Das Opernhaus: Samtschwarz die Nacht - Anne Stern - E-Book

Das Opernhaus: Samtschwarz die Nacht E-Book

Anne Stern

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Beschreibung

Die Leidenschaft und die Musik sind stärker als jede Vernunft. Dresden 1869: Die gefeierte Violinistin Elise Jacobi hat die Liebe zur Musik an ihre Kinder weitergegeben. Tochter Netty probt an der Semperoper als Primaballerina für die Rolle ihres Lebens, Sohn Julius ist ein begabter Pianist und verliebt sich in die unabhängige Bankierstochter Rahel Cohn. Eine neue Generation wächst heran, die den Mut hat, nach der Freiheit zu greifen und neue Wege zu gehen. Doch dann kommt es zu einem verheerenden Feuer, bei dem das Königliche Theater in Schutt und Asche gelegt wird. Fassungslos stehen die Menschen vor den Trümmern. Auch für Elise ist der Anblick kaum zu ertragen, verbindet sie doch mit dem Hoftheater lang unterdrückte Gefühle für den ehemaligen Dekorationsmaler Christian Hildebrand. Bei den Maiaufstände vor zwanzig Jahren musste Christian aus der Stadt fliehen. In aller Heimlichkeit trägt Elise sein Andenken noch heute in ihrem Herzen – ebenso wie das große Geheimnis, das seit so vielen Jahren auf ihr lastet. Denn es hat die Kraft, alles zu zerstören, was sie sich seit Christians Flucht aufgebaut hat. Eine neue Generation am Opernhaus – das fulminante Finale der groß angelegten Dresden-Trilogie von Bestsellerautorin Anne Stern.

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Anne Stern

Das Opernhaus: Samtschwarz die Nacht

Historischer Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Die Leidenschaft und die Musik sind stärker als jede Vernunft.

 

Dresden 1869: Die gefeierte Violinistin Elise Jacobi hat die Liebe zur Musik an ihre Kinder weitergegeben. Tochter Netty probt an der Semperoper als Primaballerina für die Rolle ihres Lebens, Sohn Julius ist ein begabter Pianist und verliebt sich in die unabhängige Bankierstochter Rahel Cohn. Eine neue Generation wächst heran, die den Mut hat, nach der Freiheit zu greifen und neue Wege zu gehen. Doch dann kommt es zu einem verheerenden Feuer, bei dem das Königliche Theater in Schutt und Asche gelegt wird. Fassungslos stehen die Menschen vor den Trümmern. Auch für Elise ist der Anblick kaum zu ertragen, verbindet sie doch mit dem Hoftheater lang unterdrückte Gefühle für den ehemaligen Dekorationsmaler Christian Hildebrand. Bei den Maiaufständen vor zwanzig Jahren musste Christian aus der Stadt fliehen. In aller Heimlichkeit trägt Elise sein Andenken noch heute in ihrem Herzen – ebenso wie das große Geheimnis, das seit so vielen Jahren auf ihr lastet. Denn es hat die Kraft, alles zu zerstören, was sie sich seit Christians Flucht aufgebaut hat.

 

Eine neue Generation am Opernhaus – das fulminante Finale der groß angelegten Dresden-Trilogie von Bestsellerautorin Anne Stern.

Vita

Anne Stern wurde in Berlin geboren und ist Historikerin und promovierte Germanistin. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band wurde ein Spiegel-Bestseller. Mit diesem Roman legt sie den krönenden Abschluss ihres Dresden-Epos vor. In der Trilogie erzählt sie die wechselvolle Geschichte der Semperoper und der Stadt Dresden im 19. Jahrhundert. Anne Stern lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Hans Christian Andersen: «Die Schneekönigin», in: Andersens Märchen, übersetzt von Pauline Klaiber, erstmals veröffentlicht 1909 (Quelle: Projekt Gutenberg)

Heinrich Heine: «Sehnsucht», in: Sämtliche Schriften, Hanser Verlag 1971, Nachgelesene Gedichte 1812–1827

«Tagebuch des Königlich Sächsischen Hoftheaters vom Jahr 1869», Dresden

Karte © Peter Palm, Berlin

Covergestaltung U1berlin, Patrizia Di Stefano

Coverabbildung Ginette Beaulieu, AdobeStock

ISBN 978-3-644-01536-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Überhaupt ohne Leichtsinn ist das ganze

Leben keinen Schuss Pulver wert.

Theodor Fontane: Effi Briest, 1894

Prolog

Blasewitz bei Dresden, Dezember 1859

Draußen pfiff der eisige Winterwind ums Haus und zauste die noch jungen Bäume im Garten. Doch drinnen war es warm und behaglich, auch wenn noch nicht viele Möbel in den Zimmern standen und einige Räume deshalb halb leer wirkten. Gesche, das neue Hausmädchen, vor dem Julius sich ein wenig fürchtete – was er mit seinen neun Jahren niemals zugegeben hätte –, sorgte dafür, dass der Hausdiener morgens in allen Kaminen der prächtigen Villa ordentlich einheizte. Selbst im Turmzimmer, das kaum einer je benutzte, musste stets ein Feuer im Ofen brennen, weil sich das laut Gesche für das Haus eines Geheimen Obermedizinalrates so gehörte.

Zwar war die Neue mit ihrer langen, hageren Gestalt und den großen Zähnen im verhärmten Gesicht keine Schönheit und viel weniger zärtlich zu Julius als Merle, das frühere Mädchen, das sie in der alten Neustädter Wohnung gehabt hatten, aber Gesche verstand es, einen Haushalt zu führen, das erkannte jeder. Sogar die Köchin Rosel, die vor zwei Wochen mit ihnen aus der Neustadt hierher nach Blasewitz gezogen und selten auf den Mund gefallen war, zeigte sich Gesche gegenüber friedfertig wie ein Lamm und ließ sich jederzeit gern auf einen Plausch mit der Jüngeren ein.

Gerade jetzt lachten die beiden Frauen gemeinsam in der Küche, und Julius, der sich in die Vorratskammer hatte schleichen wollen, um ein paar Pfeffernüsse zu stibitzen, blieb wie angewurzelt im dunklen Flur vor der angelehnten Tür stehen und lauschte.

«Weiter!», hörte er die Stimme der Köchin. Sie klang ungeduldig. «So erzählen Sie doch schon, Fräulein Blank.» Auch Rosel wusste gute Geschichten zu erzählen, doch in dem neuen Dienstmädchen schien sie ihre Meisterin gefunden zu haben.

Gesches heisere Stimme mit dem norddeutschen Einschlag erklang wieder durch den Türspalt. «Nun, damit flog die Schneekönigin davon, und Kay saß ganz allein in dem viele Meilen weiten, großen, leeren Eissaal», raunte sie geheimnisvoll.

Julius erkannte das Märchen sofort, das Gesche der Köchin erzählte, jedes Kind kannte die Geschichte von der Schneekönigin. Das neue Hausmädchen war ein wandelndes Märchenbuch und hatte zu jeder Situation ein Zitat aus einer Sage oder Fabel oder einem Gedicht parat, das hatte er schon gemerkt. Und zu seiner Überraschung gefiel es ihm an ihr besonders. Es ließ in ihm ein Gefühl der Verbundenheit zu dem neuen Mädchen aufsteigen, das die leise, heimliche Furcht vor ihr fast wettmachte.

«Er betrachtete die Eisstücke und dachte und dachte, sodass es in ihm knackte, ganz stille und steif saß er, man hätte glauben können, er sei erfroren.»

Die raue Stimme zog Julius unwillkürlich mitten hinein ins Reich der Phantasie, und ihn fröstelte, als wäre er selbst der arme Kay, den die Schneekönigin an einen finsteren, eisigen Ort verschleppt hatte. Denn trotz der lodernden Kaminfeuer, trotz der Anwesenheit von seiner Mutter und Rosel und den anderen Angestellten in der Villa – und neuerdings auch dieses Mannes, den er Herr Papa nennen sollte, obwohl Leopold nicht sein Vater war –, war Julius seit dem Umzug oft bis ins Innerste hinein kalt. Er sehnte sich nach der großen, hellen Wohnung nahe der Augustusbrücke zurück, nach den Nachbarn, dem Neustädter Markt und den Spielen mit den anderen Kindern in den vertrauten Straßen. Hier in Blasewitz, vor den Toren Dresdens, fühlte er sich fremd und einsam, das Heimweh plagte ihn. Gleichwohl floss auch hier die Elbe, doch man konnte sie zu Fuß nicht überqueren, sondern nur am Ufer stehen und auf die andere Flussseite zur Loschwitzhöhe hinübersehen, wo sich das alte, gleichnamige Fischerdörfchen zusammenkauerte.

Bald, so hatte sein neuer Herr Papa gesagt, werde hier eine blühende Stadt entstehen, so herrschaftlich wie Dresden selbst. Doch bisher gab es nur Felder, alte Steinmauern, mächtige Fichten und weite Tannenwälder. Und hier und da eine Villa, die – wie ihre auch – seltsam allein in der Landschaft herumstand. Um in die Stadt zu kommen, war man auf die Kutsche angewiesen. Doch Mama hatte es ihm erklärt: Es war Zeit für einen Neuanfang. Sie hatte sich wieder verheiratet, verheiraten müssen – was sie nicht so gesagt hatte, aber Julius hatte das Müssen in ihren hellen Augen, die er so gut kannte, gelesen – so deutlich, als hätte sie es ausgesprochen. Und da ging es nicht an, dass die Familie des Medizinalrats weiterhin in ihrer alten Wohnung blieb. Es war Zeit, Hausbesitz zu erwerben und einen Grundstein für die Zukunft zu legen.

Julius erinnerte sich nicht an seinen Vater. Adam war gestorben, als Julius noch klein gewesen war, und hatte seine Mama in der Blüte ihrer Jahre zur Witwe gemacht. So hatte es Rosel einmal zu Merle gesagt, und Julius hatte es sich gemerkt. Daher fand er es auch durchaus angemessen, dass seine Mutter schließlich wieder heiratete. Und eine Heirat mit einem neuen Mann bedeutete eben, dass man mit ihm ein gemeinsames Heim aufbaute, auch das verstand Julius. Nur, warum es in dieser furchtbaren Einöde sein musste, dieses Heim, und nicht in der großen Stadt, die er so liebte, das verstand er nicht. Doch er war nur ein Kind, und die Erwachsenen fragten ein Kind nicht, wenn es um wichtige Entscheidungen ging. Ein Kind hatte zu folgen, so einfach war das.

Folgen war jedoch nie etwas gewesen, was Julius leichtfiel, aber immerhin hatte er das Glück gehabt, von lauter Frauen umgeben zu sein, die ihn liebten und ihm vieles nachsahen: Die Mutter, Rosel, Merle, seine Schwester Netty, die freilich zurzeit ihr erstes Gastspiel als Ballerina am Berliner Theater gab und nur unregelmäßig nach Hause kam – sie alle hatten sich liebevoll um ihn, den jüngsten Spross der Familie gekümmert, den Goldjungen, wie Rosel immer sagte. Aber Netty lebte jetzt im fernen Preußen bei Bekannten in der Allee Unter den Linden und schrieb ihm nur noch manchmal krakelige Briefchen, die ihn aufmuntern sollten, aber nicht über ihre Abwesenheit hinwegtrösten konnten. Nun hatte er ohne seine Schwester seine liebe Neustadt verlassen und in die Fremde ziehen müssen.

Immerhin war der schöne schwarze Konzertflügel mit umgezogen, auf dem er so gern spielte. Das Klavierspiel fiel ihm leicht. Viel leichter als Netty, die zwei linke Hände hatte, wenn sie musizieren sollte, auf der Bühne jedoch plötzlich schwebte wie eine Fee.

Doch auch das einsame Klimpern im halb leeren Musikzimmer war nur ein schwacher Trost. Die Kindheit schien Julius oft feindlich, wie ein weites fremdes Land, dessen Horizont nicht erkennen ließ, was dahinter lag. Er konnte es nicht erwarten, endlich erwachsen zu werden und dem Kindesalter den Rücken zu kehren.

Wenn er doch nur eine andere menschliche Seele gehabt hätte, die ganz ihm gehörte und mit der er niemals einsam sein müsste! So wie Kay und seine Gerda im Märchen von der Schneekönigin, dessen Worte noch immer aus der Küche klangen.

Entschlossen drückte Julius die Tür nun auf und schob sich in den warmen Raum. Sofort hüllte ihn der Duft nach Zimt und Ingwer ein.

Die alte Rosel stand gebeugt am bemehlten Arbeitstisch und buk einen Stollen, während Gesche bequem auf einem Schemel saß, die langen Beine in den dicken schwarzen Strümpfen weit von sich gestreckt, und erzählte. Das Feuer im eisernen Herd knackte und prasselte dazu wie leise Musik.

Als Julius hereinkam, brach Gesche mitten im Satz ab.

«Na, mien Jung», sagte sie, ohne zu lächeln, aber nicht unfreundlich. «Brauchst du etwas?»

Auch Rosel drehte sich nach ihm um und lachte bei seinem begehrlichen Blick auf die Herrlichkeit, die sie vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte. «Ich weiß schon», sagte sie und stemmte die mehligen Hände in die breiten Hüften unter ihrer Schürze, «unser Julius ist immer hungrig, nicht wahr?»

Julius nickte verlegen. Rosel ging an das große, weiß lackierte Küchenbuffet mit den Butzenscheiben, öffnete eine der Klappen und nahm eine Schale aus Meissener Porzellan heraus, die mit einem karierten Leintuch bedeckt war. Sie zog das Tuch fort und hielt ihm die Schüssel hin. Darin türmten sich goldbraune Mandelmakronen.

Julius griff nach der Schale und schob sich eine der Leckereien in den Mund. Es knusperte herrlich beim Hineinbeißen, und die Leere in ihm wich ein wenig zurück, genau wie die Ungeheuer unter seinem Bett, wenn die Mutter ihm bei brennender Kerze nach langem Betteln noch ein letztes Schlaflied sang.

«Setz dich her», sagte Rosel und deutete auf die Küchenbank. «Gesche erzählt uns das Märchen der Schneekönigin zu Ende.»

Julius umklammerte die Schüssel mit den Makronen und kauerte sich auf die Bank. Er lauschte Gesche, die wieder zu erzählen anhub.

«Da war es, dass die kleine Gerda durch das Tor in das Schloss trat», sagte sie heiser. Sie kannte das Märchen Wort für Wort auswendig.«Hier herrschten schneidende Winde; aber sie betete ein Abendgebet, und da legten sich die Winde, als ob sie schlafen wollten, und sie trat in die großen, leeren, kalten Säle hinein.»

An dieser Stelle hielt Julius kurz den Atem an und vergaß weiterzukauen.

«Da erblickte sie Kay, sie erkannte ihn, sie flog ihm um den Hals, hielt ihn dann fest und rief: ‹Kay! lieber kleiner Kay! Da habe ich dich endlich gefunden!›»

Julius nahm sich noch eine Makrone und schauderte wohlig. Er liebte es, dass diese Geschichte gut ausging, nicht wie in vielen anderen Märchen, in denen am Ende alle starben oder eine grausame Lektion erteilt bekamen. Nein, hier finden sich die beiden Freunde wieder, die Spiegelscherben, die Kays Blick getrübt haben, werden mit den Freudentränen aus dem Auge gespült, und er ist wieder ganz der Alte. Er darf mit Gerda nach Hause zurückkehren, in sein früheres Leben, wo er sich auskennt.

Julius kaute und schluckte. Ach, dieser Kerl war zu beneiden!

Da hörte er, wie sich die Tür vom Flur her erneut öffnete, und er sah seine Mutter hereintreten. Elise trug ein neues Kleid, es war aus hellblauer Seide, hatte kurze Puffärmelchen und war in der Taille sehr eng geschnitten, von wo aus der prächtige Rock in vielen Falten zu Boden fiel. Bewundernd sah Julius sie an.

«Da bist du ja, mein Schatz», sagte die Mutter zu ihm und wandte sich dann mit einem Stirnrunzeln an Rosel. «Bitte, lassen Sie das Kind nicht zu viel naschen, Julius soll später mit Appetit die Suppe essen. Mein Mann und ich gehen aus, in die Oper.»

Sie trat zu Julius an die Küchenbank und gab ihm einen Kuss auf den Scheitel. Er schnupperte und vernahm zufrieden ihren vertrauten Duft nach Veilchenseife.

«Gesche wird dich zu Bett bringen, nicht wahr?», sagte Elise, und das Hausmädchen nickte, ohne eine Miene zu verziehen. Sie war beim Eintreten der Herrin aufgestanden und hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt, als warte sie auf Anweisungen.

Elise strich Julius über die Wange und wandte sich zum Gehen. Doch dann blieb sie noch einmal stehen. «Was war das für eine Geschichte, die Sie da gerade erzählt haben?», fragte sie Gesche.

«Keine Geschichte, sondern ein Märchen», erwiderte Gesche. «DieSchneekönigin, Gnädigste, von Hans Christian Andersen. Möchten Sie mit uns das Ende hören?»

Elise sah aus, als sei sie nicht sicher, nickte dann aber. «Bitte», sagte sie abwartend. Sie knetete mit der linken ihre rechte Hand, als schmerzte sie ihr, und Julius entdeckte Tintenspuren an den Fingerspitzen und der Handkante seiner Mutter – wie immer, wenn sie zuvor einen langen Brief geschrieben hatte.

Ganz kurz sah es so aus, als blinzele Gesche ihm zu, doch er war nicht sicher, ob er recht hatte.

«Da brach Kay in Tränen aus», sprach das Dienstmädchen mit gedämpfter Stimme. «‹Gerdachen! Liebes, kleines Gerdachen! Wo bist du doch so lange gewesen? Und wo bin ich gewesen?› Und er blickte rings um sich her. ‹Wie kalt ist es hier! Wie es hier weit und leer ist!› Und er klammerte sich an Gerda an, und sie lachte und weinte vor Freude.»

Julius beobachtete neugierig seine Mutter, halb erwartete er, dass sie gleich mit der Erzählerin schimpfen würde, weil die Geschichte zu aufregend für ein Kind sei. Doch seine Mutter schwieg, biss sich nur auf die Lippen, die auf einmal blutleer wirkten, und sah Gesche so gespannt an, als könne sie nicht erwarten, mehr zu hören. Das Dienstmädchen erzählte weiter, wie Kay und Gerda Hand in Hand zurück in ihre Heimat wandern und alles wiederfinden, was sie vermisst haben.

Bei der Stelle «Sein Freibrief stand da mit glänzenden Eisstücken geschrieben» schien es Julius, dass seiner Mutter etwas von dem Zimtstaub in die Augen geraten war, denn sie blinzelte mehrfach.

«… und sie gingen zu der Tür der Großmutter», fuhr Gesche mit ihrer rauen Stimme fort, «die Treppe hinauf, in die Stube hinein, wo alles wie früher auf derselben Stelle stand. Die Uhr sagte: ‹Tick! Tack!› Und die Zeiger drehten sich; aber indem sie durch die Tür gingen, bemerkten sie, dass sie erwachsen geworden waren.»

In der Küche war es jetzt totenstill, und Julius schien es auf einmal, als hätten sich auch hier bei ihnen die Zeiger ein wenig schneller gedreht. Oder war die Zeit im Gegenteil kurz stehen geblieben? In diesem Moment schlug der zierliche Gong der Standuhr aus dem Esszimmer durchs Haus. Ein Ruck ging durch die blauseidene Gestalt seiner Mutter. Elise war sehr blass, sie stieß die Luft aus, als hätte sie zuvor den Atem angehalten – und rauschte ohne ein weiteres Wort aus der Küche. Ihr angenehmer Duft hing noch eine Weile im Raum.

Rosel und Gesche wechselten einen schnellen Blick. Julius bemerkte ihr Verhalten und fühlte sich, wie so oft, ausgeschlossen aus der Welt der Erwachsenen.

«Was hat Mama denn?», fragte er verständnislos und rutschte mit einem letzten bedauernden Blick zur Schale mit dem Gebäck von der Küchenbank.

«Mien Jung», antwortete Gesche und nahm die Makronen an sich, «ich weiß nicht, was – oder wer – deiner lieben Mutter fehlt.» Ehe sie das Gebäck wieder mit einem Tuch bedeckte und im Buffetschrank verschwinden ließ, griff sie sich eins der kleinen Stückchen heraus und wog es in ihrer knöchernen Hand. «Aber eines ist gewiss – die Märchen sagen die Wahrheit. Für jeden von uns eine andere, aber eben immer doch die Wahrheit.»

Damit steckte sie sich die Makrone zwischen ihre großen Vorderzähne und biss knirschend zu, dass die Krümel nur so flogen.

1.

Dresden, Freitag, 27. August 1869

(fast zehn Jahre später)

Im ersten Logenrang des Königlichen Theaters war es an diesem Spätsommerabend so heiß, dass Elise kaum Luft bekam. Sie hob und senkte unablässig den Fächer aus Pfauenfedern vor ihrem erhitzten Gesicht – ein Geschenk ihres Mannes Leopold, der heute Abend als Oberarzt und Chirurg des Krankenhauses Friedrichstadt wie so oft nicht abkömmlich war. Stattdessen hatte Elise ihren neunzehnjährigen Sohn Julius mit in die Oper genommen. Er war sehr musikalisch, ein begabter Pianist, wenn auch in seinem jungen Alter vielleicht kein bekennender Wagner-Liebhaber. Doch sie fand, es schadete nichts, wenn er einmal Die Meistersinger von Nürnberg kennenlernte, die immerhin erst letztes Jahr uraufgeführt worden waren und seit der ersten Vorstellung im Frühjahr auch hier in Dresden ein Glanzstück der Oper darstellten.

Wieder schnappte Elise in ihrem engen Kleid nach Luft. Doch je mehr sie fächelte, desto deutlicher wurde nur, dass der Luft ringsum jedes Quäntchen Sauerstoff fehlte. Schließlich gab sie es auf, noch bevor die Vorstellung begann. Sie ließ den Fächer sinken und blickte umher, um zu sehen, wen sie unter den Gästen des Theaters kannte. Sie nickte hierhin und dorthin, wenn sie in der Menge ein vertrautes Gesicht entdeckte. Dann wanderte ihr Blick hinauf zu den oberen Rängen, deren Balkone sich mit ihren vergoldeten Brüstungen immer weiter den großen Saal emporschraubten, während über allem der Kristallleuchter aus Hunderten geschliffenen Glasteilchen strahlte.

Wenn es hier unten schon so warm war, überlegte Elise mit zunehmendem Unwohlsein, wie erging es wohl den Leuten, deren finanzielle Mittel nur für Billetts für die weniger teuren Plätze unter der Kuppel des Saals ausreichten? Dort oben musste die Hitze brüllend sein.

Doch dieser Umstand schien niemanden zu stören. Die Leute begrüßten einander mit Handschlag und Umarmungen, unterhielten sich lärmend, rauchten Pfeife und husteten im Tabakrauch, der in Schwaden durch den Saal zog. Sie lachten, scherzten und aßen ungeniert ihren mitgebrachten Proviant.

Elise, die gern Konzertbesprechungen im Dresdener Anzeiger oder im Merkur las, wusste von dem steten Ärgernis der Kritiker und des Theaterpersonals mit dem ungebärdigen Publikum, das so manche Aufführung störte, gar unterbrach. Das unermüdlich zu spät kam und dann lautstark darauf bestand, trotzdem die angestammten Plätze zu bekommen, auf denen inzwischen andere, sich kurz glücklich wähnende Gäste saßen, was wiederum zu Streit und Handgreiflichkeiten führte. Währenddessen ging die Vorstellung meistens einfach weiter, die Musiker versuchten, das Getöse um sie herum zu ignorieren, und spielten, was das Zeug hielt. Auch Elise hatte solche Herausforderungen am eigenen Leib erfahren, denn sie konzertierte noch ab und zu mit ihrer Geige in Dresden und der Umgebung, wenn auch nicht mehr so oft wie einst. Und natürlich niemals im großen Opernhaus, wo bis zum heutigen Tag ausschließlich Männer im Orchestergraben saßen.

«Wann geht es endlich los?», fragte Julius, der sich auf dem Sessel neben ihr in seiner offenen Jacke lümmelte, aus der oben ein weißer Rüschenkragen hervorsah. Der ausladende Stoff wirkte in der Hitze des Raums bereits etwas welk, obwohl Gesche ihn daheim in der Blasewitzer Mangelkammer ausgiebig mit Kartoffelmehl gestärkt hatte. «Ich werde ja schon schläfrig, bevor sie überhaupt zu spielen anfangen.»

«Es beginnt jeden Moment», sagte Elise beschwichtigend. Liebevoll betrachtete sie ihren Sohn von der Seite. Er war hellhäutig und hellhaarig, und seine Augen hatten die gleiche Farbe wie ihr etwas in die Jahre gekommenes Seidenkleid, sie waren himmelblau. Manchmal schien ihr in seinen Augen eine große Tiefe und Ernsthaftigkeit zu leuchten – mehr, als man es bei einem so jungen Mann erwartete. Julius war stets ernster gewesen als andere Kinder. Und manchmal fragte sich Elise, ob das auch etwas damit zu tun hatte, unter welchen Umständen er geboren und aufgezogen worden war. Wenige Monate nach seiner Geburt war sein Vater Adam, der Herr des Hauses Jacobi, an den späten Folgen eines Schlaganfalls gestorben. Das war nur ein Jahr nach den Unruhen der Maiaufstände 1849 gewesen, und Elise hatte wenig um Adam getrauert, auch wenn sie deswegen ab und zu ein schlechtes Gewissen verspürt hatte. Die Ehe war unglücklich und lieblos gewesen. Und Elises Herz – ja, das hatte schon immer einem anderen gehört.

Ein leiser Schauder flog plötzlich trotz der Hitze über ihren Rücken. Ihr ganzes Leben hatte sie sich bemüht, das Richtige zu tun, sich zu beherrschen und ihren Wünschen und Sehnsüchten keine zerstörerische Macht zu geben. Und das war auch in den vergangenen Jahren ihr Leitspruch gewesen. Aber eine seltsame Leere blieb zurück. Und ein Geheimnis, das sie immer stärker quälte. Manchmal verspürte sie den Wunsch, es endlich loszulassen und mit jemandem zu teilen. Denn während sie als jüngere Frau noch überzeugt davon gewesen war, dass sie ihr Wissen für sich behalten sollte, um ihre Lieben zu schützen, so kam ihr neuerdings immer öfter der Verdacht, dass es auch Feigheit war, die sie schweigen ließ. Welches Recht hatte sie eigentlich noch immer dazu?

Wieder betrachtete Elise verstohlen das blonde Haar ihres Sohnes, die blitzenden, klugen Augen – nein, das alles war nicht das Erbe von Adam Jacobi, der schließlich ganz anders ausgesehen hatte als ihr strahlender Sohn. Doch dieses Wissen hatte sie fast zwanzig Jahre lang in ihrem Herzen verschlossen gehalten, und nicht einmal Julius wusste, wer in Wirklichkeit sein Vater war.

In ihre ernsten Gedanken hinein ertönte mit einem Mal die Musik der Streicher und Bläser aus dem Orchestergraben, und Elise lehnte sich über die Brüstung und sah hinab. Kapellmeister Rietz stand bereits am Pult und dirigierte die Ouvertüre von Richard Wagner. Rietz war umstritten in Dresden: Die einen hielten ihn für einen fähigen Dirigenten und priesen seine Verdienste – er hatte den legendären Notenschrank von Hofkonzertmeister Pisendel voller wertvoller Musikwerke wiederentdeckt und die kostbare Sammlung gerettet. Andere Stimmen dagegen behaupteten, Rietz habe nicht genug Feuer und reibe sich in seiner Konkurrenz zum anderen Kapellmeister, Carl Krebs, unnötig auf. Elise aber gefiel das sorgfältige, wenig pompöse Dirigat des behäbig wirkenden Mannes, und sie beteiligte sich ohnehin nicht gern am Klatsch, der in den Salons und Konzertsälen der Stadt kursierte und die Gemüter erhitzte.

Auf der Bühne entspann sich nun die Aufführung. Richard Wagner war noch immer nicht wohlgelitten in Dresden, seit er hier vor zwanzig Jahren auf den Barrikaden gegen die Obrigkeit gekämpft hatte, doch seine Musik war allgegenwärtig, sie ließ sich nicht durch Steckbriefe, Grenzen und Zensur aufhalten. Vielmehr durchfloss sie, einer Urgewalt gleich, die Stadt, pulsierte in den Adern der Dresdner Bürger, fuhr ihnen in die Schuhspitzen, die den Takt mitklopften, und ließ die Ohren unter Hauben, Mützen und Zylindern klingen. An Wagners Musik kam niemand vorbei. Selbst das Königliche Hoftheater schmückte sich mit den Perlen dieses Ausnahmetalents.

Elise bemühte sich, dem Treiben auf der Bühne zu folgen, es fiel ihr heute besonders schwer. Dabei war die Geschichte um Eva, die Tochter des Goldschmieds, bunt und fesselnd. In einem Meistersingerwettbewerb sollen die besten Sänger Nürnbergs gegeneinander antreten, um Evas Hand zu erringen. Die ungewöhnliche Länge des Satyrspiels aber war eine echte Probe auch für Kenner und besonders für Julius, der schon nach dem schier endlosen ersten Akt auf seinem Sessel hin und her rutschte und seinen Blick schweifen ließ. Erst zum Ende des zweiten Akts hin rappelte er sich auf und beugte sich neugierig über die Brüstung der Loge und starrte Richtung Bühne. Die Prügelszene schlug ihn wie alle in den Bann. Denn die Streithähne des Sängerwettbewerbs bekommen sich zur atemberaubenden Musik der großen Chorfuge in die Haare, wobei der eifersüchtige Lehrjunge David den Stadtschreiber Beckmesser gehörig verprügelt. Zu dem wilden Tumult auf der Bühne und der virtuos gespielten Fuge gesellten sich bei diesem Teil der Oper Schreie und Pfiffe aus dem Publikum. Sie wurden immer derber, je mehr sich das Fugato des Orchesters steigerte. Und Elise wusste nicht, ob sie sich Luft zufächeln oder lieber die Ohren zuhalten sollte. Dann endlich erklangen die letzten Akkorde, der verprügelte Beckmesser stolperte hinter den Vorhang, und Applaus brandete auf.

«Das war richtig spannend», sagte Julius begeistert zu Elise und erhob sich aus seinem Sitz. Seine Wangen unter dem hellen, gestutzten Bart leuchteten fieberrot, seine Augen glänzten. «Ist es jetzt zu Ende?»

Elise verbiss sich ein Lächeln. «Mein Sohn», sagte sie mitleidig, «das war erst die Hälfte. Nach der Pause folgen noch die zwei Teile des dritten Akts.»

Julius starrte sie an, das Strahlen wich aus seinem Gesicht. «Du scherzt, Mama», sagte er kläglich.

«Nein.» Nun musste Elise doch lachen. Sie nahm Julius’ Arm und führte ihren Sohn aus der Loge. «Komm, wir erfrischen uns und trinken ein Glas Wein, danach kommst du wieder zu Kräften.»

«Dieser Wagner muss wahnsinnig sein», murmelte Julius kopfschüttelnd. Sein Rüschenkragen, der am Hemdrand angeknöpft war, hatte sich an einer Seite gelöst und hing schief über der schwarzen Jacke, doch Julius merkte es nicht. «Größenwahnsinnig, besser gesagt. Oder warum meint er, gewöhnliche Leute wollten die ganze Nacht in einer seiner Opern verbringen?»

«Du siehst ja», antwortete Elise milde und deutete auf das Sammelsurium aus Abendkleidern, Schleppen, Zylindern und Gamaschen, das sich ihnen beim Verlassen der Loge bot. «Es gibt offenbar genug Menschen, die genau das wollen.»

Gemeinsam traten sie in den Korridor, wo strahlende Helligkeit sie empfing. Entlang der Wandbespannung brannten unzählige Gasleuchten. Die Gäste des Theaters strömten zu den Foyers, in denen Erfrischungen angeboten wurden. Es war so voll, dass Elise ihre Chancen auf ein Glas Wein rasch schwinden sah.

«Guten Abend, Frau Geheimrat», grüßte eine Dame in einem weinroten Kleid mit tiefem Ausschnitt. Sie kam näher. «Wie geht es Ihrem Gatten, dem Doktor? Ist er heute auch hier?»

Elise lächelte höflich, sie kannte die Frau nur vom Sehen. Vermutlich hatte Leopold sie einmal im Friedrichstädter Krankenhaus behandelt. Niemand vergaß Elises Mann so schnell, dessen Fertigkeiten als Chirurg ihn zusammen mit der warmen Freundlichkeit, die er ausstrahlte, zum vollkommenen Arzt machten.

«Meinem Mann geht es gut», sagte sie. «Er hat heute Abend aber eine Beratung in der Klinik. Stattdessen habe ich meinen Sohn mitgebracht.» Sie legte Julius, der gelangweilt in der Gegend herumschaute, eine Hand auf den Arm und zog ihn näher.

«Wie reizend», sagte die Dame in Rot und spitzte die bemalten Lippen. Doch Elise sah schon, dass ihr Interesse sofort erlahmt war, jetzt, wo sie erfahren hatte, dass der liebenswürdige Herr Geheimrat Leitner heute nicht ins Theater gekommen war. «Ich muss weiter, meine Töchter warten, liebe Doktorin», sagte sie und eilte zu drei halbwüchsigen Mädchen, die in ähnlich aufwendiger Garderobe wie ihre Mutter an der Marmortreppe standen. Eine von ihnen warf Julius einen neugierigen Seitenblick zu, den Elise schon oft an jungen Damen in seiner Gegenwart bemerkt hatte. Julius zog das Interesse auf sich, das war schon immer so gewesen, die Herzen der Frauen flogen ihm zu. Doch bisher hatte Elise nie eine Erwiderung dieser Zugewandtheit an ihrem Sohn feststellen können. Er war offensichtlich wählerisch, und Elise hatte nichts dagegen. Wenn es nach ihr ginge, sollte er erst einmal sein Studium beenden und sich einen Platz in der Welt suchen, ehe er sich an eine Frau band. Dies war schließlich das Privileg gebildeter, begüterter junger Männer, es war ihr entscheidender Vorteil, und Elise gönnte ihn Julius von Herzen. Er war frei. Freier jedenfalls als viele andere Menschen in Sachsen, freier als die besitzlosen Männer und sicherlich viel freier als jede Frau.

Sie zog Julius fort aus dem Dunstkreis der kichernden Mädchen und begrüßte noch weitere Bekannte ringsum. Ihre Hoffnung, etwas zu trinken zu ergattern, begrub sie beim Anblick der Menschentrauben endgültig, die sich um die Kellner mit den Tabletts scharten. Das würde bis nach der Vorstellung warten müssen, es war kein Durchkommen, und die Pause neigte sich sicher schon wieder dem Ende zu.

Gerade wollte sie Julius diese Erkenntnis schonend beibringen, als sie beinahe mit einer anderen Dame zusammenprallte, die mit einer jüngeren Frau am Arm, vermutlich ihrer Tochter, ins Foyer bog. In letzter Sekunde hielten die beiden in ihrem Lauf inne. Die Miene der Frau hellte sich auf, als sie Elise erkannte.

Auch Elise lächelte. «Ach, Frau Cohn», sagte sie und nickte der Dame zu, in deren schlichter lockiger Frisur silberne Strähnen zwischen den dunklen glitzerten. «Wie schön, Sie heute Abend hier zu treffen.»

Täubchen Cohn war die charismatische Frau des jüdischen Bankiers Isidor Cohn und unterhielt einen begehrten Salon in der Prager Straße, in dem auch Elise ein paarmal zu Gast gewesen war und Violine gespielt hatte.

«Guten Abend, Frau Doktor Leitner», erwiderte sie jetzt und legte einen Moment ihre Hand an den Spitzenkragen ihres hochgeschlossenen Kleids. «Das ist eine angenehme Überraschung. Wie geht es Ihnen? Und Ihrer werten Schwester?»

«Danke, gut», sagte Elise, «wir sind alle gesund und munter. Und Barbara spricht seit der letzten Begegnung in Ihrem Salon in den höchsten Tönen von Ihnen. Sie war sehr beeindruckt von Ihren Verdiensten um die Frauenbildung in Dresden, sagte sie mir.»

«Das freut mich.» Frau Cohn strich sich die Locken glatt, die ihr bis über die Schultern fielen. «Das Thema liegt mir sehr am Herzen. Und Ihre liebe Schwester ist ein Vorbild für uns alle, seit sie mit Frau Otto-Peters den Frauenverein gegründet hat. So etwas erfordert Mut und Tatkraft.» Sie senkte die Stimme. «Ich bin froh, dass sie den schrecklichen Verlust einigermaßen verkraftet hat. Sie alle, hoffe ich!»

Elise spürte ein schmerzliches Ziehen im Magen, wie immer, wenn es um ihre verstorbene Schwester Dorothea ging, die vor nunmehr sieben Jahren nach der Geburt ihrer zweiten Tochter Sibylle im Kindbett gestorben war. «Für uns alle war es nicht leicht, uns von Dorothea zu verabschieden», murmelte sie, «aber für Barbara war es besonders schwer. Den Zwilling zu verlieren, das reißt eine Lücke, die wir uns wohl kaum vorstellen können.» Sie räusperte sich. «Doch ich denke, Barbara kommt inzwischen zurecht. Immerhin ist einige Zeit vergangen.»

«Bei uns gibt es ein Sprichwort», sagte Frau Cohn ernst und legte einen Moment lang mitfühlend ihre schmale Hand auf Elises blauseidenen Ärmel. «Di tsayt iz der bester dokter. Zeit heilt nicht alles, aber sie hilft doch. Und Ihre Schwester ist eine großartige Frau, eine echte Kämpferin.»

«Sie sind sehr freundlich», sagte Elise. «Ich vermute, es hilft ihr sehr, dass unser Vater bei ihr lebt und sie sich um ihn kümmern kann – neben ihren Pflichten für den Verein.»

«Ein Jammer, dass sie nie geheiratet hat, oder?», fragte Frau Cohn.

Elise presste die Lippen aufeinander. «Sie hat nie Interesse daran gezeigt», sagte sie vage. Täubchen Cohn hatte recht, Barbara war stark, sie hatte schon einiges durchgemacht, mehr, als Elise hier vor der Bekannten und vor den jungen Leuten preisgeben wollte. Doch ihre Schwester war immer wieder aufgestanden. Und ihr Vater, Georg Spielmann, konnte sich glücklich schätzen, dass er von Barbara so liebevoll unterstützt wurde, zumal es in früheren Jahren zwischen den beiden oft Streit wegen Barbaras Aufmüpfigkeit gegeben hatte.

Manchmal fragte sich Elise, woher ihre jüngste Schwester diese ungeheure, ja eiserne Stärke hatte, die Vergangenheit hinter sich lassen zu können, so schrecklich diese auch gewesen sein mochte. Sie selbst war nicht aus ähnlichem Holz geschnitzt. Bisweilen wünschte sie es sich, aber dann wieder fühlte sie sich ohne Grund verzagt und wankelmütig wie ein Stück Schilf im Wind. Besonders in letzter Zeit, da das Alter langsam, aber sicher nach ihr zu greifen schien.

Im nächsten Jahr würde sie fünfzig werden, dachte Elise, ein Alter, in dem ihre eigene Mutter Amalie bereits verstorben war. Wie viel Zeit blieb ihr noch?

Täubchen Cohn holte sie aus den düsteren Gedanken. «Es ist ein Glück für Ihre Schwester und für Ihren Vater, dass sie einander haben», sagte sie, «zumal auch Ihr Bruder nicht mehr in Dresden weilt, wie ich höre?»

Elise nickte. «Eduard ist vor einigen Jahren mit seiner Familie nach Amerika ausgewandert», sagte sie. «Wir vermissen ihn sehr, aber in seinen seltenen Briefen klingt er glücklich.»

Sie spürte, wie Julius neben ihr von einem Bein aufs andere trat, weil ihn die ernste Unterhaltung der beiden Frauen wohl langweilte.

Erneut nahm die Bankiersfrau, den Gesprächsfaden wieder auf. «Kennen Sie eigentlich meine Tochter Rahel?», fragte sie und deutete auf die junge Frau neben sich. «Sie war neulich beim Salon nicht dabei, weil sie mit ihrem Vater auf Reisen war.» Sie lächelte. «Die beiden sind auch ein starkes Vater-Tochter-Gespann, wie Pech und Schwefel.»

Rahel deutete einen Knicks an, ohne dabei ihre aufrechte Haltung zu verlieren.

«Guten Abend», sagte sie mit klarer Stimme. «Oder besser gute Nacht. Denn diese Oper hält uns heute lange hier fest, wie?» Ein spitzbübisches Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Schüchtern war sie nicht, dachte Elise. Sie betrachtete die junge Frau neugierig. Auch Rahel trug ein schlichtes dunkles Kleid mit dem einzigen Schmuck einer Brosche aus Rosenquarz am hohen Kragen. Ihre dunkelbraunen, von langen Wimpern bekränzten Augen standen in einem reizvollen Kontrast zu ihrem aschblonden Haar, das in Korkenzieherlocken bis über ihren Rücken fiel.

«Rahel hört heute zum ersten Mal eine Wagner-Oper.» Frau Cohns Lippen kräuselten sich plötzlich mit leichtem Missfallen, und sie sah sich kurz um, ehe sie weitersprach. «Was dieser Mann über uns Juden verbreitet, ist sehr schmerzlich für unsere Familie», murmelte sie. «Er stößt mit seinen Schmähschriften in dasselbe Horn wie so viele, die unser Volk als schädlich und fremd brandmarken.» Sie seufzte. «Aber seine Musik ist wahrhaftig betörend», fuhr sie fort, und schon tanzte wieder ein Funkeln in ihren dunklen Augen. «Und eins kann man von uns Cohns nicht behaupten – dass wir Kunstbanausen wären.»

«Sicher nicht», sagte Elise. «Und zum Glück muss man Wagners Schriften ja nicht lesen. Es gibt genug Menschen, die anderer Meinung sind, das wissen Sie doch?»

«Das hoffe ich jedenfalls», sagte Frau Cohn, «aber ich fürchte, viele hat das Gift bereits infiziert. Die Gazetten sind voll davon. Ein Artikel nach dem anderen erscheint seit Wagners Pamphlet, in dem man sich über uns echauffiert und danach schreit, die Juden aus Sachsen zu vertreiben.»

«Wir denken nicht so, mein Mann und ich», sagte Elise entschieden. «Ob jüdisch oder christlich, was macht das schon? Sind wir nicht alle Menschen?»

In einem kurzen Moment der Verbundenheit sahen sich die beiden Frauen an. Dann lächelte Elise, sie suchte nach einer scherzhaften Bemerkung, um dem Augenblick die Anspannung zu nehmen.

«Die jungen Leute können diese langen Opern nicht so schätzen wie wir», sagte sie schließlich mit verschwörerischer Miene zu Täubchen Cohn. «Julius ist ein sehr guter Pianist, er begleitet mich ab und zu am Flügel, wenn ich Violine spiele. Aber Wagner ist eben eine Sache für sich, nicht wahr, mein Sohn?»

Sie drehte sich zu Julius. Und verwundert sah sie, dass er seine Mutter und Täubchen Cohn gar nicht zu beachten schien, sondern stattdessen nur Augen für die junge Rahel hatte. Er starrte sie regelrecht an, dachte sie und spürte ein gewisses Unbehagen in sich aufsteigen. Die junge Frau hatte mit ihrem energischen, stolzen Ausdruck und den tiefen Augen wirklich etwas Besonderes an sich. Und dieser selbstbewusste Zug in ihrem Gesicht kam Elise mit einem Mal wie ein Echo des Temperaments ihres Sohnes vor. Seine kindliche Ernsthaftigkeit, seine Klugheit und innere Stärke, die sie so liebte, flackerten auch in Rahels Zügen.

Doch nein, kindlich war Julius mit seinen fast zwanzig Jahren eigentlich nicht mehr, überlegte sie dann und betrachtete sein kantiges Gesicht, die dunklen Brauen, die starke, gerade Nase.

Seit zwei Semestern hörte Julius, der Bauwesen studierte, an der Technischen Bildungsanstalt am Antonsplatz Vorlesungen in Mathematik, Chemie und Volkswirtschaftslehre, er war ein heller Kopf. Und wenn man von dem unordentlichen Kragen absah, stand da vor ihr ein Mann.

Warum fiel ihr das bloß jetzt, in diesem Augenblick, zum allerersten Mal auf?, fragte sich Elise. Vielleicht, weil ihr sein Bild durch Rahels Augen gespiegelt wurde, die Julius mit ebensolcher Intensität ansah und nicht etwa verlegen die Augen senkte, wie man es von einer jungen Dame erwarten sollte. Vielmehr erwiderte sie Julius’ Blick mit einem ruhigen Lächeln, als wollte sie sagen: Sieh mich nur an. Ich habe nichts dagegen.

Elise und Täubchen Cohn wechselten einen erstaunten Blick.

Die Bankiersfrau zog die feinen Augenbrauen hoch. «Ich glaube, es ist Zeit, wieder auf unsere Plätze zu gehen», sagte sie und legte ihrer Tochter einen Arm um die schmale Taille. «Viel Vergnügen wünsche ich noch, Frau Geheimrat.»

«Gleichfalls, liebe Freundin», sagte Elise etwas zu hastig und zog Julius mit sich fort in die andere Richtung. Doch sie bemerkte, dass er sich noch zweimal verstohlen nach den Cohns umsah und dass sich die sanfte Röte auf seinen Wangen vertieft und der Glanz seiner Augen verstärkt hatte.

Elise schüttelte unmerklich den Kopf. Eben noch hatte sie gedacht, dass Julius nicht am anderen Geschlecht interessiert war, und jetzt musste sie feststellen, dass sie damit völlig danebenlag.

Nun, daran war an sich auch nichts Schlechtes, dachte sie und stieg an Julius’ Seite die mit dicken Teppichen belegten Stufen zum ersten Rang hoch, von wo aus schon das klingende Stimmen der Instrumente zu vernehmen war.

Wieder schüttelte sie den Kopf über ihre Gedanken, diesmal etwas bestimmter. Sie hatte ihre Worte zuvor ernst gemeint, für sie waren Menschen wichtig, nicht Religionszugehörigkeit. Doch es gab nun einmal Regeln in dieser Gesellschaft. Eine Jüdin – mochte ihre Familie auch noch so reizend sein – kam als Partie natürlich nicht infrage. Eine Heirat zwischen Anhängern verschiedener Religionen war ohnehin unmöglich, und die Zivilehe, von der alle Welt seit Jahren sprach, schien in Sachsen weit entfernt. Hier war, anders als in Preußen, die Emanzipation der Juden eine schleppende Sache, und auch, wenn man sich gut verstand wie die Cohns und die Leitners und gesellschaftlich miteinander verkehrte, so lebten sie doch letztlich in vollkommen unterschiedlichen Welten, ja Universen.

Elise glitt in ihren Sessel und holte ihren Fächer hervor. Gedankenverloren ließ sie ihn auf- und niedergehen, dass die zarten Federn um ihr Gesicht flatterten.

«Nach diesem Abend habe ich etwas gut bei dir, Mama», sagte Julius, als der Dirigent unten den Taktstock hob.

2.

Dresden, Samstag, 28. August 1869

Bewundernd strich Netty über das Tutu aus feinster weißer Spitze, dessen Krinolinenrock ihr wie eine Glocke von der Taille bis in die Kniekehlen fiel. Das Oberteil des Kostüms bestand aus glattem Seidenstoff und war am großzügigen Ausschnitt mit einer goldenen Stickereiborte verziert, die im Licht der kleinen Lampen des Schneidersaals funkelte. Am Rückenteil waren zwei zarte Seidenflügelchen festgenäht, die bei jedem Schritt leise auf und ab flatterten. Es war das Kostüm von La Sylphide, der geflügelten Waldfee im gleichnamigen romantischen Ballett.

«Halten Sie bitte einen Moment still», presste Bertha Heise, die Garderobiere des Theaters, aus den Mundwinkeln hervor, denn zwischen ihren Lippen klemmten mehrere Stecknadeln. Sie kniete vor Netty am Boden und steckte den Saum des Tutus an zwei Stellen ab, ehe sie befriedigt nickte und sich ächzend in die Höhe stemmte. «Das dürfte vorerst halten. Und nun noch der Myrtenkranz», sagte sie, nahm das Kränzchen aus Grün und Weiß vom Anprobetisch und drückte es Netty in die dunklen Locken.

Dabei bemerkte Netty, dass Berthas Hände ein wenig zitterten. Die Garderobiere hatte die Mitte siebzig überschritten, sie hätte längst in den Ruhestand gehen sollen. Doch weder wollte man am Theater auf sie verzichten, noch hatte sie sich bisher ein Leben ohne die Arbeit im Schneidersaal vorstellen mögen. Nun aber würde der von allen gefürchtete Moment wirklich bald kommen. Wie Netty nach ihrer Rückkehr aus Berlin gehört hatte, stand Bertha Heises Abschied Ende des Jahres endgültig bevor. Die Zeit war gekommen, da eine neue, jüngere Garderobiere eingestellt werden musste. Doch Netty, die erst seit einigen Wochen hier in Dresden an der Oper Ensemblemitglied war, hatte längst erkannt, wie hoch geschätzt Bertha unter den Musikern, den Schauspielerinnen und Sängerinnen immer noch war, von den Bühnenarbeitern, Zettelträgern und sogar dem Musikdirektor ganz zu schweigen. Vom jüngsten Chorknaben, dem sie lächelnd eine Leckerei zusteckte, bis zum brummigsten Maschinenmeister, dessen Arbeitsschürze sie bisweilen wusch und über Nacht vor dem Öfchen im Saal trocknete, hielten alle große Stücke auf die erfahrene Schneiderin und Garderobiere. Auch Netty hatte sofort Vertrauen und Achtung für die betagte Frau im braunen Baumwollkleid empfunden, deren patente Hände zwar vielleicht manchmal zittern mochten, die aber dennoch nach wie vor großes Talent und einen untrüglichen Geschmack für Stoffe, Farben und Verzierungen bewies.

Ballettmeister Pohl hatte Netty verraten, dass Bertha Heise dem Königlichen Theater schon sechzig Jahre diente. Als siebzehnjährige Schneidergehilfin war sie in den Dienst getreten und hatte ein ganzes Leben für die Kunst gegeben, aber immer im Schatten hinter der Bühne. Und nun sollte sie einfach abtreten? Netty wusste, dass es ihr selbst schwerfallen würde, und sie spürte eine Welle der Sympathie für die einfach wirkende Frau mit dem müden, aber freundlichen Gesicht in sich aufsteigen.

«Tausend Dank, Frau Heise», sagte sie und lächelte der alten Dame zu. Sie trat vor den Spiegel und zupfte sich ein Myrtenblatt im Kranz auf dem Scheitel zurecht. «Es ist eine Ehre, von Ihnen angekleidet zu werden, wissen Sie das?»

Bertha Heise machte eine abwehrende Geste mit der Hand. Dabei stieß sie gegen die Öllampe mit der Glasglocke auf dem Tisch, die um ein Haar umgefallen wäre, wenn Netty nicht geistesgegenwärtig hinzugesprungen wäre und den Ständer aus Messing umklammert hätte.

Sorgsam stellte sie ihn wieder hin. «Nicht so hastig, Frau Heise», sagte sie lachend, «sonst stecken Sie hier noch den ganzen großen Kasten in Brand.» Sie sah sich um und pfiff leise durch die Zähne. «Das würde ein Feuerchen geben, hei! Bei den zahlreichen Stoffen und dem vielen Holz … Der Beleuchtungsgehilfe, der im ersten Rang die Birnen ausgetauscht hat, sagte neulich etwas Ähnliches zu mir.» Fragend sah sie die Garderobiere an. «Herr Junghans, nicht wahr? Theodor Junghans?» Als Bertha nickte, fuhr sie fort: «Er war der Meinung, dass mit der Brandgefahr im Theater nicht zu spaßen sei – zumal der alte Beleuchtungsmeister kürzlich aus dem Dienst geschieden sei und nun niemand wirklich zuständig ist.»

«Also wirklich, Mademoiselle Jacobi», sagte Bertha leichenblass. «Jagen Sie mir keine Angst ein.» Sie fuhr sich über die Stirn. «Sie haben mich eben ganz verlegen gemacht mit Ihrem Süßholzraspeln, nur deswegen war ich so ungeschickt. Sie sind es doch, die in Berlin mit Lorbeeren überhäuft wurden und nun mit Glanz und Gloria in unser liebes Dresden zurückgekehrt sind.»

Damit schob sie Netty zurück zum Spiegel, trat hinter sie und fasste sie kurz mit ihren abgearbeiteten Händen an den Schultern.

«Wenn Sie wüssten, wie man hier im Ballett um Sie geworben hat», murmelte sie mit Verschwörermiene. «Keine andere Primaballerina wollte der Ballettmeister haben als ausgerechnet Sie. Nur die Jacobi tanzt meine Sylphide, hat Friedrich Pohl gesagt und Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Sie der Berliner Bühne endlich wieder abspenstig zu machen.»

Netty lachte. «Ich fürchte, man hat mich nicht allzu ungern ziehen lassen aus der preußischen Hauptstadt», sagte sie achselzuckend und wandte sich zu Bertha um. «Ich bin nicht gerade ein Ausbund an Disziplin, wissen Sie?»

Bertha schnalzte mit der Zunge. «Disziplin ist eine Tugend für eine junge Frau», sagte sie und wiegte den Kopf mit den weißen Löckchen hin und her. «Das werden Sie schon noch lernen, liebes Fräulein. Aber Talent ist eben noch wichtiger, jedenfalls in unserer Zauberwelt hier an der Oper.»

«Ja, es ist wahrlich eine Zauberwelt», sagte Netty träumerisch und machte ein paar Ballettschritte. Auf Zehenspitzen drehte sie sich in dem sanft schwingenden Tutu der Sylphide um die eigene Achse, sodass der Rock auf und ab wippte. «Das ist es wirklich, oder, Madame Heise? Ein Ort, an dem Wunder geschehen und Märchen wahr werden.»

Berthas Gesicht schien sich einen Moment zu verschatten. «Manchmal vielleicht», brummte sie eine Spur unwirsch. «Aber nicht immer, werte Mademoiselle. Eine junge Frau wie Sie tut gut daran, die Vorsicht nicht zu vergessen. Es sind schon einige über ihren Glauben an Wunder gestolpert.»

Sie wandte sich ab, und Netty betrachtete verblüfft den gekrümmten Rücken unter dem grauen Fransentuch, der sich mit plötzlicher Geschäftigkeit über den Bügeltisch beugte. Bertha nahm das Eisen auf und fuhr damit über ein gerüschtes Hemd, als gelte es, jeder einzelnen Falte darin im Nu den Garaus zu machen.

«Habe ich etwas Falsches gesagt?», fragte Netty und trat neben die alte Dame. «Meine Mutter hat immer schon beklagt, dass ich mein Herz auf der Zunge trage, und mich ermahnt, erst zu denken und dann zu sprechen. Aber diese Reihenfolge will mir einfach nicht in den Kopf.» Sie lächelte entschuldigend.

«Es ist nichts», sagte Bertha, ohne aufzusehen, und bearbeitete das Hemd mit noch mehr Inbrunst. Das Eisen zischte, es qualmte und stank. «Manchmal kommen einfach alte Erinnerungen hoch, und je älter ich werde, desto deutlicher stehen sie mir vor Augen.»

«Erinnerungen?», fragte Netty. «Welche denn, Madame Heise?»

Endlich hielt die Garderobiere inne und setzte das Eisen ab. Sie sah Netty an, und zu ihrer Bestürzung bemerkte Netty einen feuchten Glanz in Berthas Augen.

«Ach … Sie erinnern mich an jemanden, liebes Kind», sagte Bertha und strich Netty mit ihrer alten Hand eine unbändige Haarsträhne zurück hinters Ohr, die sich aus der Frisur gelöst hatte. «Jemand, der auch zu wenig Disziplin hatte und dazu ebenso schöne, schwarze Locken wie Sie.»

«Eine frühere Freundin?», fragte Netty.

Auf einmal wurde ihr bewusst, wie still es im Garderobensaal war. Die hohen Regale ringsum, in denen sich Stoffe, Tücher, Garnrollen, Hüte und Perücken stapelten, schienen den Atem anzuhalten. Der Ärmel des halb gebügelten Hemds hing schlaff vom Bügeltisch herab, als wäre dem unsichtbaren Arm darin das Gelenk gebrochen.

«Eine Tänzerin wie Sie», murmelte Bertha und räusperte sich. «Sie war eine wunderschöne Frau und eine gefeierte Ballerina, die hier vor vielen Jahren die Hauptrollen tanzte. Aber das Schicksal hat sie in seine Fänge bekommen … Ich konnte ihr nicht helfen, obwohl ich es gerne wollte.»

«Wie war ihr Name?», fragte Netty mitfühlend.

Bertha zögerte. «Magdalene Koch», sagte sie schließlich leise.

Jetzt schien es Netty, als beobachte die Garderobiere sie aufmerksam.

«Koch?» Sie runzelte die Brauen. Der Name löste eine ferne Erinnerung in ihr aus, doch Netty konnte diese nicht zu fassen bekommen, wie ein Vogel flatterte sie davon. «Und was geschah mit ihr?», fragte sie. «Warum macht es Sie so traurig, an die Frau zu denken, Madame?»

Auf einmal verschloss sich Berthas gütiges Gesicht. Sie kniff die Lippen aufeinander, und mit den scharfen Falten, die nun von den Mundwinkeln ihre Wangen herabliefen, wirkte sie strenger als zuvor.

«Wir sollten es für heute dabei belassen», sagte sie knapp, «das sind nur die Geschichten einer alten Frau. Sie, wertes Fräulein Jacobi, haben mit den Fehlern einer Fremden in der Vergangenheit nichts zu tun. Sie leben in der Gegenwart und haben eine glänzende Zukunft vor sich, und nur darauf sollten Sie sich konzentrieren.»

Netty wollte widersprechen, doch etwas in Berthas Miene hieß sie schweigen. Wieder dachte sie an ihre Mutter und hörte beinahe Elises Stimme, die sie ermahnte, andere Menschen nicht in die Enge zu treiben und nicht zum Geschwätz aufzustacheln. Mäßigung war etwas, das Elise ihrer Tochter das ganze Leben lang gepredigt hatte. Und Netty musste stets ein Lächeln unterdrücken, wenn sie daran dachte, wie wenig diese Ermahnungen gefruchtet hatten.

Sie liebte ihre Mutter – auch wenn sie seit langer Zeit wusste, dass sie nicht ihre leibliche Tochter, sondern ihr Adoptivkind war. Indes, es hatte nie etwas an der starken Verbundenheit zwischen Elise und ihr geändert. Aber manchmal hatte Netty dennoch das Gefühl gehabt, dass etwas zwischen ihnen stand, eine kleine Fremdheit, die ihr Verhältnis eintrübte, es auf die Probe stellte. Sie waren beide so unterschiedlich wie Tag und Nacht, und oft spürte Netty, dass Elise sie zwar aufrichtig liebte, sie jedoch nicht immer verstand. Und umgekehrt ebenso.

Erstaunt von diesen Gedanken, von denen sie nicht wusste, woher sie so plötzlich gekommen waren – normalerweise vermied Netty jegliche Grübelei –, wandte sie sich wieder zum Spiegel. Ein letztes Mal prüfte sie ihr Aussehen und war, wie meistens, zufrieden mit dem Bild, das sich ihr bot. Die schlanke Taille wurde von dem eng anliegenden Kostüm nur noch mehr betont. Und an ihren hellen Armen, die unter den kurzen Puffärmelchen des Ballettkleids hervorsahen, spielten die Sehnen und Muskeln bei jeder Bewegung. Ihre dunklen Augen blitzten unter dem Kranz, die Wangen leuchteten hellrot.

Sie sah genauso aus, wie eine zukünftige Primaballerina des Königlichen Theaters nun einmal auszusehen hatte, fand Netty. Und wieder musste sie lächeln, als ihr Elises Stimme in ihrem Kopf zuraunte, sie solle sich in Demut üben und nicht zu hochmütig sein. Dabei empfand sich Netty nicht als hochmütig, sondern sie war einfach mit sich selbst zufrieden. So war es schon ihr ganzes Leben lang gewesen, und sie konnte bis heute darin beim besten Willen nichts Schlechtes sehen.

«Ich werde jetzt gehen, die Probe beginnt gleich», sagte sie zu Bertha, die bereits mit dem Bügeln fortfuhr. Die Garderobiere schien sich gefangen zu haben, ihre Miene war wieder so gütig, wie Netty sie kannte. «Ich danke Ihnen, Madame.»

«Kommen Sie bitte bald wieder in meine Garderobe», sagte Bertha, «ich habe Sie gern um mich, Mademoiselle.» Sie nickte ihr zum Abschied zu.

Netty ging zur Tür, doch ehe sie hinaustreten konnte, kam ihr jemand so schnell entgegen, dass sie zur Seite springen musste. Ein Mann stürmte an ihr vorbei in den Schneidersaal, ohne sie weiter zu beachten, und eilte schnurstracks zu Bertha. Er trug ein Kostümhemd mit Spitzenkragen und dazu nur eine lange Unterhose.

«Signora Heise!», rief er. «Gut, dass Sie da sind. Mein Kostüm, sehen Sie …» Er hielt Bertha beinahe anklagend zwei lange Seidenstrümpfe hin, von denen der eine ein großes Loch an der Ferse aufwies. «Das war dieser Köter vom Wachtmeister», klagte er und fuhr sich durch die dunkelbraunen, halblangen Haare, als wolle er sie sich am liebsten raufen. «Was das Vieh zwischen seine spitzen Zähne kriegt, ist hinüber.»

«Geben Sie her», sagte Bertha und zog den dünnen, zerrissenen Stoff prüfend durch ihre Finger. «Das kann ich stopfen», sagte sie entschieden, «aber ich brauche sicherlich eine halbe Stunde dafür.»

«Dio mio!», rief der Mann. «Die Probe beginnt gleich, und ich musste schon im letzten Monat Strafe zahlen, als ich zu spät kam.»

«Dann müssen Sie eben erst einmal ohne ihre besten Strümpfe tanzen», entschied Bertha knapp. «Da, nehmen Sie solange ein Paar von denen da drüben.» Sie deutete auf einen Kleiderständer, über dem einige Hosen hingen. «Oder wollen Sie dem Ballettmeister in Unterwäsche vor die Augen treten?»

«Nicht für hundert Taler», zischte der Mann und sprang zu den Ersatzhosen. Er riss eine herunter, besah sie sich kurz, stieg dann aus seiner langen Unterhose und schlüpfte hinein. Sie schien einigermaßen zu passen, denn er nickte befriedigt.

Erst als er aufsah, nahm er Netty wahr, die noch immer neben der Tür stand und die Szene amüsiert beobachtet hatte, bevor sie im entscheidenden Moment die Augen abwandte.

Eine leichte Röte flog jetzt auf seine starken Wangenknochen. «Und Sie sind …?», fragte er und streckte die Brust herausfordernd nach vorn. Er ging ein paar Schritte auf Netty zu.

Bertha antwortete an ihrer Stelle. «Das ist Annette Jacobi, die neue Ballerina», sagte sie. «Eine Berühmtheit! Sie wird die Sylphide tanzen, Signore.»

Die dunklen Brauen des Mannes zogen sich zusammen, während er sein Hemd in den Hosenbund stopfte. «Jacobi?», fragte er. «Etwa die, wegen der Giuliana gehen musste?»

«Aber, ich bitte Sie, Signore Bianchi», sagte Bertha mahnend. Sie hielt noch immer die zerrissenen Strümpfe in den Händen. «Sie wissen doch genau, weswegen der Intendant Signorina Rossi tatsächlich entlassen musste.»

Der Mann schnaubte. «Es war trotzdem ungerecht», knurrte er. «Giuliana hat eine schwere Zeit durchgemacht und hätte sich schon wieder aufgerappelt.» Er musterte Netty mit einem abschätzigen Blick. «Na, aber unsereins fragt ja keiner hier am Theater. Wir müssen eben tanzen und sollen ansonsten den Mund halten, oder?»

Er trat noch näher zu Netty, sodass sie die kleine Flamme zu sehen glaubte, die in seiner Iris glomm.

«Nichts für ungut», sagte er, «ich wette, Sie verdienen die Stelle hier an der Oper, Signorina Jacobi. Aber von mir aus hätten Sie trotzdem ruhig da bleiben können, wo der Pfeffer wächst.»

Mit diesen Worten eilte er ohne Abschied oder ein versöhnliches Lächeln aus der Garderobe.

Bertha und Netty wechselten einen Blick.

«Wer war denn dieser Ausbund an Liebenswürdigkeit?», fragte Netty verblüfft.

«Das war Niccolo Bianchi», sagte Bertha und setzte sich an den Schneidertisch. Sie griff nach Nadel und Stopfgarn. «Ein Gasttänzer aus Neapel mit Dresdner Wurzeln.» Sie zögerte, und ein kleines Lächeln flog über ihr Gesicht, während sie den Faden durchs Nadelöhr schob. Anders als zuvor zitterte ihre Hand dabei kein bisschen. «Er wird, nebenbei bemerkt, die männliche Hauptrolle in La Sylphide tanzen, Mademoiselle.» Sie räusperte sich und begann, mit fliegenden Fingern das Loch in der Ferse zu stopfen. «Sie wissen schon, James, der Schäfer, der sich unsterblich in die Waldfee verliebt, die Sie darstellen. Sie werden also ausgiebig Zeit haben, sich mit ihm anzufreunden.»

Ihr Blick ging zu der Uhr, die an der Wand über einer Kommode tickte, auf der sich bunte Karnevalsmasken türmten.

«Und nun verschwinden Sie besser auch zur Probe. Sie haben ja gehört, dass es sich nicht lohnt, sich zu verspäten. Auch an der Oper herrschen Regeln und Pflichten, Fräulein Jacobi, und Sie sollten, wie gesagt, die Tugend der Disziplin ernst nehmen. Nicht alles ist Kür.»

«Wenn Sie meine geschundenen Zehenspitzen sehen würden, wüssten Sie, dass mir das nicht neu ist», brummte Netty und eilte aus der Garderobe Richtung Bühne.

3.

Blasewitz, Sonntag, 29. August 1869

Elise rieb sich die schmerzende Hand und horchte auf das gleichmäßige Ticken der Uhr. Es war früher Nachmittag, die Sonne schien durch das hölzerne Fensterkreuz in ihren Schoß. Das Fenster war angelehnt, und ein süßer Spätsommerduft von erhitzten Rosenblättern zog ins Zimmer. Sie saß an ihrem Sekretär und hatte den Federkiel zur Seite gelegt, während sie noch einmal den Anfang ihres Briefes las.

Lieber Christian,

 

nach langer Zeit wage ich es wieder einmal und schreibe Dir nach Zürich, auch wenn ich kaum damit rechne, dass Du den Brief liest, von einer Antwort an mich ganz zu schweigen. Ich hätte auch heute nicht zur Feder gegriffen, wäre mir nicht am Morgen ein altes Notenstück in die Hände gefallen, das einmal sehr wichtig für mich war. Allzu lange hatte ich nicht an den Albinoni gedacht, doch heute stellte ich das Papier auf den Notenständer und spielte die altvertraute Melodie. Und da war es mir, als gingest Du durchs Zimmer …

Erschrocken sah Elise auf, weil eine Tür tief im Haus geknarzt hatte. Gleichwohl war dies nichts Ungewöhnliches. Denn obwohl die Villa erst vor zehn Jahren erbaut worden war, hatte sie von Anfang an ihre Tücken besessen. Es zog durch das Fenster im Salon, die Gasleitungen in der Küche mussten schon nach wenigen Jahren erneuert werden, und bei einem Sturm waren einige Dachziegel heruntergekommen.

Manchmal, wenn Leopold wieder einmal kopfschüttelnd die notwendigen Reparaturen veranlasste, hatte Elise den albernen Gedanken – den sie tunlichst für sich behielt –, dass das Haus sie eigentlich nicht haben wollte. Ja, dass es sich gegen seine Bewohner zur Wehr setzte. Nachts lag sie oft wach, während Leopold neben ihr den Schlaf der Gerechten schlief, und horchte auf die seltsamen Geräusche, die in der Dunkelheit ein Eigenleben zu entfalten schienen. Sie meinte, Schritte zu hören, manchmal sogar gemurmelte Stimmen, etwas schleifte über ihr auf den Dielen entlang, und dann zog sie sich schaudernd die Decke bis zur Nase. Elise glaubte nicht an Gespenster. Anders als ihr Dienstmädchen Gesche, die andauernd von Geistern und Fabelwesen redete, als gingen diese ganz selbstverständlich zwischen den Menschen herum. Doch das Haus war ihr dennoch bisweilen unheimlich. Von Anfang an hatte Elise nicht gewusst, ob sie hierhergehörte, so weit draußen vor den Toren der Stadt. Und noch immer sah sie sich manchmal in einem Spiegel an der Wand vorübergehen und hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, eine Fremde husche vorbei, ehe sie sich erkannte.

Elise lauschte ins Haus, doch niemand kam, also versuchte sie, die Schultern zu entspannen, und beugte sich wieder über ihren Brief. Nach Christians Flucht aus Dresden vor vielen Jahren hatte sie zunächst sehr um sein Leben gebangt und täglich auf Post von ihm gewartet. Dann endlich, nach fast einem Jahr, hatte er ihr geschrieben, dass er in Sicherheit sei und in Zürich untergekommen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte Elise sich bereits notgedrungen mit seiner Abwesenheit arrangiert. Sie war außerdem ganz ausgefüllt gewesen von der Pflege ihres neugeborenen Söhnchens, ihrer älteren Tochter und dem kranken Ehemann. Bei Christians erster Nachricht war noch einmal eine kleine Hoffnung in ihr aufgeflammt, dass er zu ihr zurückkehren werde, doch nach wie vor wurde er in Dresden nicht geduldet. Er hätte bei seiner Rückkehr vielen Jahren Gefängnis entgegengesehen, und Elise verstand es, dass er nicht kam. Natürlich verstand sie es – zumindest redete sie es sich ein. Sie hatten sich geschrieben, recht regelmäßig, bis … Ja, bis Elises Leben sich grundlegend verändert hatte und Christians Nachrichten spärlicher und kühler geworden waren.

… seit vielen Jahren ist unser Kontakt fast abgerissen, wenn man von den wenigen Zeilen absieht, die Du mir manchmal in knappster Manier zum Geburtstag zuteilwerden lässt, und von meinen, ich gestehe es, nicht minder wortkargen Antworten …

Unzufrieden runzelte sie die Stirn. Die Zeilen wirkten anklagender, als sie es beabsichtigt hatte. Dabei war es nur die Wahrheit! Die Kühle zwischen Christian und ihr herrschte seit dem Brief, in dem sie ihm vor etwa zehn Jahren von ihrer erneuten Verheiratung erzählt hatte. Es war ihr schwergefallen, doch es musste sein. Und auch ihre Heirat mit Leopold hatte sein müssen.

Das Vermögen, das Adam ihr nach seinem Tod hinterlassen hatte, war kleiner gewesen als gedacht. Offene Spielschulden hatten ihr Übriges getan, und Elise musste nun einmal zwei Kinder unterhalten. Leopold war reizend zu ihr gewesen, sie hatte ihn gern und musste dankbar über die unverhoffte Rettung für sich selbst und die Kinder sein. Auch nach inzwischen zehn Jahren in der Verbannung hatte Christian noch immer nicht nach Dresden kommen können, die Amnestie ließ auf sich warten. Oder hatte er es nicht gewollt? Ein nagender Zweifel war Elise geblieben – hatte er wirklich alles getan, um zu ihr zurückzukehren? Oder hatte er sich mit seinem neuen Leben allzu rasch beschieden?

Seufzend las Elise weiter.

Wie anders hätte ich damals entscheiden können? Was soll denn eine verwitwete Frau mit einem unsicheren Geldberuf sonst anfangen, als wieder zu heiraten, frage ich Dich? Meine Konzerttätigkeit, die ich so liebte, wurde mir in den Jahren nach der Revolution immer mehr zur Last. Ich plagte mich allein ab, um Säle zu mieten, geeignete Pianisten zur Begleitung zu suchen, die sich wie Nadeln im Heuhaufen versteckten, rührte die Werbetrommel und verkaufte dennoch nie genug Billetts. Davon konnte ich nicht leben, und ich hatte zu viel Verantwortung für meine Kinder. Kurz, ich war in einer Notlage, und Leopold war außerordentlich gut zu mir.