Das Paradies im Schnee - Rudi Stratz - E-Book

Das Paradies im Schnee E-Book

Rudi Stratz

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Beschreibung

»An meine Söhne und Enkel. Zu öffnen ein Jahr nach meinem Tode.« So habe ich auf den versiegelten Umschlag dieser Schrift geschrieben. Wenn Ihr die Siegel brecht – Ihr, meine Söhne – und Ihr vom übernächsten Geschlecht, so öffnet Ihr mit diesen dann längst vergilbten Blättern eine Beichte der Schuld und der Reue. Einer Schuld, die mein Leben lang in mir schlief. Einer Reue, die mein Leben lang in mir wachte. Ihr, meine Söhne, habt dann vielleicht schon längst Euren Söhnen berichtet, was Euch selbst nur noch durch Hörensagen zukam: daß ich, Euer Vater, in jungen Jahren ein Mensch war, der das Leben unbedenklich in durstigen, allzu durstigen Zügen trank – gleichviel, wo seine Quellen schäumten –, für den Leben Lachen hieß und Lachen Lieben – und der über Nacht ein anderer wurde – unversehens – inmitten des fröhlichsten Walzertraumes, unter der heißen Wintersonne des Engadins – kurz vor seiner Hochzeit – und der das zeitlebens blieb, was er da wurde, der ernste Mann der Pflicht und Arbeit, als den Ihr und seine Nächsten, seine Freunde, alle Welt ihn kennt. Aber das Rätsel dieser Wandlung kennt von Euch allen keiner. Dies Rätsel lösen diese Blätter. Diese Blätter sollen beichten, was nur drei Menschen auf Erden, während ich dies schreibe, wußten und wissen. Ich – meine heißgeliebte Frau, Eure Mutter – und noch einer – den ich nicht kenne, von dem ich nicht weiß, wie er hieß – wer er war – von wo er kam und in mein Leben trat ... Ich schreibe es nieder, wie es war. Es ist Zeit genug seitdem vergangen, daß ich mich selbst in der Entfernung der Jahre klar, fast als einen Fremden vor mir sehe – in doppelter Gestalt, Richter und Angeklagter zugleich. ...

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Rudi Stratz

Das Paradies im Schnee

idb

ISBN 9783962241179

»An meine Söhne und Enkel. Zu öffnen ein Jahr nach meinem Tode.«

So habe ich auf den versiegelten Umschlag dieser Schrift geschrieben. Wenn Ihr die Siegel brecht – Ihr, meine Söhne – und Ihr vom übernächsten Geschlecht, so öffnet Ihr mit diesen dann längst vergilbten Blättern eine Beichte der Schuld und der Reue. Einer Schuld, die mein Leben lang in mir schlief. Einer Reue, die mein Leben lang in mir wachte.

Ihr, meine Söhne, habt dann vielleicht schon längst Euren Söhnen berichtet, was Euch selbst nur noch durch Hörensagen zukam: daß ich, Euer Vater, in jungen Jahren ein Mensch war, der das Leben unbedenklich in durstigen, allzu durstigen Zügen trank – gleichviel, wo seine Quellen schäumten –, für den Leben Lachen hieß und Lachen Lieben – und der über Nacht ein anderer wurde – unversehens – inmitten des fröhlichsten Walzertraumes, unter der heißen Wintersonne des Engadins – kurz vor seiner Hochzeit – und der das zeitlebens blieb, was er da wurde, der ernste Mann der Pflicht und Arbeit, als den Ihr und seine Nächsten, seine Freunde, alle Welt ihn kennt.

Aber das Rätsel dieser Wandlung kennt von Euch allen keiner. Dies Rätsel lösen diese Blätter. Diese Blätter sollen beichten, was nur drei Menschen auf Erden, während ich dies schreibe, wußten und wissen. Ich – meine heißgeliebte Frau, Eure Mutter – und noch einer – den ich nicht kenne, von dem ich nicht weiß, wie er hieß – wer er war – von wo er kam und in mein Leben trat ...

Ich schreibe es nieder, wie es war. Es ist Zeit genug seitdem vergangen, daß ich mich selbst in der Entfernung der Jahre klar, fast als einen Fremden vor mir sehe – in doppelter Gestalt, Richter und Angeklagter zugleich.

Namen? Namen sind Schall und Rauch. Namen erben das Verhängnis vergangener Tage auf schuldlose Geschlechter fort. Ich nenne hier keinen Namen. Die Vornamen, die ich nenne, sind falsch.

Nur der Name meiner Frau ist echt – goldecht, wie sie selber. Du bleibst in diesen Blättern, wie du damals warst, du meine geliebte Frau – und was du mir seitdem warst – diese langen Jahre hindurch – und hoffentlich noch ein langes Leben lang, bis unsere Haare weiß geworden sind wie der Schnee des Engadins und unsere Herzen heiß geblieben sind zueinander wie die Sonne des Engadins.

Denn den Ort, wo alles geschah, will ich melden, weil nur in seiner Umwelt das geschehen konnte, was geschah. Es ist die Winterwelt über den Wolken, der Süden unter blauem Himmel in weißem Schnee, es ist das Alpenhochland, in dem heiße Sonnenglut und eisiger Firnhauch ineinanderfluteten wie Tod und Leben. Und zwischen Tod und Leben ging damals mitten durch den bunten Jahrmarkt winterfrohen Treibens einher auch mein Weg in dem Alpendorf.

Es war eiskalter Winter, als ich durch die Schweiz dorthin fuhr. Nebel hingen in den tief verschneiten Tälern; durch fahles Grau der Luft und bleiches Weiß der Hänge wand sich der Zug aus Chur empor, neben sich zur Seite, zur Seite der Kehren und Galerien die finster starrende Wildnis der Albulaschlucht. Tunnel auf Tunnel. Eine Viertelstunde fast, eintönig donnernd, durch die Nacht eines Berges. Die Welt wird licht! Das war nicht mehr der kranke Tagesschein der Täler wie bisher. Goldbahnen der Sonnenfluten über dem Schnee. Tiefblau leuchtend wölbt sich der Himmel. Strahlende Helle – die Helle der Höhe – des Engadins – blendet die Augen.

Diese Augen des Malers, des Landschaftsmalers, der gekommen war, zu sehen und dem, was er sah, auf der Leinwand leuchtendes Leben zu geben.

Im Gepäcknetz oben, im Abteil, hatte ich mein nötigstes Handwerkszeug bei mir: Skizzenbuch und Pastellstifte, um die köstlichen, nur Minuten währenden Farbenspiele von Sonne, Luft, Licht, Schnee, Himmel, Gletscherglanz in fliegenden Strichen festzuhalten. Wasserfarben wären mir jetzt im Winter im Pinsel eingefroren. Staffelei, Palette, Ölfarben, das war die spätere Sorge im Atelier. Im Kampf mit dem grimmen Winter stand man draußen nur auf Vorposten der Kunst. Spähte, skizzierte, brachte hastig heim, was man dem Tod durch Frost und frühe Nacht in den haushoch verschneiten Bergschlünden geraubt. Neben der Skizzenmappe lag mein alter, bewährter Eispickel, der mich schon auf alle Gipfel Europas begleitet. Lag gerollt das rot durchwirkte, vom Alpenklub geprüfte Gletscherseil aus bestem Manilahanf, das, wenn es not tat, ohne zu zerreißen, zwei abgestürzte Menschenkörper hielt. Mein Koffer barg, neben dem Malgerät, die Ausrüstung eines Nordpolfahrers: Ohrenklappen – Pelz – hohe Filzstiefel. Mein riesiges neues Atelier war das Engadin. Meine künftigen Modelle die Bergungeheuer. Sie waren bequemer als andere. Sie wurden in alle Ewigkeit nicht müde. Sie hielten regungslos still. Denn sie waren tot. Aus ihnen kam der Tod ... Sein Hauch streifte in den nächsten Tagen nicht nur meinen Leib, sondern auch meine Seele.

Meine erste Frage im Hotel war, ob meine Braut mit ihren Eltern schon angelangt sei. Die Ungeduld des Verliebten gab mir die Frage ein. Eigentlich konnte ich Mara noch nicht erwarten. Sie kam vom Süden her – aus dem Frühling der oberitalienischen Seen. Sie hatte von Chiavenna aus mit dem Schlitten die Fahrt über Maloja durch das ganze Oberengadin vor sich. Es mochte Abend werden, bis ich sie in meine Arme schließen konnte ...

Indes war es noch klarer Spätnachmittag. Noch kaum ein Ahnen von Abendkälte und Mitternachtschwarz in der fast klaren, eisdünnen, von den Sonnenstrahlen durchzitterten, belebten, durchglühten Luft. In tiefen Zügen genoß ich diese trockene, herbe, das Blut durchpulsende, die Wangen rötende, das Herz aufmunternde, feurig wie Firnwein zu Kopf steigende Luft des Engadins, während ich vor den Gasthof trat – halb sommerlich gekleidet – ohne Mantel, wie hier alle Welt, die sich zwischen Schneehügeln auf den Bänken sonnte, auf den Wegen schlenderte, auf den Sportplätzen tollte und rundum stand und zusah. Lachen tönte. Laute in allen Sprachen. Rufe beim Spiel. Schellengeläute. Musik. Unten, fern, irgendwo in den Tiefen schon dämmernder Täler hausten Ungeheuer. Lindwürmer, die Not und Sorge – Drachen, die Tagesmüh, Krankheit, Weltschmerz heißen. Hier herauf wagten sie sich nicht. Die sonst unzertrennlichen Begleiter des Menschenlebens. Sie starben an dieser heißen Sonne, diesem hellen Lachen, diesem flinken Sprung und Schwung nervig gestählter Körper von Männern und Frauen. Sie verwehten wie Gespenster am hellen Tag.

Eine Welt des Augenblicks. Eine Welt des Glücks. Ich paßte in sie hinein. Ich war glücklich. Jung, gesund, stark, sorgenfrei und schaffensfroh. Verliebt und verlobt. Ich streckte die Arme aus. Ich atmete aus tiefer Brust. Ich freute mich auf meine Braut. Ich freute mich über die Sonne und die Menschen unter der Sonne. Ich freute mich auf morgen. Ich freute mich des Lebens und auf das Leben. So ging ich hinaus in dies Paradies im Schnee ...

Und mein Geschick erfüllte sich, daß der Schnee zu brennen anfing und Flammen aus dem Eis schlugen ...

Verborgen wie die Wasser der Gletscherschlünde unterirdisch durch die stille Nacht rauschen, so rinnen die Lebensläufe der Menschen. Ihre inneren. Ihre eigentlichen. Nicht, daß sie geboren wurden, eine Zeitlang da waren und starben. Das ist nur das Gleichnis und die Hülle für das stumme Irren und Suchen von Millionen von Seelen unter der Sonne, in das nur selten einmal ein klärender Lichtstrahl der Außenwelt hineinleuchtet. Das meiste im Menschen rinnt in ewiger Nacht wie die Bäche im Gletscher, so wie sie, befreit durch das Eistor der Moränen, zu den Menschen strömen, so möge durch das Tor des Todes – wenn ich nicht mehr bin – das, was ich, den Menschen unbewußt, mitten zwischen ihnen durchlebte, zu den Menschen gelangen.

Ich schlenderte achtlos durch das Dorf. Ich dachte an meine Braut und lächelte. Ich dachte – vielleicht dachte ich an nichts ... wozu immer denken? ... Denken die Sonnenlichter auf tausend körnig glitzernden Schneekristallen? Denkt diese windstille, nur ganz leise von Sonnenwärme durchzitterte Luft? Denkt der schlafende See da unten unter seinem verschneiten Eisspiegel? Eins sein mit der Natur – sie fühlen – in sich fassen – halten – sie im Bild erneuern – – wozu ist man Künstler, wenn man nicht mit offenen Augen träumen, sehen, suchen darf?

Suchen – finden – ohne daß man sucht, ohne daß man will, weil es das Schicksal will – das Schicksal führt – das Schicksal – gewaltig wie in der Griechensage über Göttern und Menschen – Und des Menschenschicksals Kern und Inbegriff: die Liebe ...

Ich suchte nicht die Liebe. Ich besaß sie ja. Ich war verlobt und verliebt – nein – mehr und besser: ich liebte meine Braut. Aus ganzer Seele und aus vollem Gemüt, so wie sie mich liebte und mit sehnendem Herzen jetzt unterwegs zu mir war. Und doch fand Liebe mich, und ich fand beinahe den Tod.

In was verliebt man sich bei einer Frau?

Man fragt es oft uns Künstler, die dem schönen Leib, man fragt die Dichter, die der schönen Seele der Frau in ihren Werken ewiges Leben schenken. Antwort fand noch keiner auf Erden.

Verliebt man sich in Gesicht und Gestalt? Tausend andere sind schöner! Verliebt man sich in die Stimme? In einen Blick aus tiefen Augen? Es gibt noch unergründlichere Augen in Evas Geschlecht. Verliebt man sich in ein Lachen? Eine Bewegung? Verliebt man sich in einen Zufall, der ein Menschenleben bestimmt?

Euch, die Ihr künftig diese Zeilen lest, will ich das Geheimnis vermachen, das, mir wenigstens, aus meinem Schicksal ahnend unbestimmt, unfaßbar, als letztes Rätsel aller Dinge, vor der Seele steht, so wie es aus dem jähen Sturm und der Windstille jener Zeit in mir noch jahrelang seine Menschenaugen verborgenen Wellen schlug und erst langsam allmählich im Frieden und Glück meiner Ehe bis zur Ruhe und Reife meiner jetzigen Tage verebbte: man verliebt sich in die Erinnerung ...

Erinnerung? ... An was? ...

An irgendeinmal ...

Irgendwo ...

Nicht in diesem Leben ... Lang – lang ist's her ... viel zu lange für Menschenhirn und Menschenherz, als daß sie es noch wüßten ...

Aber ein Ahnen ist geblieben – ein unbestimmtes – in wirren Schattenbildern, wie beim Erwachen aus dem Traum ...

Dem Erwachen von einem Leben zum andern. Im ewigen Rätsel der Welt.

Wir leben viele Leben. Ich bin kein Philosoph. Aber das scheint mir sicher. Nichts, was entsteht, geht zugrunde. Das lehrt die Wissenschaft. Also muß es sich in einer Form erneuern, die uns fremd scheint und die wir doch selber sind.

Wir leben viele Leben. So verkündet es schon Indiens uralte Weisheit. Wir vergessen eines über dem andern. Aber ein dunkles Bewußtsein bleibt, wie im Erwachsenen die Erinnerung an die erste Kindheitszeit. Ein dumpfes Sehnen will mitten in Lust und Leid der Welt um uns herum doch in einem nicht sterben. Das Haften des Herzens an irgend etwas längst Gewesenem – das Aufschrecken wie aus tiefem Schlaf, wenn das Gewesene wieder wach wird ...

Sucherin ist die Menschenseele. Ewig sucht sie sich selbst. Sucht der Mann das Weib und das Weib den Mann – eins und doppelt – getrennt von dem grausamen Schnitt der Natur mitten durch nach jener letzten Lehre des griechischen Weisen Plato – und doch innerlich untrennbar, mit unsichtbaren Fibern und Fasern und Nerven zusammenhängend – eins sein wollen vom Urbeginn bis zum Ende – und doch selber nie eins werdend, sondern immer nur im nächsten, im neuen Geschlecht zu ewig neuem Spiel ...

Als ich sie an jenem Nachmittag zum erstenmal sah, da erfüllte sich wieder einmal dieses geheimnisvolle Gesetz – dieser Vorgang im Innern, für den ich keine andere Erklärung finde ... Irgendeine Urwelt wurde wach ... Von irgendwo nachwirkende Urkräfte nahmen von mir Besitz ...

An sich war da wirklich nichts Besonderes: Sie saß am Anfang der Crestabahn oben, mit ihren drei Gefährten rittlings, abfahrtfertig auf dem Bobsleigh. Das Zeichen war gegeben. Aber der Schlitten kam trotz des Stoßes der Stiefelabsätze nicht von der Stelle. Ich war zufällig der einzige in der Nähe stehende Zuschauer. Sie wandte vom Boden her den Blick zu mir empor, einen gleichmütigen Blick blauer Augen, der halb Lächeln, halb Befehl war, den Schlitten anzuschieben. Ich bückte mich und half, den Bobsleigh in Schwung zu bringen. Dabei sahen wir uns eine Sekunde an ...

Dann knirschten die Kufen, sauste der Schlitten, hoben sich die Arme, bogen sich die Oberkörper nach dem Takt des Vordermannes, hinter dem sie saß. Sie nickte im Davonhuschen freundschaftlich zu mir zurück ...

Freundschaftlich – gewiß – im Sinne des Sports. Dank an einen fremden Gentleman für irgendeine kleine Mühe ...

Und ich stand und sah ihr nach, wie der schwerbepackte Schlitten schief, scheinbar bis zum Kippen, auf halber Höhe der steilen Eiskurven hinschoß, immer kleiner wurde, verschwand.

Soll ich sagen, daß sie schön war? Sie war es. Aber mir war sie es in diesem Augenblick nicht. Das war sie mir erst später. Für ein Malerauge konnte sie es in diesem Augenblick immer nur in Umrissen, in der Ergänzung durch die Einbildungskraft sein. Die Vermummung des Wintersports raubt einer Frau nicht ihre Reize, aber sie verbirgt sie. Das reichste Haar verschwindet unter der farbigen Zipfelmütze, der zarteste Hals unter dem Schal, die schlankste Gestalt läßt sich unter den dicken Hüllen nur noch ahnen, die Hände stecken in fest gestrickter Wolle und Stulpen, die Füße in überderben Schuhen.

Nur die Augen, die trugen keine Schneebrille wie bei Gletscherwanderungen. Die lachten, kalt und tiefblau wie der Winterhimmel über uns, mir über die Schulter beim Abfahren während des Bruchteils einer Sekunde kameradschaftlich zu.

Eine Kameradschaft – aber nicht von eben jetzt. Nicht von gestern. Da war auf einmal in mir diese übermächtige Empfindung – diese feierliche Helle: Wir haben uns wieder einmal gefunden – wir beide – wie schon so oft im früheren Leben ...