieren und mit gleichbleibenden Potenzen hochzuskalieren.

»Pluto hat einen Pickel«, sagte Winthrop nach einer Viertelstunde, in der sie beide stumm ihren Kaffee getrunken hatten. »Habe ich doch gesagt.«

Melody sah ihren Kollegen mit einer Mischung aus Empörung und Irritation von der Seite an.

»Das ist kein verfluchter Pickel, Winthrop. Das ist ein Asteroid!«

»Ein Asteroid, der wie ein Pickel aussieht.«

Sie rollte mit den Augen und betrachtete das vorläufige Bild, das ihr Programm ausgespuckt hatte. Eine Spielerei, klar, aber eine recht anschauliche Version der Daten, die in etwa dem optischen Spektrum dessen entsprach, was das Gemini North Teleskop an Observationsdaten ausgeworfen hatte.

»Pluto ist aktuell viereinhalb Lichtstunden von uns entfernt«, sagte Melody mehr zu sich selbst. »Das heißt, dass wir das Teleskop wieder auf dieselbe Stelle ausrichten müssen, um zu sehen, wie weit sich unser Besucher seitdem bewegt hat.«

»Du möchtest damit sagen, dass du die Observationszeit meiner Fakultät haben willst.«

»Das hier könnte eine wichtige Entdeckung sein!«

»Adams, das da«, Winthrop deutete mit seiner leeren Tasse auf das Bild vom dunklen Pluto mit seinem ›Pickel‹, »ist ein Asteroid. Womöglich ein ziemlich großer, zugegeben, aber immer noch ein Asteroid. Du hast ihn entdeckt, also gehört er dir. Heute ist der dritte Januar, also wird es sogar einfach sein, ihn zu benennen. Aber das kannst du immer noch heute Nacht tun, wenn meine Schicht zu Ende ist und deine wieder anfängt.«

»Winthrop«, sagte sie und sah ihm ernst in die Augen. Es störte sie nicht, dass sie dabei möglicherweise lächerlich aussah, mit dem verblassenden Tastenmuster auf ihrer Stirn. Sie sprach jetzt ganz langsam, als versuche sie, einem Kind etwas zu erklären. Dass seine Miene dabei immer missbilligender wurde, bemerkte sie nicht. »Siehst du diese Korona?«

Melody tippte gegen den Bildschirm, wo der Asteroid, der zum Zeitpunkt der Aufnahme gerade hinter dem Terminator des Zwergplaneten hervorkam, stark ausgefranst erschien. »Sie ist heller als die Umgebung, das ist äußerst ungewöhnlich, findest du nicht?«

»Es ist auch ungewöhnlich, dass dieser Himmelskörper so nahe an Pluto vorbeifliegt, ohne auf ihn zu stürzen.«

»Er muss sehr schnell sein.«

»Oder so groß, dass er selbst aus unserer Distanz und Perspektive aussieht, als befände er sich in unmittelbarer Nähe zu unserem degradierten Freund da draußen am Rande des Sonnensystems.« Der Astronom vom Harvard Department of Astronomy zuckte mit den Schultern. »Ziemlich unwahrscheinlich. Da müsste der Brocken schon einen nennenswerten Bruchteil der Größe von Pluto selbst besitzen. Der ist aber mit knapp 2300 Kilometern Durchmesser kein Leichtgewicht. Die Wahrscheinlichkeiten kannst du dir also ausrechnen. Oder?«

Melody ging auf die Provokation nicht ein. Sie wusste, dass Winthrop sie nicht wirklich angreifen wollte, dafür war er viel zu erpicht darauf, ein Date mit ihr einzufädeln. Es war vielmehr seine Persönlichkeit, die ständige Sticheleien hervorbrachte – und damit auch einen der Gründe, weshalb sie nie mit ihm ausgehen würde.

»Ich war nicht nur Kampfpilotin, mein Lieber, ich habe auch einen Doktor in Physik gemacht, schon vergessen?«, gab sie stattdessen zurück.

»Habe ich nicht. Aber du bist keine Informatikerin.«

»Wenn du sagen willst, dass mein Programm fehlerhaft ist …«

»… und damit diese Darstellung«, warf er mit unschuldigem Blick ein.

»… dann …« Sie machte eine Pause und biss die Zähne aufeinander. »Also gut. Abmachungen sind Abmachungen. Deine zwölf Stunden.«

»Danke. Und mach dir nichts draus. Schlimmstenfalls kannst du dein Programm optimieren und nächstes Mal läuft es besser. Ist bestimmt nur ein kleinerer Fehler in der Heuristik.«

»Bestimmt«, antwortete sie ohne sonderliches Interesse, loggte sich aus und prostete ihm mit der leeren Kaffeetasse zu. »Danke für den Kaffee. Bis heute Abend.«

»Bis später.«

Melody verbrachte den Tag in ihrem Apartment in Weimea, das etwas mehr als eine Stunde mit dem Auto entfernt war. Anders als die meisten Kollegen hatte sie keine Lust auf den Trubel an der Küste und genoss die relative Ruhe in dem kleinen Städtchen. Sie beantwortete ein paar Nachrichten, unter anderem von Jim, dessen inflationär benutzte Kusssmileys ihr ein Augenrollen, ein Lächeln und ein Schnauben (in dieser Reihenfolge) entlockten, ehe sie kurz und knapp eine Antwort schickte. Danach bereitete sie sich ein Müsli mit den Resten einer Ananas vor, die schon gestern nicht mehr frisch ausgesehen hatte, und öffnete dann ihren Laptop.

Mehr als drei Stunden lang brütete sie über dem Code ihres Simulationsprogramms, entdeckte zwei kleinere Fehler, die zu Bugs in der Eingabemaske führen konnten, wenn sie nicht die Inputreihenfolge der verschiedenen Felder einhielt oder mit Tabulator zwischen ihnen wechselte. Aber keiner von beiden hatte etwas mit der eigentlichen Datenverarbeitung zu tun. Plutos ›Pickel‹ war also wirklich dort gewesen – vielleicht sogar noch immer – und zwar genauso groß und ausgefranst, wie das ausgespuckte Bild es vermuten ließ.

»Kein Fehler im Programm«, murmelte sie dem nicht anwesenden Winthrop zu. Sie überlegte, Jim anzurufen und ihm nach ein wenig Small Talk beiläufig zu sagen, dass sie einen Asteroid entdeckt hatte – einen richtig großen obendrein –, verwarf den Gedanken aber wieder. Es wäre eine kindische Prahlerei und außerdem nur aus dem Wunsch geboren, nützlich zu sein und es ihn wissen zu lassen.

Stattdessen ging sie die Daten immer wieder durch, bis sie selbst die exakten Ausrichtungszahlen für die Teleskopeingabe herunterbeten konnte, schlief dann eine Stunde, um nicht noch mal die halbe Nacht mit der Stirn auf der Tastatur zu verbringen, und fuhr schließlich wieder auf den Mouna Kea hinauf. Seine Serpentinen schraubten sie nach einer Dreiviertelstunde durch die Wolkengrenze und schenkten ihr für die letzten zwanzig Minuten Fahrt einen wunderschönen, puterroten Sonnenuntergang mit langen Schlieren am Horizont. Sie sahen aus wie die Finger einer untergegangenen Gottheit, die sich heiß glühend an der Erde festhielten. Die Erhabenheit des Anblicks klang in ihr eine Saite an, die ihr intensiver Traum auf der Tastatur ihres Arbeitsplatzes gespannt und sie nicht mehr losgelassen hatte. Das Universum war noch immer ein faszinierender Ort – egal ob da draußen zwischen den Sternen, oder hier unten auf dem blauen Paradies, das sie Erde nannten.

Die große weiße Kuppel des Gemini North-Teleskops, dessen Schwesterteleskop sich in Chile befand, war nur eine von vielen hier oben auf dem Gipfel des Mouna Kea und ebenso unscheinbar, wenn man von seiner schieren Größe absah. Sie parkte neben Winthrops rotem Cadillac und einem Ford Ranger, der dem Wartungsingenieur gehörte, und lief durch den Kuppelraum zu den angrenzenden Büros. Inmitten des hydraulischen Rauschens des Rotationsgestells raunte sie dem Ingenieur einen Gruß zu, als sie ihn die Hände abputzen und seinen Koffer packen sah, blieb jedoch nicht wie sonst für einen Plausch.

Sie hatte Arbeit vor sich.

»N’abend, Winthrop«, begrüßte sie ihren Akademiker-Kollegen knapp, stellte ihre Tasche ab und machte sich einen Kaffee.

»n’Abend, Lieutenant Commander«, erwiderte er und kam zu ihr an die kleine Küchenzeile, um seinen Becher abzuwaschen. »Konnten Sie etwas schlafen?«

»Ein bisschen, ich habe hauptsächlich mein Programm überprüft.«

»Und?«

»Ich habe zwei Fehler gefunden.«

Winthrop grinste triumphierend, seine Miene wechselte jedoch sogleich zu einer eher gönnerhaften. »Mach dir nichts draus. Asteroiden gibt es ohnehin wie Sand am Meer.«

»Die Fehler hatten nichts mit der Datenverarbeitung zu tun. Der Algorithmus funktioniert einwandfrei.«

»Hm.«

»Ich fange dann jetzt mal an.« Sie nickte ihm zu und ging an ihren Arbeitsplatz, der bis gerade eben seiner gewesen war, loggte sich ein und begann, die Ausrichtungsdaten für die Teleskopschüssel vorzubereiten. Noch war es zu hell, aber der Vorgang dauerte eine Weile und sie wollte keine Zeit verlieren. Eine Stunde später realisierte sie, dass ihr Kollege längst verschwunden war, sie hatte ihn nicht einmal gehen gehört.

Als es so weit war, öffnete sie die Dachkuppel und ließ die beiden hyperbolischen und parabolischen Spiegel ihre Arbeit verrichten. Sobald die Daten reinkamen, was über zwei Stunden dauerte, in denen sie mit erzwungener Gelassenheit einige lästige bürokratische Aufgaben abarbeitete, übertrug sie sie in ihr Simulationsprogramm zur optischen Aufbereitung. Entsprechend ihrer Ausbildung schob sie Ungeduld und Hektik beiseite, atmete tief durch und lenkte die damit einhergehende Anspannung in ihre Fähigkeit, sich zu konzentrieren. So ging sie sämtliche Eingaben dreimal durch und startete den Rechenprozess erst dann.

»Wo bist du, Pickel?«, murmelte sie, während der grüne Ladebalken von links nach rechts wanderte.

Fünfzehn Minuten später griff sie zum Telefonhörer neben sich und wählte Jims private Handynummer.

»Ehrenreich?«, meldete sich eine verschlafene Stimme.

»Jim? Hier ist Melody.«

»Melody? Weißt du, wie spät es ist?« Es schwang eine nicht zu überhörende Spur Empörung in der Stimme des NASA-Administrators mit.

»Bei mir kurz nach Mitternacht, also bei dir kurz nach fünf«, sagte sie. »Ich habe dir gerade eine E-Mail geschickt, mach sie auf.«

»Und warum sollte ich das tun? Der Wecker klingelt erst in …«

»Tu es einfach, Jim!«

»Okay, ist ja schon gut.« Sie hörte im Hintergrund Laken rascheln und dann das Summen eines hochfahrenden Laptops oder Computers. »So, ich mache sie auf. Wenn das nicht … Was ist das?«

»Das ist ein Komet.«

»Du hast einen Kometen entdeckt?«, fragte er erstaunt und anerkennend zugleich. »Nicht schlecht, für die ersten acht Wochen im …«

»Er befindet sich auf einem Schnittpunkt mit der Plutobahn.«

»Unmöglich!«

»Der Zwergplanet auf dem Bild ist Pluto. Mein Algorithmus kann die Farben nicht berechnen, weil dazu der entsprechende Input vom Teleskop fehlt, aber das ist Pluto.« Melody schickte die nächste E-Mail mit einem Screenshot des Datenanalyseprogramms ab, das von der NASA zertifiziert war und zum Standardinventar des Teleskops gehörte. Sie deutete mit dem Finger auf das dunkle Objekt mit dem merkwürdigen Lichtkranz, der sich zur rechten Seite hin etwas verlängerte. »Es gibt keinen Zweifel an den Daten. Das da ist ein Komet auf der Plutobahn und er fliegt in Richtung des inneren Sonnensystems.«

Es gab eine Pause in der Leitung, die sich so lange streckte, dass sie schon vermutete, die Verbindung wäre abgebrochen.

»Jim?«

»Ich bin noch dran. Setz dich in den ersten Flieger zurück nach Houston.«

»Darum musst du mich nicht zweimal bitten.« Sie legte auf und verließ das Observatorium noch in derselben Stunde.

Nach Houston ins Johnson Space Center zurückzukehren, versetzte Melody einen heftigeren Stich, als sie sich eingestehen wollte. Zu frisch waren ihre Erinnerungen an den Start der letzten Dragon-Kapsel von Cape Canaveral, wo sie als Teil der Stand-by-Crew für Mission 11 in einem abgeschirmten Raum des Kontrollzentrums gesessen hatte. Sich einem jahrelangen Auswahlverfahren zu stellen und dafür sein ganzes restliches Leben aufzugeben, nur um als eine von zehn Kandidaten von mehreren zehntausend ausgewählt zu werden, war die eine Sache. Aber schließlich nicht ins All zu fliegen, sondern auf der Ersatzbank Platz zu nehmen, war in etwa so, als würde sie ihr halbes Leben für die Olympischen Spiele trainieren, nur um sich kurz davor zu verletzen. Egal wie häufig Jim ihr versichert hatte, dass sie noch Teil des Astronautenkorps war und dass jeder zu Beginn seiner ›Zweitverwendung‹ in verschiedenen Bereichen der NASA (wie dem Observatorium) arbeitete, er hatte den Schmerz darüber nicht lindern können. Es war dadurch eher noch schlimmer geworden, und allein die physische Distanz zwischen Hawaii und Houston kam ihr wie das Exil einer Gescheiterten vor.

»Ich muss gestehen, dass ich erst gedacht habe, dass du mehr siehst, als es zu sehen gibt, weil du unbedingt zurück ins JSC willst«, gab Jim zu, als sie sich auf einen der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch fallen ließ. Sie hatte noch den Trolley vom Flug bei sich.

Der NASA-Administrator nickte sie über die breite Tischplatte an und lächelte beinahe so, wie er es seit einem Jahr tat, wenn sie sich privat trafen: eine Spur verwegen, als wären sie Partner in einer kriminellen Machenschaft. Was zwar nicht per se der Wahrheit entsprach, aber auch nicht ganz falsch war.

»Ein Komet so weit draußen. Jim, du weißt, dass es dafür nicht viele Erklärungen geben kann«, gab sie zurück und beugte sich etwas vor. Das alte Leder des Sitzpolsters knarzte dabei missbilligend.

»Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.« Er breitete die Hände zu einer paternalistischen Geste aus, die ganz nach dem Politiker aussah, der er nach seinem Posten hier mit Sicherheit werden würde. Sie wollte widersprechen, doch er kam ihr zuvor: »Fakt ist aber, dass du einen Asteroiden entdeckt hast, der sehr merkwürdige Eigenschaften aufweist. Er hat eine Korona …«

»Einen Schweif!«

»Eine Korona, bei der es sich um einen Schweif handeln könnte«, korrigierte er sie. »Das wird weiter untersucht werden müssen. Deshalb habe ich angeordnet, dass wir die aktuelle Mission des James Webb unterbrechen, um der Sache nachzugehen.«

»Das hast du angeordnet?«, fragte Melody verblüfft.

»Ja.« Sein bubenhaftes Grinsen sah jetzt ganz und gar nicht mehr aus wie das eines Politikers. »Wir dürfen nicht voreilig sein, aber so weit draußen dürfte es keine Asteroiden geben, hinter denen es eine Lichtquelle gibt – und schon gar keine Kometen. Mit was auch immer wir es da zu tun haben, es passt in kein bekanntes Schema und da sollten wir uns von unserer Neugier leiten lassen. Es wird ein paar Tage dauern, aber dann wissen wir sicher mehr.«

»Geben wir eine Pressemitteilung raus?«

»Ja, ich habe Andrea bereits angerufen, sie wird sich nach unserem Gespräch mit dir zusammensetzen. Glückwunsch, Lieutenant Commander, Sie haben den ersten Asteroiden des Jahres entdeckt.« Jim zwinkerte ihr zu und wirkte enttäuscht, als das Telefon neben ihm klingelte. Er nahm den Hörer ab, nickte ein paarmal, sagte »Ja« und nach einem Blick auf seine Armbanduhr »Bin schon unterwegs«, ehe er auflegte und seufzte. »Senator Kennedy ist eingetroffen, ich fürchte, ich muss los.«

»Kein Problem. Ich gehe direkt zu Andrea. Sollen wir die Pressemitteilung noch mal über deinen Tisch gehen lassen, oder …«

»Nein, nein«, wiegelte er ab und erhob sich. Als er um den Schreibtisch herumgekommen war, berührten sich ihre Hände kurz und dann trafen sich ihre Blicke. »Ich vertraue dir, dass du das schon hinbekommst, außerdem wird von unserer Behörde erwartet, dass jeder offizielle Satz langweilig ist und jeder Seite des politischen Geldgeberspektrums gefällt.«

»Alles klar.« Melody erwiderte sein Lächeln und drückte leicht seine Hand.

»Ich habe heute spät Feierabend«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Willst du …«

»Ja.« Sie nickte. Dass sie ihn vermisst hatte, erwähnte sie nicht, das übernahmen ihre Augen für sie.

»Bis später.« Mit offensichtlicher Mühe wandte Jim sich von ihr ab und verließ sein Büro. Hinter sich ließ er die Tür offen und ließ sie allein zurück.

Melody betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, das von zwei Seiten gleichzeitig bepudert wurde. Sie sah den schmalen Kiefer, die vollen Lippen, die sie immer als zu rot empfunden hatte, die gerade Nase mit der kecken Spitze und ihre dunklen Mandelaugen, die sie ihrer samoanischen Großmutter zu verdanken hatte. Während ihrer Zeit bei der Navy, bevor sie in das Astronautenprogramm der NASA eingestiegen war, hatte sie um Anerkennung für ihre fliegerischen Leistungen kämpfen müssen, weil sie zu hübsch gewesen war. Zumindest war es das, was sie geglaubt hatte. In Wahrheit waren es bloß jene Kameraden gewesen, die erfolglos bei ihr hatten landen wollen, die hinter ihrem Rücken gelästert hatten. Hier und jetzt sah sie bloß eine vierzigjährige Frau mit Konzentrationsfalten zwischen den Augen und einem Schatten von Verletzung im Blick, der sich vermutlich nie wieder lösen würde.

»Und? Haben Sie gut geschlafen?«, wollte die Kosmetikerin wissen. Dass sie erst jetzt mit der Initiierung des obligatorischen Small Talks begann, musste wohl damit zu tun haben, dass sie bis jetzt viel zu tun gehabt hatte, um sie adäquat zu schminken.

»Nicht besonders viel.« Melody dachte an ihre Nacht mit Jim zurück und wie sie noch eine Weile wach gelegen hatte, um sich über ihre Gefühle klar zu werden. Sie mochte ihn, seine sanfte Durchsetzungsfähigkeit und die kooperative Grundeinstellung, mit der er nicht bloß die NASA leitete, sondern auch seinen gesamten Alltag durchlebte. Es gab wenige Männer in Positionen wie seiner, die zwar ein Auge auf ihre Karriere hatten (sonst wäre er wohl nie zum Administrator aufgestiegen), aber sich die meiste Zeit über für das Wohl ihrer Mitarbeiter und dem Fortschritt ihrer Behörde aufopferten. Gleichzeitig hatte er kein Problem gehabt, sie nach Hawaii zu schicken, weit von sich weg.

»Daran sind Sie sicher gewöhnt, oder?«

Weil ich Astronautin bin?, wollte sie gerade fragen, als die junge Frau mit den hübschen brünetten Locken »Als Kampfpilotin, meine ich«, hinterherschickte.

»Ja«, erwiderte Melody freundlich und schluckte den kurzen Stich in ihrer Brust herunter. »Obwohl unsere Vorgesetzten stets auf die Einhaltung des Erholungsprotokolls gepocht haben, gibt es so ein paar Klischees über Navy-Piloten, die definitiv zutreffend sind.«

»Sie meinen, so wie bei Top Gun? Lange Nächte in Bars und Streitereien unter den Besten?«

»So ungefähr. ›Navy-Piloten fliegen Jets, Air-Force-Piloten ihre Betten‹ haben wir immer gesagt.« Sie rang sich ein Grinsen ab, als die junge Frau ein höfliches Lachen von sich gab. Small Talk eben. Als sie fertig war, steckte ein älterer Mann mit Backenbart den Kopf durch die Tür – er hatte sich zuvor als Devon vorgestellt und schien mit seinem Klemmbrett verheiratet zu sein. Er tippte sich an das Headset in seinem Ohr und streckte ihr fünf Finger entgegen.

»Sind wir so weit?«, fragte Melody die verbliebene Kosmetikerin, deren Kollegin bereits mit dem zweiten Gast beschäftigt war, der hinter ihr saß.

»Ja, sieht gut aus. Keine glänzenden Stellen mehr.«

»Ich danke Ihnen.« Sie stand auf und schüttelte der Frau die Hand, was diese zu überraschen schien. »Wie heißen Sie eigentlich?«

»Carina. Ich meine, Carina Simmons.«

»Danke Carina, ich bin Melody. Kommen Sie mich retten, wenn mir das hier«, sie hielt sich einen Finger vor die gepuderte Stirn, »vor lauter Angstschweiß in die Augen läuft?«

Carina grinste und zwinkerte ihr zu, als teilten sie ab jetzt ein Geheimnis. »Versprochen, Lieutenant Commander. Ich meine, Melody.«

Als sie sich abwenden wollte, verharrte sie noch einen Moment, als Carina mit einer Mischung aus Neugierde und Neid fragte: »Haben Sie überhaupt jemals Angst?«

»Andauernd«, versicherte sie der jungen Frau. »Ich wurde bloß früh darauf trainiert, Angst zu akzeptieren und nicht zum Feind zu machen, dann ist sie eigentlich ganz okay und macht wach und fokussiert.«

»Okay, sechzig Sekunden!«, meldete sich Devon mit einer Spur Verstimmung zu Wort.

Das Studio war kleiner als sie es aus dem Fernsehen in Erinnerung hatte, dafür aber deutlich heller. Direkt vor dem Holzpodest mit Tisch, zwei Stühlen und dem obligatorischen Frühstück, das nie jemand anrührte, hatte sie immer ein überschaubares Publikum vermutet. Doch stattdessen gab es dort nur mehrere Kameras auf Fahrgestellen und grell-weiße Diffusoren, die alles dahinter zu einem schwarzen Loch werden ließen.

»Guten Morgen, Lieutenant Commander«, wurde sie von der Moderatorin Vanessa Boeringer begrüßt, die aufstand, einen Mitarbeiter abwimmelte und ihr die Hand hinstreckte.

»Guten Morgen.« Melody nickte und versuchte, nicht zu den Kameras zu blicken, als handle es sich um Waffen, die auf sie gerichtet waren und auslösten, wenn sie es wagte hinzuschauen.

»Wir sind noch in der Werbepause und haben zwei Minuten. Machen Sie es sich doch bequem«, schlug Boeringer vor und deutete auf den freien Platz auf der anderen Tischseite. »Sie wissen ja schon Bescheid. Unser Panel dauert dreißig Minuten, wir haben zwei Werbeunterbrechungen. Wenn Devon auf die Bühne kommt, können Sie sich entspannen, dann sind die Kameras aus. Haben Sie noch Fragen?«

»Nein, bin bereit.« Melody lächelte, doch Boeringer redete schon mit der- oder demjenigen, der in ihren Ohrstecker sprach, den sie mit ihren blonden Locken verdeckte. Als es losging, bekamen sie beide einen Countdown von Devon, der ab ›vier‹ stumm weiterging.

»Einen wunderschönen guten Morgen, Amerika. Diejenigen von Ihnen, die jetzt erst zugeschaltet haben: Halten Sie Ihren Kaffee fest, denn unser heutiger Überraschungsgast ist jetzt bei mir. Herzlich willkommen, Melody Adams!«

»Guten Morgen und danke für die Einladung«, erwiderte sie mit einem Lächeln.

Boeringer sah auf ihre Moderationskarten und tat, als würde sie mit Erstaunen etwas ablesen: »Sie sind Lieutenant Commander der Navy, waren Testpilotin für Jets der fünften Generation und sind heute Mitglied des Astronautenkorps der NASA, haben einen Doktor für Physik an der George Washington University verliehen bekommen und forschen aktuell an niederfrequenten Strahlungsanomalien im Kuipergürtel. Soll ich Sie lieber Lieutenant Commander oder Doktor nennen?«

»Einfach Melody.«

Die Moderatorin lächelte breit und nickte fröhlich. »Bescheidenheit ist ja angeblich eine Zier, die den Menschen aus Wyoming zugesprochen wird. Sie sind da wohl keine Ausnahme. Sie waren Teil der Ersatz-Crew für Dragon-6, der aktuellen ISS-Mission von NASA und ESA und sind danach nach Hawaii gegangen, um unseren Nachthimmel zu beobachten. Können Sie uns sagen, was genau Sie dort tun?«

Melody lächelte, obwohl sie sich fühlte, als hätte Boeringer ihr in die Magengrube geschlagen.

»Ich habe seit einer Woche die Nachtschichten, weil wir nur nachts das Teleskop benutzen können. Tagsüber sind die Kollegen aus Boston damit beschäftigt, ihre Daten von der Vorwoche auszuwerten. Die Woche danach wechselt es dann.«

»Und wie genau müssen wir uns Ihren Alltag dort vorstellen?«

»Ziemlich langweilig«, scherzte sie und Boeringer lachte beinahe so, als wäre es keine einstudierte Reaktion. »Das Teleskop fängt die Daten in Form von Infrarotstrahlung im niedrigen Wellenlängenbereich ein. Daraus können wir bei der NASA dann entsprechende Rückschlüsse ziehen.«

»Unter anderem auch Bilder, wie jenes, das Sie uns heute mitgebracht haben, richtig?«

»Richtig.«

Boeringer deutete auf die große Monitorwand neben ihnen, auf der bislang die Skyline von Houston zu sehen gewesen war und jetzt das Bild von Pluto und 2023-AA, ihrer Entdeckung prangte. Es zeigte den großen Himmelskörper als dunklen Fleck mit hellem Lichtschein dahinter, der sich andeutungsweise nach schräg oben zog. Direkt daneben war Pluto als dunkle Scheibe vor dem etwas unscharfen Sternenhimmel abgebildet.

»Können Sie uns sagen, was wir hier sehen, und warum es eine Sensation für die Wissenschaft darstellt?«

»Wir sehen hier Pluto, den ehemals neunten Planeten unseres Sonnensystems, ehe er zum Zwergplaneten degradiert wurde. Er ist ganz weit draußen noch weit hinter Neptun, wo die Sonne nicht mehr als ein etwas hellerer Punkt zwischen vielen in der Dunkelheit ist. Daneben sehen wir 2023-AA, das ist der vorläufige Name für das Objekt, das wir mit dem Gemini North entdeckt haben.«

»Sie sagen wir, aber eigentlich haben Sie es doch entdeckt, oder?«

»Ich war dort, als 2023-AA in den Daten aufgetaucht ist. Hätte ich Urlaub gehabt, wäre es jemand anderem passiert.«

»Warum sagen Sie, dass der Name vorläufig ist? Das hat etwas mit der Besonderheit dieses Objekts zu tun, habe ich recht?«, wechselte Boeringer das Thema.

»Ja. 2023-AA ist die Bezeichnung für einen Asteroiden. Die beginnt immer mit dem Jahr der Entdeckung und der Monat wird aufgeteilt in Buchstaben zwischen dem ersten und fünfzehnten und dem sechzehnten und letzten Tag. Also Januar bis zum Fünfzehnten A und ab dem Sechzehnten B. Es gibt immer zwei Buchstaben, in unserem Fall also AA«, erklärte Melody. »Allerdings habe ich Zweifel, dass es sich um einen Asteroiden handelt.«

»Können Sie unseren Zuschauern erklären, weshalb?«

»Dieser Lichtschein, den Sie um das Objekt sehen, das ist ein sogenannter Schweif. Der Computer hat aus den Infrarotdaten bloß eine hellere Wolke gemacht, bei der es sich eigentlich um Ausgasungen handelt, die einen langen Schweif hinter dem Himmelskörper herziehen.«

»Wie bei einem Kometen?«

»Genau wie bei einem Kometen. Das Problem ist bloß, dass es so weit draußen keine Kometen gibt. Spezifischer sollte man sagen: keine Kometen mit Schweif. Der Schweif entsteht in der Regel erst in Sonnennähe, da durch die intensiven Sonnenwinde Hitze entsteht, die das Eis im Kern des Objekts ausgasen lässt. Strahlungsdruck und Sonnenwind blasen die Wasserstoffionen fort und erzeugen das, was wir Schweif nennen. Der kann bis zu mehrere Millionen Kilometer lang werden. Bei unserem Kometen hier sieht er sehr kurz aus, was an der Perspektive liegt. Anhand der Daten zwischen der ersten und dieser zweiten Aufnahme hier können wir sagen, dass das Objekt auf uns zufliegt und das relativ schnell.«

»Es fliegt also auf die Erde zu? Sind wir denn in Gefahr?«

»Nein, ich denke nicht, dass es auf die Erde zufliegt. Das war eher relativ gesprochen. Aber es fliegt in unser inneres Sonnensystem. Wir brauchen weitaus mehr Daten und Messungen, um genau zu sagen, wann es passieren wird, aber wir reden sicher von mehreren Jahrzehnten«, stellte sie klar.

»Eben haben Sie gesagt, dass Kometen in Sonnennähe entstehen. Aber 2023-AA befindet sich sehr weit von der Sonne entfernt.« Boeringer legte fragend den Kopf schief.

»Ja, dafür gibt es aktuell keine wissenschaftliche Erklärung. Außer, dass es sich nicht um eine Ausgasung des Kerns handeln kann. Da draußen herrschen -200°C und einzig eine Kollision mit einem Asteroiden könnte genügend Energie erzeugen, um das Eis im Inneren gasförmig werden zu lassen. Das ist aber absolut unwahrscheinlich und wäre ein extrem kurzlebiger Effekt ohne großen Schweif, da es weder Strahlungsdruck noch nennenswerte Sonnenwinde gibt.« Jetzt kamen Melody die Worte wie ein Schwall über die Lippen, der sich kaum bremsen ließ. Sie hatte die letzten Tage intensiv über ihre Entdeckung nachgedacht – zu ihrer Überraschung als so ziemlich die Einzige im JSC, weil alle damit beschäftigt waren, den ersten Orbitalflug des Space Launch Systems vorzubereiten. Einschließlich der Presseabteilung. »Das lässt eine Menge Raum für die einzige andere Erklärung, die sich auf dieses Objekt anwenden lässt.«

Boeringer schien etwas sagen zu wollen, vermutlich, um die Spannung zu erhöhen, aber Melody sprach einfach weiter. Schließlich wusste sie ohnehin, weshalb sie nach dem Telefonat mit der Redaktion eingeladen worden war.

»Es handelt sich mit nennenswerter Wahrscheinlichkeit um ein extrasolares Objekt mit eigener Energiequelle.«

»Damit meinen Sie, dass es außerirdischen Ursprungs sein könnte, oder?«, hakte Boeringer nach und setzte eine angemessen ernste Miene auf.

»Ja. Ein solcher Schweif könnte auf eine Abgasfackel hindeuten, auf einen Antrieb mit Reaktionsmasse, die ausgestoßen wird, um das Objekt selbst anzutreiben. Dazu passt auch die Trajektorie. Anhand unserer – noch limitierten – Daten, lässt sich vermuten, dass es von außerhalb des Kuipergürtels stammt und das Sonnensystem wieder verlassen wird, weil es schlicht zu schnell ist, um von der Sonne eingefangen zu werden.«

»Ein Raumschiff also?«

»Ein Raumschiff, eine Sonde vielleicht – noch wissen wir so gut wie gar nichts, nur, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um einen natürlichen Himmelskörper handelt«, sagte Melody. Es fühlte sich gut an, diesen Satz auszusprechen, den sie bislang lediglich in ihrem Kopf geformt und während des Telefonats mit der Redaktion angedeutet hatte. In der Pressemitteilung war bloß von einem ›höchst ungewöhnlichem Himmelskörper‹ die Rede gewesen, der seine ›Entdecker aktuell vor Rätsel stellt‹. Aber die Konsequenzen ihres Funds waren ihr seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen und das Unwahrscheinliche hatte sich immer mehr zum Wahrscheinlichen gewandelt. Es jetzt in Worte zu fassen war so, als würde sie einem Hirngespinst Substanz verleihen, es materialisieren.

Nur, dass es keine Einbildung war, und diese Erkenntnis traf sie zum ersten Mal wie ein Blitzschlag.

1

»Im Grunde genommen gab es gleich mehrere merkwürdige Fakten über den Besucher«, erklärte Melody und wechselte zu ihrer nächsten Folie, indem sie mit dem Daumen auf ihren Presenter drückte. »Zum einen haben wir nicht damit gerechnet, nahe Pluto und seiner Bahn in diesem Umfeld einen Asteroiden zu entdecken. Das liegt daran, dass wir das Sonnensystem recht gut im Blick haben und errechnen können, mit welcher Rate es Himmelskörper auswirft. Unser Komet kam von außerhalb, das war ebenfalls zu errechnen anhand seiner Geschwindigkeit und Trajektorie. Also liegt unserer Wahrscheinlichkeitsrechnung für die Auswurfrate von ähnlichen Sonnensystemen eine Größe zugrunde, was kein schlechter Ausgangspunkt ist. Daraus ergibt sich eine ernüchternd kleine Zahl: Die Ejektionsrate ist äußerst gering, selbst wenn wir den Zeithorizont stark erweitern – und damit meine ich weit über unsere begreifbaren Maßstäbe hinaus.«

Sie ließ ihren Blick über die knapp 500 Zuschauer in der ausverkauften Ronald Reagan Hall am Stadtrand von Arlington schweifen und seufzte innerlich. Hätten die richtigen Leute vor zwei Jahren sie mit ähnlich interessierten oder gar gebannten Blicken bedacht, säße sie jetzt nicht hier. Ob das schade wäre, wusste sie allerdings nicht.

»Hinzu kommt, dass wir die Geschwindigkeit kennen, mit der unsere vielen Nachbarsterne sich relativ zu unserer Sonne bewegen – und unsere Sonne zu ihnen. Aber nur einer von 600 bewegt sich so schnell wie unser Besucher. Warum das etwas Besonderes ist?« Sie wechselte zur nächsten Folie, die ein wenig dunkler war als die vorherige und das Gesichtermeer vor ihr in Schatten tauchte, durchbrochen von reflektierenden Brillengläsern hier und da, die sie an Katzenaugen in der Nacht erinnerten. »Weil wir damit rechnen müssen, dass ein Himmelskörper, der aus seinem gravitativen Einflusssystem geschleudert wird, in etwa dieselbe Geschwindigkeit hat wie der Stern, dem er entflohen ist. Abweichungen davon sind äußerst ungewöhnlich. Damit bin ich am Ende dieses Abschnitts über das Dutzend Abweichungen des Besuchers gegenüber normalen Himmelskörpern. Gibt es so weit Fragen? Wie Jeffrey eingangs erklärt hat, nehme ich sie gerne abschnittweise entgegen. Dann staut sich nicht zu viel auf – nachher schreiben Sie noch Bücher!«

Das Publikum lachte verhalten. Erste Hände gingen in die Höhe und die Helfer mit den Mikrofonen kämpften sich durch die Sitzreihen zu ihnen. Ein älterer Mann mit graumelierten Schläfen und Pausbacken war der Erste.

»Vielen Dank, Doktor. Ich heiße Matt Long, bin Ingenieur aus Seattle und ein großer Fan.«

»Danke. Ich hätte wohl einen Preis für die weiteste Anreise vorbereiten sollen.«

Long lächelte – zumindest glaubte sie, dass das Glänzen unterhalb seiner Nase von einem Lächeln herrührte. So genau war es von der Bühne aus nicht zu sehen, wo sie von dem Monitor im Boden geblendet wurde, auf dem sie ihre eigenen Folien sah.

»Ich möchte Sie noch einmal nach der Geometrie des Objekts fragen, die Sie als außerirdisch beschrieben haben. Die NASA hat sich bis heute nicht klar dazu geäußert, aber Mr. Rothman erwähnte mal in einem Interview, dass es wohl ›etwas länglicher‹ als der Durchschnittsasteroid sein könnte. Was sagen Sie dazu?«

»Danke für die Frage. Nun, zuerst einmal haben wir nur zwei Aufnahmen zur Verfügung, mit dem Bild unserer japanischen Freunde sind es drei, was nicht besonders viel ist. Aber nimmt man diese drei zusammen, ergibt sich eine recht klare Tendenz: Der Besucher dreht sich und seine Helligkeit variiert um den Faktor acht in seinem Drehimpuls. Das bedeutet, dass er mindestens achtmal länger als breit ist. Vielleicht handelt es sich um einen Konus oder Kegel, aber es gibt Hinweise darauf, dass wir es mit einer Scheibe zu tun haben.«

»Können Sie erläutern, warum genau das so ungewöhnlich ist?«, wollte der Seattler Ingenieur wissen.

»Weil Himmelskörper normalerweise eine – wenn auch geringe – durch ihre Masse erzeugte Gravitation aufweisen und dadurch ihre charakteristische Form bekommen, die meist annähernd rund ist, manchmal auch unförmiger und langgezogener wie eine Kartoffel, aber nie eine flache Scheibe. So etwas entsteht nicht von selbst.« Der Fragesteller nickte dankend und setzte sich wieder, doch Melody fuhr fort, ehe sie die nächste Frage zuließ: »Noch erstaunlicher ist aber, dass es da draußen keine Kometen geben kann, aber der Besucher einen Schweif wie ein Komet hat, dafür aber keine Koma, die jeder Komet sonst aufweist. Eine Art Schale aus Gasen, die er vor sich her treibt wie eine Bugwelle. Auf den Bildern sieht unser Objekt aus wie ein Asteroid, aber hinter ihm befindet sich der Schweif eines Kometen. Wir haben es also mit einem kosmischen Zwitter zu tun, einem wirklich erstaunlichen Rätsel. Ja, dort in der zweiten Reihe?«

Wieder wurde das Mikrofon durchgereicht. Diesmal war es eine Frau mit kräftiger Statur, die das Wort ergriff: »Danke. Doktor Adams, die NASA hat nach Veröffentlichung Ihres Buchs betont, dass es sich um ein spannendes Forschungsprojekt für die nächsten Jahre handelt, aber momentan dringlichere Vorhaben die Aufnahmezeit des James Webb Teleskops belegen. Auf der letzten Pressekonferenz zum Start von Dragon-17 erwähnte Missionsleiter Stevens, dass man zu der Erkenntnis gelangt sei, dass es sich höchstwahrscheinlich um eine Kollision zweier Asteroiden gehandelt habe. Sie haben das ausdrücklich ausgeschlossen. Was macht Sie da so sicher?«

»Ich liebe die Wissenschaft«, antwortete Melody. »In gewisser Weise habe ich ihr mein Leben gewidmet. Aber viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben die Angewohnheit, nicht offen zu sein für jene Ergebnisse, die aus ihrer Sicht nicht sein können und deshalb nicht sein dürfen. Es ist eine Art Tabuisierung der zu großen Unwahrscheinlichkeit. Sie suchen zu allererst nach Gründen, warum eine Erkenntnis wohl ein Fehler sein muss, aus Sorge, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen, und jegliche Anerkennung in der Fachwelt zu verlieren. Eine Ausgasung so weit draußen, fernab der starken Sonnenwinde bei -200°C, würde tatsächlich nur mit einer Kollision erklärbar sein, die so stark ist, dass enorme Mengen kinetischer Energie frei werden. Und Energie ist Wärme. Aber so eine Kollision würde höchstwahrscheinlich beide, mindestens aber einen der Asteroiden auseinanderbrechen lassen. Hinzu kommt, dass der Ausgasungseffekt von äußerst kurzer Dauer wäre und das Gas durch fehlenden Strahlungsdruck in mehrere Richtungen gleichzeitig entweichen und extrem schnell auskühlen würde. Auf den jüngsten Bildern der Japaner, die immerhin einige Wochen nach den ersten Bildern aufgenommen wurden, ist der Schweif aber immer noch erkennbar. Das kann meiner Meinung nach nur auf eine Antriebsfackel hindeuten. Das ist der Grund dafür, dass ich mir mit außerirdisch Gehör zu verschaffen versucht habe. Wir müssen wieder lernen, das Unwahrscheinliche einzulassen, wenn es an die Tür klopft. Selbst wenn es uns Angst macht.«

Die Frau sagte »Danke«, setzte sich und das Mikro wurde nach hinten gebracht, wo ein junger Mann aufgestanden war und die Hand reckte.

»Michael aus Washington«, stellte er sich kurz vor. Seine Stimme bebte etwas vor Aufregung. »Ein Komet wird doch normalerweise in seiner Bahn gestört, weil er durch Sonnenwinde einen Stoß bekommt. Das verändert seine orbitalmechanische Trajektorie. Könnte es sein, dass Ihre Komet-Hypothese von der NASA auch deshalb verworfen wurde, weil eine solche Änderung des Flugvektors nicht gefunden – faktisch sogar widerlegt wurde?«

»Eine sehr gute Frage und ja, das ist sicherlich einer der Gründe. Wie ich schon erwähnte, spricht auch das Fehlen einer Koma gegen einen Kometen. In meinen Augen damit aber auch für die Möglichkeit eines künstlichen Himmelskörpers außerirdischen Ursprungs. Der Besucher verhält sich nicht wie ein Asteroid und auch nicht wie ein Komet. Dazu fliegt er auf einer gebogenen Bahn durch unser Sonnensystem, die nicht den orbitalmechanischen Vorhersagen entspricht.«

»Bräuchte es für diese Aussage nicht mehr Daten?«

»Ja.« Melody nickte ehrlich. »Meine Daten beruhen bislang auf nur drei Aufnahmen, weshalb ich die NASA mehrfach öffentlich gebeten habe, weitere Forschungen anzustrengen. Ich wiederhole mich in diesem Fall gern: Der Besucher ist das womöglich wichtigste Forschungsfeld der menschlichen Astronomie, seit das erste Teleskop von Galileo Galilei gebaut wurde. Vielleicht sogar der Menschheit allgemein und das sage ich nicht leichtfertig. Ich fürchte bloß – und ich hoffe, dass mein Buch nicht bloß die New-York-Times-Bestsellerliste ins Wanken bringt, sondern auch einige festgefahrene Meinungen an den richtigen Stellen unserer Politik und der NASA. Denn wenn wir zu lange warten, wird der Besucher uns passiert haben und wir werden nie erfahren, mit was oder wem wir es zu tun hatten. Danke, Michael. Noch eine Frage an dieser Stelle? Ich fürchte, wir entfernen uns sonst zu weit vom aktuellen Abschnitt. Ja, die Dame in der vorletzten Reihe mit dem roten Hemd?«

Der Mikrofon-Helfer beeilte sich und reichte das Mikro durch die letzte Reihe nach vorn.

»Vielen Dank, Doktor. Mein Name ist Melissa. Wenn Sie mir die Frage gestatten, sie passt nicht ganz in den Abschnitt, aber ich bin mir sicher, dass sie den meisten hier auf der Zunge brennt, die Ihr letztes Interview bei der Tonight Show von Jimmy Fallon gesehen haben: Stimmt es, dass Sie bei der Dragon-6-Mission auf der Ersatzbank saßen, weil Sie einem anderen Astronauten geholfen haben, seine …«

Melody hörte den Rest nicht mehr, da sie jemanden auf die Bühne kommen sah. Es war Jeffrey in seinem braunen Kordanzug mit der hässlichen bunten Fliege, der ihr mit einem ungewohnt unsicheren Lächeln das Mikro entlockte und sagte: »Okay, liebe Gäste, wir machen jetzt eine kurze Pause. Wir haben gerade technische Probleme mit dem Soundsystem. Draußen haben wir kostenlose Getränke vorbereitet. Wir machen weiter, wenn Sie die laute Glocke hören. Danke für Ihr Verständnis.«

»Was ist los?«, murmelte Sie irritiert, als er das Mikro abgeschaltet hatte und sie die feinen Schweißperlen auf seiner Stirn bemerkte.

»Es tut mir sehr leid, Doktor, aber Sie haben Besuch.« Er leckte sich über die Lippen.

»Besuch?« Nun war sie vollends verwirrt und sah über seine Schulter, als sie seine kläglichen Versuche bemerkte, nicht hinter sich zu blicken. Direkt neben der Bühne, im Schatten der Strahler, standen zwei breit gebaute Männer in maßgeschneiderten Anzügen, die ihre Hände vor der Hüfte gefaltet hielten und sie anblickten wie Falken ihre Beute. »Wer ist das?«

»Das sind Secret-Service-Agenten, die Sie sehen wollen.«

»Secret Service?«, fragte sie und blinzelte ein paarmal, als könnten die Figuren in den Schatten so verschwinden. »Ich verstehe nicht. Jetzt?«

»Es schien ihnen sehr dringend. Sie haben auch gesagt, dass ich eine Minute hätte, Sie von der Bühne zu holen, sonst würden sie es tun.« Der Leiter der Abendveranstaltung rang entschuldigend mit den Händen und schien sich nicht zum ersten Mal aus seiner Haut zu wünschen.

»Ist schon gut«, versicherte sie ihm und wappnete sich mit einem tiefen Atemzug. »Sie können nichts dafür. Es tut mir leid, dass Sie unterbrechen mussten. Ich regle das und komme gleich wieder auf die Bühne.«

Damit ging sie an ihm vorbei und auf die beiden angeblichen Agenten zu, von denen einer sein Handgelenk zum Mund hob und es dann wieder senkte.

»Gentlemen?« Melody ließ es zugleich wie eine distanzierte Begrüßung und Frage klingen.

»Agent Smith«, stellte sich einer der beiden vor und deutete auf seinen Kollegen. »Agent Solokowski. Folgen Sie uns bitte, Ma’am.«

»Darf ich fragen, worum es geht? Falls es Ihnen nicht aufgefallen ist: Ich befinde mich mitten in einem Vortrag.«

»Wir sind leider nicht befugt, darüber mit Ihnen zu sprechen, Ma’am«, antwortete Smith. Er sah aus wie ein harter Mann ohne Humor und sprach auch so. Sie fand weder Zeichen von Ungeduld oder Hektik in seiner Miene, und doch schaffte er es, durch bloße Körperspannung den Eindruck zu erwecken, sie beim nächsten Widerwort bewusstlos zu schlagen und sich über die Schulter zu werfen. »Und«, fügte sein Kollege von der Seite hinzu, »wir wären auch gar nicht in der Lage dazu. Wenn Sie uns also folgen würden?«

Melody sah auf ihre Armbanduhr hinab und sagte: »Fünf Minuten.«

Keiner der beiden Männer zeigte eine Reaktion, die über einen Schritt zur Seite und eine ausgestreckte Hand in Richtung Tür neben der Bühne hinausging.

»Nach Ihnen, Ma’am.«

Widerwillig ging sie voran, ließ sich einen der Türflügel unter dem Notausgangsschild aufdrücken und war überrascht, einen weiteren Agenten an der Außentür zu sehen, die vom Rundgang, der einmal um den Saal führte, einen direkten Zugang zum Parkplatz bot. Der Mann, der aussah wie ein Klon von Smith und Solokowski, hielt sie mit dem Rücken offen und gab den Blick auf einen schwarzen SUV im prasselnden Herbstregen frei. Im eingeschalteten Scheinwerferlicht sahen die Tropfen aus wie beschleunigte Teilchen in einem Beschleuniger.

»Äh, könnte ich mal Ihre Ausweise sehen?«, fragte sie. Mit einem Mal kam ihr das alles so surreal vor, dass sie sich Sorgen machte, einer besonders geschickt eingefädelten Entführung oder einem Streich zum Opfer zu fallen – beides keine Szenarien, auf die sie sonderlich scharf war.

Ein Schritt zurück ließ sie mit einem der Agenten zusammenstoßen, der sich als Smith herausstellte. Es war, als wäre sie gegen eine massive Mauer geprallt. Obwohl sie sich instinktiv auf einen Kampf einstellte, als das Adrenalin aus ihren Nebennierenrinden schoss, zückte er einen Ausweis und hielt ihn ihr vors Gesicht. Falls er gefälscht war, hatte jemand wirklich gute Arbeit geleistet.

»Administrator Rothman wartet auf Sie, Ma’am.« Agent Solokowski brachte es vorwurfsvoll vor, ohne seine Stimme zu verändern.

Schließlich schluckte sie und ließ sich von ihrem Kollegen an der Tür mit einem aufgespannten Regenschirm zum Fond begleiten. Sie stieg ein, und tatsächlich saß dort Jim mit einem mächtigen Aktenordner auf dem Schoß und zwei Tablets neben sich auf der Mittelkonsole. Er wirkte müde und blasser als sonst, mit tiefen Schatten unter den Augen.

Melody wusste nicht, ob sie erleichtert oder noch verwirrter sein sollte. Was hatte Jim hier zu suchen? Und der Secret Service?

»Jim?«, war ironischerweise alles, was ihr spontan in den Sinn kam, obwohl sich eine ganze Sturzflut an Fragen in ihr aufstaute, die mit jedem Atemzug anwuchs.

»Sorry, Melody. Tut mir leid, dass wir uns so treffen müssen. Ich wünschte, ich hätte dich einfach anrufen können«, seufzte der NASA-Administrator.

»Ich war im Vortrag.«

»Ja. Ein Buch und direkt auf Platz eins der New-York-Times-Bestsellerliste.« Er nickte langsam. »Respekt.«

»Warum klingt es dann wie ein Vorwurf?« Sie war nicht auf einen Streit aus, da diese selten konstruktiv endeten. Trotzdem fiel es ihr schwer, ihre Verletzung zu ignorieren, die wie ein Wesen mit Eigenleben in ihrer Magengrube lebte.

»Ich habe sämtliche Zitate markiert, die meine Behörde als inkompetent, behäbig oder rückwärtsgewandt darstellen. Am Ende waren zwei Marker aufgebraucht.«

»Weder war das meine Absicht, noch habe ich versucht, die NASA schlecht zu machen – oder dich. Ich habe lediglich meine Erfahrungen mitgeteilt, was einer ehemaligen Mitarbeiterin ja nicht verboten ist«, hielt sie ihm entgegen. »Außerdem hast du mich ins Abseits gestellt, bloß weil ich wahrheitsgemäß über meine Entdeckung gesprochen habe.«

»Du hast eine Hypothese im landesweiten Fernsehen aufgestellt, von der du wusstest, dass jedes Klatschblatt sie gierig aufsaugen und versprühen würde wie eine verdammte Sprinkleranlage!«, brauste er auf. »Und das kurz vor unserem finalen Orbitaltest für das SLS!«

Melody neigte verwundert den Kopf. Jim war in ihrer Gegenwart noch nie laut geworden, nicht einmal gegenüber anderen Mitarbeitern, mit denen ihn keine private Liebschaft verbunden hatte. Er schien ihren Blick zu bemerkten und richtig zu deuten, als er seufzte und für einen Augenblick die Augen schloss.

»Tut mir leid«, sagte er, beugte sich vor und klopfte seinem Fahrer auf die Schulter, woraufhin der Wagen sich in Bewegung setzte. Noch während sie sich fragte, was aus den Agenten geworden war, sah sie Scheinwerfer hinter sich und Rücklichter vor ihnen. »Ich stehe aktuell unter großem Druck und es gibt kein Ventil, weil …«

»He!«, fuhr sie ihm dazwischen und drehte sich zur hinter ihnen kleiner werdenden Tür zum Veranstaltungszentrum herum, als könnte sie sich mit einer unsichtbaren Kraft daran festklammern. »Wir können nicht einfach wegfahren!«

»Doch, das können wir«, widersprach Jim. »Und wir müssen. Unser Flieger geht in dreißig Minuten.«

»Unser Flieger?«, wiederholte sie ungläubig. Ausgerechnet die Frage »Wie sollen wir das um die Uhrzeit bis zum Flughafen schaffen?« setzte sich unter all den Kandidaten durch.

»Wir fliegen nicht vom Flughafen, sondern von der Dover Air Force Base«, antwortete Jim knapp.

»Würdest du mir bitte sagen, was hier los ist?« Das war wohl die wichtigste Frage. Besser spät als nie.

»Du hattest recht, das ist los.«

Sie hörte keinen Widerwillen in seiner Stimme, auch keine Scham, was sie ihm hoch anrechnete. Zugleich wirkte die nüchterne Feststellung äußerst antiklimatisch nach zwei Jahren, in denen sie abwechselnd Paria der NASA, Belächelte der Astronomen und Astrophysiker, Hoffnungsträgerin der populären Wissenschaftsliteratur und Lichtgestalt aller möglicher Verschwörungstheoretiker gewesen war. Im Grunde genommen war jetzt genau jene Situation eingetroffen, die sie sich insgeheim seit ihrem Abgang bei der NASA vor zwei Jahren herbeigesehnt hatte.

»Ich … weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll.«

»Wie wär’s mit ›Hab ich’s dir doch gesagt‹? Dann hast du es aus deinem System raus.«

»Nicht nötig«, gab sie wahrheitsgemäß zurück. »Also habt ihr neue Aufnahmen gemacht?«

»Ja. Vor zwei Monaten haben einige Mitarbeiter auf Hawaii während eines Leerlaufs nach Wartungsarbeiten am Gemini North heimlich nach deinem ›Besucher‹ gesucht und ihn auch gefunden. Ich habe davon zuerst keinen Wind bekommen, vermutlich weil diese Mitarbeiter nicht sicher waren, was genau sie gefunden hatten.«

»Oder sie hatten Sorge, gefeuert zu werden, wenn sie eine unpopuläre Hypothese unterstützen.«

Jim verzog das Gesicht. Draußen rauschten die Lichter der Nacht an ihnen vorbei, während sie wie die diplomatische Kolonne eines Staatsgastes viel zu schnell über Nebenstraßen in Richtung Osten rasten.

»Was auch immer ihre Gründe waren – ihnen zufolge wollten sie die Daten häufig genug durchgehen, um ganz sicher zu sein –, wurden sie mir zugespielt und ich habe sofort den Nutzungsplan des James Webb umgeworfen und gestern Nacht waren die Berechnungen fertig. Wir haben jetzt ein hochauflösendes Bild deines Besuchers, den wir intern ›Serenity‹ nennen.«

»Serenity?« Es klang missbilligender, als sie beabsichtigt hatte.

»Browncoats für immer.« Als sie darauf nur die Stirn in Falten legte, seufzte er und winkte ab. »Der Winkel zur Erde hat sich stark verändert. Serenity hat tatsächlich einen Schweif und er ist wahrscheinlich länger als zwei Millionen Kilometer. Sie ist von vorne betrachtet scheibenartig aufgebaut und wird langsamer.«

Obwohl sie ›Das entspricht meinen Vermutungen!‹ sagen wollte, fragte sie: »Moment, der Besucher bremst?«

Keine Kollision! Wenn die Ausgasung noch immer stattfindet – aktuell müsste das Objekt weiterhin deutlich jenseits von Saturn sein –, kann es sich nur um einen Antrieb handeln.

»Er wird langsamer«, unterbrach Jim ihren davongaloppierenden Verstand.

»Kein natürliches Objekt, das in Richtung Sonne fliegt, wird einfach so langsamer!«

»Nein.« Obwohl er nur ein einziges Wort sagte, traf es sie wie ein Schlag.

Ein Raumschiff! Es muss tatsächlich ein Raumschiff sein!

Jim klappte seinen Aktenordner an einer anderen Stelle auf und zückte ein Bild, das er ihr hinhielt. Es zeigte eine unregelmäßig geformte Scheibe, die nach hinten dicker wurde und einen langen, schräg nach hinten strebenden Schweif, der relativ klar umrissen war. Ihre anfängliche Euphorie flachte etwas ab, als sie die Oberflächenbeschaffenheit genauer betrachtete. Das Bild war hochauflösend in Anbetracht der Entfernung zum Objekt und seiner Größe, aber immer noch schlechter als ein Porträtfoto aus den Anfangszeiten der Fotografie.

»Ist das …«

»Regolith, wie es aussieht. Eine ungleichmäßig unebene Oberfläche, wie wir sie bei einem Asteroiden vermuten würden«, erklärte Jim nickend.

Melody spürte leise Enttäuschung in sich aufsteigen, weigerte sich jedoch, sie anzuerkennen. Im Angesicht von Erkenntnissen war sie ein guter Indikator dafür, dass man sich als Forscher vom reinen wissenschaftlichen Entdeckergeist entfernte und eigene Wünsche und Vorstellungen drohten, den Blick auf die Fakten zu vernebeln.

»Außerdem lagst du in einer Sache falsch«, fuhr ihre ehemalige Affäre fort. »Es gibt keinen Spin und die Helligkeit verschiebt sich nicht. Zumindest nicht mehr.«

»Also keine Rotation?« In ihrem Kopf fiel eine von vielen Ideen in sich zusammen, die sie in den letzten Jahren hin und her bewegt hatte. Kein Ringhabitat von Aliens, die wie Menschen auf eine mehr oder minder starke Form von Schwerkraft angewiesen waren.

---ENDE DER LESEPROBE---