Das Provisorium der Liebe - Gabriela Adameşteanu - E-Book
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Das Provisorium der Liebe E-Book

Gabriela Adamesteanu

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Beschreibung

Eine der wichtigsten und engagiertesten Stimmen der rumänischen Gegenwartsliteratur Letitia und Sorin arbeiten in einem Kulturinstitut im Rumänien der siebziger Jahre. Sie lieben sich – heimlich. Im Schatten einer Lenin-Statue oder in der schmuddeligen Wohnung eines Freundes. Sorin sucht die wahre Liebe und Letitia eine Flucht aus ihrem traurigen Eheleben. Beide sind sie gefangen in den Strukturen ihrer Familien und den Einschränkungen des kommunistischen Systems, kurz vor der Machtübernahme Ceauşescus. Eine Zwischenzeit, die von Freiheit, Sex, Konsum und Momentglück geprägt ist. Gabriela Adameşteanu gelingt es meisterhaft, die Geschichten mehrerer Generationen zu verweben und diese Zeit des Übergangs lebendig werden zu lassen. Ein Provisorium, das nach Glück und Sehnsucht schmeckt und nach ebenso viel Vergänglichkeit. »Gabriela Adameşteanu ist in die literarische Landschaft Rumäniens eingefallen wie ein Sonnenstrahl.« Lettre International

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Seitenzahl: 618

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Über das Buch

Eine der wichtigsten und engagiertesten Stimmen der rumänischen Gegenwartsliteratur

Letitia und Sorin arbeiten in einem Kulturinstitut im Rumänien der siebziger Jahre. Sie lieben sich – heimlich. Im Schatten einer Lenin-Statue oder in der schmuddeligen Wohnung eines Freundes. Sorin sucht die wahre Liebe und Letitia eine Flucht aus ihrem traurigen Eheleben. Beide sind sie gefangen in den Strukturen ihrer Familien und den Einschränkungen des kommunistischen Systems, kurz vor der Machtübernahme Ceauşescus. Eine Zwischenzeit, die von Freiheit, Sex, Konsum und Momentglück geprägt ist. Gabriela Adameşteanu gelingt es meisterhaft, die Geschichten mehrerer Generationen zu verweben und diese Zeit des Übergangs lebendig werden zu lassen. Ein Provisorium, das nach Glück und Sehnsucht schmeckt und nach ebenso viel Vergänglichkeit.

»Gabriela Adameşteanu ist in die literarische Landschaft Rumäniens eingefallen wie ein Sonnenstrahl.« Lettre International

Über Gabriela Adameşteanu

Gabriela Adameşteanu, geb. 1942, ist als Schriftstellerin und Publizistin neben Norman Manea und Mircea Cărtărescu eine der wichtigsten Stimmen der rumänischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Sie war Bürgerrechtlerin und Präsidentin des rumänischen P.E.N.

Eva Ruth Wemme studierte Rumänistik, Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft in Köln, Berlin und Bukarest. Sie übersetzte Werke von Mircea Cărtărescu, Nora Iuga, Ioana Nicolaie, T.O. Bobe, Ion Luca Caragiale und Nicoleta Esinencu aus dem Rumänischen ins Deutsche. Für die Übersetzung von Gabriela Adameșteanus Roman »Verlorener Morgen« erhielt sie 2019 den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse. Seit 2008 lebt Eva Ruth Wemme als Übersetzerin und Autorin in Berlin.

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Gabriela Adameşteanu

Das Provisorium der Liebe

Roman

Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Erster Teil – L’Air du Temps

Kapitel 1 – See mit Anglern

Kapitel 2 – Tanzpartys

Kapitel 3 – Die glückliche Generation

Kapitel 4 – Die Ermahnung

Kapitel 5 – Zufälle

Zweiter Teil – Familienakten

Kapitel 6 – Ein reges und ungefestigtes Land

Kapitel 7 – Wir kehren eines Tags zurück …

Kapitel 8 – Dilemma

Kapitel 9 – Gutes mit Widerwillen

Kapitel 10 – Die Wurzeln einer chronischen Krankheit

Dritter Teil – Die Jahre der Technokraten

Kapitel 11 – Krieg um Anfänger

Kapitel 12 – Lehrjahre eines Technokraten

Kapitel 13 – Wochenenden mit Mama

Kapitel 14 – Der Test

Kapitel 15 – Pässe für den Westen

Kapitel 16 – Die Strategien eines Technokraten

Vierter Teil – Die Ära der Parteiaktivisten kehrt zurück

Kapitel 17 – Goldener Herbst

Kapitel 18 – Rollen

Kapitel 19 – Lüge durch Auslassung

Kapitel 20 – Der angekündigte Tod des Elefanten

Fünfter Teil – Der längste Tag

Kapitel 21 – Depressionen

Kapitel 22 – Letitias Tagebuch

Kapitel 23 – Jeder nach seiner Moral

Kapitel 24 – Abschiedsfest

Kapitel 25 – Der Unfall

Personenliste

Anmerkungen

Impressum

Für Sanda Bădulescu (Dodia)

Erster Teil L’Air du Temps

Ich fühlte manchmal, dass das Schicksal wieder etwas Neues für mich bereithielt, etwas, was die Kurve meines Lebens noch einmal verändern würde. Dann sah ich für ein paar Augenblicke die Zeichen, wie Scheinwerfer, die plötzlich in der Dunkelheit aufblitzen und schnell wieder verschwinden, zu schnell, als dass ich ihren Sinn verstehen könnte. Ich stieg aus dem Bett und wusste, man hatte mir Zeichen gegeben – aber wie sollte ich sie entschlüsseln?

Mircea Eliade1

Kapitel 1 See mit Anglern

»Ich hoffe, du weißt Bescheid, die letzte Kampagne vom Genossen! Der Ethik-Kodex!«

Sie schüttelt missmutig den Kopf, hat keine Lust zu reden, wie immer, wenn sie sich bereit macht, aufzubrechen. Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen, um diese feuchte Hitze, den Geruch nach Sex, ihren Platz unter der Bettdecke zu verlassen. Sie zögert, zögert, bis sie sich, verärgert über ihre Feigheit, einen Ruck gibt und mit dem Bein die Decke zur Seite schlägt. Gleich zieht sie fröstelnd ihre Schultern hoch, Mist, wo hat sie ihren BH hingeworfen? Und die Socken? Wie wär’s, wenn sie einfach zurück unter die Decke schlüpfte und dort leise vor sich hin kicherte?

Aber die Decke ist schon ausgekühlt und man hört das Klirren der Gürtelschnalle, Sorin zerrt hastig seine Hose von der Stuhllehne – das Zeichen, dass der Moment naht, in dem Freund Florinel nach Hause kommt.

»Sagt dir der Ethik-Kodex wirklich nichts? Gar nichts? Denk noch mal nach! Der Kodex der Sozialistischen Ethik und Rechtlichkeit?! Herrgott?! Seit zwei Monaten sind die Zeitungen voll davon …«

Er reiht ironisch Klischeesätze aneinander, während er in den Kleidern wühlt, die über den Tisch verstreut liegen, er sucht sein Unterhemd. Wo ist der junge Mann, der vor kaum vier Stunden in dem vor Stummeln überquellenden Aschenbecher seine Zigarette ausdrückte, an der er ungeschickt gezogen hatte und bei jedem Geräusch, das vom Fahrstuhl herüberkam, zusammenzuckte? Seine ungeduldigen Hände, die über ihren Körper glitten, wie schwer es ist, wenn ein Mann auf dich wartet. Sein Gesicht, das er in ihr Haar drückte, und der Geruch nach heißem Fleisch und der vage Duft nach Kantine in seinem blauen Pullover. Warum kann sie nicht bei dem Moment bleiben, in dem sie die Tür aufdrückt, die Arme puddingweich vor Angst, sie könnte verschlossen sein? Oder noch schlimmer, dass anstelle des Pullovers der Flanellschlafanzug und die schläfrigen Augen seines aus dem Schlummer gerissenen Freundes Florinel auftauchen: Wo kommt denn diese Tusse jetzt her?

Aber die Tür ist nie verschlossen, Sorin drückt die gerade erst angezündete Zigarette im Aschenbecher aus und stürzt auf sie zu, wie schwer es ist, wenn ein Mann auf dich wartet. Und sie beruhigt sich im blauen Licht des Pullovers, warum dauert das alles nur so kurz? Und wer ist der wahre Sorin? Der, der vor Lust und Unruhe zittert, solange er mit dem Blick auf die Uhr in der Wohnung am Stadtrand auf sie wartet, oder der, der sie freundschaftlich und reserviert grüßen wird, wenn sie sich zufällig auf den Fluren des Gebäudes begegnen?

*

»… Ach ja! Ich vergaß, dass du nicht Zeitung liest wie wir Normalsterblichen! Nicht mal die Zeitung, die du bezahlst!«

Sorin nimmt die Flasche vom Tisch, verkorkt sie und stopft sie in die Aktentasche. Gut, dass er dran gedacht hat, die gefaltete Zeitung unterzulegen: Der braune klebrige Fleck Wacholderschnaps ist über das retuschierte Gesicht des Genossen gelaufen – er wird Tag für Tag jünger –, statt auf die schreiend bunte Stickerei der Tischdecke.

»Der Geschmack eines Jungen vom Lande, was willst du?! Florinel ist ganz und gar nicht dumm und er strengt sich an, aufzusteigen, aber über einen gewissen Punkt wird er nicht hinauskommen! Ich finde, er ist ein bisschen wie deine Freundin Dorina.« Sorin lacht peinlich berührt.

Dorina Gabor ihre Freundin? Letitia zieht die Strumpfhose mit den schwarzen und weißen Rhomben hoch, ihre Mundwinkel sinken verdrossen nach unten. Als Dorina im Gebäude auftauchte, mitten im Courrège-Stil (geometrischer Schmuck, Minimode), da hatte sie einen labberigen Rock mit weichen Falten an, mit großen Blumen, sie sah nicht gerade aus wie eine Studentin aus der Hauptstadt. In die dünnen, weichen Haare hatte sie eine Dauerwelle machen lassen, sie standen wie eine Distelblüte um ihren Kopf. Das einzig Hübsche an ihr war, dass sie bei der wöchentlichen Maniküre die Farbpaste auf den schnabelartig gebogenen Fingernägeln wechseln ließ. Aber dafür merkte man schnell, sie hatte Sinn für Humor, war klug und hingebungsvoll.

*

»Übertriebene Hingabe ist anrüchig«, feixt Petru, rückhaltloser La-Rochefoucauld-Anhänger, allerdings umso weniger ein Fan von Dorina, der er jedes Mal in säuerlichem Tonfall antwortet, sobald er ihre energische Stimme am Telefon hört. Bitte lass diese aufdringliche Schreckschraube nicht dauernd bei uns zu Hause auflaufen!

Aber hat nicht Petrus Brutalität in letzter Zeit Letitia an Sorins Seite getrieben, zu einem Mann, der wie sie selbst eher ein jugendlicher Spätzünder zu sein scheint? Der Bruder, den sie sich gewünscht hat, seit ihre Mutter und Onkel Ion sie gewarnt haben, in unserer Welt kann man niemandem trauen, verstehst du, Letitia? Dein bester Freund verpfeift dich an die Securitate!

Niemandem also, niemandem … Auch Petru nicht, der ihr vorwirft, er habe damals bei ihrer Heirat die befleckte Akte ihrer Familie in Kauf genommen, die jahrelange Gefangenschaft ihres Vaters und seiner unbekannten Brüder, womit er riskiert hat, seine Ernennung zum Dozenten in den Wind zu schießen.

Letitia hat sich den ganzen Herbst über an die Vorwürfe ihres Mannes erinnert, wenn sie in diesen zwei Bussen und der Tram vom Gebäude zu Florinels Wohnung fuhr, wo sie sich mit Sorin trifft, und von dort nach Hause. Das Laub, das die Straßenkehrer mit den Weidenbesen in trägen Bewegungen unter den Sträuchern hervorzogen, kam ihr vor wie Berge von schmutzigem Papier oder mürben Lappen. Aber in der rauchigen Luft leuchteten die festlichen Farben des Herbstes. Das Rot reifer Früchte in den tausend Schattierungen des Efeus und das Gelb der Robinien, das beinah in der Luft zerstieben wollte. Letitia zwickte etwas, es war wie das Stechen einer Blasenentzündung. Fühlte sich so ein schlechtes Gewissen an? Und dann bediente sie sich hastig wie eines Schmerzmittels der Argumentation, die sie für den Moment vorbereitet hatte, in dem sie ihren Eltern den Entschluss zur Scheidung mitteilen würde. Bei dem Gedanken rauschte ihr das Blut noch schneller durch die Schläfen und ihr Körper war gleich erfüllt vom Klopfen des Herzmetronoms, das sich durch die alten Schrecken noch verstärkte.

*

Vielleicht kommt der Schrecken aus einer fernen Erinnerung wie ein überbelichtetes Foto. Letitia steht auf der Türschwelle zu einem großen Raum voller Menschen. Der Schulranzen hängt schwer am Rücken, aber keiner kommt, um ihn ihr abzunehmen, keiner sieht sie an bis auf den riesigen Wolfshund, der sie mit seinen gelblich-braunen Augen anstarrt. Sie lauscht von der Schwelle aus den lauten, erbosten Stimmen der Männer mit Hüten auf dem Kopf und schwarzen Lederjacken, sie werfen Gegenstände und Bücher um sich.

»He, hör auf zu flennen!«, schreit einer von ihnen ihre Mutter an, die außer sich, mit rotem Gesicht, schief geknöpfter Bluse und einem Bettjäckchen über den Schultern dasitzt und weint.

Die Schranktüren schlagen an die Wände und die Schubladen liegen verstreut zu Boden geworfen da, während Letitia so große Angst bekommen hat, dass sie mit dem Schulranzen auf dem Rücken auf allen vieren unter den Tisch kriecht. Sie fühlt ihr Herz gegen die Knie pochen, sie sieht die Bücher, die mitten im Zimmer aufgeschlagen, mit zerknitterten und zerrissenen Seiten daliegen, eins über das andere geworfen, daneben die Kleider aus Tüll und Kaschmir, Plisseekleider und Glockenröcke, alle haben Mamas Geruch, die Stiefel der schreienden Männer trampeln auf ihnen herum und Mama weint.

Schon lange hört sie die Stimmen der Männer nicht mehr, aber sie kauert noch immer da, rührt sich nicht einmal, als ihre Mutter die merkwürdig zitternde Hand unter den Tisch streckt, um sie hervorzuziehen:

»Macht nichts, macht nichts«, flüstert die Mutter heiser. »Beruhige dich, Letitia, es ist nichts passiert! Wir gehen hier weg, wir werden zu Onkel Ion ziehen, er wird dein Vater sein! Er wird für dich sorgen, beruhige dich!«

*

Sie soll sich beruhigen, ja! Von dem Provinzfriedhof aus, wo sie und Mama Onkel Ion vor zehn Jahren in ihrer Verzweiflung hingebracht haben, wird er nicht mehr dagegen sein können, wenn Letitia sich scheiden lassen möchte. Im Übrigen hat er nicht einmal die Möglichkeit gehabt, ihre Heirat zu befürworten, die allerdings wahrscheinlich auch nie stattgefunden hätte, wäre er nicht so plötzlich gestorben und wäre seine Nichte, die seine Adoptivtochter geworden war, nicht so voller Zukunftsangst gewesen. Die Meinung ihres Vaters zählt nicht und ihre Mutter kann Petru sowieso nicht leiden.

Aber wo soll Letitia hin, wenn sie ihren Mantel vom Garderobenhaken genommen und für immer die Wohnungstür in der Strada Uranus 10 hinter sich geschlossen hat? Ihr gesamtes Gehalt würde für die Miete eines Zimmers draufgehen, was würde sie essen, was anziehen? Und wie soll sie mit Petru im Gerichtssaal stehen, wo sie sich doch schuldig fühlt? Der Gedanke, er könnte sie des Ehebruchs bezichtigen und auch Sorin mit in diesen Skandal hineinziehen, lässt sie abends vor Unruhe zittern, wenn ihr nichts anderes mehr einfällt, als sich am Fenster eine Zigarette nach der anderen anzustecken. Wenn sie nicht zusammen sind, denkt sie mit einem merkwürdigen Mitleid an Petru, selbst wenn er sie am Abend davor schlecht behandelt hat. Aber wenn sie seine Schritte im Flur hört, dann hat sie Angst, er könnte mit sanftem Gesicht dastehen und sie um ihre Liebe bitten, die sie ihm nicht mehr geben kann.

Zum Glück bleibt Petru immer gleichermaßen mürrisch, seit er aus China zurück ist.

*

Doch es ist anders, wenn er sehr spät in der Nacht kommt und im Dunkeln an die Stühle stößt, weil er das Licht nicht anschaltet: ein Rest der früheren Fürsorge für Letitia, die vier, fünf Stunden früher als er zur Arbeit geht. Sie tut so, als schliefe sie, während das Bett unter seinem Gewicht ächzt und seine Hand zwischen den Laken umherkriecht, im wievielten Tag bist du?, er vergisst es nie, das flüsternd zu erfragen, während er ihren Hintern berührt. Und er wartet auf die Antwort, bevor er sich auf sie wälzt. Der säuerliche Geruch von Wein umhüllt sie und sie erträgt es verkrampft und mit zusammengebissenen Zähnen, wie seine Hand die Blätter ihres Fleisches öffnet und sie streichelt, sein Geschlecht ist samtig und genau so groß, wie sie es erwartet hat, und langsam entspannt sich ihr verräterischer Körper in der gewohnten Bewegung und erfreut sich seines großen, knochigen Körpers, der sie bedeckt. Letitia stößt kleine Geräusche aus, als würde ihr etwas wehtun, aaah, aaah, so wird Sorin sie niemals zu hören bekommen, nicht nur aus Scham vor den unbekannten Nachbarn, nicht nur, weil sie sich in dem fremden Bett von Freund Florinel geniert, warum dann?

Sie fragt sich nicht, weshalb, aber sobald Petru aufsteht, hat sie plötzlich das andere Zimmer vor Augen, das andere Bett, und in der Nase hat sie den Geruch von Sorins zarter Haut. Sie dreht sich auf die Seite, liegt zusammengerollt, die Beine zusammengepresst, die Lider auf die zusammengekniffenen Augen gedrückt, ein Fötus ohne den Schutz des Mutterbauchs. Sie kann Petrus Finger nicht sehen, die sich ausstrecken, um ihr wirres Haar auf dem Kissen zu berühren, auch nicht, wie er in dieser Bewegung innehält. Sie erinnert sich bloß an Sorins helle Augen und an sein Flüstern, wie schwer es ist, wenn dein Mann auf dich wartet! Woher kommen die Traurigkeit und der Ekel vor ihrem klebrigen Körper, einer schamhaften Hülle?

Ihr hastiger Atem verrät sie, sie ist noch nicht eingeschlafen, während Petru inzwischen aus dem Bad zurück ist und im Licht der Straßenlaterne mit einem feuchten Handtuch das Bettlaken abwischt, er hat außerhalb ejakuliert. Und erst als sie seine regelmäßigen Atemzüge hört, öffnet sie die Augen und bleibt lange Zeit so liegen und starrt in die Dunkelheit.

*

Sie ist von einem gebrochenen Mann großgezogen worden, so hat sie Onkel Ion, Mutters Bruder, kennengelernt, und sie müht sich seit Jahren ab, sein Scheitern nicht zu wiederholen. Darum hat sie stur darauf beharrt, auch noch etwas anderes zu veröffentlichen als Artikel in der Zeitschrift für Wissenschaft und Forschung, wo Petru Chefredakteur ist. Sie hatte sich mit immer größerem Unwohlsein die ironischen Blicke von Petrus Kollegen vorgestellt, wenn er schamhaft einen Artikel seiner Frau ins Inhaltsverzeichnis der nächsten Nummer mogelte.

Aber für ihr Leben weiß Letitia nicht, was sie will, und eines Tages wird sie das merkwürdig finden, aber sie versucht nicht einmal, es herauszufinden. Ihre Jugend erstreckt sich endlos vor ihr und alles geschieht noch im Zeichen der Improvisation. Sie lebt von einem Treffen zum nächsten und wartet nur darauf, dass Petru sein Visum für Zagreb bekommt, dann könnten sie ein Wochenende verbringen, wenn Florinel auch aufs Land fahren würde. Und sie und Sorin, was für ein unglaublicher Traum, würden zusammen übernachten. Und vielleicht würden sie auch ausführlich über die Scheidung sprechen.

Bis dahin hat sie alle Zeit der Welt, in das Heft zu schreiben, das sie unter der Matratze versteckt. Er kommt immer lieb und zärtlich zu mir, manchmal hat er einen Strauß Schneeglöckchen dabei, ein andermal holt er ein kleines Geschenk aus seiner Aktentasche: eine Lux-Seife, für die er sich verlegen entschuldigt, ein Päckchen Kent, ein gerade erschienenes Buch. Und die Flasche, deren Etikett immer variiert, anfangs waren es Campari, Martini oder Cinzano, seit das nicht mehr zu kriegen ist, kommt er mit albanischem Wein oder rumänischem Wacholderschnaps. Aber vor allem bringt er das Versprechen unendlicher Zärtlichkeit und grenzenloser Geduld mit.

Nur, dass er es immer eilig hat. Nur, dass die Welt draußen auf ihn wartet. Wartet? Das ist zu viel gesagt, wer wäre bescheidener als er? Wenn du es willst, sagt er dir auch, wohin er muss, eine wirklich komplizierter Terminplan! Er berichtet dir genauestens von seinem ersten Arbeitstreffen, er zählt dir auch die folgenden auf, willst du immer noch mehr wissen? Hier sind auch die von morgen! Nackt im Bett nimmst du Teil an seinem gehetzten Leben, in das er völlig ohne Schuld geraten ist.

Er zieht sich schnell aus und die widerwärtigen Details des geliehenen Zimmers scheren ihn nicht. Oder sorgst du dafür, dass sie ihn nicht scheren? Die Liebe von 9:30 Uhr bis 13:30 Uhr ist dein Wetteinsatz, das Absolute kann sich auch in so etwas verwandeln, Gott kann auch in geliehene Zimmer hinabsteigen, mit Aschenbechern voller Zigarettenstummel und Gläsern mit rumänischem Wacholderschnaps.

Draußen schneit es endlos auf eine Stadt, die du, ohne Schnee gesehen, sehr schmutzig finden würdest. Er hat dir mit seinen klaren Augen seine Treue versichert, du spürst sie in der Aufregung, mit der er dich erwartet, und du zweifelst sie an, wenn du siehst, wie eilig er am Ende geht.

*

Letitia hat Sorin noch nichts von dem versteckten Heft erzählt, sie haben nur wenig Zeit zum Reden, wenn sie zusammen sind, und am Telefon können sie nicht viel erzählen. Am Anfang rief er sie an, wenn Petru wegen einer Abiturprüfung auf dem Land war. Aber das tut er nur noch selten, seit er am anderen Ende die selbstsichere Stimme des Universitätslehrers Arcan gehabt hat, die ihn daran erinnerte, dass ihm der Zugang zu dieser Nummer strikt verboten war, genau wie Letitias Körper. Sorin hatte sofort aufgelegt, eine leicht perverse Lust, gemischt mit Demütigung, hatte ihn durchzuckt, als wäre er bei einer promiskuitiven Handlung ertappt worden.

»Du kannst mich anrufen, wann du willst! Wenn ich da bin, gut, wenn nicht, dann nicht«, hatte er zu Letitia gesagt.

Wenn er da ist, reden sie eilig und im Flüsterton, und Letitia, die noch nie bei ihm war, sieht den engen Flur der Mietskasernenwohnung vor sich, den kleinen Perserteppich, der die Quadrate des Linoleums bedeckt und auf dem Frau Olarus Pantoffeln auf und ab laufen. Sie macht sich vor dem Zimmer ihres Sohnes zu schaffen, versucht, mit ihrem schlechter werdenden Gehör herauszufinden, wer das geheimnisvolle Mädchen ist, das Sorin nicht gerade eiligst heiraten will – warum bloß?

Letitia ist überzeugt, dass Sorin alles, was ihr durch den Kopf geht, fühlt und versteht, darum streicht sie fest mit zwei Linien das Wort Scheidung vom Papier ihrer inneren Vorstellung. Genau gesagt, sie schiebt es auf, denn es ist noch nicht aktuell: einer seiner häufigen Ausdrücke, den sie immer öfter benutzt, so wie Paare sich gegenseitig Pullover, Morgenmäntel, Lieblingssätze ausborgen. Und sie schlummert weiter in den Straßenbahnen, die sie quer durch Bukarest bringen, auf kräftig durchgeschüttelten Sitzen. Obwohl sie umgeben ist von Aufruhr, Streitereien, Schweißgeruch oder billigem Deodorant, sieht und hört sie nichts von alledem. Sie bemüht sich nur, vor ihrem inneren Auge das blonde Geschlecht Sorins zu behalten, das heiß anschwillt unter dem Druck ihres Bauchs, und seinen aufmerksam verliebten Blick, Schnitt. Schnitt.

*

»Hätten wir uns eine Eigentumswohnung in einem dieser neuen Wohnblocks besorgt, wie deine Mutter es unbedingt wollte, dann könnten wir vor lauter Raten einpacken! Und ich müsste stundenlang Bus fahren! Siehst du, dass die Filodorma für unsere Wohnung mit Gasanschluss das Geld langsam wert ist? Du zündest einfach ein Streichholz an und machst es dir so warm, wie du willst!«, sagt Petru.

Halbwegs zentrales Viertel, Strada Uranus, der Gehweg abschüssig, gegenüber die weiße hohe Mauer der Mihai-Voda-Kirche und der Glockenturm, der auf einer unsichtbaren Erhebung steht. An der Tür, die von einem uniformierten Mann bewacht wird, weist ein Metallschildchen neben dem Wächterhaus darauf hin, dass sich hier die Staatsarchive befinden. Und die Straßenbahn rumpelt, wenn sie zum Podul Izvor abbiegt. Ein stabiler Bau mit Erdgeschoss, mehreren Stockwerken, Kellern und Mansarden, aus dem vor zwanzig Jahren, während einer anderen Eiszeit, die ausbeuterischen Eigentümer vertrieben worden waren, die inzwischen in ein Gemeinschaftsgrab auf dem Bellu-Friedhof gezogen sind oder ins Ausland. Mietvertrag auf Petru Arcans Namen für eine Wohnung mit zwei Zimmern, Küche, Bad und Flur. Der Vermittler, ein ehemaliger Student aus Petrus Abendkursen, ein Majörchen bei der staatlichen ICRAL2 Wohnen, hatte sich mit einer symbolischen Filodorma begnügt.

Filodorma! Das Wort kennt Letitia noch aus der Zeit als Kind, in der der junge Eigentümer sie jedes Mal, wenn er getrunken hatte, anschrie: Raus aus meinem Haus! Das Wort Filodorma hingegen war das Zauberwort, das Mama und Onkel Ion flüsterten, sobald sie das Licht ausgemacht hatten. Dann begann eine Geschichte darüber, wie man mithilfe einer Filodorma, einer guten Fee wahrscheinlich, eine andere Wohnung finden und dem Geschrei des Eigentümers entkommen würde. Und im Herbst, im Frühling, werden die Amerikaner kommen und alles wird gut. Aber das war nie passiert.

Letitia hatte das Wort Filodorma irgendwo in einem Winkel ihres Gedächtnisses aufbewahrt, bis Petru ihr die genaue Definition lieferte: Filodorma = die Geldsumme, die man den korrupten Funktionären vom ICRAL zusteckt und dafür einenMietvertrag für eine nationalisierte Wohnung bekommt, die im Prinzip nur den Kadern des Parteiapparates, des Staatsapparates und der Securitate vorbehalten ist.

Und Letitia hatte ihm enttäuscht gelauscht: Sie mag keine Lexika und auch nicht die Art, wie Petru sich bemüht, jede magische Aura zu zerstören.

*

»Vielleicht hältst du Dorina nicht für deine Freundin, aber sie versucht es zu sein! Sie ist schlau, fleißig, aber wie bei Florinel merkst du, da fehlt eben was! Das Umfeld, in dem sie aufgewachsen sind«, antwortet Sorin beschwichtigend, weil er Letitias angespanntes Schweigen bemerkt.

Sie lächelt, ist gleich versöhnt mit Florinels Schuhen, er ist Seminarleiter für Sozialismuslehre, die Schuhe stehen aufgereiht auf dem bäuerlichen Abtreter aus gewebten Flicken, und sie ist versöhnt mit Dorinas Anstrengung, ihre Freundschaft zu gewinnen. Aber warum schafft sie es nicht? Nicht, weil sie seit ihrer Studentenzeit in der Partei ist, Sorin hat es ja genauso gemacht, obwohl, das ist ein bisschen komisch bei ihm, wie hat er das bei seiner Akte wohl geschafft? Naja, und auch nicht, weil sie schnell Beziehungen im Institut geknüpft hat, Kollegen zu sich nach Hause einlädt oder weil sie die Geburtstagstelegramme für den Genossen redigiert.

Vielleicht, weil die gesunde gesellschaftliche Herkunft Dorina mehr Chancen im Leben einräumt als Letitia? Das hieße, dass der Klassenhass wirklich die Freundschaften und die Liebe bestimmt, wie die verachteten marxistischen Thesen behaupten!

Nun ja, Letitia ist zufrieden mit der komplizenhaften Art, in der Sorin gesprochen hat, damit hat er eine Art Berliner Mauer um ihr gemeinsames Territorium gezogen, um die geplagte bürgerliche Klasse, in die Dorina und Florinel, die privilegierten Besitzer guter Akten, niemals einen Fuß in die Tür kriegen werden.

Und nicht mal Petru, dessen Name auf allen Akten ausschließlich in der plebejischen Form steht, nämlich Petre Arcan. Die versnobte Manuela, Letitias Vorgängerin, hatte ihn überredet, seine Artikel mit Petru Arcan zu unterschreiben, aber das Papier, das ihre Scheidung bescheinigte, hatte er wohl mit seinem echten Namen unterschreiben müssen. Letitia hatte es damals nicht in die Hände bekommen, damals, als sie noch von Unsicherheit und rückwärtsgerichteter Eifersucht geplagt war. Jetzt, wo sie die ordentlichen Schubladen ihres Mannes durchwühlen konnte, rührte sie nicht mal mehr das gegenwärtige Liebesleben Petrus, geschweige denn seine erste, gescheiterte Ehe. Sie hatte ihn auch nie zu seinen Eltern befragt, die ihn in den Ferien ins Internat gesteckt hatten, einmal hatten sie ihn gesund in ein Kurheim geschickt, um ihn loszuwerden. Auch nach dem Kind mit Manuela, das nach der Geburt gestorben war, hatte sie ihn nicht gefragt, sie mochte es nicht, sich Bekenntnisse zu erzwingen.

*

»Im Lichte des Ethikcodex fragt die Gesellschaft dich: Wie lebst du?«, kichert Sorin, er wedelt mit der Zeitung, Letitia schiebt sie beiseite und bückt sich, um unter dem Bett ihre Plateauschuhe mit den Silberschnallen hervorzuholen, die Petru einmal aus München mitgebracht hat.

»Dein Petru ist ganz schön geizig, Letitia! Kommt aus dem Ausland nur mit einem Paar Strumpfhosen und scheußlichen Schuhen für seine Gattin nach Hause?«, hatte ihre Mutter gesagt, als sie sie damit sah.

»Scheußlich oder nicht, in Bukarest sind sie der letzte Schrei! Und außerdem halten sie lange!«

Kann schon sein! Ihre Mutter spitzt jedes Mal skeptisch die Lippen, wenn sie sie sieht, und dieser geizige Petru hat ihrer Tochter seitdem auch keine scheußlichen Schuhe mehr mitgebracht, er ist in letzter Zeit nämlich gar nicht mehr rausgekommen! Vielleicht hat er da drüben irgendwas angestellt!

Margareta Branea würde sich bei ihrem Schwiegersohn über nichts mehr wundern. Sie hat ihn schon nicht gemocht, als Letitia ihn zum ersten Mal mitbrachte. Er ist zehn Jahre älter, redet die ganze Zeit nur über sich und isst unangenehm gierig: Nix Manieren, wie Victor sagt. Und von seiner Familie hat sich bis jetzt niemand mal blicken lassen. Außerdem hat er auch nicht ordentlich Hochzeit gehalten.

»Damit es da keine Missverständnisse gibt! Ich bin Atheist und dulde keine Messe mit Priester!«

Damit hatte er ihnen gleich beim ersten Treffen die Suppe versalzen, statt dass er um Fräulein Letitia Braneas Hand anhielt, wie jeder wohlerzogene junge Mann es getan hätte, gab er ihnen nur trocken das Datum der Standesamtlichen bekannt! Wenn er gesagt hätte, er wäre Parteimitglied, dann wären wir ja einverstanden gewesen, wir wissen schließlich auch, wie’s aussieht in der Welt! Aber dass er uns wie bei der Parteisitzung kommt, er wäre Atheist und würde keine Hochzeit mit Priester wollen, soll er doch zuseh’n!

Margareta hatte damals noch etwas sagen wollen, aber Victor hatte ihr zu verstehen gegeben, sie sollte sich nicht mehr einmischen, lass sie machen, wie sie wollen, komm, wir verderben unserem Mädchen nicht die Freude!, flüsterte er ihr zu, er, der bekehrt aus dem Gefängnis gekommen war.

*

»Ich erlaube mir, dich darauf hinzuweisen, Verehrteste, dass du die Scânteia3 bezahlst, auch wenn du dich weigerst, sie aufzuschlagen! Ja, ja, roll du nur mit den Augen! Seit du in der Partei bist, bekommst du täglich diese Zeitung, damit du weißt, was unser Genosse so treibt! Jetzt erzähl mir nicht, du hättest nicht den veränderten Geldbetrag bemerkt, als du dir deinen Lohn geholt hast! Also, du bist wirklich eine Nummer!«

Letitia ist zufrieden mit dem Bild, das Sorin von ihr hat: Sein ironischer Ton ist nur der Versuch, sich vor ihrer anziehenden Unbekümmertheit zu verbarrikadieren. Er sagt doch dauernd: Dein Zauber besteht darin, dass du schwebst!

»Hast du wirklich nicht gemerkt, dass sie dir mit dem Parteibeitrag auch die Abogebühr für die Scânteia einbehalten? Nein? Skandalös! Verrückt ist das, sogar für eine Person, die aus einem anderen Teig geknetet ist als der gewöhnliche Sterbliche …«

Er hat sich plötzlich umgedreht und mit seinem gierigen Mund nach ihren Lippen geschnappt, er küsst sie, beißt sie, als würde er die Konsistenz des anspruchsvollen Teiges prüfen wollen, aus dem sie gemacht ist. Oder, um ihr ein Tattoo zu verpassen.

Als er ihr den Rücken zuwendet, massiert sie schnell den feuchten Biss. Es wurmt sie, dass er zu dem ironischen Ton von der Arbeit zurückkehrt, der gegen Ende des Tages auch in ihrem Büro herrscht. Hier beendet Sorin gewöhnlich seine tägliche Runde. Beziehungen müssen gepflegt werden, sagt er immer.

*

Weil du nur so viel wert bist, wie du es im Blick des anderen bist, denkt Letitia morgens immer wieder, wenn sie verloren in den endlosen Reihen marschiert, die eilig ins Gebäude drängen. Sie hatte sich geirrt, als sie hoffte, dort eine andere Welt vorzufinden. Hier bewegt sie sich unter einem Blick, der viel ungnädiger ist als damals während ihrer Zeit im Studentenwohnheim. Von jedem kennt man die Verwandten, den Verdienst, die Beziehungen, wer mit wem welchen Seitensprung hatte, das Deodorant, die Konflikte mit Ehefrau und Schwiegermutter, wie viele Backenzähne überkront sind, welche Zahnärzte, Krankenhäuser, wie viele Abtreibungen, welche Geschlechtskrankheiten man sich bei Prostituierten geholt hat, die Streiche der Kinder.

Sogar sie und Sorin reden manchmal über die anderen heimlichen Paare im Institut, angefangen beim Prinzenpaar, der Interims-Direktorin Eleonora Oprea und ihrem Mitarbeiter Titus Marga. Die Zeiten, in denen Eleonora und Titus sich bei den Sitzungen zärtliche Blicke zuwarfen, sind lange her. Jetzt haschen beide nach demselben Direktorenposten und der Krieg hat sich auf die Ebene ihrer Fürsprecher verlagert, in die Foren, die sich der Unterstützung der Kultur widmen.

*

»In dem Schreiben, das Titus gegen Eleonora zum Ministerium geschickt hat, nimmt er auch auf mich Bezug«, flüstert Sorin Letitia zu, während er die Päckchen mit Aufschnitt öffnet.

Er macht die Brote, er schenkt Wodka ein, er ist der Hausmann in ihrem provisorischen Haushalt.

Letitia hat auf der letzten Tanzparty im Institut die Gerüchte über Sorins Familienakte gehört, als Titus leicht beduselt verkündete, Eleonoras Tage wären gezählt:

»Wie kann das Traktat, an dem wir seit Jahren arbeiten, ideologisch fehlerfrei sein, wenn man an die entscheidenden Stellen Leute mit befleckten Biographien setzt? Abkömmlinge von Volksfeinden! Wollt ihr Beispiele? Na dann, aber das bleibt unter uns! Einer von denen ist kein anderer als der hochgelobte Sorin Olaru!«

Sorins Wesen muss in der Kindheit verformt worden sein, so wie die Füße der Chinesinnen, die von klein auf bandagiert werden, darum ist er so geheimniskrämerisch, denkt Letitia gerührt. Denn auch sie hat, seit sie denken kann, diesen Wahn mit der schlechten Akte, sie fühlt sich ihm nahe und hat Anwandlungen, ihn beschützen zu wollen.

*

Vor ein paar Jahren hatte ihr Leben aus zwei unterschiedlichen Teilen bestanden: dem einen, in dem sie wie durch einen dunklen Tunnel im Gebäude dahinglitt, vergiftet von Zigarettenrauch, Kaffee, totgeschlagener Zeit, langweiligen Sitzungen, endlosem Gerede – und dem anderen zu Hause. Während sie daheim auf die Uhr starrte und sich erbost Petrus Treffen mit den Studentinnen vorstellte, die ihn dauernd anriefen, hatte sie irgendwann angefangen, eine Geschichte zu schreiben. Sie zeigte sie ihm erst, als sie es geschafft hatte, sie zu veröffentlichen. Petru hatte sie nur ungläubig angesehen, das ist ein ernstzunehmendes Handwerk, nicht, was du da machst, das war sein einziger Kommentar gewesen.

Wenn Petru nach Hause kam, steuerte er gleich in sein Arbeitszimmer und arbeitete in dumpfem Schweigen stundenlang an seiner Doktorarbeit. Wenn sie das Rauschen des Kurzwellensenders hörte, räumte Letitia den Tisch ab, klirrte extra laut mit den Tellern, um ihn zu beruhigen, Petru war immer so ängstlich, er würde denunziert, weil er Radio Freies Europa4 hörte. Sie schälte die Kartoffeln, sie bügelte die Wäsche, sie kam vom Alimentara mit schweren Taschen, die ihr in die Hände schnitten, und wie auf einer Wasseroberfläche schwammen in ihren Gedanken die Überreste aufgeschobener Wünsche vorbei: Reisen in unbekannte Länder (also alle), halbwegs gelernte Fremdsprachen, Theaterbesuche, sie kam kaum dazu, denn Petru hatte dafür keine Geduld. Für einen Augenblick überschwemmte sie das Gefühl uferloser Jugend: Sicher warteten noch genug Überraschungen auf sie in all den Jahren, die noch kommen würden.

Nur dass die einzige Überraschung gerade ihre Beziehung zu Sorin war.

*

Seit sie auf der Strada Uranus wohnen, geht Petru über die Dâmbovița-Brücke und dann zu Fuß zur Universität, er hofft immer, wieder ein paar Kilo loszuwerden: Seit er vierzig ist, hat er angefangen, wie besessen auf seine Figur zu achten.

»Bringt nichts, dass du zwanzig Minuten zu Fuß gehst, wenn du keine Feier auf dem Land auslässt und keine Flasche Selbstgebrannten ablehnst!«, flüstert Letitia, wenn sie ihn am Tisch im Flur stehen sieht, die halb geleerte Flasche Landwein vor sich.

Die Demütigung der Verletzungen, mit denen die Streits in der letzten Zeit geendet haben, und die Vulgarität der Situationen, in die sie beide immer öfter geraten, deprimieren sie: Der grobe Mann, in den Petru sich verwandelt, wenn er trinkt, und die entsetzte Frau, die sich aber nicht gegen die Schläge wehrt, weil sie ihn nicht noch wütender machen will oder weil sie sich von außen voller Verachtung selbst betrachtet.

Wie auch immer, das eigene Auto wird noch mal aufgeschoben, weil Petru durch die Fahrprüfung gefallen ist.

»Ach, macht nix, Genosse Professor«, hatte der Verkehrspolizist gesagt, der gute Bekannte seines Kollegen Serghei Sârbu, »nächstes Mal passen wa auf, dass Se durchkommen! Se wissen ja eh noch nich, welches Auto Se eigentlich wollen.«

Petru hatte sich drangemacht, die Erlaubnis für einen Dacia 1100 zu beantragen, aber Serioja Sârbu hatte ihm geraten, besser einen Skoda zu nehmen. Eine Zwickmühle, an deren Lösung sich Letitia nicht beteiligte, sie wird ja sowieso nie am Lenkrad sitzen.

Manchmal meckert sie, der Umzug auf die Strada Uranus hätte ihnen den täglichen Weg zum Gebäude und zurück in keiner Weise erleichtert. Aber sie verliert kein Wort über die wöchentlichen Wege zu der Wohnung, die Sorin ihnen für die paar Stunden ihres Zusammenseins besorgt.

*

»Soll ich dir zeigen, wie von hier oben das Rapsfeld und unser See mit den Anglern und Booten aussieht?«

Sorin redete hastig, stotterte vor Aufregung. Er wickelte sie ins Laken und trug sie auf den Armen ans Fenster. Ja, unten an einem gelb-grünen Rapsfeld lag ein See mit Anglern, mit der Route in der Hand hockten sie am Ufer oder saßen schläfrig in den Booten mitten auf dem Wasser unterm diesigen Himmel.

Dort am Fenster hatten sie gestanden, nackt und fiebrig hatten sie die Sonne über das metallische Gewebe des Sees gleiten sehen, eine vergoldete Kugel. Sie betrachteten das rötliche Grün des Grases, die weißen Enten, die das brackige Wasser aufwirbelten, die vereinzelten Boote auf der bleiernen Fläche und darin die Angler, die ihre Fischernetze im grauöligen Wasser auslegten. Sie lauschten, wie die Hähne in den Höfen der noch nicht niedergerissenen Häuser krähten, die zwischen den Hochhäusern verstreut standen, und atmeten die feuchte Luft, die durch das unverkittete Fenster hereindrang.

Das war ihr erstes Treffen gewesen. Sorin war ganz und gar rot und seine Hände zitterten, während er ihr die Bluse aufknöpfte, sie hatte diesen gierigen Blick bei ihm noch nie gesehen, was ist? hatte er sie gefragt, schämst du dich vor mir? Sie hatte genickt, hatte ihr Gesicht mit dem Ellbogen bedeckt, in ihren Körper war ein scheues Mädchen getreten, das noch nie nackt vor einem Mann gestanden hatte. Sie hatte sich verängstigt die Bettdecke umgeschlungen, um sich zu bedecken. Was hast du?, fragte er noch einmal, seine Wangen brannten und sein Blick war misstrauisch und ängstlich. Als das Bett quietschte, hielt er wieder inne, zitterte, seine Schultern waren schmal und seine Arme hatten dünne Muskeln wie bei einem Jungen, der nicht genug Gymnastik gemacht hatte. Ein seltsames Mitleid überkam sie, als er sein Gesicht in ihrem langen, weichen Haar vergrub. Auch ihr Lachen veränderte sich, war plötzlich besänftigt. Sie ließ ihre Hand hinabgleiten, streichelte seinen Bauch, nahm sein heißes und hartes Geschlecht in die Hand, im grauen Nachmittagslicht. Sie sah sich, gab sich hin mit lustvoll geschlossenen Augen.

Sie würde seine Worte später in der Tram, im Bus vor sich hin sprechen und sich vorstellen, wie er sie gesehen hatte, als er sie ihr zuflüsterte. Wie wunderbar ist das, wie wunderbar, würde sie immer wieder sagen und dabei eigentlich nur an sich selbst denken.

*

»Fängst du?«

Sorin warf ihren Rock auf die kalte Heizung. Der erste wässrige Schnee Anfang November, er hat sich auf den Dächern der winzigen Häuser zwischen den Blocks abgesetzt, der Raureif liegt im schwarzen Geäst der Bäume mit weißfiedrigem Laub. Es zieht vom Fenster her und keine sorgsame Frauenhand hat dort ein Tuch um den Fensterrahmen gelegt.

»Es tut mir leid, aber außer ein paar Stunden in dieser Junggesellenwohnung am Arsch der Welt kann ich dir nichts bieten, Verehrteste«, hatte Sorin bei ihrem ersten Treffen hier verlegen gesagt.

Und sie hatte geschwiegen und in seine hellen Augen geblickt. Gleichgültig? Gerührt? Zufrieden mit seiner zärtlichen Ironie? Etwas von allem.

Am Anfang hatten sie in der Wohnung nur eine Luftmatratze gehabt, einen Tisch und den Körper des anderen, der im gnadenlosen Tageslicht Falten warf, mit zerzaustem Haar, kalten Füßen und dem sauren Atem des ersten Augenblicks, als sie sich küssten.

Und gemeinsame Nächte hatten sie nur wenige gehabt in all den Jahren.

Um einzuschlafen, musst du den anderen verneinen, musst ihn von dir ablösen und ihn in die nächtliche Maschine des Schlafes werfen, die ihn verdaut und ihn in einem wirren Traum zerkaut, ihn mit dem Gesicht anderer Figuren aus deinem Leben maskiert. Zieh langsam deine Arme, Beine, deinen tauben Rumpf zur Seite, befreie dich von ihm und dann vergiss ihn bis zum Erwachen. So schlafen meistens die, die ein langes Leben als Paar vor sich haben, bei dem sie oft alleine sein werden. Die Frischverliebten schlafen mit ineinanderverschränkten Körpern, wissen im Schlaf um die Nähe des anderen, und ihre Träume bringen ihnen im Schlaf den Partner zurück.

Weil beide erwarteten, dass alles von einer Woche auf die andere zu Ende sein könnte, nahmen ihre Treffen die Farbe eines kurzen Glücks an, das ebenso vergänglich war wie das Vergehen der Stunden, was mit ihren Gewohnheiten nicht übereinstimmte. Sie liebten sich mehrere Male, aßen zusammen Herrmannstädter Salami und Räucherschinken mit Brot, tranken, verwechselten ihre Gläser, sie zogen einer nach dem anderen an derselben Zigarette, umarmten sich, und während ein Bein einschlief oder ein Arm, der unter dem Körper des anderen lag, sprachen sie über die Ereignisse im Gebäude.

Aber es gab auch Momente, und sie waren zu lang für das bisschen Zeit, das sie gemeinsam hatten, in denen sie schwiegen. Sie wagten es nicht, alles auszusprechen, was ihnen durch den Kopf ging, um den anderen nicht zu verletzen oder zu verlieren. Oder weil man, indem man schweigt, das Schweigen lernt. Und der See wechselte dauernd die Farben je nach Jahreszeit und Stunde. Zum Sonnenuntergang sah er aus wie eine große, rot entflammte Silberschale. Jetzt, wo der Winter da ist, glitzert er, ist überzogen mit einer silbrigen Kruste. Weiße Bäume mit Eislaub stehen um ihn herum, und vom Ufer sind die Angler verschwunden.

Aber sie werden wiederkehren, wenn der Frühling kommt, und Letitia und Sorin werden immer noch hier sein, ein oder zwei Mal die Woche werden sie hier sein.

Kapitel 2 Tanzpartys

»Tanzt du mit mir?«, fragt Sorin jedes Mal, wenn aus dem Magnetophon der Nachbarn Frank Sinatras Stimme schallt, es ist immer dasselbe Band, es fängt an mit All of me, why not take all of me …

Damals, als sie nur Kollegen gewesen waren, hatte Sorin Letitia bei den Betriebsfeiern immer als Erste aufgefordert. Das letzte Mal hatten sie öffentlich bei Sorins Geburtstag getanzt. Sorin hatte sie damals alle bewirtet wie bei einer Party zu Hause, russischen Stalinskaya-Wodka und Moskovskaya, dazu noch einen polnischen Wodka mit einem Bisonkopf auf dem Etikett und einem aromatisierenden Grashalm, der darin konserviert lag. Dalida, Édith Piaf, The Platters, The Beatles, Charles Aznavour schallten durch die geöffneten Fenster bis hinaus zur Lenin-Statue vor dem Gebäude. Man blätterte durch die Paris Match von vor acht Monaten und sprach über Tarkowskis Rubljow. Alle anspruchsvollen Leute waren verwirrt von der Modernität des Drehbuchs und vom Exotismus dieser bizarren Orthodoxie aus dem Kino gekommen, die eigene Orthodoxie schien dagegen rudimentär, dafür aber entspannt.

Und Sorin tanzte mit großen Schritten, hielt wie immer seinen abgeschotteten, in Kleider und konventionelles Gehabe gehüllten Körper zu dem seiner Partnerin auf Abstand. Aber sie bewegten sich beide wie in einer heißen Kugel und der Blick und die Berührung des anderen brannten. Selbst als sie ihre Tanzpartner gewechselt hatten, spürten sie im Rücken die Bewegungen des anderen, die heiße Kugel isolierte sie im Gelärme, vom Rauch, von der Musik.

Jetzt forderte er sie nicht mehr auf, nur noch in der Wohnung von Freund Florinel. Er hält sie fest, sie ist nackt, er zur Hälfte entkleidet, durch die hängende Baumwolle seiner Einheitsunterhose fühlt sie seine Erektion, your goodbye left me with eyes that cry. Sorin hat nie im Wohnheim gewohnt, seine Eltern hatten ihm ein Souterrain-Zimmer in der Stadt gemietet, also hatte er nicht Tag für Tag die vielfache Nacktheit in der Gemeinschaftsdusche gesehen. Er kann auch seinen Körper nicht sich selbst überlassen, ihn von außen betrachten. Jedes Mal, wenn sie mit Sorin tanzt, ist Letitia wieder verwundert über seinen Körper, der immer heißer wird, sobald man ihn seiner Kleider entledigt, take my lies, I want to lose them, take my arms, I never use them. Er lacht und drückt ihr das lebende, wachsende Knäul gegen den Bauch, tut’s weh? Er lacht und drückt noch fester, I know that I can be beggar, I can be king, das Eisengeschlecht wird ihr das Schambein sprengen, um einzudringen, sie stöhnt mit zusammengebissenen Zähnen, er lacht, weißt du denn auch, was Schmerz heißt?

*

Weil Letitia durch ihre Gleichgültigkeit geschützt ist, während der arme Sorin angreifbar und ausgeliefert ist. So beschreibt er das Kräfteverhältnis in ihrer Beziehung während der wenigen Momente der Entspannung. Eine Hand streicht über ihre Brüste, die andere streckt sich nach dem Cinzano-Glas neben dem Bett. »Unsere Beziehung negiert einfach meine komplette Lebensstrategie, der beste Beweis dafür, dass ich abhängig von dir bin«, flüstert er. »Ich bin abhängig von dir«, murmelt sie zärtlich. Sie glaubt, dass sie zärtlich ist, sie glaubt auch, dass sie übertreibt, wenn sie sagt, sie wäre abhängig von ihm. Und während sie ihre Fingerspitzen über seine zarte Haut wandern lässt, aus der ab und zu ein blondes, geringeltes Haar wächst, wundert sie sich nach so vielen Jahren noch immer, dass sie jetzt nicht auf Petrus pelzige Brust trifft. »Du bist abhängig von dir selbst«, antwortet Sorin bescheiden. Es wird die Zeit kommen, in der sie merkt, dass sie nur von ihrer eigenen Vorstellung abhängig ist, so wie es ihr mit Arcan passiert ist, das geht Sorin jedes Mal wieder durch den Kopf.

Er weiß, wenn er in ihre Augen sähe, die in den durchscheinenden Nebel über dem See starren, würde er darin die Angst sehen, dass sie auch an diesem Tag, der zu den sicheren zählt, Gott bewahre!, schwanger werden könnte. Als Letitia ihm erzählt hat, dass ihr Mann sie an den fruchtbaren Tagen nicht anrührt, um sie vor einer heimlichen Abtreibung zu schützen, hat er ihr geglaubt. Er hatte so einiges über die Abenteuer des Universitätslektors Arcan mit seinen Studentinnen gehört, aber er hatte Letitia gegenüber nie eine Anspielung auf die Treulosigkeit ihres Mannes gemacht, warum die Sache noch zusätzlich verkomplizieren? Er war eine vorsichtige und diskrete Person, alle kannten ihn so.

Eine seltsame Trübung, eine Mischung aus Schmerz, Ärger und Erregung überkam ihn, wenn er seiner Phantasie freien Lauf ließ und sie mit gespreizten Beinen vor sich sah, wie sie unter dem großen und immer korpulenteren Mann erdrückt wurde, dem er bei ein paar Parteiversammlungen auf Hauptstadtebene begegnet war. Manchmal, wenn er den Druck des Blutes im Hirn und in den Hoden nicht mehr ertrug, führte er seine Hand zum Hosenschlitz, während ein Porno mit einer Letitia lief, die auf alle Seiten gedreht wurde, vergewaltigt wurde, den Hintern erhoben, den Mund geöffnet, in Positionen, in die er sie gerne gebracht hätte, es aber nicht wagte. Er kämpfte mit diesen Bildern, sie erschöpften ihn, und er war angewidert von sich selbst wie dann, wenn ihm der warme Geruch seiner Eingeweide in die Nase stieg.

*

Jeden Monat gibt es einen Geburtstag, der mit einer Party zum Feierabend begangen wird, Havana Club, Kaffeelikör, Ananaslikör, Mandellikör, Brote mit Dobrogeakäse und Prager Schinken, Murfatlar-Wein, Azuga-Bier und Taaanz! Ab und zu aber schlägt der Ärger des großen Genossen ein wie ein olympischer Blitz und die Aufrechterhaltung der Disziplin geht zuallererst mit der Maßnahme einher, in allen Einrichtungen den Alkoholkonsum zu verbieten. Aber selbst dann kommen die Geburtstagskinder zwei Stunden später an und bringen zwei Schachteln Schokoladenpralinen mit krümeliger Fondant-Füllung mit. Die Frauen erfüllen die Büros mit dem Duft ihrer Parfüms namens Farmec oder Soir de Paris und mit dem kleinen Geticke ihrer Schuhe von Guban, und die Kollegen machen ihnen Komplimente für das neue Kleid. Auf dem Schreibtisch des Jubilars stehen Blumen in Milchflaschen bereit und das Geschenk, für das man gesammelt hat: Stoff für eine Hose oder Pullover für die Männer, Naturseide für ein Kleid oder Stoff für einen Rock für die Frauen, Pelikan-Füller für Kollegen beiderlei Geschlechts. Küsschen, Glückwünsche, die gestandeneren Männer versuchen, die Gefeierte ein Weilchen länger im Arm zu halten, und geben sich väterlich-jovial, und jeder mischt sich für die Zeit, in der er seine zwei oder drei Pralinen kaut und von einem Fuß auf den anderen tritt, in ein Gespräch über Fußballspiele und die neuesten Filme im Kino ein. Kommen Sie mal wieder vorbei, flüstern die Kollegen dem Geburtstagskind komplizenhaft zu.

Gegen Mittag bringt dann ein Familienmitglied eine Tasche mit Wein und Cico-Limonade, selbstgemachtem Kuchen, Broten und einem Päckchen Snagov-Zigaretten. Die Kaffeetassen werden mit Wein gefüllt, greifen Sie bitte zu, und auch ein Stückchen Kuchen, ein Sandwich. Introvertiertere verkrampfen sich auf einem Stuhl, rauchen eine aus dem angebotenen Päckchen, der Gastgeber hat je nach Alter entweder ein Tesla-Magnetophon mit Rock, Twist oder Cha-Cha mitgebracht oder einen Plattenspieler mit Tango, Walzer und Foxtrott.

Langsam wird die Stimmung ausgelassen, man wählt das beste Tanzpaar, die alten illegitimen Paare verfolgen sich mit eifersüchtigen oder verschwörerischen Blicken und merken gar nicht, wie man in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes mit gedämpfter Stimme über sie spricht, während die Männer über fünfzig nach ein paar Tassen ihren familiären Gehorsam betrauern. Elvis Presley, Tom Jones, Aznavour, Adamo, Mireille Mathieu ertränken die vom Rauch gereizten Augen in klebriger Gefühligkeit. Es reicht aus, dass einer zufällig seine Augen auf die anderen richtet, um sich selbst auf groteske Art vervielfacht in ihren pathetisch leidenden Blicken wiederzufinden.

*

Nur die Chefs erlauben sich Abweichungen vom Protokoll. Zu Eleonora Opreas Geburtstag werden die Rosen, Nelken, Chrysanthemen mit kleinen verschlossenen Umschlägen versehen, die zwischen den Blättern stecken. Manche der unabhängigen jungen Mitarbeiter stecken Eleonora Dunhill- oder Kent-Päckchen zwischen die Blätter, die sie auf dem Schwarzmarkt erstanden haben. Die Sekretärin erzählte, in einem Jahr wären die weißen Fresien sogar von einem Armreifen aus massivem Silber zusammengehalten worden. Nach mehreren Verdächtigungen wurde die Abteilungschefin entlarvt, die mit ihren Untergebenen morgens nach Hause zu Eleonora gegangen war, um die Glückliche mit Sekt und einem Tonband mit Mircea Crişans Witzen zu wecken.

Der Bruch zwischen Eleonora Oprea und Titus Marga wurde für alle offensichtlich, als der Mitarbeiter der Direktorin Bier und Blätterteigteilchen von der Dobrogeana-Bäckerei mitbrachte, die vor Kurzem in der Nähe seiner Wohnung in der Hristo Botev aufgemacht hatte.

»Titus will seine Ära als volksnaher Direktor beginnen«, sagte Sorin und lachte wiehernd. »Aber warum vertue ich deine kostbare Zeit mit diesem ganzen Unsinn?!«

Er streichelte Letitias rötlich braune Strähnen, die sich auf dem mit Watteklumpen gefüllten Kissen ringelten, und sie schüttelte sich wie gewöhnlich. Sie fühlte sich gestört von jeder fremden Hand, die ihr durchs Haar strich, aber auch davon, dass Sorin wie besessen war von dem ganzen Gerangel am Institut. Um ihn zu entschuldigen, sah sie in ihm den kleinen Jungen, den leidenschaftlichen Fan bei diesem in die Verlängerung gegangenen Wettkampf zwischen den Foren, die Propaganda und Kultur regelten: Eleonoras Mannschaft vom Ministerium und Titus’ Mannschaft vom Zentralkomitee.

*

Trotzdem zieht Letitia es vor, Sorin über den Krieg im Institut reden zu hören, als von ihm getestet zu werden, ob sie sich noch mit jemand anderem trifft. Am Anfang fand sie seine Eifersucht schmeichelhaft. Aber der Unmut, den der Mann, der am anderen Ende der Stadt auf sie wartete, mit verkniffenen Augen zurückhielt, erwies sich als ansteckend. Dann ging sie immer seltener mit den Kollegen ein Bier trinken, wenn Sorin nicht auch dabei war. Und da es mit seinen Befragungen weiterging, vermied sie es, Zeit in den Literaturredaktionen zu vertrödeln, als könnte er sie durch die Wände beobachten. Aber auch so konnte sie ihn nicht überzeugen, dass ihr Leben nur noch ein langweiliges Hin und Her zwischen zu Hause und der Arbeit war, so ist es ja auch. Sie tröstet sich nur damit, dass seine inquisitorischen Fragen ihr beweisen, dass sich in all den Jahren nichts zwischen ihnen geändert hat.

Sorin scheint auf ihren Mann nicht eifersüchtig zu sein. Aus Aufrichtigkeit und Zartheit, denkt Letitia. Oder weil er merkt, dass ihre Ehe mit Petru im Grunde beendet ist. Oder er fürchtet sich vor dem Skandal einer möglichen Scheidung und ihre provisorische Beziehung erscheint ihm bequemer als jede andere, das geht ihr durch den Kopf, wenn sie von ihm enttäuscht ist.

*

Wenn sie allein zu Hause ist, nimmt Letitia gleich ihr geheimes Heft heraus: Ich mag es, dich so zu halten, nackt, ganz fest, als würde ich wollen, dass du unser einziges Fenster nicht mehr siehst, das sich zu dieser Stadt hin öffnet, von der wir beide in unserer Provinzjugend geträumt haben. Um uns herum die kleinen Häuser der Bukarester Vorstadt mit Weinranken und Robinien, an die sich alte Zäune aus schiefen Pfählen lehnen. Der Schnee ist in diesem hellen Februar geschmolzen und die grünen Keimlinge des Rapses sind bereits gesprossen. Wieder kommt ein Frühling, und wir zwei sind immer noch hier und es ist, als hätten wir noch nie Liebe gemacht, mit niemandem, und jetzt würden wir diese unvermeidliche, peinliche Sache erst entdecken. Und dann werde ich mich tagelang krank fühlen, mich an dein Geschlecht erinnern, und wie du dich aufrichtest, um es zu betrachten, während du es immer schneller, immer tiefer in mich hineinstößt. Und ich liege im Bett, erinnere mich an deine warme Schwere und deine Finger, die du in meine Schultern bohrst, wenn deine Augen plötzlich ihren Blick verändern, der schneidend wird, und dann lässt du dich weich auf meine Schulter sinken. Und auf einmal verstehe ich, dass du esso auch mit anderen Frauen schon getan hast, es widert mich an, mir das vorzustellen, und ich hasse dich und ich weiß, dass auch du dich fragst, wie und mit wem ich jetzt gerade schlafe.

Letitia ist sich bewusst, dass aus solchen Notizen kein Roman werden kann. Und sowieso könnte sie ihn nicht veröffentlichen, ohne Sorin Schaden zuzufügen, der ihr, großzügig, wie er ist, den Rat gibt, zu schreiben.

*

»So viel Köpfchen wirst du doch haben, Lety, um vom Waffenstillstand zwischen dem Genossen und den Schriftstellern zu profitieren! Du merkst ja, was die grade für einen Auftrieb kriegen, wo er ihnen einen Arbeitsort in einer Villa gleich neben seiner Villa gegeben hat! Aber als er sie zum Sozialistischen Realismus zurückführen wollte, da sind ihm die Schriftsteller an die Kehle gegangen! Ich glaub, das ist das letzte Mal, dass er ihnen einen Besuch in dieser Villa abgestattet hat! Die verbotenen Bücher, das bleibt jetzt so, aber bei den anderen, neuen, du wirst schon sehen, die werden durchgewinkt, vielleicht mal eine kleine Drohung oder ein Skandälchen, ein Eingriff, die kommen schon zurecht! Also schreib deine Geschichten endlich zu Ende, wo dir der Verlag schon versprochen hat, sie mit ins Programm zu nehmen! Und dann bete zu Gott, dass dem lieben Genossen nicht noch ’ne neue verrückte Idee kommt, und dann feiern wir dein Debüt!«

Mit der einen Hand streichelt er sie väterlich, mit der anderen schenkt er den Cinzano ein, den er an der Kaderschule der Partei gekauft hat, wo er eine Auffrischung absolviert hat, das, was man dreißig Jahre später Training nennen wird. Und Letitia sieht verärgert aus dem Fenster. Sie weiß, wenn sie die Treppe runtersteigen wird und zur Bushaltestelle geht, dann wird das, was von hier oben wie ein See aussieht, sich in eine armselige Pfütze Brackwassers verwandeln, umstanden von Tollkirschen und Disteln. Und das ganze Debütfeiern wird nur ein weiteres Treffen in der Wohnung von Freund Florinel sein. Und sie werden nur tanzen, falls der Nachbar sein Magnetophon anschaltet. I can be happy, I can be sad / I can be good or I can be bad / It all depends on you.

Frank Sinatras Stimme ist manchmal so deutlich von den Nachbarn zu hören, als stünde das Magnetophon auf dem Tisch, neben dem Sorin und Letitia sich hastig ausziehen. Sie versteht nicht alle Wörter, sie bekommt es nicht mehr hin, ernsthaft Englisch zu lernen, seit sie angefangen hat, in Literaturzeitschriften zu publizieren, du, ich weiß einfach nicht wann!, sag du mir, wann ich dazu Zeit haben soll!, so hat sie vor Längerem Petru ihr Leid geklagt.

»Deine Sache, ob du dir Zeit dafür nimmst! Ich hab nur gesagt, ohne Englisch kommst du drüben nicht durch«, war seine ungehaltene Antwort.

*

Petru kommt immer später nach Hause. Wenn sie den Schlüssel in der Tür hört, stopft Letitia schnell das Heft unter die Matratze und das falsche Lächeln gefriert auf ihrem Gesicht, sobald sie seine verärgerte Miene sieht: Hat er etwa das mit Sorin herausgefunden? Sie beeilt sich, das Tischtuch auszubreiten, aber meistens murmelt er, er wäre müde, er hätte schon gegessen, er hätte zu tun. Egal, wie schnell er in sein Arbeitszimmer geht, sie riecht die Alkoholfahne doch. Manchmal stolpert er fluchend über die mit Schnur verknoteten Buchpakete, die auf dem Flur zum Badezimmer in Stapeln herumliegen, bevor er schnurstracks in sein Zimmer läuft, um mit der Weinflasche neben sich zu arbeiten. Die Bücherstapel geben der Wohnung den Anstrich eines Provisoriums, in das sie sich vor so langer Zeit begeben haben, dass schon lang ein neues Regal des Dana-Regalsystems hätte gekauft werden können.

In der letzten Zeit ist Petru schlecht gelaunt, weil von seinem möglichen Aufenthalt in Deutschland, in Bochum, nichts mehr zu hören war. Wer hat da seine böse Hand im Spiel? Serioja Sârbu, der Playboy hier im Primaverii-Viertel? Oder Dănuț Iliescu, um die Gefängnisjahre seines Vaters einzulösen? Oder ist es Manuelas politisches Asyl oder die dreckige Akte der Familie Branea, Letitias Mitgift? Oder kommt alles von seinem idiotischen Aufenthalt in China?

Petru ist seit einiger Zeit ein Nervenbündel und er streitet sich die ganze Zeit mit Letitia. Aber wäre sie dazu imstande, drei Jahre nach drüben zu gehen? Zu gehen und Sorin hier zurückzulassen? Was will sie eigentlich?

*

Sorin ist unfähig, der Aggressivität der Leute anders zu begegnen als mit einem ironischen Lächeln, das er wiederum durch eine hastige Versöhnungsgeste auslöscht. Letitia kommt es so vor, als würde sie in ihm ihren Onkel Ion wiedererkennen, der ihr damals den Vater ersetzt hat, bis eines Nachts sein vom Misserfolg erschöpftes Herz explodierte. Sogar Sorins Büro voller aufgeschlagener Zeitungen und die Fieberhaftigkeit, mit der er dazu Kommentare von sich gibt, erinnern sie an die Abende, an denen Onkel Ion und sein Bruder Biță beim stechenden Geruch des Gasherds in der Sommerküche im Hof flüsternd über Jalta und Genf diskutierten.

Darum kommt Letitia Sorins Loyalität, diese arme nackte Insel umgeben von drohenden Wogen, so vor wie das einzige Stück Boden, auf dem sie sicheren Schrittes gehen kann. Aber in der Teestube beneidet sie die Paare, die ihre Hände ineinander verschränken, die aus demselben Glas trinken und sich mit Blicken suchen, wenn sie mal eine halbe Stunde voneinander getrennt sind. Und sie beide! So viele Stunden zusammen im Gebäude, nur ein paar Türen voneinander entfernt, sein Leben ist dabei für sie genauso wenig sichtbar wie für die anderen, aber es wird übergroß in ihrer Besessenheit, es umgibt sie wie die Porträts des Genossen und verschlingt alles um sie herum. Und es kommt ihr immer unverständlicher vor, je mehr Einzelheiten sie erfährt.

Nichts scheint Letitia interessanter auf dieser Welt, als zu wissen, was Sorin tut, jede einzelne Minute. Ihre Gedanken kehren immer wieder zu ihm zurück, obwohl sie verzweifelt versucht, ihn zu vergessen.

Sie ist auch überzeugt, dass der tägliche Besuch Sorins in ihrem Büro nicht nur die letzte Station auf der täglichen Runde ist, sondern ein Beweis seiner leidenschaftlichen Zuneigung. Darum liegen die Tage, an denen er es nicht bis zu ihr schafft, wie tot vor ihr, wie ein Zahn, dem der Nerv gezogen wurde.

*

Und da ist das bescheidene Klopfen an der Bürotür, das Letitia als Erste hört, denn sie wartet schon lange darauf. Sie leert den Aschenbecher voller Stummel im Mülleimer aus, geht das Fenster öffnen und stützt ihre geballten Fäuste auf den kühlen Marmor des Fensterbretts. Durch den Nebel, der das Büro erfüllt hat, spürt sie seine Gegenwart, die überzeichnet ist durch das Verbot, sich ihm zu nähern. Sie ist selbst verwundert über die Spannungsblitze, die sie von der Brust bis unter den Bauch durchfahren, wie wenn sein großer weißer Körper erregt ist, zu brennen beginnt, sein Geschlecht unter ihrer unerfahrenen Hand zu wachsen beginnt. Sie sieht aus dem Fenster, ist gedemütigt, weil sie ihre Regungen unter Kontrolle halten muss und ihren Blick, der so geschmeichelt ist davon, dass der interessanteste Mann im Institut dieses Theater mit ihr spielt, nur um eine Viertelstunde gemeinsam mit ihr die vom Qualm der filterlosen Amiral- und Carpați-Zigaretten erfüllte Luft zu atmen. Die geheime körperliche Nähe hat sie auf der Ebene ihrer Eingeweide miteinander verbunden und sie spürt innerlich, wie Sorin verzweifelt versucht, sein Gesicht ruhig zu halten. Aber kein Muskel in Letitias Miene verrät den Widerwillen, mit dem sie die phrasenhafte Unterhaltung ihrer Kollegen erträgt.

*

»Trotzdem, wann wird der Direktor ernannt?«

»Glaubst du denn, Sorin, dass unsere zwei, Titus und Eleonora, irgendeine Chance haben?«

»Willst du ihn jetzt fragen, wer von denen eine Chance hat?«

»Ausgerechnet Sorin hast du dir dafür ausgeguckt? Der Mann mit dem Vorhängeschloss vorm Mund!«

Es ist ein Büro mit wohlerzogenen Leuten, mit vorhersehbaren Sprüchen: Einer wirft den Ball und der Gast fängt ihn ordentlich auf und wirft ihn zurück, schwupp, schwupp.

»Wenn nicht beide von ihnen eine Chance hätten, würden wir doch darüber nicht mehr reden!«

Olarus Antwort war wie immer rätselhaft: »Ja und Nein. Auch wenn ich Zugang zu den Parteigeheimnissen habe, erwartet nicht, dass ich hier den Krieg im Institut nähre.«

»Haben Sie noch was wegen der untersagten Bücher gehört, Genosse Olaru?« Harry Fischer, der Gelehrte des Instituts! Mit einer zerfressenen Aktentasche voller Abhandlungen, die er zwischen Arbeit und Zuhause hin und her schleppt. Für sie ist er hiergeblieben, als seine Eltern und Geschwister nach Israel gegangen sind, sagen manche. Gheorghe Gheorghe, der Parteisekretär aus der Reihe der Arbeiter, wie er selbst sich bei den Sitzungen vorstellt, oder Securitate-Offizier, wie Sorin Letitia zugeflüstert hat, sagt Fischer oft lachend ins Gesicht, er sei ein Mossad-Agent. Die Art Witze, die auch die schlaue Dorina fabriziert. Aber Harry Fischer lacht, wenn er das hört. Und was ist er dann eigentlich? Naiv? Gedankenlos? Provokant? Besser, man hat mit Fischer nichts zu tun, sagen die Vernünftigen.

Sorin bittet um eine Zigarette, verschluckt sich am ersten Zug, hustet, die anderen lachen, ein Glas Wasser verdammt, der Mann erstickt noch! So, die Frage ist vergessen!

Aus dem offenen Fenster gelehnt betrachtet Letitia die Beete mit den duftlosen roten Blumen, die um die Lenin-Statue angelegt sind.

*

Lenin ist heute noch lebendiger als zu Lebzeiten.

Auf der Postkarte mit dem Foto des jungen Lenin, die Harry Fischer seinen Kollegen aus Moskau geschickt hatte, hatte er Majakowskis Vers ins Rumänische übersetzt: Lenin ist heute noch lebendiger als zu Lebzeiten. Er wusste, dass nur noch wenige sich an das kyrillische Alphabet erinnern würden, das in den obligatorischen Russischstunden so schwer erlernt worden war, während man mit Knöpfen Fußball spielte, schweinische Bemerkungen über die Klassenkameradinnen flüsterte und Papierflugzeuge zum Lehrerpult schickte.

Der Ausflug in die Sowjetunion über die ONT, das nationale Tourismusbüro, sollte seine einzige Auslandsreise bleiben. Bald würden seine letzten Verwandten die Ausreisebewilligung nach Israel bekommen und all seine späteren Anträge auf Reisen ins Ausland würden abgewiesen. Majakowskis Verse würden in seiner Akte genauso wichtig sein wie die unvorsichtigen Fragen, die er im Büro in die Runde warf.

Die Postkarte wurde von den Kollegen mit derselben Gleichgültigkeit behandelt wie deren Absender, wurde von Schreibtisch zu Schreibtisch geworfen, bis sie im Papierkorb landete. Dort fischte sie die aufmerksame Putzfrau heraus und übergab sie dem Kader Gallotschik. Und dieser übergab sie dem Securitate-Offizier in Zivil Ludovic Vistig, dessen letzter Arbeitsauftrag vor der Rente die geheime Überwachung des Instituts war.