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Das politische Subjekt des queeren Aktivismus E-Book

Tanja Vogler

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Beschreibung

Wie konstituiert sich das aktuelle queer-politische Subjekt und welche Rolle spielen Identitätspolitiken dabei? Tanja Vogler geht dieser Frage nach, indem sie Bewegungsmaterialien queerer Einrichtungen aus dem deutschsprachigen Raum analysiert und Aktivist*innen in Interviews zu Wort kommen lässt. Dabei werden Theorie, Bewegungsgeschichte und Empirie miteinander verknüpft und am Beispiel des zeitgenössischen queeren Aktivismus das Verhältnis von Politik und Identität differenziert dargestellt.

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Tanja Vogler (PhD), geb. 1989, lehrt und forscht an der Schnittstelle von Gender und Medizin an der Medizinischen Universität Innsbruck. Sie war Mitglied des Doktoratskollegs Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in Transformation« des Centers Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck und promovierte zum queeren Aktivismus. Für ihre Dissertation »Das politische Subjekt des queeren Aktivismus. Diskurs- und Akteurskonstellationen queerer Politiken im deutschsprachigen Raum: Eine empirische Untersuchung« erhielt sie den Gabriele-Possanner Förderungspreis 2021 des Bundesministerium Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie den GenderFem- Preis 2021 der Leopold-Franzes-Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Gender, Queer und Discourse Studies.

Tanja Vogler

Das politische Subjekt des queeren Aktivismus

Diskurs- und Akteurskonstellationen queerer Politiken im deutschsprachigen Raum

Dissertation am Institut für Erziehungswissenschaft der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck (Einreichung 2020, Disputation 2021). Erstgutachterin/Erstbetreuerin: Univ.-Prof.'in Dr. Michaela Ralser Zweitgutachterin: Univ.-Prof.'in Dr. Bettina Kleiner Zweitbetreuerin: Univ.-Prof.'in Dr. Susanne Maurer

Ich danke dem Studienwerk der Heinrich-Böll-Stiftung, das die Arbeit von April 2017 bis September 2019 mit einem Stipendium gefördert hat.

Diese Publikation wurde mit freundlicher Unterstützung und finanzieller Förderung durch nachfolgende Institutionen der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck veröffentlicht: Vizerektorat für Forschung, Fakultät für Bildungswissenschaften, Institut für Erziehungswissenschaft, Forschungsplattform Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung und Doktoratskolleg Geschlecht Geschlechterverhältnisse in Transformation: Räume – Relationen – Repräsentationen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Tanja Vogler

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Umschlagabbildung: Street Transvestite Action Revolutionaries at the Christopher Street Liberation Day March, 24.06.1973 by Leonard Fink Photographs; License: The Lesbian, Gay, Bisexual & Transgender Community Center

Korrektorat: Dr.in Margret Haider; Dr.in Marion Bach

Print-ISBN 978-3-8376-6083-8

PDF-ISBN 978-3-8394-6083-2

EPUB-ISBN 978-3-7328-6083-8

https://doi.org/10.14361/9783839460832

Buchreihen-ISSN: 2703-1365

Buchreihen-eISSN: 2703-1373

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitung

1.Identitätspolitiken: Queer-feministische Debatten

1.1Poststrukturalismus und Kritische Theorie: Der Streit um die Differenz

1.2Interventionen Schwarzer Feminist*innen: Ain’t I a Woman?

1.3Eine postkolonial-feministische Perspektive: Can the Subaltern Speak?

1.4Queere Auseinandersetzungen: Von der Heteronormativität zum Homonationalismus

2.Prozesse der Subjektivation: Die Unterwerfung, das Psychische und der Widerstand

2.1Die freiwillige Unterwerfung

2.2Die Formierung des Psychischen

2.3Queerer Widerstand

2.3.1Theatralisches Zitieren: Den Verlusten eine Sprache geben

2.3.2Disidentification: Working on and Against Identity

2.3.3Plurale Performativität unter den Bedingungen der Prekarität

3.Queere Bewegungsgeschichte

3.1Der US-amerikanische Beginn

3.1.1Stonewall 1969: Umkämpfte Erinnerungspolitiken

3.1.2Gay Liberation: Bündnisse – Spaltungen – Identitätspolitiken

3.1.3Aids-Aktivismus: Queer Time

3.2Die Entwicklung queerer Politiken im deutschsprachigen Raum

3.2.1Österreich

3.2.2Deutschland

3.2.3Schweiz

4.Die fünf untersuchten queeren Projekte: Eine Beschreibung

4.1Die Milchjugend

4.2Die Türkis Rosa Lila Villa

4.3LesMigraS

4.4Jugendnetzwerk Lambda Berlin-Brandenburg

4.5TransInterQueer e.V. (TrIQ)

5.Der spezifisch diskurstheoretische Zugang

5.1Warum Foucault?

5.2Ein Versuch, den »Meister« selbst sprechen zu lassen

5.3Von Foucault zur Kritischen Diskursanalyse (KDA)

6.Der Untersuchungsgegenstand: Bewegungsmedien

6.1Eine genrespezifische Einordnung der projekteigenen Medien

6.2Die Beschreibung des Materialkorpus: Erste Einblicke

6.2.1LesMigraS-Öffentlichkeit: Gewalt und Rassismus

6.2.2Die Türkis Rosa Lila Villa-Öffentlichkeit: Rassismus und Flucht

6.2.3TransInterQueer e.V.-Öffentlichkeit: Entpathologisierung und Selbstbestimmung

6.2.4Jugendnetzwerk Lambda BB-Öffentlichkeit: Kampf um Räume und Coming-out

6.2.5Die Milchjugend-Öffentlichkeit: Stolz und widerständig

7.Queere Diskurse: Zur Konstitution eines kollektiven Wir

7.1Pride-Paraden: Umkämpfte Orte queerer Politiken

7.1.1Die Pride als Ort für die Milchjugend?

7.1.2Der eigentliche CSD

7.1.3Es gibt viele Arten, zur Pride Ja zu sagen

7.1.4Identität bezeichnet nicht, was wir sind

7.2Mehrfachdiskriminierung und Rassismus: Wir sind queer – Wir sind solidarisch

7.2.1Abartige gegen Abschiebung

7.2.2Das Lesbisch-schwule Stadtfest

7.2.3Es gibt verschiedene Arten, solidarisch zu sein

7.2.4Solidarität heißt, Mehrfachdiskriminierung in den Blick zu nehmen

7.3Das Coming-out: Befreiung oder Geständnispraxis?

7.3.1Die Anerkennung der Schuld

7.3.2Der Weg zum Glück

7.3.3Coming-out – ein Jugendthema?

7.3.4Das Coming-out in seiner psychosozialen Dimension

7.4Das ambivalente queer-politische Subjekt

8.Die Perspektive der Akteur*innen

8.1Die Kritische Psychologie: Bedingungs-Bedeutungs-Begründungsanalyse

8.2Das problemzentrierte Interview: Erhebung und Auswertung

9.Warum sagen die Aktivist*innen Ja zum queeren Wir?

9.1We are queer – was heißt das eigentlich?

9.2Mehrfachdiskriminierung – CSD – Coming-out

9.3Strukturelle Anforderungen und das eigene gute Leben

9.4Affekte als gemeinschaftsbildendes Moment

Ausblick: Ist Identitätspolitik der richtige Name?

Literatur

Graue Literatur

Einleitung

Seit einiger Zeit haben die Debatten um Identitätspolitiken (wieder) eine neue Aktualität erlangt. Politisch befinden wir uns in einer Zeitperiode, in der rechte Parteien in Europa und den USA einen erneuten Aufschwung erfahren. In Österreich hat es die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) kurzzeitig bis in die Regierung geschafft, die Alternative für Deutschland (AfD) ist in allen deutschen Landtagen vertreten, in Frankreich stand bei den letzten Präsidentschaftswahlen Marine Le Pen in der Stichwahl, Donald Trump war vier Jahre lang Präsident der USA, Jair Bolsonaro regiert in Brasilien, in Polen die PiS-Partei und in Ungarn Viktor Orbán. Der französische Philosoph Didier Eribon sieht einen Grund für den Aufstieg der Rechten in der Unfähigkeit der Arbeiter*innenparteien, authentische Identifikationsfolien anzubieten.1 Foucault sagte den Niedergang der Sozialdemokratischen Parteien, wie wir ihn aktuell in vielen Ländern in Europa erleben, bereits 1978/79 voraus: Mit dem Auftreten des Neoliberalismus hat die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) begonnen, am »Spiel der Gouvernementalität« teilzunehmen,2 und verabschiedete sich schließlich gänzlich vom keynesianischen Modell.3 Die Rechte hingegen vermag – und das ist mittlerweile vielfach untersucht – die Menschen durch Identitätspolitiken an sich zu binden.4 Ruth Wodak beispielsweise analysiert einen rechten Populismus, der, getrieben von einer Politik mit der Angst, die Menschen als eine Gemeinschaft anruft.5 Diese Anrufungen funktionieren in Abgrenzung zu jenen Gruppen, die nicht Teil der durch rechte Politiken ausgerufenen Nation sind, ebenso wie in Abgrenzung zu den politischen Eliten. Es werden Feindbilder als negative Identifikationsfolien geschaffen, die das Außen der so imaginierten Einheit des Volkes darstellen.6 Neben den Eliten sind vor allem Migrant*innen und Geflüchtete, insbesondere muslimische, bevorzugtes Feindbild rechter Identitätspolitiken.

Aber auch über rechte Identitätspolitiken hinaus haben sich im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise die Grenzen dessen, was in Europa sagbar ist, verschoben. Spätestens mit der Silvesternacht in Köln 2015/16 hat die deutsch-österreichische »Willkommenskultur« einen Bruch erfahren. Nicht nur rechte Politiken, sondern auch die etablierten Parteien und Medien greifen die Narrative von den gewalttätigen muslimischen Männern, vor denen wir unsere Frauen schützen müssen, auf und bedienen sich so identitätspolitischer Ein- und Ausschließungspraktiken.7 Auch in der aktuellen Covid-19-Pandemie zeigt sich sehr deutlich, welche Leben als »betrauerbar« gelten und welche nicht.8 Nur auf den ersten Blick hat der Solidaritätsbegriff in der Corona-Krise wieder an Bedeutung gewonnen. Selten waren Solidaritätsforderungen medial derart präsent wie zu Beginn der Krise. Ein zweiter Blick zeigt allerdings, dass Solidarität an unseren nationalen Grenzen endet und damit eine Verschiebung erfahren hat, die dem Begriff seine zentrale Bedeutung raubt. Die Corona-Maßnahmen legitimierende ethische Maxime »Leben schützen« scheint nicht für die Menschen auf Lesbos oder diejenigen, die sich zu Beginn der ersten nationalen »Lockdowns« an der türkisch-syrischen Grenze befanden, zu gelten. Nora Bossong hält in einer Replik auf die »Agamben-Zizek-Debatte« im März 2020 fest, dass sich »gerade an Orten wie dem katastrophal überfüllten Flüchtlingslager auf Lesbos zeigen« wird, ob der »Versuch Leben zu schützen gelingt«: »Wenn wir dort wegsehen, werden wir als solidarische Gemeinschaft versagen.«9

Der Aufschwung rechter Parteien, die sogenannte Flüchtlingskrise, aber auch die Corona-Pandemie verweisen auf die aktuelle Relevanz der Frage, wie ein- und ausgrenzenden Identitätspolitiken ein solidarischer Gemeinschaftsentwurf entgegengestellt werden kann. »Queer« als eine soziale Bewegung, die als Antwort auf die Gesundheitskrise der 1980er-Jahre – die Aids-Krise – entstanden ist, setzt sich ausgehend von queer-feministischen, intersektionalen und postkolonialen Debatten zentral mit dieser Frage auseinander. Solidarität galt im queeren Aids-Aktivismus als ein Begriff für temporäre Bündnisse gegen den Tod, und das über identitätspolitische Grenzen hinweg.10 Kritik an Identitätspolitiken und der Versuch, durch ständige Neuaushandlungsprozesse ein solidarisches Wir herzustellen, sind seitdem ein wesentlicher Aspekt queerer Politiken. Im globalen Norden scheint Aids »besiegt«. Die neuen death-figures11 des globalen Nordens sterben im Mittelmeer oder leben – ohne das Recht auf ein »lebenswertes Leben«12 – in den Lagern auf Lesbos oder anderswo. Der Kampf gegen den Tod oder auch für ein »lebenswertes Leben« ist noch lange nicht vorbei. »Queer« vermag uns vielleicht ein paar Antworten auf die Frage nach den Möglichkeiten solidarischer Politiken jenseits identitätspolitischer Ausschließungsprozesse im Kampf um ein lebenswertes Leben für alle zu geben.

Doch auch die queere Solidarität ist nicht ungebrochen. Aktuell scheint es zumindest im deutschsprachigen Raum eine Polarisierung zu geben, die nicht zuletzt an den unterschiedlichen Verständnissen darüber, was eine queere Solidarität bedeutet, festzustellen ist. Mit dem 2016 erschienenen Buch »Beißreflexe«13 – ein Sammelband aus der »Szene«, in dem queerem Aktivismus »autoritäre Sehnsüchte« und »Sprechverbote« vorgeworfen werden – und den vielfältigen Reaktionen14 darauf hat sich diese Polarisierung in die öffentlichen Diskurse eingeschrieben. Floris Biskamp konstatiert im »Standard«, dass das Buch »einen Nerv getroffen« habe: »Es kommt zum richtigen Zeitpunkt, aber es ist nicht das richtige Buch.«15 Was sich in den Auseinandersetzungen um den Sammelband »Beißreflexe« unter anderem zeigt, ist eine gespaltene Community, die sich gegenseitig auf zum Teil polemisierende Art und Weise vorwirft, identitätspolitisch zu sein. Den Blick auf die Konstitution eines queeren Wir vor dem Hintergrund einer Kritik an Identitätspolitiken zu legen, bedeutet, sich auch innerhalb einer Debatte zu bewegen, in der Identitätspolitik ein Pauschalvorwurf geworden zu sein scheint, den jede*r gegen jede*n ins Feld bringt. Die »Identitätskeule« wird geschwungen, um sich gegenseitig zu diffamieren, und jede*r scheint die Wahrheit über das, was »wirklich« identitätspolitisch ist, zu kennen. So werden beispielsweise Gruppen Identitätspolitiken vorgeworfen, die im Namen von Menschen mit Mehrfachzugehörigkeiten sprechen, eben weil sie diese Mehrfachzugehörigkeiten sichtbar machen. Diese Gruppen würden zum Teil antworten: Ja!, wir verwenden diese Identitäten strategisch und/oder weil sie real wirkmächtig sind16 (und nicht, weil wir sie ernst nehmen). Umgekehrt würden sie sagen: Ihr seid identitätspolitisch!, weil ihr Mehrfachzugehörigkeiten nicht benennt und so unsichtbar bleibt, dass ihr eigentlich im Namen von homogenen weißen (männlichen) Mittelschichts-Identitäten sprecht.

Obwohl diese Debatten zum Teil sehr aufgeladen sind – oder vielleicht auch gerade deswegen –, ist es notwendig, einen Blick jenseits solcher Vorwürfe auf das Verhältnis von Identität und dem Politischen im aktuellen queeren Aktivismus zu legen. Gerade weil »queer« historisch und theoretisch gesehen ein Konzept ist, das das Potential hat, zu verbinden, ist es angesichts aktuell stattfindender identitätspolitischer Schließungen und einer Solidarität, die an unseren nationalen Grenzen endet, von Gewicht, herauszuarbeiten, was diesen Grenzziehungen entgegengesetzt werden kann. Diese Arbeit ist auch ein Versuch, ein Bild zu zeichnen von den Potentialen, die queere Politiken jenseits öffentlich sichtbarer Polarisierungen und gegenseitiger Vorwürfe mit sich bringen, ohne dabei Widersprüche außer Acht zu lassen. Was hat es aber mit den doch sehr unterschiedlichen Identitätspolitik-Vorwürfen auf sich? Was wird warum als identitätspolitisch bezeichnet? Und was ist das Problematische an Identitätspolitiken?

Das Problem mit den Identitätspolitiken

In geschlechterpolitischen Kämpfen spielen Identitäten oft eine zentrale Rolle: Menschen versammeln sich im Namen von Frauen, Lesben, Schwulen, Trans*- und Inter*-Personen und stellen Forderungen. Als Identitätspolitiken gelten solche Bewegungen, die eine gemeinsam geteilte Identität zum Ausgangspunkt ihrer Politiken machen. Die Entstehung von Identitätspolitiken wird meist im Zuge der sogenannten »kulturalistischen Wende« in den neuen sozialen Bewegungen der 1960er-Jahre verortet.17 Gemeinsam ist queer-feministischen Debatten um Identitätspolitiken, dass sie ihnen gegenüber kritisch eingestellt sind. Verkompliziert werden diese Debatten allerdings dadurch, dass umstritten ist, welche Politiken nun die eigentlichen identitätspolitischen Politiken sind. Auf der einen Seite verkündet ein poststrukturalistisch informierter Feminismus den vermeintlichen Tod des Subjekts und übt Kritik an einer einheitlichen Kategorie Frau, die Ausgangspunkt feministischer Kämpfe ist. Auf der anderen Seite wird gerade den um die Verkündung dieses vermeintlichen Todes des Subjekts bemühten, poststrukturalistisch informierten (queeren)Feminismen vorgeworfen, erst recht identitätspolitisch zu sein.

Letztere Argumentationen gehen häufig von einer Opposition zwischen dem, was auf der einen Seite als Identitätspolitiken bezeichnet wird, und klassischen marxistischen Bewegungen auf der anderen Seite aus. Während erstere sich nur um die Abschaffung einer Kategorie anordnen würden, gehe es letzteren um die Erkenntnis der Produktion und Reproduktion westlicher kapitalistischer Gesellschaften.18 Im Zuge solcher Unterscheidungen kommt es zum Teil zu – auf einer Sehnsucht nach einer nie dagewesenen Vergangenheit beruhenden – Beschuldigungen gegenüber den sogenannten Identitätspolitiken, die etwa in Aussagen münden wie: »Früher war der Feminismus noch eine zusammenhängende Bewegung, während er heute in zahlreiche Nebenwidersprüche diffundiert.«19 Aus einer großen Bewegung – so die Kritik – seien immer kleinere spezifische Identitätsgruppen geworden, die zudem nicht dazu in der Lage seien, Verteilungskämpfe zu führen. Denn im Gegensatz zu einem Verständnis von »Geschlecht als Strukturkategorie« könnten die mit der »kulturalistischen Wende« einhergehenden »Identitätspolitiken« die Mechanismen der Akkumulation von Mehrwert nicht beschreiben und auch nicht bekämpfen.20 Das, was in poststrukturalistisch informierten Kämpfen als Identitätspolitik bezeichnet wird, markiert – so die Meinung einiger feministischer Theoretiker*innen – das Ende von Kämpfen, in denen es um Verhältnisse ging.21 Es handle sich um »Anerkennungskämpfe«, die auf Kosten von »Verteilungskämpfen« gehen22 und die, wie Wendy Brown23 herausgearbeitet hat, einer liberalen Subjektivierung nicht entkommen könnten.24

Entgegen solcher Vorwürfe, Identitätspolitiken hätten die Einheit einer Bewegung, in der es um Verhältnisse ging, fragmentiert, wird aus konstruktivistischer Sicht gerade die in Politiken im Namen einer einzigen Kategorie hergestellte »falsche« Einheit kritisiert. Indem sich Bewegungen im Namen eindeutiger – zum Teil essentialistisch25 verstandener – Kategorien versammeln, affirmieren sie einen Identitätsbegriff, der ein-26 und ausschließend27 und von Machtverhältnissen28 durchzogen ist. Entgegen essentialisierender Vorstellungen verstehen poststrukturalistische Identitätskritiken Identitäten als etwas, das dem Subjekt nicht vorgängig ist, sondern ständig neu hergestellt wird. Entsprechend gehen sie auch davon aus, dass das identitätspolitische Subjekt der Befreiung selbst immer schon unterworfen ist. Daher könne es nicht Ziel einer Politik sein, die Kategorien der eigenen Unterwerfung zum Ausgangspunkt der Befreiung zu machen, vielmehr müssten diese selbst zur Verhandlung stehen.29Doch gerade den Politiken, die auf diese Kritiken eine Antwort suchen, wird vorgeworfen, identitätspolitisch zu sein. Sie werden als Identitätspolitiken bezeichnet, die als Folge des »zweiten Todes: ›des Todes des Todes des Subjekts‹« wiedererschienen sind.30

Queere Politiken bewegen sich genau in diesen Widersprüchen. Ausgehend von einer poststrukturalistischen Identitätskritik wollen sie jenseits von (eindeutigen) Identitätspolitiken agieren, sehen sich aber dem Vorwurf ausgesetzt, erst recht vielfältige, marktkonforme und geschlechterpolitische Bewegungen fragmentierende Identitäten zu produzieren.31 Gleichzeitig sind die Wege, die im Namen queerer Politiken beschritten werden, selbst nicht einheitlich. Auch innerhalb der queeren Community gibt es Debatten darüber, welches der »richtige« (weniger identitätspolitische) Weg ist. Die Frage nach der Art der Aushandlung eines queeren kollektiven Wir zu stellen, bedeutet, sich genau in diesen komplexen, zum Teil aufgeladenen Debatten und Dilemmata zu bewegen.

Forschungsfrage und Erkenntnisinteresse

Ziel der Arbeit ist es, ausgehend von der theoretischen Einsicht, das Subjekt der Unterwerfung nicht einfach zum Ausgangspunkt der Befreiung machen zu können, den Blick auf queere widerständige diskursive Praktiken zu richten, die darauf abzielen, ein anderes, nicht derart unterworfenes Wir zu konstituieren. Was passiert, wenn »queer« nicht eine Politik beschreibt, die ausschließlich »identitätspolitische« Anerkennungsforderungen stellt, sondern der Name ist, der insofern, als er von der Macht eingesetzt ist, selbst zur Verhandlung steht? Inwiefern gelingt es »queer«, ein offeneres politisches Subjektherzustellen, und inwieweit werden dabei selbst wieder neue Schließungen produziert? Um sich diesen Fragen zu nähern, wurde das aktuelle projekteigene Text- und Bildmaterial von fünf queeren Projekten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz diskursanalytisch untersucht. Zudem wurden Interviews mit Aktivist*innen aus den jeweiligen Einrichtungen geführt.

Im Zentrum der Arbeit steht entsprechend die empirische Untersuchung von fünf queeren Projekten und deren Bewegungsmedien. Die Auswahl32 ist auf folgende fünf Initiativen gefallen: die Milchjugend,die Türkis Rosa Lila-Villa, LesMigraS, TransInterQueer e.V. unddas Jugendnetzwerk Lambda BB. Alle fünf Projekte sind rechtlich als Vereine organisiert. Sie dienen als Austausch- und Unterstützungsorte für die eigene Zielgruppe, intervenieren aber auch auf unterschiedliche Weise auf gesellschaftspolitischer Ebene. Dabei unterscheiden sich die Einrichtungen vor allem in Bezug auf ihre Zielgruppe und Themenschwerpunkte: Die Milchjugend ist ein queeres Jugendnetzwerk in der Schweiz mit Vereinssitz in Zürich, die Türkis Rosa Lila Villa ein queeres Hausprojekt in Wien, LesMigraS ist Teil der Lesbenberatung Berlin mit dem Fokus auf Antigewalt- und Antidiskriminierungsarbeit, TransInterQueer e.V. ist ein Unterstützungsort und politische Interessenvertretung für Trans*- und Inter*-Personen in Berlin und das Jugendnetzwerk Lambda BB ist eine, ebenfalls in Berlin angesiedelte, queere Jugendeinrichtung.

Gemeinsam ist allen Projekten, dass sie sich selbst in einem »identitätskritischen«33 Sinne als »queer« verorten und verschiedene eigene Medien produzieren.34 Während die beiden Jugendprojekte über eine interne Zeitschrift verfügen, veröffentlichen andere Projekte vereinzelt Artikel in externen Medien. Alle Einrichtungen produzieren Flyer und Plakate und haben einen eigenen Homepageauftritt. Insbesondere die drei Berliner Initiativen veröffentlichen zudem regelmäßig Broschüren, politische Stellungnahmen, Pressemitteilungen und Redebeiträge. Diese zum Teil sehr unterschiedlichen »Protestmedien«35 werden als Diskursfragmente verstanden, in denen unter anderem das kollektive Wir der jeweiligen queeren Projekte verhandelt wird. Entsprechend steht im Zentrum der diskursanalytischen Aufarbeitung des Materials die Frage, auf welche Art und Weise in den projekteigenen Medien der queeren Einrichtungen ein kollektives Wir hergestellt wird und welche Rolle Identitäten in der Aushandlung dieses Wir spielen. Während der Analyse dieser queeren Diskurse ein Foucault’sches Verständnis zugrunde liegt, wird mithilfe der Bedingungs-Bedeutungs-Begründungsanalyse aus der Kritischen Psychologie zusätzlich – allerdings in einem kleineren Umfang – der Blick auf die Perspektive der Akteur*innen geworfen. Ziel ist es, auf Basis von Interviews mit Aktivist*innen herauszuarbeiten, wie und warum sich die Aktivist*innen zu den kollektiven Gemeinschaftskonstruktionen ihrer Projekte ins Verhältnis setzen und welche Rolle Identitäten aus ihrer Perspektive spielen. Brauchen Aktivist*innen, wie Seyla Benhabib36 schreibt, eine gemeinsam geteilte Identität, damit sie etwas haben, für das es sich zu kämpfen lohnt? Oder gibt es aus subjektiver Perspektive andere Momente, die für einen Gemeinschaftsbezug zentral sind?

In der vorliegenden Arbeit soll vor dem Hintergrund der zum Teil polarisierenden theoretischen wie aktivistischen Debatten ein detaillierter Blick auf die diskursiven gemeinschaftsbildenden Prozesse von politischen Einrichtungen gelegt werden, denen eine queere Kritik an eindeutigen Identitätspolitiken zugrunde liegt. Gelingt es »queer«, entsprechend den eigenen Ansprüchen ein offeneres politisches Subjekt herzustellen? Hat »queer« das Potential, ein solidarisches Wir jenseits von identitätspolitischen Grenzziehungsprozessen, wie es auch angesichts der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage notwendig zu sein scheint, denkbar zu machen? Handelt es sich dabei, entsprechend einiger Vorwürfe, um die »Wiederauferstehung« von Identitätspolitiken im Zuge des »zweiten Todes des Subjekts«?37 Oder muss jenseits dieser beiden Pole nach einer Antwort gesucht werden?

Eine solche empirische Untersuchung, die sich für das Verhältnis von Identitäten und dem Politischen im aktuellen queeren Aktivismus interessiert, bewegt sich mitunter in sehr konfliktbehafteten theoretischen wie aktivistischen Auseinandersetzungen. Es besteht die Gefahr, allzu schnell von der einen oder anderen, sogar von antifeministischer Seite vereinnahmt zu werden. Gleichzeitig kann im Sinne eines queeren Anspruchs auf Offenheit und der damit einhergehenden notwendigen selbstkritischen Reflexion der eigenen Schließungsprozesse dieses Verhältnis »nicht nicht« ausgelotet werden.38 Es soll aber betont werden, dass die Frage nach der Rolle von Identitäten in queeren Politiken in einem Wissen darum ausgearbeitet wird, dass Schließungsprozesse unvermeidbar sind und dass ein Mehr an identitätspolitischen Schließungen für manche Menschen und Gruppen notwendiger ist als für andere. Gleichzeitig müssen die politischen Interventionen der Projekte als punktuelle Praktiken verstanden werden, die zum Teil einem bestimmten Ziel – wie beispielsweise der Antigewalt- und Antidiskriminierungsarbeit – verpflichtet sind und entsprechend die großen Fragen nach der Öffnung dessen, »wer sie sind«,39 eben diesem Ziel, aber auch z.B. finanziellen Abhängigkeiten unterordnen müssen.

Alle fünf im Zentrum der empirischen Untersuchung stehenden Einrichtungen leisten wichtige Arbeit. Die Analyse findet in einem Wissen darum statt, dass politischer Aktivismus immer widersprüchlich ist, wir können ihn deswegen mit Gayatri Chakravorty SpivaksWorten aber »nicht nicht wollen«.40 Es kann und soll also nicht das Ziel dieses Forschungsprojekts sein, ein moralisches Urteil über »richtig« und »falsch«, »besser« oder »schlechter« zu fällen. Stattdessen geht es darum, jenseits von zu einfachen Vorwürfen der Identitätspolitik den Blick auf die Potentiale, aber auch Widersprüche queerer diskursiver Gemeinschaftskonstruktionen zu legen.

Kristin Luker schlägt im Versuch, den wissenschaftlichen Anforderungen angesichts einer überwältigenden Menge an Forschungsliteratur Rechnung zu tragen, die Metapher des »Salsa Dancing Social Scientist« vor.41 Der_die* Salsa Dancing Scientist schlängelt sich mutig tanzend durch die interdisziplinäre Forschungslandschaft, muss dabei aber den Rhythmus und die Schritte des wissenschaftlichen Arbeitens im Blick behalten. Angesichts der Unmöglichkeit, alle Debatten mit Bezug auf das Forschungsthema aufzugreifen, war es das Ziel der theoretischen Rahmung der vorliegenden Untersuchung, eher in die Tiefe als in die Breite zu gehen.42 Dabei werden sowohl die theoretische Rahmung, insbesondere das zweite Kapitel, als auch die methodologischen Grundannahmen der vorliegenden Arbeit als Positionierung verstanden. Es ist eine Positionierung in der Wissenschaft, aber auch eine Positionierung für ein bestimmtes Verständnis davon, in welchem Verhältnis wir Menschen zur Welt stehen, genauso wie es, insbesondere mit Judith Butler, eine Positionierung für eine »ethische Verantwortung füreinander« ist.43 Die vorliegende empirische Untersuchung ist, insofern sie den Regeln einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit genügen will, eindeutig in der Wissenschaft positioniert – was allerdings nicht bedeutet, dass sie nicht auch an den Grenzen der Regeln dessen, was als wissenschaftlich gilt, arbeiten kann. Obwohl ich als Autorin der Arbeit selbst auch jenseits der Wissenschaft queer-feministisch tätig bin, war es doch eher ein wissenschaftlich-theoretisches Interesse, das mich dazu bewogen hat, eine solche Forschungsarbeit zu schreiben.44

Gleichzeitig ist der Gegenstand dieser Arbeit die aktivistische Praxis. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Aktivismus ist ein komplexes. Zunächst einmal gibt es von Seiten des Aktivismus zu Recht eine gewisse Skepsis gegenüber einer Wissenschaft, die paternalistisch von oben herab über und für den Aktivismus spricht. Ziel dieser Arbeit soll es dementgegen nicht sein, die »Anwaltschaft« für queere Politiken zu übernehmen. Diese zeigen in ihrer täglichen Arbeit, dass sie sehr gut für sich selbst sprechen können.45 Eine klare Trennung zwischen Wissenschaft und Aktivismus, da sind sich mittlerweile viele einig, ist allerdings so nicht aufrechtzuerhalten.46 Zunächst einmal insofern, als wissenschaftliche Theoriebildung – zumindest die hier verwendete – auch von der politischen Praxis ausgeht. Judith Butlers Überlegungen zum Politischen beruhen auf Beobachtungen des Aids-Aktivismus, der Perfomance-Kunst,47 der Occupy-Bewegung sowie der Majdan- oder Tahrir-Proteste,48 und José Esteban Muñoz betont, dass es seine Theorie ohne queere Performances of Color nicht geben würde.49 Gleichzeitig zeigt sich umgekehrt, dass die politische Praxis versucht, theoretische Überlegungen zu reflektieren und umzusetzen.50 Aids-Aktivist Douglas Crimp berichtet beispielsweise davon, dass zu Zeiten des Aids-Aktivismus in den 1980er- Jahren in den USA fast jede*r Act-Up-Aktivist*in eine Ausgabe von »Sexualität und Wahrheit 1« in der Tasche hatte,51 und auch das in der vorliegenden Arbeit betrachtete Text- und Bildmaterial bezieht sich auf queere und intersektionale Theorien. Wissenschaft und Aktivismus sind miteinander verwoben und konstituieren sich wechselseitig, sind aber nicht das Gleiche.52 Es gibt einen wichtigen Unterschied, der meiner Meinung nach den Mehrwert eines wissenschaftlichen Blicks auf die aktivistische Praxis ausmacht. Der Aktivismus unterliegt den Anforderungen, mitunter schnell konkrete punktuelle Lösungen präsentieren zu müssen, während es für ein wissenschaftliches Arbeiten notwendig ist, eine Problematik von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Widersprüche können oder müssen zum Teil sogar bestehen bleiben.53 Daher kann auf der einen Seite die wissenschaftliche Theoriebildung von dem, was in der aktivistischen Praxis passiert, lernen, auf der anderen Seite kann auch der Aktivismus von der Möglichkeit, von verschiedenen Seiten beleuchtet zu werden, profitieren. Die vorliegende Arbeit wird in der Hoffnung geschrieben, dass beides passiert. Allerdings kann und soll sie nicht eine Anleitung für einen anderen, »besseren« Aktivismus sein.

Bisherige empirische Untersuchungen

Die vorliegende Arbeit ist weder die erste noch die einzige empirische Untersuchung zu diesem Thema. Gerade in den letzten zehn Jahren hat es im deutschsprachigen Raum zahlreiche Arbeiten gegeben, die ausgehend von poststrukturalistischen Identitätskritiken (queere) kollektive Praktiken in den Blick genommen haben. Gemeinsam ist ihnen die Erkenntnis, dass eine Antwort nicht im oben beschriebenen Entweder-oder – entweder fragmentierende Anerkennungspolitiken oder vereinheitlichende Verteilungskämpfe – zu suchen ist, sondern komplizierter ausfällt. Während bereits Mitte der 1990er-Jahre in ersten Untersuchungen auf die Kritik am Subjekt des Feminismus reagierend herausarbeitet wurde, wie das lesbische54 beziehungsweise feministische55 Subjekt beschaffen ist, sind beginnend mit der empirischen Untersuchung von Melanie Groß 2008 zahlreiche weitere Arbeiten zu dem Thema entstanden.

Zuvor hat allerdings Sebastian Haunss bereits 2004 eine Diskursanalyse schwuler und autonomer Bewegungszeitschriften vorgelegt, in der er Prozesse kollektiver Identitäten und deren Rolle in der Schwulen- und autonomen Bewegung der 1980/90er-Jahre analysiert. Er arbeitet heraus, dass Prozesse kollektiver Identitätsbildungen in den jeweiligen Bewegungen mehr sind als nur die auf Identitäten beruhenden Formen der Anerkennung. Es geht darum, ständig auszuhandeln und zu verschieben, wer das Wir der jeweiligen Bewegung ist.56 Ein Jahr später ist, ebenfalls mit Fokus auf die Schwulenbewegung, die diskursanalytische Untersuchung schwuler Coming-out-Diskurse von Volker Woltersdorff erschienen. Er versteht Coming-out als »Prozess […], der die Erarbeitung, Einübung und Durchsetzung von schwuler Identität umfasst«, und interessiert sich für das Transgressive und Subversive sowie Normalisierende und Disziplinierende schwuler Coming-out-Diskurse in der Literatur.57 Auch wenn in dieser Untersuchung kein explizit aktivistisches Material analysiert wird, so verknüpft er doch die belletristischen Coming-out-Diskurse mit der schwulen beziehungsweise queeren Bewegung(sgeschichte).58 Woltersdorff charakterisiert ausgehend von seinen Analysen das Coming-out unter anderem als performative Selbsttechnik.59 Im Gegensatz zu einer Opposition von Befreiung und Unterwerfung versteht er das Coming-out als »kompliziert auszuhandelndes Kompromisshandeln«, das sich zwischen diesen beiden Polen bewegt.60

Melanie Groß betrachtet als erste vom Poststrukturalismus informierte Aktivismen. Der Fokus ihrer empirischen Untersuchung liegt auf geschlechterpolitischen Gruppen der autonomen Szene in Nordrhein-Westfahlen.61 Auf der Basis von Gruppendiskussionen fragt sie vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Positionen von Kritischer Theorie und Poststrukturalismus, wie Widerstand gegen komplexe Macht- und Herrschaftsverhältnisse möglich ist.62 Sie zeigt auf, dass gerade die in den unterschiedlichen Gruppen der Szene sich widersprechenden Haltungen und Strategien, die auch in einem Bezug zur jeweiligen Selbstverortung der Gruppen stehen, produktive Konflikte hervorbringen können und die Szene gerade in ihrer Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit dazu in der Lage ist, gegen die »vielfältigen Machtverhältnisse« zu agieren.63

Zwei Jahre später erscheinen dann die Arbeiten von Nina Schuster und Uta Schirmer, die sich der Dragking- und Transgender-Szene in Deutschland widmen. Im Zentrum beider Untersuchungen steht weniger die Frage, wie sich das kollektive Wir dieser Szene konstituiert. Vielmehr geht es darum, aufzuzeigen, welche alternativen Möglichkeiten des Seins in diesen Szenen hervorgebracht werden und an welche Grenzen die so hervorgebrachten Möglichkeiten stoßen. Dabei fokussiert Schirmer auf Basis von Interviews und teilnehmenden Beobachtungen auf das Zusammenspiel von Kontexten, Praxen und Selbstverhältnissen,64 während Schuster aus einer raumsoziologischen Perspektive einen ethnographischen Blick auf diese Räume und Praktiken legt.65 Schirmer kann, ähnlich wie auch Schuster, aufzeigen, dass andere Möglichkeiten des Seins temporär hergestellt werden können. Solche Praxen stehen aber, so Schirmer, niemals außerhalb anderer spezifischer Differenz- und Herrschaftsverhältnisse und können somit die Frage nach geschlechtlicher Selbstbestimmung nie vollständig beantworten.66

2013 erscheint eine empirische Untersuchung von Marty Huber zu queeren Pride-Paraden in Budapest, Wien, Amsterdam und Belgrad. Sie fragt, inwiefern sich dort Normalisierungen verfestigen beziehungsweise ob und wie sie aufgebrochen werden können.67 Neben Momenten der Assimilation, die sich unter anderem darin äußern, dass die Paraden zu immer größeren »Werbeoberflächen« werden,68 zeigt Huber auch, dass queere Kollektivitäten abseits von »bequemen« Identitäten möglich sind.69 Insbesondere Emotionen als Quelle politischer Interventionen verweisen, Hubers Untersuchung zufolge, auf den offenen Charakter des Sozialen.70 Sie beobachtet aber auch eine Verschiebung von Single-Issue-Politiken im Zuge globaler queerer Migration und intersektionaler wie postkolonialer Debatten.71 Die Inszenierungen »misslungener Kopien«, so ein Fazit dieser Arbeit, sind nicht einfach auf eine »Repräsentationsökonomie« reduzierbar.72 Ähnlich argumentiert auch Petra Rostock, die ein Jahr später eine empirische Untersuchung zweier antirassistischer Projekte – »Kanak Attac« und »FeMigra« –, denen eine queere identitätskritische Haltung zugrunde liegt, veröffentlicht. Mit der wissenssoziologischen Diskursanalyse betrachtet sie die von »Kanak Attac« und »FeMigra« veröffentlichten Protestmedien. Dabei legt sie den Fokus auf die Rolle von (eindeutigen) Identitäten in den Interventionen der beiden Gruppen. In ihren Untersuchungen kann sie aufzeigen, dass insbesondere im Fall von »FeMigra« in dem Moment, in dem der »politische Standpunkt unsichtbar oder umkämpft« war, (strategisch) auf Identitäten zurückgegriffen wurde, um ebendiesen Standpunkt einfordern zu können.73 Während sich das Wir von »FeMigra« oft um eine gemeinsam geteilte Erfahrung anordnet, versucht »Kanak Attac«, Identitäts-Zuschreibungen zu entkommen, indem das kollektive Wir durch eine geteilte Haltung bestimmt wird. Allerdings führt diese Haltung, Rostocks Analysen zufolge, mitunter zu einer moralisierenden Abgrenzung von anderen antirassistischen Organisationen.74 Zwei Jahre später fragt Alexandra Ommert, ähnlich wie Rostock, in ihrer empirischen Untersuchung, wie im queer-feministischen Ladyfest-Aktivismus ein kollektives Wir hergestellt wird. Auf Basis von Interviews und Gruppendiskussionen versucht sie mit der dokumentarischen Methode, das habituell inkorporierte Orientierungswissen verschiedener Akteur*innen herauszuarbeiten. Sie kann aufzeigen, dass der Begriff Lady ein nicht-identifikatorisches Potential aufweist, insofern er ständig neu ausgehandelt wird und als subversiver Begriff funktioniert.75 Sie macht aber auch deutlich, dass bei der Aushandlung der Frage, »wer diese Ladys sind«, auf vereindeutigende Kategorien zurückgegriffen wird. Diese werden allerdings nicht mehr stereotyp, sondern als durch Sozialisationserfahrungen hergestellte Kategorien verstanden.76

Vor einem anderen theoretischen Hintergrund als Petra Rostock und Alexandra Ommert betrachten Esther Mader (2017) und Katharina Wiedlack (2015) bestimmte queere kollektive Praktiken. Während erstere vor allem ethnographisch queere Räume vor dem Hintergrund einer Assemblage Theory77 analysiert, wirft Katharina Wiedlack einen Blick auf den queer-feministischen Punkrock, indem sie auf die Theorien des Anti-Social Turn78 Bezug nimmt. Dabei kann Wiedlack im Kontext des Punkrock-Feminismus die in der Anti-Social Theory zentralen Begriffe der jouissance und anger als gemeinschaftsbildende Momente jenseits von Identität herausarbeiten.79 Während allerdings in der Untersuchung von Katharina Wiedlack die Frage nach den gemeinschaftsbildenden Momenten jenseits von Identität nicht im Zentrum steht, geht es Esther Mader explizit um die Frage nach den Potentialen und Beschränkungen queerer Handlungsfähigkeit jenseits von Identitätspolitiken. Hierzu interviewt sie Personen aus der queeren Szene in Berlin und führt teilnehmende Beobachtungen und ero-epische Gespräche auf Grundlage der Grounded Theory durch. Dabei interessiert sich Mader im Sinne der Assemblage Theory vor allem für Handlungsfähigkeiten, die durch das Zusammenwirken von Raum, Körpern und Affekten möglich werden.80 Auch sie kann aufzeigen, wie zum Beispiel durch queeres spacing81 affektive Atmosphären hervorgebracht werden, die eine Handlungsfähigkeit jenseits von Identitätspolitiken möglich machen. Sie hebt aber auch am Beispiel des Space Invaders82hervor, wie das Zusammenspiel von Körpern, Affekten und Raumpolitiken beschränkend wirken kann.83

Grundsätzlich ist allen soeben vorgestellten empirischen Untersuchungen gemeinsam, dass sie die verschiedenen kollektiven geschlechterpolitischen Praktiken (z.B. die Schwulenbewegung, die Drag-Szene, die autonome Szene, der Ladyfest-Aktivismus, queere Räume, queer-feministischer Punk) in ihrem widersprüchlichen Verhältnis zwischen Widerstand und Unterwerfung in den Blick nehmen. Während einige dieser empirischen Untersuchung sehr nahe am Forschungsthema dieser Arbeit sind, berühren andere eher einzelne für diese Untersuchung relevante Aspekte. Insbesondere die Frage nach den Konstruktionsprozessen eines kollektiven Wir vor dem Hintergrund einer Kritik an Identitätspolitik soll in der vorliegenden Arbeit bestehen bleiben. Entsprechend werden erstens vor dem Hintergrund einer poststrukturalistischen Kritik an Identitätspolitiken die kollektiven gemeinschaftsbildenden Prozesse bestimmter queer-aktivistischer Diskurse betrachtet, die diese Kritik explizit angenommen haben. Im Zentrum steht also weniger die Frage, wie sich bestimmte Politiken zwischen Widerstand und Emanzipation bewegen, sondern es geht in einem poststrukturalistischen Sinne konkret um die Frage nach der diskursiven Konstruktion eines kollektiven Wir, das gleichzeitig Ausgangspunkt des (ebenfalls widersprüchlichen) Widerstandes ist und selbst widerständig ist. Zweitens sollen dabei nicht nur explizit identitätskritische Interventionen oder die Verhandlung des Namens (»queer«) in den Blick genommen werden, wie es beispielsweise in den Untersuchungen von Rostock und Ommert der Fall ist, sondern es werden in einem diskursanalytischen Sinne die zentralen Themen der in den queeren Projekten veröffentlichten Medien in den Blick genommen. Dies geschieht vor der Annahme, dass identitätspolitische Schließungen und Öffnungen in fast allen dort verhandelten Themen eine Rolle spielen. Deshalb geht es in der Feinanalyse der Diskursfragmente weniger, wie im Fall von Rostock, um die Frage, welche Subjektpositionen wie verwendet werden, sondern darum, wie sich das queere Wir, in der Art und Weise, wie die zentralen Themen der queeren Einrichtungen verhandelt werden, konstituiert. Anschließend soll ausgehend von dem vorher ausgearbeiteten theoretischen Bezugsrahmen gefragt werden, welche (identitätspolitischen) Schließungen und Öffnungen sich in diesem so hergestellten Wir zeigen. Dabei stellt drittens die kontinuierliche Verknüpfung von Theorie und empirischer Analyse eine Besonderheit dieser Arbeit dar. Der theoretische Fokus liegt allerdings dem Untersuchungsgegenstand und der verwendeten Methode entsprechend – anders als in den theoretischen Ausrichtungen der Untersuchungen von Wiedlack und Mader – nicht auf der Assemblage Theory und dem Anti-Social Turn, sondern auf einem diskurstheoretischen Verständnis von »queer«.84Viertens handelt es sich bei dem vorliegenden Untersuchungsgegenstand weder um Szenen noch um soziale Bewegungen, sondern um (kleine) queere Projekte, die primär vereinzelt agieren, aber auch Teil einer größeren Community sind. Anders als in den beiden Untersuchungen zu Drag- und Transgender-Szenen von Schirmer und Schuster liegt der Fokus hier nicht auf der Frage, wie in queeren Szenen Identitäten/Normativitäten aufgebrochen werden, indem andere Möglichkeiten des individuellen Seins hergestellt und eröffnet werden. Der Blick wird allerdings unter anderem auch auf die diskursiv hergestellten Anordnungen queerer Projekte als interne Austauschräume gelegt. Indem herausgearbeitet wird, welche Möglichkeiten, zum Subjekt zu werden, in diesen Austauschräumen offengelegt und welche verschlossen werden, zeigt sich auch – so eine These dieser Arbeit –, wie sich »queer« als ein kollektives Wir konstituiert. Die Frage nach der mobilisierenden Wirkung, wie sie Haunss vor dem Hintergrund sozialer Bewegungsforschung stellt, spielt in dieser Arbeit nicht in der Analyse der Diskurse, sondern fünftens aus einer subjektwissenschaftlichen Perspektive in der Analyse der Interviews mit Akteur*innen eine Rolle. In den Interviews soll aber auch nach den gemeinschaftsbildenden Momenten, die aus subjektiver Perspektive relevant sind, gefragt werden.

Der Aufbau der Arbeit

Die Arbeit beginnt zunächst mit einem Problemaufriss, in dem ein kurzer Überblick über die verschiedenen queer-feministischen Debatten zum Thema Identitätspolitiken gegeben wird. Es werden am Beispiel des »Streits um die Differenz« Perspektiven aus der Kritischen Theorie und der Postmoderne gegenübergestellt; es wird mit Blick auf die Kritiken Schwarzer Feminist*innen die intersektionale Perspektive dargestellt; und es werden anhand von Spivaks Text »Can the Subaltern Speak?« Interventionen aus postkolonialer Perspektive skizziert. Daran anschließend folgt eine kurze Darstellung queerer Identitätskritiken, die entlang der Bewegung von einer Heteronormativitätskritik über die Homonormativität bis hin zum Homonationalismus nachgezeichnet werden. Im zweiten Kapitel wird dann, Bezug nehmend auf Louis Althusser, Michel Foucault und Judith Butler, ausgearbeitet, wie Prozesse der Subjektivation, inklusive der Formierung des Psychischen, in dieser Arbeit verstanden werden, um dann in Anlehnung an Butler und Muñoz Möglichkeiten queeren Widerstandes zu theoretisieren. Im dritten Kapitel werden queere Politiken bewegungsgeschichtlich eingeordnet. Hier wird zunächst ausgehend von den USA die Entstehungsgeschichte des queeren Aktivismus skizziert, um dann die Bewegungsgeschichte in den jeweiligen Ländern (Deutschland, Österreich, Schweiz), in denen die für die empirische Untersuchung ausgewählten Projekte verortet sind, darzustellen. Daran anschließend werden die fünf ausgewählten queeren Einrichtungen – die Milchjugend, die Türkis Rosa Lila Villa, LesMigraS, das Jugendnetzwerk Lambda BB und TransInterQueer e.V. – vorgestellt. Im fünften Kapitel wird Bezug nehmend auf Michel Foucault und Siegfried Jäger das methodische Grundverständnis und Vorgehen erläutert. Das in der Diskursanalyse betrachtete projekteigene Material wird daran anschließend in Kapitel sechs beschrieben und charakterisiert: zunächst, indem die von den Projekten verwendeten Medien – Flyer, Zeitschriften, Plakate, Broschüren, politische Stellungnahmen und der Homepageauftritt – genrespezifisch eingeordnet werden, um dann ausgehend von Erkenntnissen aus der Strukturanalyse die inhaltlichen Schwerpunkte und Funktionen der verschiedenen Medien der jeweiligen Projekte zu beschreiben. Der methodischen Einbettung folgt in Kapitel sieben die Darstellung der Ergebnisse der Analyse des queeren Bewegungsmaterials, die über drei zentrale Diskursstränge angeordnet ist: die Pride, Mehrfachdiskriminierung und das Coming-out. Im achten Kapitel wird zunächst die Bedingungs-Bedeutungs-Begründungsanalyse der Kritischen Psychologie erläutert und in ein Verhältnis zum diskurstheoretischen Denken gestellt. Daran anschließend folgen die Beschreibung der verwendeten Erhebungs- und Auswertungsverfahren (PZI) sowie – in Kapitel neun – die Darstellung der Ergebnisse aus den Interviews mit den Aktivist*innen, in denen versucht wurde, der Perspektive der Akteur*innen Rechnung zu tragen. In einem abschließenden Ausblick werden fünf zentrale Ambivalenzen, entlang derer sich die diskursiven Gemeinschaftskonstruktionen der fünf im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehenden queeren Projekte bewegen, zusammengeführt und diskutiert.

1Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2016.

2Die SPD ist Foucault zufolge immer von einer Legitimität des Staates ausgegangen und hat das Ökonomische kritisiert. Im Neoliberalismus kommt es zu einer Umkehrung. Nicht mehr seine Legitimität, sondern das Ökonomische gilt als Grundlage des Staates. In dieser neuen Anordnung hatte die SPD keinen Platz und musste neoliberale Regierungsweisen annehmen.

3Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2017, S. 129-132.

4Vgl. Mitterhofer, Hermann/Fritsche, Martin/Vogler, Tanja/Madlung, Fabian/Brandmayr, Michael: »›UND WER SCHÜTZT UNS BÜRGER????‹. Über das Verhältnis von Ideologie, Affekt und Politik am Beispiel des Facebook-Wahlkampfes der FPÖ«, in: Zeitschrift Diskurs 4 (2019), S. 87-106.

5Ruth Wodak: Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse, Wien: Edition Konturen 2016, S. 25f.

6Ebd., S. 40f.

7Sabine Hark/Paula-Irene Villa: Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart, Bielefeld:transcript Verlag 2018, S. 37ff.

8Judith Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin: Suhrkamp Verlag 2016, S. 253f.

9Nora Bossong: »Wir müssen wach bleiben und diskutieren«, in: Die Zeit vom 20.03.2020, https://www.zeit.de/kultur/2020-03/persoenliche-freiheit-coronavirus-ausnahmezustand-krisensituation vom 09.11.2020.

10Natürlich soll der Aids-Aktivismus hier nicht romantisiert werden. Auch dieses Solidaritätsverständnis konnte nicht ungebrochen umgesetzt werden.

11Jasbir Puar: Terrorist Assemblages. Homonationalism in Queer Times, North Carolina: Duke University Press 2007, xxi.

12J. Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, S. 267.

13Patsy l’Amour laLove (Hg.): Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Berlin: Querverlag 2017.

14Vgl. Jasmin Degeling/Sarah Horn: »›Queer‹ aufs Spiel gesetzt. Über Beißreflexe, queere Bewegungsgeschichte und gegenwärtige Affektkulturen«, in: kultur & geschlecht 21 (2018), S. 1-42; Judith Butler/Sabine Hark: »Die Verleumdung«, in: Die Zeit vom 02.08.2017, https://www.zeit.de/2017/32/gender-studies-feminismus-emma-beissreflex vom 09.11.2020; Koschka Linkerhand (Hg.): Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen, Berlin: Querverlag 2018; Vojin S. Vukadinović: »Sargnägel des Feminismus«, in: Die Zeit vom 28.06.2017, https://www.emma.de/artikel/gender-studies-sargnaegel-des-feminismus-334569 vom 09.11.2020.

15Brigitte Theißl: »›Beißreflexe‹: Polemische Abrechnung mit dem Queerfeminismus«, in: Der Standard vom 20.08.2017, https://www.derstandard.at/story/2000062781118/beissreflexe-polemische-abrechnung-mit-dem-queerfeminismus vom 09.11.2020.

16Vgl. Kimberle Crenshaw: »Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color«, in: Stanford Law Review 43 (1991), S. 1241-1299.

17Thomas Geisen: »Identitätspolitik«, in: Frigga Haug (Hg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Feminismus. Band II. Hierarchie/Antihierarchie bis Köchin, Hamburg: Argument Verlag 2011, S. 179-191, hier S. 180f.

18Tove Soiland: Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen. Intersectionality oder Vom Unbehagen an der amerikanischen Theorie 2012, http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/ueberblickstexte/soiland/ vom 21.05.2020. Eine Synthese ist Soiland zufolge nicht möglich, solange die »Artikulation von Verhältnissen« als Essentialismus missverstanden wird.

19Maximilian Waldmann: Queer/Feminismus und kritische Männlichkeit: Ethico-politische und pädagogische Positionen, Opladen: Barbara Budrich Verlag 2019, S. 362.

20T. Soiland: Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen.

21Ebd.

22Fraser spricht von der »Politik im Zeitalter der Anerkennung« als die Ablösung eines verkürzten Paradigmas in ein anderes. Anstatt dass Anerkennungs- und Verteilungskämpfe sich wechselseitig ergänzen, verstärken übergeordnete Kämpfe um Anerkennung Verteilungsprobleme und umgekehrt. Fraser selbst verortet die Problematik in der Einseitigkeit der jeweiligen Politiken. Nancy Fraser: »Feministische Politik im Zeitalter der Anerkennung: Ein zweidimensionaler Ansatz für Geschlechtergerechtigkeit«, in: Joachim Beerhorst/Alex Demirović/Michael Guggemos (Hg.), Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2004, S. 453-474, hier S. 456.

23Wendy Brown spricht explizit von Anerkennungspolitiken. Ob die als identitätspolitisch bezeichneten Politiken auf Anerkennungskämpfe reduziert werden, ist ein anderes Thema.

24Wendy Brown: »Wounded Attachments«, in: Political Theory 21 (1993), S. 390-410, hier S. 398.

25Soiland erkennt gerade hier das Missverständnis: Klasse wie auch Geschlecht waren niemals essentialistische Kategorien. Vielmehr »artikulieren« sie Produktions- und Reproduktionsverhältnisse. T. Soiland: Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen.

26Sabine Hark: deviante Subjekte. Die paradoxe Politik der Identität, Wiesbaden: Springer Verlag 1999, S. 22.

27Ebd., S. 28f.

28Lea Susemichel/Jens Kastner: Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken, Münster: Unrast Verlag 2018, S. 57.

29Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2012, S. 16f.

30Ernesto Laclau: Emanzipation und Differenz, Wien, Berlin: Turia + Kant Verlag 2013, S. 46.

31Vgl. Koschka Linkerhand: »Treffpunkt im Unendlichen. Das Problem mit der Identität«, in: Patsy l’Amour laLove (Hg.), Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Berlin: Querverlag 2017, S. 52-60.

32Eine ausführliche Beschreibung des Auswahlprozesses und der fünf Projekte findet sich in Kapitel vier.

33Gemeint ist hier vor allem eine Kritik an (eindeutigen) Identitätspolitiken.

34»Queer« hat, wie Gudrun Perko aufzeigt, unterschiedliche Bedeutungen. Vgl. Gudrun Perko: Queer-Theorien. Ethische, politische und logische Dimensionen plural-queeren Denkens, Köln: PapyRossa Verlag 2005.

35Oliver Marchart: Die Prekarisierungsgesellschaft. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung, Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 196.

36Seyla Benhabib: Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 2014, S. 24f.

37E. Laclau: Emanzipation und Differenz, S. 44.

38Spivak zit.n. María d. M. Castro Varela/Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript Verlag 2015, S. 203.

39Sabine Hark: »Wer wir sind und wie wir tun. Identitätspolitiken und die Möglichkeiten kollektiven Handelns«, in: Gabriele Jähnert/Karin Aleksander/Marianne Kriszio (Hg.), Kollektivität nach der Subjektkritik. Geschlechtertheoretische Positionierungen, Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 29-46, hier S. 33.

40Spivak zit.n. M. d. M. Castro Varela/N. Dhawan: Postkoloniale Theorie, S. 203.

41Kristin Luker: Salsa Dancing into the Social Sciences. Research in an Age of Info-glut, Cambridge: Harvard University Press 2010, S. 5.

42Damit beziehe ich mich insbesondere auf das zweite Kapitel. Aber auch im ersten Kapitel, das verschiedene Positionen der Diskussionen um Identitätspolitiken darstellen soll und damit eher in die Breite geht, gibt es Möglichkeiten, theoretisch in die Tiefe zu gehen. So wurde hier beispielsweise die postkoloniale Perspektive einzig und allein mit Bezug auf Spivak und hier insbesondere auf ihren Text »Can the Subaltern Speak?« dargestellt.

43J. Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, S. 133-163.

44Dieses wissenschaftliche Interesse kann ich mir wohl auch aufgrund meiner Position in unserer Gesellschaft leisten. Das meine ich in mehrfacher Hinsicht: zum einen, insofern ich mir die prekäre Finanzierungslage einer Dissertation, wennauch nicht immer sorgenfrei, leisten konnte, zum anderen, insofern ich, vielleicht auch weil ich nicht dermaßen auf Diskriminierungs- und Unterdrückungserfahrungen zurückgeworfen bin, ein persönliches Interesse an wissenschaftlicher Theoriebildung entwickeln und aufrechterhalten konnte.

45Friederike Faust: Fußball und Feminismus. Eine Ethnografie geschlechterpolitischer Interventionen, Opladen: Barbara Budrich Verlag 2019, S. 45.

46Vgl. Alexandra Ommert: Ladyfest-Aktivismus. Queer-feministische Kämpfe um Freiräume und Kategorien, Bielefeld: transcript Verlag 2016.

47Vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1997.

48Vgl. J. Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung.

49José E. Muñoz: Disidentifications. Queers of Color and the Performance of Politics, Minneapolis: University of Minnesota Press 1999, S. 5.

50A. Ommert: Ladyfest-Aktivismus, S. 15.

51Tina Takemoto: »The Melancholia of AIDS. Interview with Douglas Crimp«, in: Art Journal 62 (2003), S. 80-91.

52A. Ommert: Ladyfest-Aktivismus, S. 15.

53F. Faust: Fußball und Feminismus, S. 48.

54Vgl. S. Hark: deviante Subjekte.

55Vgl. Susanne Maurer: Zwischen Zuschreibung und Selbstgestaltung. Feministische Identitätspolitiken im Kräftefeld von Kritik, Norm und Utopie, Tübingen: Edition Diskord 1996.

56Sebastian Haunss: Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden: Springer VS 2004, S. 262.

57Volker Woltersdorff: Coming out. Die Inszenierung schwuler Identitäten zwischen Auflehnung und Anpassung, Frankfurt a.M.: Campus-Verlag 2005, S. 10.

58Ebd., S. 42-48.

59Ebd., S. 27.

60Ebd., S. 268.

61Melanie Groß: Geschlecht und Widerstand. post. | queer. | linksradikal., Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2008, S. 108.

62Ebd., S. 11f.

63Ebd., S. 226f.

64Uta Schirmer: Geschlecht anders gestalten. Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten, Bielefeld: transcript Verlag 2010, S. 70.

65Nina Schuster: Andere Räume. Soziale Praktiken der Raumproduktion von Drag Kings und Transgender, Bielefeld: transcript Verlag 2010, S. 16.

66U. Schirmer: Geschlecht anders gestalten, S. 398.

67Marty Huber: Queering Gay Pride. Zwischen Assimilation und Widerstand, Wien: Zaglossus Verlag 2013, S. 12.

68Ebd., S. 239.

69Ebd., S. 240.

70Ebd., S. 239.

71Ebd., S. 240.

72Ebd., S. 243.

73Petra Rostock: Jenseits von ›Identität‹? Zu den Un/Möglichkeiten nicht-identitärer Strategien politischen Handelns. Dissertation, Frankfurt a.M. 2014, S. 293.

74Ebd., S. 295.

75A. Ommert: Ladyfest-Aktivismus, S. 258ff.

76Ebd., S. 260ff.

77Assemblage Theory versteht queeren Widerstand als spontane Effekte eines bestimmten Aufeinandertreffens von Zeit, Raum, Affekten und Körpern, die in Prozessen der De- und Reterritorialisierung immer wieder neu zusammengesetzt werden. »Queer« als Assemblage zu begreifen, bedeutet, Identitäten, Subjekte und Signifikationen aus dem Zentrum des Analysefokus zu nehmen und als einen Aspekt der »Variation von Variation« zu beschreiben, die Queerness ausmacht. Jasbir Puar: »›I Would Rather Be a Cyborg Than a Goddess‹: Becoming-Intersectional in Assemblage Theory«, in: philoSOPHIA 2 (2012), S. 49-66.

78Theoretiker*innen des Anti-Social Turn wenden sich gegen selbstregulatorische »feel good«-Narrative des liberalen Humanismus, der die gefährlichen Überlappungen mit dem Staat, der Familie und anderen liberalen Agenden übersieht. Ausgehend von Jacques Lacans Begriff der jouissance wird »queer« als Negativität verstanden. Um angesichts des Zerstörerischen der Sexualität das Subjekt oder die kohärente Identität zu retten, wird die Hoffnung auf eine Zukunft – das Kind – an die Sexualität gebunden. »Queer« ist der Rest, das, was übrigbleibt und in diesen Imaginationen der Zukunft nicht aufgeht. Statt einer reproduktiven Zukünftigkeit ist queere Sexualität verknüpft mit dem Destruktiven, dem Todestrieb. Es ist eine Disposition in Richtung jouissance. Queer ist die Negativität, das Apolitische, Antisoziale, das auf keine Zukunft verweist. Vgl. Maria K. Wiedlack: Queer-Feminist Punk, Wien: Zaglossus Verlag 2015.

79Ebd., S. 346.

80Esther Mader: »Auf der Suche nach Handlungsfähigkeit in queeren Räumen in Berlin. Raum, Körper und Affekt als Elemente kollektiver Handlungsfähigkeit«, in: Hawel/Marcus/Herausgeber_innenkollektiv (Hg.), Work in Progress. Doktorand*innenjahrbuch 2017 der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Hamburg: VSA Verlag 2017, S. 184-197, hier S. 184ff.

81Damit sind bestimmte Raumpolitiken wie das Herstellen von geschlechtsneutralen Toiletten, das Aufstellen einer Rampe am Eingang von Räumen oder das Errichten von Awareness-Strukturen gemeint.

82Der Begriff beschreibt ein Gefühl der Deplatzierung, das in Maders Beispiel eine als männlich durchgehende Trans*-Person nach der Transition in queeren Räumen empfindet.

83E. Mader: Auf der Suche nach Handlungsfähigkeit in queeren Räumen in Berlin. Raum, Körper und Affekt als Elemente kollektiver Handlungsfähigkeit, S. 196f.

84Mit »diskurstheoretischem Verständnis von ›queer‹« sind jene theoretischen Arbeiten gemeint, denen ein Foucault’sches Verständnis von Subjektivierung zugrunde liegt.

1.Identitätspolitiken: Queer-feministische Debatten

Einer queeren Kritik an (eindeutigen) Identitätspolitiken gehen viele aktivistische wie theoretische Debatten voraus. Im Folgenden werden einige feministische, intersektionale und postkoloniale Perspektiven der 1980er- und 1990er-Jahre skizziert. Dadurch soll einerseits ein Blick auf frühe Debatten und Interventionen zu identitätspolitischen Dilemmata ermöglicht werden und andererseits auf die Perspektiven1 verwiesen werden, die mittlerweile – wenn auch zu einem unterschiedlichen Grad – Eingang in queere Politiken und Theoriebildungen gefunden haben. Hierzu wird im Folgenden entlang einzelner Debatten, wie beispielsweise des »Streits um die Differenz«, oder entlang einzelner Interventionen, wie beispielsweise Spivaks Aufsatz »Can the Subaltern Speak?«, der Blick auf feministische, postkoloniale und intersektionale Perspektiven geworfen. Im Anschluss wird entlang der theoretischen Bewegung von der Heteronormativität zur Homonormativität bis hin zum Homonationalismus der Blick auf queere Theorien und Auseinandersetzungen gelegt.

1.1Poststrukturalismus und Kritische Theorie: Der Streit um die Differenz

Das Erscheinen von Judith Butlers bekanntem Werk »Gender Trouble« 19902 hat sowohl im deutschsprachigen als auch im US-amerikanischen Raum für kontroverse Debatten gesorgt. Eine solche frühe Debatte in den USA mündete in der Aufsatzsammlung mit dem Titel »Der Streit um die Differenz«. Dort diskutieren die »bekanntesten feministischen Theoretikerinnen der USA« (Seyla Benhabib, Judith Butler, Nancy Fraser und Drucilla Cornell) – so der Klappentext des 1993 auf Deutsch veröffentlichten Buches – die Rolle, die die sogenannte Postmoderne für den Feminismus spielen kann. Vorausgegangen ist diesem Streit unter anderem Judith Butlers Kritik an der Kategorie »Frau als Subjekt des Feminismus«:3 In »Gender Trouble« kritisiert sie, dass ein politisches Subjekt, das von einer bereits unterworfenen Identitäts-Kategorie – »Frau« – ausgeht, so agiert, als wäre Identität immer schon da und vorausgesetzt. Dadurch werde verschleiert, dass Identitäten erst in und durch Handlungen (wie Identitätspolitiken) hergestellt werden.4 Den Bedingungen der sprachlichen Repräsentationen, die festlegen, was ein Subjekt sein kann, damit es repräsentierbar ist, könne – so Butlers Kritik – so nicht entkommen werden. Dies sei besonders dann problematisch, wenn Subjekte entlang differentieller Herrschaftsachsen hervorgebracht werden.5 Doch auch Butler betont, dass es nicht möglich sei, gänzlich auf Repräsentationspolitiken zu verzichten.6 Es reiche aber ihr zufolge auch nicht aus, die Kategorie »Frau« »einfach mit verschiedenen Bestandteilen wie Bestimmungen der Rasse, Klasse, Alter, Ethnie und Sexualität« zu vervollständigen.7 Stattdessen solle es darum gehen, die »wesentliche Unvollständigkeit dieser Kategorien« vorauszusetzen, indem das politische Subjekt selbst zur Verhandlung gestellt wird. Butler möchte folglich das Feld des Politischen verschieben: weg von einem Feminismus, der das Subjekt Frau voraussetzt, hin zu einer Politik, in der Identität als »methodische und normative Voraussetzung« verstanden wird und in der entsprechend eine veränderte Konstruktion von Identität selbst das Ziel ist.8

Der Tod des Subjekts: Das Ende feministischer Politik?

Die stärkste Gegenposition im »Streit um die Differenz« vertritt Seyla Benhabib, die als eine Vertreter*in der Kritischen Theorie gilt. Benhabib verortet Butlers Interventionen in einer postmodernen Theorietradition und fragt, welche Rolle ein postmoderner Feminismus politisch spielen könne.9 Ausgehend von dem »Tod des Subjekts«, dem »Tod der Geschichte« und dem »Tod der Metaphysik«, den postmoderne Theorie ihr zufolge markiert,unterscheidet sie jeweils eine starke und eine schwache Version dieser drei Tode. Zumindest eine starke Version ist Benhabib zufolge unvereinbar mit feministisch-emanzipatorischen Politiken. Bezug nehmend auf die These vom »Tod des Subjekts« stellt sie in Frage, ob »das Projekt weiblicher Emanzipation ohne ein solches regulatives Prinzip der Handlungsfähigkeit, der Autonomie und der Ich-Identität überhaupt denkbar« sei.10 Auch die mit dem »Tod der Geschichte« einhergehende Unmöglichkeit, eine alternative feministische Geschichte zu schreiben, steht dem feministischen Projekt Benhabib zufolge entgegen. Das »Ende der Metaphysik« bedeutet in ihren Augen wiederum ein Ende der Möglichkeit einer feministischen Gesellschaftskritik. In einer postmodernen Absage an die Geschichte, die Metaphysik und das Subjekt – so Benhabib – kumuliert die Unmöglichkeit, feministische Utopien zu formulieren. So schließt sie ihren ersten Aufsatz im »Streit um die Differenz« mit dem Appell, die utopische Hoffnung nicht aufzugeben: »gerade wir – als Frauen – haben viel zu verlieren, wenn wir die utopische Hoffnung in das ganz andere aufgeben.«11 Hier setzt Benhabib bewusst das feministische Subjekt »Frau« ein, um sich im Namen des Prinzips Hoffnung gegen das Ende eines um Identität angeordneten politischen Subjekts »Frau« zu wenden. Benhabib vertritt in diesem Aufsatz die Meinung, dass der Feminismus nicht ganz auf ein Subjekt, eine Geschichte und Gesellschaftskritik verzichten kann, will er seine emanzipatorische Kraft behalten.12 In späteren Auseinandersetzungen führt sie zudem die Unterscheidung zwischen einer dritten Beobachter*innenposition einerseits, die eine konstruktivistische Kritik an einem um Identität angeordneten politischen Subjekt (auch ohne die drei Tode anzunehmen) ausüben kann, und einer »Perspektive der ersten Person« andererseits, von der ausgehend Identität von Bedeutung sein muss, ein: »Mitglieder und Theoretikerinnen von Bewegungen, die die gesellschaftliche Anerkennung bestimmter Formen von Identitäten einklagen, müssen annehmen, daß die Unterschiede, in deren Namen sie sich einsetzen, für ihr Leben als Individuen grundlegend und essentiell sind.«13

Die frühen Debatten der 1990er-Jahre umfassen Positionen, die einerseits für eine Absage an ein um eine eindeutige Identität angeordnetes politisches Subjekt stehen (Butler), genauso wie Positionen, die es bis zu einem gewissen Grad als notwendig für das emanzipatorische feministische Projekt erachten, ein gemeinsames Subjekt »Frau« zu setzen (Benhabib).14 Nancy Fraser nimmt im »Streit um die Differenz« eine vermittelnde Rolle ein. Im gleichen Band wirft sie sowohl Seyla Benhabib als auch Judith Butler vor, »falsche Gegensätze« hervorzubringen und unnötig zu polarisieren. Fraser plädiert hingegen dafür, einen Weg zu finden, bei dem feministische Politiken von den jeweiligen Vorzügen der beiden Perspektiven profitieren können.15 Auch wenn queere Theorien eher auf Seiten Judith Butlers verortet werden, beschäftigen die Kritiken, die Benhabib aber auch Fraser in den 1990er-Jahren eingebracht haben und die mittlerweile vielfach fortgeführt und weitergedacht wurden, queere Theorie und Praxis bis heute (wenn auch zum Teil in einer etwas verschobenen Art und Weise).

1.2Interventionen Schwarzer Feminist*innen: Ain’t I a Woman?

Wenn ein Subjekt, eine Geschichte und eine Gesellschaftskritik Teil eines emanzipatorischen feministischen Projekts sind, stellt sich aus der Perspektive Schwarzer Feminist*innen auch die Frage, welches Subjekt, welche Geschichte und welche Gesellschaftskritik dort eingesetzt werden. Oft werden und wurden in feministischen Bewegungen, so die Kritik Schwarzer Feminist*innen, ein bestimmtes weißes Subjekt, eine bestimmte weiße Geschichte und eine bestimmte weiße Gesellschaftskritik als für alle Frauen universell gültig gesetzt. Schon lange vor den Interventionen Judith Butlers haben Schwarze und Feminist*innen of Color darauf hingewiesen, dass diese Universalität fiktional sei und eindeutige Identitätspolitiken mehrfachmarginalisierte Gruppen ausschließen und unsichtbar machen würden. Bereits 1851 stellte die früher versklavte Sojourner Truth auf der Frauenrechtskonvention in Ohio die berühmte Frage »Ain’t I a woman?«. Die mehrheitlich weißen Suffragetten wollten damals eigentlich verhindern, dass Truth diese bekannt gewordene Rede hält. Sie hatten Angst, Truth würde von ihrem Thema – dem Frauenwahlrecht – ablenken. In ihrer Rede setzte Sojourner Truth dem Narrativ weißer Männer, Frauen seien zu »schwach«, um an der Politik teilhaben zu können, ihre eigenen Erfahrungen als Sklavin entgegen: »Look at my arm! I have ploughed and planted and gathers into barns, and no man could head me – and ain’t I a woman«.16Truth legt in dieser Rede die Lücke zwischen ihren eigenen verkörperten Erfahrungen als afroamerikanische Frau und der eigentlichen Kategorie »Frau« offen und fordert ihren Platz in dieser Kategorie ein.17 Erst hundert Jahre nach dieser bekannten Rede gelang es Feminist*innen of Color, wie zum Beispiel dem »Combahee River Collective (CRC)«, Audre Lorde oder Kimberle Crenshaw, nachhaltig auf die Unsichtbarmachung von Mehrfachunterdrückungen in feministischen Politiken, aber auch darüber hinaus aufmerksam zu machen.

Die Kritik der Schwarzen Frauenbewegung

Wegweisend waren vor allem Schwarze Aktivist*innen, die ausgehend von ihren Erfahrungen in der Bürgerrechtsbewegung und der Frauenbewegung ihre Marginalisierung als Schwarze Frauen zu thematisieren begannen. Bereits 1970 wurde in dem Sammelband »The Black Woman, an Anthology«18 ein Text der »SNCC (Student Nonviolent Coordinating Committee)«19-Aktivist*in Francis Beal mit dem Titel »Double Jeopardy: To Be Black and Female« veröffentlicht. In diesem Artikel macht Beal auf die doppelte Unterdrückung Schwarzer Frauen in den sozialen Bewegungen, aber auch am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft generell aufmerksam.20 Ausgangspunkt des Aufsatzes waren neben Ausschlusserfahrungen in der Frauenbewegung vor allem Marginalisierungen, die aufgrund struktureller und inhaltlicher Veränderungen bei »SNCC« auftraten. Während Frauen bei »SNCC« zu Beginn vergleichsweise »gleichberechtigt« agieren konnten, änderte sich ab Mitte der 1960er-Jahre der Ton in der Gruppe. Diese begann nicht nur, sich von den früheren Prinzipien der Gewaltfreiheit loszusagen und weiße Aktivist*innen aus der Bewegung auszuschließen, sondern stellten auch zunehmend die Rolle von Frauen als »gleichwertige« Aktivist*innen in Frage: »That is, black men began defining the role of black women in the movement. They stated that our role was a supportive one, others stated that we must become breeders and provide an army; still others stated that we had Kotex or pussy power«.21Als Reaktion auf diese Veränderungen beantragte Francis Beal 1968 die Gründung eines eigenen Komitees bei »SNCC«, das sich mit Sexismus und Rassismus auseinandersetzte. Aus diesem Komitee entstand eine der ersten Schwarzen Frauenorganisationen: Die »Third World Women Alliance (TWWA)«.22 Viele Schwarze Männer warfen den Schwarzen Frauengruppen damals vor, sie würden die Schwarze Befreiungsbewegung spalten.23 Aber nicht nur der Sexismus in der Bürgerrechtsbewegung stellte ein Problem für die Schwarzen Frauen dar, sondern auch der Rassismus der weißen Frauenbewegung. Beal betont allerdings in ihrem Text »Double Jeopardy« durchaus – basierend auf gemeinsam geteilten Ausbeutungsverhältnissen – die Möglichkeit der Allianz mit weißen Frauen. Sie konstatiert aber auch, dass solche Koalitionen nur möglich seien, wenn weiße Gruppen Rassismus und Imperialismus in den Blick nehmen: »Any white group that does not have an anti-imperalist and anti-racist ideology has absolutely nothing in common with the black women’s struggle.«24

Während Beal heute für ihre additive Vorstellung von Unterdrückung kritisiert wird,25 thematisierte das »Combahee River Collective (CRC)«26 als eine der ersten aktivistischen Gruppen die Überschneidung und Überlappung von Unterdrückungssystemen: »The most general statement of our politics at the present time would be that we are actively committed to struggling against racial, sexual, heterosexual, and class oppression and see as our particular task the development of integrated analysis and practice based upon the fact that the major systems of oppression are interlocking.«27Das »CRC«-Statement, das 1977 veröffentlicht wurde, gilt als einer der Schlüsseltexte der Intersektionalitätsforschung. Die Gruppe selbst spaltete sich 1975 von der »National Black Female Organisation (NBFO)« ab, weil diese Homosexualität und Klassenverhältnisse zu wenig thematisierten. Ähnlich wie im Fall der »TWWA«, gehen auch die Positionen und Interventionen des »Combahee River Collective« von den Marginalisierungserfahrungen in anderen sozialen Bewegungen aus.28

Wie am Beispiel der »Third World Women Alliance« und dem »Combahee River Collective« deutlich wird, begannen insbesondere Schwarze und Aktivist*innen of Color bereits in den 1970er-Jahren, soziale Bewegungen, die eine eindeutige Identitäts-Kategorie zum Ausgangspunkt ihrer Politiken machten, kritisch in den Blick zu nehmen. Ausgehend von der Erkenntnis, dass diese Bewegungen Schwarze Frauen nicht repräsentierten, gründeten sie eigene Gruppen, um die je eigenen Erfahrungen, die auf sich überlappende Unterdrückungssysteme zurückgehen, zu politisieren. Gleichzeitig blieben zumindest die hier genannten Gruppen aber immer auch offen für Allianzen mit anderen Bewegungen. Ende der 1980er, Anfang der 1990er-Jahre fanden diese Interventionen Schwarzer Aktivist*innen auch Eingang in akademische Debatten.

Intersektionalität

Mittlerweile werden die Kritiken an der Überlappung von Unterdrückungssystemen meistens unter dem »Paradigma der Intersektionalität« – wie Katharina Walgenbach es bezeichnet – diskutiert.29 Kimberle Crenshaw gilt als die erste, die den Begriff ins akademische Feld eingeführt hat. 1989 ist unter dem Titel »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics« der erste Artikel von Crenshaw, der Intersektionalität thematisiert, erschienen.30 In diesem Artikel werden verschiedene juristische Fälle beschrieben, in denen die spezifischen Erfahrungen Schwarzer Frauen aufgrund eines »single-axis-Framework« herausfallen. Im ersten Fall beschreibt Crenshaw den Versuch von Schwarzen Frauen, gegen General Motors zu klagen, weil diese keine Schwarzen Frauen angestellt hatten. Sie durften aber nicht als Schwarze Frauen klagen, weil Unterdrückungskategorien nicht beliebig addiert werden könnten, so das juristische Argument. Als Frauen konnten sie nicht klagen, weil weiße Frauen angestellt waren, und als Schwarze konnten sie nicht klagen, weil Schwarze Männer einen solchen Prozess bereits verloren hatten. In einem anderen Fall konnte Moore nicht gegen die Firma Hughes Helicopter klagen, weil sie als Schwarze Frau nicht die Gruppe der Frauen an sich vertreten durfte. In einem dritten Fall durften Schwarze Frauen nicht für die Gruppe der Schwarzen klagen.

Am Beispiel dieser drei juristischen Fälle will Crenshaw aufzeigen, wie Schwarze Frauen in mehrfacher Hinsicht ausgelöscht werden: Sie sind nicht privilegiert genug, um die Gruppe der Frauen oder Schwarzen zu vertreten, dürfen aber auch nicht als Gruppe der Schwarzen Frauen klagen. Gerade in dieser Widersprüchlichkeit manifestiert sich Crenshaw zufolge die Limitierung einer »single-axis«-Konzeptualisierung: »I have stated earlier that the failure to embrace complexities of compoundedness […] is due to the influence of a way of thinking about discrimination which structures politics so that struggles are categorized as singular issues. Moreover, this structure imports a descriptive and normative view of society that reinforces the status quo!«31Intersektionalität ist demgegenüber ein Konzept, mit dem die Komplexität, der eine »single-axis«-Konzeptualisierung nicht gerecht werden kann, fassbar gemacht werden soll: In einem »Intersektionalen Paradigma« rücken die intersections von verschiedenen Unterdrückungskategorien, aus denen spezifische eigene Marginalisierungserfahrungen hervorgehen können, in den Fokus. Nicht nur in juristischen Fällen, sondern auch in sozialen Bewegungen – das wird an den zu Beginn angeführten Beispielen der »TWWA« und des »CRC« deutlich – läuft der Fokus auf »single-axis«-Politiken Gefahr, Erfahrungen, die aus der intersection mehrerer Unterdrückungserfahrungen resultieren, auszulöschen.