Das Regenbogental - Eckhard Peters - E-Book

Das Regenbogental E-Book

Eckhard Peters

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Beschreibung

"Wer sich weigert aus der Geschichte zu lernen, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen" George Santayana (1863-1952) Das sagen sich auch die neun Freunde, die durch einen glücklichen Umstand plötzlich in die Lage versetzt werden, ihren Traum von Gesellschaft, wie sie sie sich vorstellen, in die Tat umzusetzen.Leider kommt ihnen dabei ein Mädchenhändlerring in die Quere, was aber eher motivierende Auswirkungen auf die neue Gemeinschaft hat.....

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Eckhard Peters

Das Regenbogental

Für meinen Sohn Daniel, und alle die noch nach uns kommen. Auf das sie die Hoffnung nicht aufgeben und den Glauben an die Liebe nicht verlieren.BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Das Regenbogental

 

 

Das Regenbogental

 

 

 

Roman

 

 

 

 Der Weg, der gezeigt werden kann, ist nicht der ewige Weg.

Der Name der sich aussprechen lässt, ist nicht der ewige Name.

Ein Namenloses ist der Anfang von Himmel und Erde

 

 

 

Laotse

 

 

 

 

 

 

 

1

Es war Frühling, und die Fenster im Turm standen weit offen. Der Duft des blühenden Akazienbaums, der durch die offenen Fenster dezent hereinströmte, war unbeschreiblich. Peter saß an seiner Nähmaschine und schmuste mit seinem rot getigerten Kater, der ihm wie so oft beim Nähen zugesehen hatte. Er fand es hochinteressant, die Bewegungen der Maschine während des Nähens zu beobachten. Den schnurrenden Kater im Arm ging Peter zu den drei Fenstern, die nach Südwesten hinaus gingen und genoss die Aussicht. An klaren Tagen wie heute konnte er bis weit in die Eifel sehen.

Seine Gedanken waren noch bei dem Traum, als er aufwachte. Nur widerwillig ließ er ihn los, drehte sich erst noch ein paar mal um und schwelgte in den letzten Bildern dieser Parallelwelt, bevor er sich auf den Weg zu seiner Werkstatt machte. Es liebte diesen Traum, der immer wieder in verschiedenen Variationen zu ihm kam, und beim Aufwachen immer ein wehmütiges Gefühl hinterließ.

Während der Fahrt zu seiner Werkstatt dachte er an die Zeit, als er noch in seiner Lieblingswohnung gewohnt hatte, einem Turm, der an eine alte Villa am Rhein angebaut war. Meistens träumte er von der Zeit im Frühling, wenn die Akazie neben dem Turm in voller Blüte stand und er sämtliche Fenster die zur Seite der Baumkrone hinausgingen, sperrangelweit aufgemacht hatte, um den Duft herein zu lassen.

Damals hatte er die Hälfte des oberen Stockwerks gemietet, an die der Turm angebaut war. Es war der beste Teil der Villa gewesen, den er gemietet hatte, aber auch der mit den meisten Mängeln.

Ruth, die die andere Hälfte der obersten Etage schon bewohnte, hatte ihm die Wohnung vermittelt. Die Villa hatte leer gestanden, und die Wohnungen waren ziemlich heruntergekommen. Die Turmwohnung besonders.

Sie hatten damals dem Vermieter angeboten, die Wohnungen selbst in

Stand zu setzen und dafür nur eine geringe Miete zu zahlen. Mit seiner Wohnung hatte er die obersten zwei der vier Stockwerke des Turms mitgemietet. Altbau, herrlich hohe Räume und unglaublich schlecht zu heizen. Überhaupt, Heizung war gar nicht vorhanden gewesen. Sie hatten alles mit Öfen geheizt.

Er musste unweigerlich grinsen, als ihm wieder vor Augen stand, wie sie die Öfen herbeigeschafft hatten. Zwei Öfen hatte er in einem alten Abbruchhaus gefunden. Zu fünft hatten sie die Riesenteile in die Wohnung geschleppt, einen alten Küchenkombiofen, die eine Hälfte mit Feuer zu Heizen, die andere Hälfte mit Strom zu betreiben, wahrscheinlich einer der ersten Elektroöfen aus den Zwanziger Jahren, und ganz im Stil der damaligen Zeit. Der andere ein riesiger Ofen, in dem man sogar Eierkohlen verbrennen konnte. Den hatten sie zu siebt in die oberste Etage des Turms getragen, in seine Werkstatt. Die Öfen hatten für ausreichend Wärme in den nicht isolierten Räumen gesorgt. Der Dritte im unteren Turmzimmer war schon da gewesen.

Mit einem leichten Glücksgefühl musste er auch in diesem Zusammenhang an sein erstes selbstgebautes Hochbett denken. Am Fuß des Hochbetts hatte ein Philodendron gestanden der im Lauf der Jahre am Bett hoch gewachsen war, und über das Bett wie ein Baldachin, und dann sogar geblüht hatte.

„Ich wusste gar nicht, dass die blühen können“ hatte Natali damals gesagt.

„Ich auch nicht,“ hatte er geantwortet.

Es hatte irgendwie etwas magisches gehabt. Für ihn und Natali war der blühende Philodendron ein Beweis für die Intensität ihrer Liebe gewesen. Eine der vielen guten Zeiten in seinem Leben für die er wirklich dankbar war, die das Leben lebenswert machten, trotz aller Widrigkeiten.

Mit diesen Erinnerungen konnte er sich wieder runter holen, wenn die Wirklichkeit ihm mal wieder unerträglich wurde.

So wie gestern Abend, als er eines dieser Magazine im öffentlich rechtlichen Fernsehen gesehen hatte. Er hatte es sich mal wieder angetan, obwohl er wusste, dass ihn die hervorragend recherchierten Beiträge regelmäßig traurig oder wütend machten.

Er war ja froh in einer Gesellschaft zu leben, in der solche Reportagen überhaupt gezeigt wurden, aber das Bestmögliche war immer noch weit entfernt von seiner Idealvorstellung einer gerechten Gesellschaft.

Diesmal war es um Altersarmut gegangen. Wie konnte es sein, dass Politiker und Staatsbedienstete mit ihrer Pension mal locker das drei, vier oder fünffache der Rente eines normalen Arbeiters bekommen konnten, während der niemals mehr als Zweitausend neunhundert Euro bekommen konnte, wobei das nur auf einen geringen Prozentsatz zutraf. Die meisten konnten froh sein, wenn sie überhaupt in den vierstelligen Bereich kamen.

Oder wie sein Opa, der in diesem unseligen letzten Krieg der Deutschen seine Knochen hingehalten hatte und dann nach sieben Jahren Gefangenschaft in die hohle Hand geschissen bekam, weil die Versicherung nicht mehr existierte und sich sonst keiner für zuständig hielt, von wegen Rente.

Dann die Story über die Versicherungen und ihre Tricks, mit denen sie sich mit allen legalen Mitteln erfolgreich vor Schadenersatzzahlungen drückten. Das Schlimme daran waren aber eigentlich die legalen Möglichkeiten.

Die Gedanken an das Gesehene machten ihn noch immer zornig, so zornig wie die Gleichgültigkeit der Gesellschaft diesen Tatsachen gegenüber.

Das alte Hopi Sprichwort fiel ihm wieder ein, `wenn die Sinne überladen sind, stumpfen sie ab´, was allerdings nicht erklärte, das es so ne und solche gab, wie sein Opa immer zu sagen pflegte. Er hatte sich seine kritische Haltung jedenfalls bewahrt, hatte sich dem System nicht ergeben.

 

Mit zehn war ihm das erste Mal der Gedanke gekommen, dass er wohl irgendwie im falschen Film gelandet war. Er hatte ein Gefühl von beobachtet werden gehabt, so als wäre er ausgesetzt worden in einer fremden Welt, und jemand oder etwas beobachte nun, wie er sich wohl verhalten würde. Damals war er sich ziemlich allein vorgekommen. Immerhin wusste er heute, fast dreißig Jahre später, das er so alleine nicht war.

Aus den Augenwinkeln sah er im Vorbeifahren seinen Nachbarn mühsam sich den Berg hoch schleppen. Der Fünfundachtzigjährige war wohl ein bisschen dement und auch körperlich nicht mehr so ganz auf der Höhe. Sein Sohn war Zahnarzt, wie er von seiner Vermieterin gehört hatte. Aber gesehen hatte er ihn noch nicht, und besonders kümmern tat er sich offenbar auch nicht.

Peter hielt an und öffnete die Beifahrertür.

„Hallo, Herr Nachbar, kann ich sie mitnehmen? Ich glaube wir haben den gleichen Weg.“

„Ja, ja gern.“ Der alte Mann war sichtlich erfreut über Peters Aufmerksamkeit. Er war wohl gerade im Supermarkt gewesen nach den zwei prall gefüllten Einkaufstaschen zu urteilen mit denen er sich mühsam abschleppte.

„Geben sie mir die Taschen.“ Peter war aus seinem Wagen ausgestiegen, nahm nun die Einkaufstaschen entgegen, die der alte Mann ihm hereinreichte und wuchtete sie auf den Rücksitz.

Ein paar Minuten später kamen sie bei ihren Läden an. Der Laden des alten Mannes lag etwas unterhalb von Peters. Es war ein Andenkenladen, der wie aus der Zeit gefallen schien. Die Einrichtung des Geschäfts stammte noch aus den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, und die Auslagen waren teilweise aus den siebziger und achtziger Jahren, aus einer Zeit, als die Stadt Kyllburg noch „Bad“ hieß und eine vielbesuchte Touristenstadt mit allen möglichen Geschäften war.

Diese Zeiten waren allerdings längst vorbei. Die Geschäfte, die es heute noch in Kyllburg gab, konnte man an einer Hand abzählen, was ihm allerdings sehr entgegenkam, denn für sein Handwerk brauchte er keine Laufkundschaft. Er war Reitsportsattler, und er war der einzige in einem Umkreis von ca. hundert Kilometern. Seine Kunden kamen sowieso zu ihm, oder er fuhr zu ihnen, je nachdem. So betrug die Miete für seinen Laden, der mehr Werkstatt als Laden war, ganze fünfundsiebzig Euro, denn die Ladenbesitzer in Kyllburg waren froh, wenn sich überhaupt jemand fand, der einen Laden mieten wollte.

Gutes Gefühl, dachte er, als er seinen Laden betrat. Geben ist doch seliger denn nehmen, wie es so schön heißt, und seine düsteren Gedanken von eben waren auch weg.

Es war seine Art des Widerstands gegen eine zunehmend egomane Gesellschaft. Er machte auch Unterschiede bei seinen Kunden. Da gab es die siebzig Euro Stundenlohn Kunden genauso wie die zehn Euro Stundenlohn Kunden, je nach sozialer Stellung. Und bisweilen gab es auch schon mal den null Euro Kunden. Im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten versuchte er immer wieder dem gesellschaftlichen Ungleichgewicht entgegenzuwirken. Geld anhäufen langweilte ihn. Ihm reichte es, genug zum Leben zu haben, obwohl er nichts gegen viel Geld gehabt hätte, würden sich doch damit noch mehr Möglichkeiten eröffnen, Einfluss auf das Ungleichgewicht zu nehmen, aber die Summen, die man dafür benötigen würde, könnte er mit seiner Arbeit niemals verdienen.

In Gedanken ging er den Arbeitsablauf des heutigen Tages durch. Er musste noch eine Motorradsitzbank fertig beziehen und fünf Paar Zügel für ein Reitsportgeschäft in Bayern herstellen. Das war heute locker zu schaffen. Im Vorbeigehen schaltete er den Wasserkocher an, um sich später einen Tee zu machen und ging weiter zum Computer, um die E-Mails zu checken.

Nur ein kleiner Teil des Raums war als Laden eingerichtet. Der Eingangsbereich bis zur Ladentheke, das waren etwa sechs Quadratmeter, und natürlich die drei großen Schaufenster, die die komplette Front des Ladens einnahmen und von der Decke bis zum Boden reichten, wovon er allerdings nur eins als Ausstellungsfläche nutzte.

Mit Leder kannte er sich aus. Nach seiner abgebrochenen Schneiderlehre, die er im Gefängnis gemacht hatte und ungewollt abbrechen musste, weil er damals vorzeitig entlassen wurde, war er irgendwann an das Material Leder gekommen. Und das zu einem Zeitpunkt, als ihm Stoff als Material schon lange zu langweilig geworden war.

Seine erste Werkstatt kam ihm in den Sinn. Von einer Wohngemeinschaft in Bonn Oberkassel hatte er das Gartenhäuschen gemietet. Besitzer war Horst, Student pro Forma, aber eigentlich Mineralienhändler mit Leib und Seele. Heute war er einer der angesehensten Mineralienhändler der Welt und das Haus gehört ihm auch mittlerweile.

Er dachte grinsend an Gisela, die Physiotherapeutin, die alle Männer der WG mindestens einmal vernascht hatte, ihn eingeschlossen. Dem ging immer eine Einladung zum Tee ihrerseits voraus.

Und er dachte an die Werkstatt, ausgestattet mit einer alten Mundlos Nähmaschine aus dem zweiten Weltkrieg und einer Haushaltsmaschine, weil er damals nicht die Mittel hatte sich etwas anderes zu leisten.

Diese erste Werkstatt hatte er zusammen mit Ottmar betrieben, und mangels Geld hatte er auch in ihr gelebt. Den Zuschneidetisch hatte er gleichzeitig auch als Bett genutzt.

Die alte Mundlos war so ausgeleiert gewesen, das sie sie immer wieder neu einstellen mussten, wodurch er sich umfassende Kenntnisse über die Mechanik von Nähmaschinen verschaffte, was ihm heute noch zu Gute kam. Er hatte noch nie einen Mechaniker gebraucht.

Seinen ersten Flohmarkt hatte er mit einem riesigen Rucksack bestritten, den er sich vorher aus Lederresten zusammen genäht hatte und mangels Auto hin getrampt war.

Den Führerschein hatte man ihm nach seiner Haftentlassung von Seiten des Straßenverkehrsamtes verweigert mit der Begründung, er sei charakterlich nicht geeignet, ein Fahrzeug zu führen wegen seiner Vorstrafe, was ihn damals sehr zornig machte, denn man bot ihm noch nicht einmal die Möglichkeit, seine charakterliche Eignung durch einen psychologischen Test unter Beweis zu stellen. Er empfand das damals als himmelschreiende Ungerechtigkeit. Rechtlich gesehen entsprach das zwar laut seines Anwalts der gesetzlichen Realität, aber sein eigenes Rechtsempfinden sah das anders. Also fuhr er trotzdem Auto und wurde natürlich ab und zu dabei erwischt.

Erst später, nach seinem Motorradunfall und nachdem der Richter ihm die Auflage machte, sich noch einmal um einen Führerschein zu bemühen und der zuständige Sachbearbeiter im Straßenverkehrsamt mittlerweile ein anderer war und ihm den Test erlaubte, den er dann auch bestand, hatte er nach acht Jahren endlich nach erfolgreich absolvierter Prüfung einen Führerschein. Bis dahin vergingen aber einige Jahre mit viel Fahren ohne Führerschein und viel Ärger deswegen.

Das erste Auto war ein VW Variant, auf der einen Seite stand aufgesprüht `Terry Explosion´ wegen der Fehlzündungen, die er des öfteren hatte, und auf der anderen Seite“ Chaos Lether Chor“ .

Mit ihm bestritten sie die ersten Open Air Festivals. Schmunzelnd dachte er an Jübeck, das Open Air mit Jefferson Starship war der Hammer gewesen. Alvin Lee hatte sein Going Home gespielt im gleichen Moment als die Sonne untergegangen war, unvergesslich. Und auf dem Nachhauseweg war beim Variant der Gaszug gerissen.

Weil sich beim Variant der Motor hinten befand und über eine Klappe im Innenraum zugänglich war, hatten sie einen Lederriemen zum Gaszug umfunktioniert. Mit der einen Hand hatte Peter dann den über seiner Schulter liegenden Lederriemen zum Gas geben benutzt und Ottmar hatte auf Zuruf die Schaltung bedient, die Fahrt würde er nie vergessen.

Und dann auch diesen denkwürdigen Weihnachtsmarkt, bei dem er Regina kennen lernte und sich anschließend von Ottmar trennte, weil der ihn hängen ließ, als sich herausstellte, dass der Weihnachtsmarkt ein finanzieller Reinfall war. Aber eben nur in finanzieller Hinsicht.

Regina, dreizehn Jahre älter als er, war Grundschullehrerin und Saxophonistin in einer Band. Sie wohnte in einer Lehrer WG in Essen und mit ihr führte er über drei Jahre eine Fernbeziehung. Wenn er an Regina dachte, fiel ihm unweigerlich das Lied “With or without you“ von der Gruppe U2 ein. Es traf so ziemlich genau den Charakter ihrer damaligen Beziehung.

Nach der Trennung von Ottmar passierte dann eine Menge auf einmal. Sein Vater starb an Krebs, nachdem einige Jahre zuvor seine Mutter an einem Aneurysma gestorben war, was seinen Bruder damals ziemlich aus der Bahn geworfen hatte.

Beide waren erst Anfang vierzig gewesen. Und obwohl die Geschwister, als sie von der Krebserkrankung des Vaters erfuhren, zu dem sie alle kein gutes Verhältnis hatten, weil er seine Frau schlecht behandelt hatte, sich einig waren, das Erbe durch drei zu teilen, kam es dann doch, wie so oft wenn es um Geld ging, anders.

Der Vater fragte sie alle nach einander, was sie mit seinem Erbe machen würden. Peter und seine Schwester antworteten ihm wahrheitsgemäß, wobei Peter, wie es damals so seine Art war, ziemlich undiplomatisch reagierte, als sein Vater ihm eröffnete, er wolle, dass sein Erbe in Form eines Zwölffamilienhauses in Bonn, erhalten bleibe. Er wusste noch heute wortwörtlich die Antwort, die er ihm damals gegeben hatte.

„Ich lebe mein Leben, wie ich es für richtig halte und ich bin nicht dein Denkmalpfleger.“

Daraufhin drohte der Vater ihm mit Enterbung. Sein Bruder erkannte die

Gunst der Stunde und redete entgegen ihrer eigentlichen Abmachung dem Vater nach dem Mund. Er wurde Alleinerbe, und dank eines Tricks wurden er und seine Schwester auch noch um einen erheblichen Teil ihres damals ihnen zustehenden Pflichtteils gebracht. So blieben trotz eines Marktwertes des Hauses von 1,6 Millionen den beiden nur jeweils achtzigtausend DM. Trotz allem für Peter damals eine unglaubliche Summe.

Seit dem Tod der Mutter hatte sein Bruder sich sehr verändert. Vorher hatte er noch eine ziemlich gute Zeit gehabt mit seinem Bruder. Sie hatten eine Menge zusammen erlebt. Mit Bedauern dachte er an diese Zeit.

Einmal waren sie in einem Linienbus der Bonner Verkehrsbetriebe von ein paar Nazis angepöbelt worden, die sie fälschlicherweise wegen ihres Aussehens für Türken hielten. Sie hatten den drei eine ziemliche Tracht Prügel verabreicht.

Aber nach dem Tod der Mutter hatte sein Bruder sich immer mehr zurückgezogen, und er hatte auch nicht mit sich reden oder sich helfen lassen. Es war als habe er beschlossen, sein Herz aus Fleisch gegen ein Herz aus Stein zu tauschen um den Schmerz nicht mehr ertragen zu müssen, den der Tod der Mutter verursacht hatte. Damals war sein Bruder ihm fremd geworden. Die Mauer, die er um sich herum errichtet hatte, war immer undurchdringlicher geworden.

Er zog dann nach der Erbschaft aus dem Gartenhaus aus in besagte Turmwohnung, richtete sich dort eine Werkstatt ein, lernte Natali kennen und ließ sich von einem Freund überreden sein restliches Geld in der Türkei zu investieren, was zweifellos eine gute Idee war, war die Türkei doch damals Anfang der achtziger Jahre ein touristisches Entwicklungsland, wo man mit relativ geringem finanziellen Aufwand weit kommen konnte.

Sein Freund vermittelte ihm einen türkischen Partner, Cumhur, ein türkischer Musiker, der in Deutschland aufgewachsen war, und dessen Eltern in die Türkei zurückgekehrt waren und mit dem in Deutschland erwirtschafteten Geld ein Hotel bauten, in Didim- Altinkum, einer der wenigen Sandstrände der Türkei. Er verstand sich auf Anhieb gut mit Cumhur, auch ein Kiffer, wie er.

In der Türkei war es damals gesetzlich vorgeschrieben, dass Ausländer einen türkischen Kompagnon brauchten, der mindestens einundfünfzig Prozent halten musste, um eine Firma eröffnen zu können. Gemeinsam pachteten sie sich für eine lächerliche Miete von ein paar hundert DM im Jahr ein Stück Strand und bauten sich dort eine Open Air Disco und ein Strandkaffee für wenig Geld. Open Air Discos waren damals in diesem Teil der Türkei üblich, weil es im Sommer so gut wie nie regnete.

Er zog mit Natali in ein Strandhaus, was ebenfalls nicht viel kostete.

Das Inventar für die Disco hatte Peter aus Deutschland mitgebracht und über den Zoll geschmuggelt. Damals war die Türkei ziemlich korrupt. Für ein bisschen Bakschisch konnte man einiges erreichen, und Peter hatte glücklicherweise die richtigen Leute kennen gelernt. Schon bei seiner Einreise hatte er entsprechende Erfahrungen gemacht. Dort war das erste Bakschisch geflossen. Sein Bekannter, der ihn begleitet hatte, hatte sich darum gekümmert und war mit ihren Pässen zum richtigen Zöllner gegangen. Als er die Pässe zurück bekam, waren die Scheine daraus verschwunden und sie konnten weiter fahren.

In Istanbul waren sie dann von der Polizei angehalten worden, und wieder fand die gleiche Prozedur statt wie an der Grenze. Peter hätte sich damals fast mit den Polizisten angelegt und sein Bekannter konnte ihn gerade noch zurückhalten. Anschließend erfuhr er von seinem Bekannten, dass die nur auf das Geld aus waren. Andernfalls hätte man sie im schlimmsten Fall ein paar Tage eingesperrt und der LKW wäre danach leer gewesen.

Während ausländische Touristen mit Vorliebe verhaftet wurden, wenn sie mit Haschisch erwischt wurden, hatte er dank seiner türkischen Freunde, die auch alle rauchten, keine Probleme.

Einer seiner Freunde war Hakan, der Sohn eines Dorfpatrons. Hakan hatte in San Franzisko studiert und war Musiker, hatte aber auch ein Import- Export Geschäft. Einmal nahm er ihn mit zu einem befreundeten Bauunternehmer, wo er ein unvergessliches Erlebnis hatte. Er musste noch immer schmunzeln, wenn er daran dachte.

Als sie das Haus des Freundes betraten, saßen dort schon etliche Leute zusammen. Eine buntgemischte Gruppe, auch einige ältere Männer dabei. Es wurde Haschisch geraucht und alle rauchten mit, auch die Alten. Als es an der Haustür klingelte, ging der Freund von Hakan die Tür öffnen. Zurück kam er in Begleitung eines Polizisten und Peter machte sich vor Schreck fast in die Hose. Hakan, der das mitbekommen hatte, beruhigte ihn. Als der sich dann in Uniform dazu setzte und mitrauchte, fiel ihm ein Stein vom Herzen.

„Was hast du gedacht,“ fragte ihn damals Hakan grinsend, „Du bist so blass geworden, mach dir keine Sorgen, alles gut.“

In Izmir hatte er dann ein Erlebnis der besonderen Art mit der Polizei. Er war mit seiner fünfhunderter Enduro unterwegs gewesen um in Izmir die Wasserpfeifen für das Strandkaffee abzuholen, als ihn bei der Einfahrt in die Stadt ein Motorradpolizist an die Seite winkte. Er wollte gerade seinen Pass heraus hohlen, als der ihm bedeutete, das es ihm darum nicht ging.

Nach kurzen Verständigungsproblemen wurde ihm klar, dass der nur mal mit seinem Motorrad fahren wollte. Peter konnte es fast nicht glauben. Als Pfand ließ er ihm seine Java da, und nach einer Viertel Stunde, in der er Blut und Wasser schwitzte, kam der Polizist freudestrahlend wieder. Nach ein paar überschwänglichen Freundschaftsbezeugungen ließ er einen noch immer strahlenden Polizisten zurück, und er war davon überzeugt, in Zukunft in Izmir keine Probleme mehr mit der Polizei zu haben. Er lernte damals viel über die wirkliche Türkei.

Die Disco lief hervorragend, auch das Strandkaffee. Mit einem Grinsen dachte er an einen Vorfall, der bezeichnend war für die ganze Saison. Eines Tages war eine riesige Yacht vor der Küste von Didim vor Anker gegangen. Sie hatte dem Aga Khan gehört, damals einer der reichsten Männer im vorderen Orient, und der hatte mit samt seinem Harem die Disco besucht.

Den Bauchtanz der einen Haremsdame würde er sicher nie vergessen. Damals gab es eine Musikrichtung die Oriental Rock hieß. Natürlich hatten sie auch ein paar der Scheiben im Repertoire. Und natürlich hatten sie eine aufgelegt und eine der Haremsdamen war aufgestanden und hatte einen Bauchtanz dazu hingelegt, der sofort die Tanzfläche leergefegt hatte. Es war der erotischste Tanz, den Peter je gesehen hatte. Zum Schluss war das Kostüm der Tänzerin übergequollen von Geldscheinen.

In der Türkei war es üblich, seine Wertschätzung dadurch kund zu tun, dass man der Tänzerin bei einem gelungenen Bauchtanz Geldscheine zu steckte.

In dieser Zeit war einiges geschehen, das er nicht mehr vergessen würde. Sei es der große Schwertfisch, der keine Armlänge von ihm entfernt aus dem Meer gesprungen war, als sie mit dem Katamaran unterwegs gewesen waren- und er hätte auch heute noch schwören können, dass der große Fisch ihn fixiert hatte mit seinem Auge. Oder der riesige Hai, der beim Tauchen plötzlich unter ihm aufgetaucht war, und sich dann aber bei genauerem Betrachten als kleiner Leopardenhai entpuppte. Aber im erste Moment hatte er einen tierischen Schrecken bekommen.

Und nicht zu vergessen sein Dejavu in Istanbul, an einem uralten Springbrunnen aus der Zeit als die Stadt noch Konstantinopel geheißen hatte. Er war mit Hakan in einem Jazz Club gewesen, wovon es in Istanbul einige sehr gute gab damals. Auf dem Rückweg waren sie an dem Brunnen vorbeigekommen, und plötzlich hatte er das Gefühl gehabt, in eine komplett andere Zeit versetzt zu sein, so als wäre er damals schon einmal hier gewesen. Er hatte einen Moment lang echt neben sich gestanden und ein paar mal tief durchatmen müssen. Seit dem wusste er, was ein Dejavu war.

Am Ende der Saison waren alle zufrieden. Als Peter im nächsten Jahr wiederkam, erwartete ihn allerdings eine Überraschung, Cumhur hatte die Disco und das Strandkaffee verkauft und sich vom Erlös in Istanbul ein Schiff gekauft, das er zum Restaurant umbauen wollte. Leider hatte Cumhur keine Ahnung von Schiffen und übersah daher den schlechten Zustand des Schiffes. Den Weg von Istanbul nach Altinkum schaffte es gar nicht erst, es sank unterwegs, unversichert. Das war das Ende von Peters Aktivitäten in der Türkei, obwohl er das Land in dieser Zeit lieben lernte. Die Gastfreundschaft war enorm und manchmal geradezu beschämend. Da Cumhur ihm das Geld nicht zurückgeben konnte, kehrte er mit Natali und mit lehren Händen in seine Werkstatt zurück. Bis heute waren noch immer zwanzigtausend DM offen.

Es folgte die unglaubliche Zeit der Open Air Festivals, die mit seinem

Motorradunfall erst richtig begann. Er hatte vorher auch schon mit Ottmar ein paar gemacht, aber das war bei weitem nicht so professionell gewesen wie jetzt.

Ausgerechnet ein Türke nahm ihm die Vorfahrt, als er Morgens vom Brötchen holen zurückkam. Sie waren grade mal einen Tag aus der Türkei zurück gewesen, als das passierte. Er hatte noch Blickkontakt gehabt, bevor der aus der Seitenstraße herausgeschossen kam. Sein Versuch, ihm auszuweichen scheiterte leider an einem Verkehrsschild, das seinem Knie im Weg war. Die Stange, an der das Verkehrsschild befestigt war, war aus Metall und wesentlich härter als sein Knie, mit dem es kollidierte. Sein Bein war Matsche gewesen, wie der Professor, der ihn in der Bonner Uniklinik zwölf Stunden lang operierte, so treffend bemerkte.

Er leistete hervorragende Arbeit, damals. Aber er war leider der Einzige. Auch so ein Schlüsselerlebnis, dieser Unfall. Nach zwölf Wochen Klinik, von denen er die ersten drei vor lauter Schmerzen nicht schlafen konnte, so dass er schon befürchtete wahnsinnig zu werden, verließ er die Klinik mit jeder Menge Metall im Bein.

Nach einem Jahr war er nach intensiver Reha wieder hergestellt und merkte bis auf ein leichtes Zwicken der Schrauben nichts mehr, was sich leider aber noch ändern sollte. Die fünfzigtausend DM Schmerzensgeld kamen gerade recht nach der Türkeipleite, und er hatte endlich den Führerschein machen dürfen. Der Richter war der Meinung gewesen, er wäre schon genug gestraft mit dem, was ihm passiert war und ihm neben einer Bewährungsstrafe die Auflage gemacht, sich um den Führerschein zu kümmern. Als er dann auf Krücken beim Straßenverkehrsamt erschienen war, hatte das wohl den nötigen Eindruck erweckt beim zuständigen Sachbearbeiter.

Seine Beziehung zu Natali war das komplette Gegenteil zu seiner letzten mit Regina. Mit Natali war er vierundzwanzig Stunden täglich zusammen.

Sein erstes Open Air mit Natali fiel ihm ein, Rock am Ring, unter anderem mit Patty Smith und den Simple Minds.

Das Festival ging drei Tage, aber am zweiten Tag hatten die Leute ihm schon den Stand leer gekauft. Seine Leder T-Shirts und die Leder Mützen, die vielen Beutel und Taschen waren weggegangen wie warme Semmeln, und am Ende des zweiten Tages war alles weg und Peter um zehntausend DM reicher. So etwas vergaß man nicht. Für ihn war es, zumindest finanziell, das beste Festival aller Zeiten, und Patty Smith zu sehen und die Simple Minds war ein Genuss gewesen.

Und Wackersdorf natürlich, mit dreihunderttausend Zuschauern das wohl größte Festival, das je auf deutschem Boden stattgefunden hatte. Nur deutsche Gruppen, BAP, Rio Raiser und alles was sonst noch an deutschen Gruppen Rang und Namen hatte damals. Mit dreitausend DM war der Umsatz damals zwar unterdurchschnittlich, aber die Atmosphäre war phänomenal gewesen, Er hatte das erste und einzige Mal Mexikanische Pilze probiert, die er mit einem anderen Standbetreiber gegen Haschisch getauscht hatte und war drei Tage lang mehr geschwebt als gegangen.

Es war eine herrliche Zeit gewesen. Scorpions, Jefferson Starship, Joe Cocker und der unvergessliche Rory Gallegher, und wie sie sonst noch alle hießen, er hatte sie alle gesehen. Und weil die Händler schon einen Tag vor Beginn des Festivals ihre Stände aufbauen mussten und mit ihren Ausweisen freien Zutritt hatten, konnten sie immer bei den Soundchecks der einzelnen Gruppen zusehen, so wurden ihnen Einblicke in das Festivalgeschehen gewährt, die über die der normalen Zuschauer weit hinaus gingen.

Leider war die Zeit der Festivals nur kurz. In der zweiten Saison fing es schon an, das die Standmieten immer höher wurden. Die Geier hatten die Festivals als sprudelnde Geldquelle entdeckt und kauften verstärkt den Veranstaltern die Verkaufsrechte ab, um diese dann gewinnbringend zu vermarkten. Kleine Handwerker wie Peter konnten da nicht mithalten. Solche Summen konnte er nicht aufbringen. Es wurden Standmieten von tausend DM und mehr pro Tag und Standmeter üblich, je nach Festival. Und soviel konnte er gar nicht produzieren, um das bestreiten zu können.

Als sich dann Natali in einen anderen verliebte konnte er die Welt nicht mehr verstehen. Da er nicht bereit war, das Ende eines Lebensabschnitts zu akzeptieren und etwas Neues zu machen, kam es wie es kommen musste. Er geriet in eine Sinnkrise und brauchte fast ein Jahr, um sich wieder aufzuraffen.

Bei seiner Suche nach Antworten auf die vielen Fragen nach dem Sinn des Lebens, die sich plötzlich aufgetan hatten, half ihm in dieser Zeit die Lektüre der Bibel erstaunlicherweise sehr. Er begann, dank seiner nunmehr gemachten Erfahrungen die Botschaft wirklich zu begreifen und Geschichten wie die von Hiob relativierten sein eigenes Leid doch erheblich.

Es war das Buch der Wahrheit, wenn man in der Lage war, diese Wahrheiten zu verstehen, und mittlerweile war er das, wie er manchmal zu seinem eigenen Erstaunen feststellte. Die Bitte König Salomons um Weisheit und Erkenntnis, als er von Gott gefragt wurde, was er sich wünsche, sprach ihm aus der Seele. Es war genau das, was er von seinem Leben erwartete.

Wider Erwarten verschaffte ihm die Lektüre der Bibel große Erleichterung. Er beneidete Salomon um die Leichtigkeit, mit der dieser mit Frauen umging. Er schien sie alle zu lieben, ohne von Dingen wie Trennungsschmerz geplagt zu werden. Es musste etwas mit Besitzdenken zu tun haben. Man kann ja nur etwas verlieren, wenn man es vorher besessen hat.

Aber wie konnte man einen anderen Menschen besitzen?

Es war als wäre sein Problem erkannt worden an anderer Stelle, denn er lernte Sabine kennen auf einem Flohmarkt in München. Süße siebzehn Jahre alt war sie, und er verliebte sich unsterblich. Sabine spielte in einer Band Saxophon und war das blühende Leben. Ihre Eltern waren sehr liberal eingestellt. Ihr Vater arbeitete damals bei der Bravo, einer Jugendzeitschrift.

Aber Sabine hatte nichts mit einer festen Beziehung im Sinn. Sie hatte ihn zu einem bestimmten Zweck ausgesucht, nämlich um ihre Unschuld zu verlieren. Da er so etwas noch nie gemacht hatte, funktionierte es auch nicht besonders gut, vor allen Dingen, weil er es vorher gar nicht wusste. Jedenfalls sah er sie danach nie wieder, aber der Trennungsschmerz war diesmal schon wesentlich kürzer als beim letzten Mal.

Mittlerweile hatte er das Thema hinter sich gelassen. Diese Art Besitzdenken hatte er überwunden. Man konnte ein Stück Weg gemeinsam gehen, sollte sich aber hüten, daraus einen Besitzanspruch auf den jeweiligen Partner abzuleiten. Er hatte es akzeptiert, dass es verschiedene Formen von Partnerschaft gab, wobei keine für sich einen alleingültigen Anspruch stellen konnte. Es war die Vielfalt der Schöpfung, die sich darin widerspiegelte.

Immerhin hatte er seine Frauen alle geliebt, jede auf ihre Art, und wenn er dazu in der Lage war, warum sollten die Frauen das nicht sein. Und die One Night Stands hatte er zumindest gemocht. Sex wurde seiner Meinung nach sowieso überbewertet. Er beruhte mehr auf körperlicher Anziehung denn auf Liebe, das sagte ihm jedenfalls seine Erfahrung, und davon hatte er reichlich in seinem Leben gesammelt.

Wegen seiner Beziehung zu Sabine hatte er sich eine Lehrstelle zum

Reitsportsattler in München gesucht. Die Ausbildung hatte er sowieso machen wollen, aber nun war er eben in München gelandet. Leder war nun mal sein Ding. Etwas von Anfang bis zum Ende herzustellen, das war fast so gut wie Orgasmus. Er liebte dieses Material, dem an Vielseitigkeit seiner Meinung nach nichts gleich kam. Er hatte in alle Berufe, die mit Leder zu tun hatten, hineingeschnuppert oder sogar eine Ausbildung gemacht, aber immer nur so lange, bis er alles Wissenswerte in sich aufgesogen hatte. Er hatte als Autosattler, Täschner und Polsterer gearbeitet, von einem Buschmann gelernt, wie diese Leder verarbeiten und es sogar als Verbindungsmaterial verwendeten. Sogar Masken konnte er herstellen. Zum Schluss hatte er dann diese Ausbildung zum Reitsportsattler gemacht.

In Sachen Leder war er ein absoluter Spezialist, und seine Schaufensterdeko zeigte ein breites Repertoire all seiner Fähigkeiten, weshalb oft Wanderergruppen –Kyllburg lag an einer bekannten Wanderroute durch die Eifel – länger staunend vor seinem Schaufenster standen.

Mitunter wurde er sogar als Sachverständiger hinzugezogen. Auf einem Monitor in seinem Schaufenster lief permanent eine Power Point Präsentation seiner Arbeiten.

Die beiden anderen Schaufenster waren mit einer Store verhangen. Hinter der einen war das Klo und hinter der anderen seine eigentliche Werkstatt. Man konnte zwar nicht rein gucken aber um so besser raus.

Er liebte diesen vier Meter breiten und fünfzehn Meter langen Schlauch. Er erinnerte ihn an die Zeit der Flohmärkte, wo er noch an seinem Stand genäht hatte und direkten Kontakt zu den Leuten hatte. Manchmal hatten ganze ‚Trauben von Menschen vor seiner Maschine gestanden. Auch später noch, als er schon längst auf Weihnachtsmärkte und Open Air Festivals umgestiegen war, hatte er seine Maschine immer noch mitgenommen. Es schaffte eine ganz besondere Atmosphäre, wenn er hinter seiner Maschine saß und den Leuten seine Kunst demonstrieren konnte. Er kam mit ihnen viel schneller ins Gespräch und die Kauflust stieg ungemein wenn sie sahen, dass die Sachen nicht aus irgendeiner Fabrik kamen, in der Menschen für einen Hungerlohn ausgebeutet wurden.

Und dieses Gefühl hatte er auch hier im Laden. Im Grunde war es ein großer Flohmarktstand, nur besser ausgestattet. Während er sich damals mit einer Maschine begnügt hatte, konnte er mittlerweile über sechs verschiedene verfügen. Von einer alten Schusterfreiarmmaschine bis hin zur supermodernen Sattlermaschine mit Computerschnittstelle war alles vertreten. Die Ausstattung der Werkstatt war die Essenz aus jahrzehntelanger Erfahrung.

Versonnen an seinem heißen Yunnan Tee schlürfend schaute er hinüber zu dem alten Hotel, das seinem Laden gegenüber lag. Es war zu Kaisers Zeiten gebaut worden, also Anfang des vorigen Jahrhunderts, was sich eindeutig am Baustil manifestierte. Und er neigte durchaus dazu, den Geschichten zu glauben, die man sich in Kyllburg erzählte, nämlich dass der Kaiser persönlich dort genächtigt habe. Es gab Bilder aus dieser Zeit, der Blütezeit der Stadt, und wenn man durch die Stadt ging, hatte man den Eindruck, ein Teil von Kyllburg verharre noch immer in dieser Zeit.

Die fünftausend Einwohner zählende Stadt durfte sich nur deshalb `Stadt´ nennen, weil sie im Mittelalter das Recht dazu bekommen hatte.

Von dieser Zeit zeugte noch die alte Kathedrale auf dem Stiftsberg, ein gewaltiges Bauwerk, das mit seinen zwei Orgeln einen völlig deplatzierten Eindruck vermittelte.Als Peter sie bei einem Spaziergang das erste Mal gesehen hatte, hatte er es nicht glauben wollen. Eine Kathedrale mitten in der Eifel, eine wirkliche Kathedrale.

Mittlerweile kannte er noch andere solche Objekte in der Eifel, wie das Kloster Himmerod, ein riesiger Komplex mit ebenso großen Ländereien, der allerdings nur noch von ein paar Zisterziensermönchen bewohnt wurde. Sie alle Zeugnisse einer großen, aber nicht unbedingt großartigen Vergangenheit.

Nach kurzem Staunen drängte sich ihm immer die Frage nach dem“ wie“ auf. Er konnte dann vor seinem geistigen Auge immer die vielen Ungerechtigkeiten sehen, die das erst ermöglicht hatten, die vielen Schweiß- und Blutstropfen, die das alles gekostet hatte, die die Menschen für einen Hungerlohn oder gezwungenermaßen vergossen hatten, um dem Größenwahn eines weltlichen oder kirchlichen Fürsten Genüge zu tun.

Das es jetzt nur noch drei Geschäfte in Kyllburg gab, lag nicht zuletzt daran, dass man die Entwicklung verpasst hatte und falsche Entscheidungen getroffen hatte. Dem Luftkurort waren die Gäste abhanden gekommen, was letztendlich zum Niedergang geführt hatte, was ihn allerdings nur wenig tangierte, denn seine Kompetenz hatte sich in der Eifel schnell herumgesprochen, und er war für Monate ausgebucht, weshalb er zur Zeit keine Aufträge mehr annahm.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2

Er riss sich los von seinen Betrachtungen, ging Tee schlürfend zum Computer und sah sich die Lottozahlen an. Einer inneren Eingebung folgend hatte er mal wieder seine Zahlen gespielt. Das passierte zwei bis drei mal im Jahr dass ihn dieses Gefühl überkam. So auch bei seinem letzten Aufenthalt in Bitburg. Er hatte sich noch Zigaretten im Tabakshop vom Supermarkt gekauft und dabei einen Lottoschein ausgefüllt.

Er spielte nur, wenn der Jackpot über dreißig Millionen gestiegen war. Sonst gab er seinem Gefühl erst gar nicht nach, denn er wusste genau, was er damit tun würde, und dafür musste es ein Betrag sein, mit dem man etwas bewegen konnte. Denn reich werden wollte er nicht. Für seine Zwecke hatte er genug zum Leben. Wenn überhaupt, dann wollte er etwas bewegen, und dafür reichten ein paar Millionen nicht.

Er rief die Seite mit den Zahlen auf und verglich sie mit denen auf seinem Zettel. Er verglich sie noch mal und noch mal und wollte es noch immer nicht glauben.

„ Oh, scheiße! Neee, ne! Das glaub ich nicht!“

Wo war das verdammte Handy? Ach da hinten, auf dem Zuschneidetisch. Nachdem er die Nummer gewählt hatte und das Freizeichen ein paar mal ertönt war, meldete sich eine verschlafene Stimme.

„Ja, Melder,“ Annas Stimme in diesem verschlafenen Ton weckte in ihm immer das Bedürfnis sie wach küssen zu müssen. Am liebsten wäre er durch die Telefonleitung auf der Stelle zu ihr hin gekrochen um alles mögliche mit ihr anzustellen.

„Ja, hier auch. Du musst unbedingt hierhin kommen, oder besser noch, ich komme jetzt zu dir.“

„Aber du kannst doch nicht den Laden einfach zu machen!“

„Doch kann ich, es ist etwas unglaubliches passiert.“

„Was schlimmes?“

„ Kommt drauf an, von welchem Standpunkt aus man das betrachtet, aber das kann ich dir nicht am Telefon sagen, das geht nur Auge in Auge.“

„Man, machs doch nicht so spannend!“

„Warts ab, ich mache jetzt den Laden zu, sage alle Termine für heute ab, hole frische Brötchen zum Frühstück, und komme dann vorbei. Du kannst ja schon mal Kaffee machen, bis gleich.“

`Was ist den mit dem los´, dachte Anna. Nachdem sie sich ausgiebig gestreckt hatte, ging sie ins Bad, duschte sich und machte anschließend Kaffee. Nach wenigen Minuten hörte sie, wie sich der Schlüssel im Schloss der Eingangstür drehte und kurz darauf erschien Peter auch schon mit einer Brötchentüte bewaffnet in der Küche.

„Du musst jetzt ganz tapfer sein mein Schatz.“

„Wieso, was ist denn los? Du sollst mich doch nicht immer so ärgern“, sagte sie lächelnd nach einem Blick in sein krampfhaft um Ernsthaftigkeit bemühtes Gesicht.

„Entschuldige“, sagte er immer noch grinsend, nahm sie in die Arme und küsste sie lang und heftig, so heftig, das beide sich geradezu von einander losreißen mussten, um nicht über einander her zu fallen. Obwohl sie jetzt schon zehn Jahre zusammen waren, war die gegenseitige sexuelle Anziehungskraft ungebrochen. Sanft zog er Anna hinter sich her ins Büro und machte den Computer an.

„Warts ab, du wirst schon sehen,“ beantwortete er Annas fragenden Blick. Nachdem der Computer hochgefahren war, rief er die Seite mit den Lottozahlen auf und legte den Lottoschein auf den Schreibtisch.

„Sag bloß, du hast Lotto gespielt? Haben wir etwa gewonnen?“ Ungläubig sah Anna abwechselnd auf den Schein und den Computer. Ihr ging es nicht besser als ihm. Auch sie glaubte erst nach dem dritten Vergleich, was sie da sah.

„Ach du Schande!“

„Ja, ich weiß, mir ging es auch nicht anders. Es gibt übrigens nur einen Gewinner. Das heißt, die dreiundsechzig Millionen gehören uns ganz allein. Du siehst so blass aus, hätte ich dich doch nicht wecken sollen und es erst mal für mich behalten sollen?“

„Blödmann!“ Sprachs und knuffte ihn in die Seite.

„Okay, Okay! Außerdem hätte ich das sowieso nicht geschafft ohne zu platzen. Aber trotzdem muss ich das jetzt erst mal verarbeiten, und ich denke, dir geht es auch nicht anders, oder?“

„Ja, mir geht es auch nicht anders, und es wird wohl das Beste sein, wenn wir uns erst mal sortieren.“ Anna war jetzt ziemlich nachdenklich geworden.

„Was schlägst du vor?“ Inzwischen hatte Peter sie von hinten umfangen und blies ihr sanft in die Haare, während sie sich immer fester an ihn drückte, was bei ihm natürlich zur entsprechenden Reaktion führte.

„Ich glaube, das Frühstück kann noch warten,“ sagte Anna noch, bevor sie sich die Kleider vom Leib rissen und an Ort und Stelle über einander herfielen. Es war wie immer und doch nicht wie immer, denn es war jedes Mal wie neu, und sie staunten oft selbst darüber, das es so war.

Auch nach zehn Jahren war ihnen der Sex noch immer nicht zur Gewohnheit geworden, was Peter mehr erstaunte als Anna. Für sie war er der zweite Mann in Ihrem Leben, Während Peter eher Mühe hatte, sich an alle Frauen zu erinnern, mit denen er geschlafen hatte. Aber mit keiner war es sexuell so konstant befriedigend gewesen wie mit Anna.

Nach einer halben Stunde und anschließendem gemeinsamen Duschen, was sich dann auch noch mal verzögerte, saßen sie dann im Bademantel am Frühstückstisch.

Das hatte gut getan, sie waren jetzt wesentlich entspannter.

„Unser Traum,“ sagte Anna leise.

„Ja, unser Traum, das war auch mein erster Gedanke, als ich die Zahlen heute morgen in der Werkstatt das erste Mal gesehen habe. Schön, das wir mal wieder einer Meinung sind. Jetzt kann er endlich Gestalt annehmen.“

Schon lange träumte er diesen Traum, und zum Schluss hatte er schon fast nicht mehr daran geglaubt, hatte sich irgendwie damit abgefunden, keine großen Veränderungen bewirken zu können. Aber er hatte nie aufgehört, seine Sicht der Dinge zu vertreten, sein Verständnis von Gemeinschaft zu leben.

Mit Anna verband ihn nicht nur der gute Sex, den er vorher mit keiner anderen Frau so erlebt hatte, und das wortlose gegenseitige Verständnis, sondern auch dieser Traum. Als sie sich kennen gelernt hatten, hatten sie schnell festgestellt, dass sie beide den gleichen Traum träumten. Und zu Zweit hatten sie ihn noch weiter ausgebaut, ihn größer werden lassen.

Tausend Sachen gingen ihm durch den Kopf, er wusste gar nicht wo er anfangen sollte. Unwillkürlich fühlte er sich in die Zeit zurückversetzt, als der Traum angefangen hatte. Er war sechzehn gewesen. Damals war der Traum entstanden, erst nur schemenhaft, beseelt von dem Wunsch dieser Welt den Rücken zu kehren angesichts der himmelschreienden Ungerechtigkeiten, die er mit seinem erwachenden Bewusstsein plötzlich um sich herum immer mehr wahr nahm.

Auslöser war damals das Bild eines von Napalm brennenden Kindes gewesen, das im Vietnamkrieg entstanden und durch sämtliche Nachrichtensendungen gegangen war. Je mehr er begriff, um so fassungsloser wurde er. Irgendwann kam er sich vor wie ein Alien aus einer anderen Welt, der aus versehen im falschen Film gelandet war.

Glücklicherweise lernte er damals einige Leute kennen, denen es auch so ging, die sich wie er auch nicht damit abfinden wollten, wie diese Welt gestrickt war. Am liebsten wäre er damals mit seinen Freunden auf eine einsame Insel verschwunden um dort in einer Gemeinschaft des Miteinander zu leben.

Aber das war ihnen nicht gegeben, was auch gut war, denn es wäre fürchterlich in die Hose gegangen, so unreif wie sie damals alle waren.

Nachdenklich schlürfte er an seinem grünen Tee, während die letzten sechsundzwanzig Jahre an ihm vorbeizogen und er langsam wieder Bodenhaftung bekam.

Damals.....das war der Beginn seiner Suche gewesen. Von Weisheit und

Erkenntnis noch weit entfernt, die Worte hatten damals gar nicht zu seinem Wortschatz gehört, hatte er sich auf den Weg gemacht und Erfahrungen gesammelt. Mangels Einblick in die tieferen Zusammenhänge war damals alles ganz einfach für ihn gewesen. Um sich aus der damals für ihn so unerträglichen Realität zu verdrücken brauchte er erst mal Geld, viel Geld, denn eins war ihm schon damals klar, Geld regiert die Welt und ohne ließ sich nichts bewegen. Und seine Einsicht in die Zusammenhänge war immerhin damals schon so weit gediehen, dass er als einen der Hauptschuldigen an der gesellschaftlichen Misere die Banken ausgemacht hatte.

Also was lag näher, als sich von denen das Kapital zu besorgen für seine Vorhaben, was er dann auch in die Tat umsetzte. Allerdings gestaltete sich das Ganze dann doch nicht so leicht, wie er sich das vorgestellt hatte, er hatte nämlich die Rechnung ohne das Opfer gemacht und seine Empathie ebenfalls außer acht gelassen.

Das seine Pistole “nur“ eine Gaspistole war konnte er natürlich dem Kassierer nicht sagen, um ihn zu beruhigen. Denn er hatte zum Gotterbarmen Angst vor ihm, und vor lauter Mitleid mit ihm ließ er sich immerhin zu der Bemerkung hinreißen, „Sie brauchen keine Angst zu haben, ich tue ihnen nichts.“ Dabei hatte er sich das alles doch so einfach vorgestellt, obwohl, eine klare Vorstellung hatte er nicht wirklich gehabt, und das ein vor Angst schlotternder Kassierer ihm so leid tun würde, war in seiner Rechnung nicht vorgekommen. Und bevor das Ganze zu Ende war, war ihm schon klar, dass das sein letzter Bankraub sein würde.

Obwohl der Kassierer seine Aussage vor Gericht bestätigte, half ihm das nicht wirklich, auch wenn sein Mitleid mit dem Kassierer dem Staatsanwalt ein Grinsen abnötigte. Da er ungewollt als damals jüngster bis dahin da gewesener Bankräuber in die Geschichte eingehen würde, wie die Zeitungen auf ihren Titelseiten heraus posaunten, musste die Justiz natürlich zur Abschreckung etwas härter zulangen als normal. Also bekam er drei Jahre Knast ohne Bewährung.

Das es so ausgehen würde, hatte er natürlich wie jeder Straftäter nicht in Betracht gezogen. Nachdem er ein Wochenende mit ein paar Freunden verbracht hatte - einer von ihnen war schon über achtzehn und hatte einen Leihwagen besorgt mit dem sie durch die Gegend gefahren waren- hatte er den Auftrag bekommen, den Wagen am nächsten Tag zur Leihwagenfirma zurück zu bringen. Er hatte zwar noch keinen Führerschein, aber fahren konnte er, dank etlicher Übungsstunden in einem alten Käfer auf dem Acker eines Freundes, ziemlich gut.

Er war noch nach einer wilden Verfolgungsjagd mit einem Kunden der Bank, von der er erst später erfuhr, weggekommen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass ihm einer gefolgt war, hatte einfach nur Gas gegeben und gesehen, dass er weg kam, ohne zu realisieren, dass da einer hinter ihm her war. Unbeabsichtigt hatte er den Verfolger jedenfalls abgehängt, war unterwegs in ein Waldstück eingebogen, hatte das Geld dort vergraben und das Auto in der Nähe abgestellt. Anschließend war er nach Bonn getrampt, und weil er besonders clever sein wollte, hatte er den Wagen als gestohlen gemeldet.

Aber unerfahren wie er war, hatte er der Kripo nichts vormachen können. Die hatten sofort bemerkt, dass da was nicht stimmte. Und dann hatten sie ihn reingelegt, hatten ihn glauben gemacht, er wäre erkannt worden und es sei besser, alles zuzugeben, dann könne er noch mal mit einem blauen Auge davon kommen, sprich Bewährung bekommen.

Heute wusste er, dass die ihm für ein Geständnis das blaue vom Himmel versprochen hätten. Mein Gott, wie naiv er damals gewesen war. Die Situation hatte ihn völlig überfordert, das eingesperrt sein, sich komplett ausgeliefert fühlen, das war über seine Kräfte gegangen. Er wollte nur noch das alles aufhört, irgendwie, egal wie. Im Grunde war dann das Geständnis eine Erleichterung. Endlich raus aus diesem Loch im Polizeipräsidium, mit nichts als einem Steinbett mit einer dünnen Matratze drauf und einem Loch im Boden das sich Klo nannte, einem Fenster aus Glasbausteinen und Dauerbeleuchtung. Kein Tisch, kein Stuhl, rein gar nichts, nicht einmal ein Buch, absolute Isolation. Er fragte sich, wie viele hier drin schon Taten gestanden hatten, die sie gar nicht begangen hatten, nur um aus diesem Loch raus zu kommen.

Er war ja nicht darüber aufgeklärt worden, das man ihn nur vierundzwanzig Stunden festhalten durfte. Also war er ihnen total auf den Leim gegangen. Aber damit fing das Drama dann erst richtig an.

Als dann am nächsten Tag sein Anwalt kam war es schon zu spät, da hatte er schon gestanden und die Polizei zum Geldversteck gebracht, womit ein Widerruf völlig sinnlos war. Um so frustrierender war es dann vom Anwalt zu hören, dass die ihn reingelegt hatten und ihn ohne Geständnis hätten laufen lassen müssen.

Dann die erste Nacht in Untersuchungshaft, die Angst vor den Verbrechern unter denen er sich jetzt befand, denen er ausgeliefert war, was die wohl mit ihm machen würden? Man hatte ja im Fernsehen so allerhand gesehen in Krimis über die Zustände im Knast. In dieser Nacht heulte er sich fast die Seele aus dem Leib. Die Freunde, die Familie, die Freiheit, alles weg. Der Realitätsverlust war so schlimm, dass er am nächsten Morgen bei der Frühstücksausgabe den Beamten fragte, wann er denn nach Hause könne, er müsse doch zur Schule.

Und das war seine erste Begegnung mit Jonas. Jonas war der erste `Verbrecher´ dem er begegnete. In seiner Funktion als Hausarbeiter teilte er das Frühstück aus. Brot, ein Stern Margarine, Marmelade und Muckefuck, eine Art Ersatzkaffee. Jonas sah überhaupt nicht aus wie ein Verbrecher, er war fast einsneunzig groß, hatte lange dunkelblonde Haare und ein freundliches Lächeln. Peter sah in warmherzige, freundliche Augen und das Herz ging ihm auf.

Jonas sah sofort, was los war und lud ihn zum Umschluss ein. Nach dem Abendbrot konnten die Gefangenen sich gegenseitig für zwei Stunden besuchen, das war der sogenannte Umschluss. Für Peter wurde es der längste Tag in seinem Leben. Er hatte so viele Fragen, die ihm auf der Seele brannten, das er den Abend mit allen Fasern seines Körpers herbeisehnte. Und als es dann soweit war und die Durchsage kam für den Umschluss, stürzte er sich geradezu auf den Lichtzeichenknopf, der außerhalb der Zelle ein Lichtsignal betätigte.

Der Knast hatte drei Etagen, und Jonas lag in der Zweiten. Nachdem die Zellen von den Beamten aufgeschlossen wurden, herrschte reger Betrieb in den Gängen. Den Moment als er damals in Jonas Zelle kam, hatte er noch vor Augen, den würde er wohl niemals vergessen. Damals hatte sein altes Leben aufgehört und ein neues begonnen.

Außer Jonas waren noch zwei andere Gefangene in der Zelle, die aber auch nicht wie Verbrecher aussahen, überhaupt fragte er sich mittlerweile, wie denn eigentlich Verbrecher aussehen. Die drei klärten ihn dann erst Mal auf über den Knast und über die Polizei, die einen Grünschnabel wie in gern hereinlegte mit falschen Versprechungen. Sie klärten ihn auch darüber auf, wie es nun weitergehen würde, das er sich erst mal darauf einstellen solle, bis zur Verhandlung in Untersuchungshaft zu sitzen und eventuell auch noch darüber hinaus. Außerdem versorgten sie ihn mit Tabak ohne auch nur die geringste Gegenleistung dafür zu verlangen. Er wurde auch nicht unterdrückt oder zu irgendetwas gezwungen und musste sich letztendlich eingestehen, dass all seine Befürchtungen hinsichtlich des Knastes keinerlei Bestätigung fanden.

Im Grunde entsprach das hier drin dem da draußen. Wie draußen gab es auch hier drin warmherzige Menschen und auch solche die einen abzocken wollten, nur das die Einschränkungen hier drin natürlich wesentlich größer waren. Einer von Jonas Freunden brachte es auf den Punkt.

„Es hat alles seine Vor und Nachteile, man kann sogar dem Knast was abgewinnen. Du brauchst zum Beispiel keine Miete zu zahlen, hast es warm und für Verpflegung ist auch gesorgt. Das ist zwar nur ein kleiner Trost, aber immerhin.“ Er grinste als er das sagte, und Peter musste das erste Mal lachen seit seiner Verhaftung.

„ Und hey, lachen kannst du scheinbar auch noch, schön!“

Der Knast war noch ziemlich rustikal damals. Es gab in jeder Zelle einen Lautsprecher aus dem einige Stunden am Tag zwei Radiosender ertönten, zwischen denen man mittels eines Schalters wählen konnte. Es war besser als gar nichts und man fühlte sich nicht so allein, wenn das Radio lief. Zweimal wöchentlich gab es abends zwei Stunden Fernsehen. Dafür wurde draußen auf dem Flur ein Fernseher aufgestellt, und immer nur eine Abteilung durfte dann zwei Stunden lang fernsehen, wobei es hauptsächlich um Geschäfte und Austausch ging, das Fernsehen interessierte nur am Rande.

Nach ein paar Tagen in Koblenz stellte man fest, dass er hier im falschen Knast war. In einem eigens dafür angefertigten Bus mit äußerst engen Doppel- und Einzelkabinen, in denen man sich kaum bewegen konnte, ging es dann in den neuen Knast.

Weil er in Nordrheinwestfalen gemeldet war, musste er der Zuständigkeit halber nach Köln Ossendorf, ein riesiger Knast, in den die Koblenzer Karthause zweimal reinpasste. Ein Neubau, in dem die von Willi Brandt und seiner SPD gerade verabschiedete Strafvollzugsreform umgesetzt werden sollte, in der die Betonung mehr auf Resozialisierung denn auf Strafe lag. Die Leute sollten nicht mehr einfach nur weggesperrt werden, sondern wie

Menschen behandelt werden. Ein alter Gefangener fasste es einmal mit den Worten zusammen, „der Unterschied zwischen uns und denen da draußen ist der, dass man uns erwischt hat. Wir sind nur die Sündenböcke für die da draußen.“

Peter würde es heute anders ausdrücken, würde auf – wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein- verweisen, oder andere schlaue Sprüche, die aber im Grunde nichts anderes aussagten.

In Ossendorf klappte das mit der Resozialisierung allerdings noch nicht wirklich. Vor allen Dingen die alten Beamten taten sich doch recht schwer damit, die Gefangenen mit Namen anzusprechen und nicht zu duzen, waren sie doch vorher nur Nummern gewesen. Und jetzt durften die sich auch noch einfach so unterhalten und mussten nicht mehr nur schweigend hintereinander her gehen.

Ossendorf war nach Häusern getrennt. Peter saß in einem U-Haft Haus für Jugendliche. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Er freundete sich ein wenig mit dem Gefangenen aus der Nachbarzelle an. Sie führten endlose Gespräche abends am Fenster. Und als der wieder Erwarten auf seiner Verhandlung noch mal Bewährung bekam und entlassen wurde, ließ er ihm seinen ganzen Tabak da.

Als dann endlich seine Verhandlung kam und er erwartungsgemäß keine Bewährung bekam, sondern drei Jahre, war er ganz froh, als man ihn endlich nach Siegburg in den Jugendknast verlegte.

Siegburg war auch riesig. Der größte Jugendknast Europas damals, mit zweitausend Gefangenen. Dort begann er eine Ausbildung zum Damen und Herren Schneider, und Resozialisierung wurde hier auch wirklich betrieben. Ihm fielen sofort zwei Namen ein, als er an Siegburg dachte, Dieter und Gabi, zwei Menschen, die er wohl nie vergessen würde, und er war heute noch dankbar für das Glück, ihnen begegnet zu sein.

Gabi Beikircher war die Anstaltspsychologin gewesen und wenn er an sie dachte, fiel ihm sofort ein Satz ein, den er bis heute nicht vergessen hatte, ein Satz, der sein Leben fortan bestimmt hatte und es auch heute noch tat.

„Du sollst dich darstellen, und nicht das was die anderen gerne hätten.“

Die beiden hatten ihn als Menschen behandelt, von gleich zu gleich, und das hatte ihm damals unendlich gut getan, es hatte ihm wieder Boden unter den Füßen gegeben.

Dieter Kirchhübel leitete eine Gesprächsgruppe, in der es ans Eingemachte ging, und er versorgte ihn mit Literatur, unter anderem Hermann Hesses gesammelte Werke fielen ihm in diesem Zusammenhang sofort ein. Er hatte sie verschlungen, vor allem Siddharta hatte es ihm angetan.

Bei Gabi und Dieter hatte er alles loswerden können was ihn bewegte, hatte ein Türchen nach dem anderen geöffnet. Die Erwartungshaltung seines Vaters an ihn, unbedingt das Abitur machen zu müssen, weil der wegen des Krieges keins machen konnte und all das was man oft sonst noch so von Kindern erwartete ohne sie zu fragen, was sie denn eigentlich selber wollen.

Im Grunde hatte Peter nur gegen diese Zwänge rebelliert mit seinem Verhalten. Das zu erkennen, sich selbst zu erkennen, dazu hatten die beiden ihm verholfen, und das würde er nie vergessen, was nicht hieß, dass er deswegen konform geworden wäre. Das war auch nicht die Absicht der Beiden gewesen.

Gabi lebte schon lange nicht mehr. Sie war an einer Stoffwechselkrankheit gestorben, und auch Dieter hatte er aus den Augen verloren, aber vergessen würde er sie nie.

Es war eine Zeit der Extreme gewesen. Er hatte sich mit seinen Verhaltensmustern auseinandergesetzt, mit sich selbst, getreu der Devise, `Erkenne dich selbst´, und das hatte zuerst weh getan. Dann war es nur noch gut gewesen.

Der neue Peter war ein anderer geworden. Einer der wusste was er wollte, der sich nicht mehr fragte, was die anderen wohl von ihm erwarteten. Die Welt war groß und bunt und überaus interessant und es gab eine Menge auszuprobieren. Bevor seine Gedanken zu sehr abschweifen konnten, machte er den Speicher in seinem Kopf zu. Sein letzter Gedanke war bei Katharina gewesen, seiner Schwester im Geiste.

Sie war ein wichtiger Bestandteil dieser Zeit des Ausprobierens gewesen, eine gefühlsbetonte Zeit, die sein Handeln bestimmt hatte und die Initialzündung ging damals hauptsächlich von Büchern aus. Er las alles, was ihm in die Finger kam, von Erich Fromm über Platon und Andre Gide bis zu Rudolph Steiner, dem Anthroposophen.

Unter anderem beeindruckte ihn ein Satz von Platon besonders damals,

`der Verstand wurde uns als Helfer mitgegeben, er hat sich aber leider zum Tyrann entwickelt´. Ja, genau so empfand er, und er hatte keine Lust mehr, sich von diesem Verstand,der ihm ständig sagen wollte, was man tun sollte, tyrannisieren zu lassen.

Auch Fromms Bücher, “ die Kunst des Liebens“ und “ Sein oder Haben“ beeindruckten ihn sehr. Er fühlte sich verstanden, endlich das für ihn bis dahin Unaussprechliche ausgesprochen zu sehen. Da hatte jemand in Worte gefasst, was er fühlte.

Das es um ein Gleichgewicht ging zwischen Verstand und Gefühl, war ihm damals noch nicht klar, dazu fehlten ihm die Erfahrungen. Und die galt es erst einmal zu machen. Alles musste raus, was da raus wollte, die Erfahrungen warteten darauf gemacht zu werden.

Er lernte Drogen kennen, vorzugsweise Haschisch, denn er ging auch hier rein gefühlsmäßig vor. Pilze fand er auch interessant. Nachdem er bei Freunden die Wirkung von Heroin und LSD gesehen hatte, wollte er damit nichts zu tun haben. Er wollte sich den Kopf aufmachen, nicht zu. Einige seiner Freunde waren an einer Überdosis Heroin gestorben und einige andere auf LSD hängen geblieben, und jetzt in einer Parallelwelt lebten, und das war nicht lustig.

Dreimal in seinem Leben war er ziemlich betrunken gewesen, das letzte mal so schlimm, das er Nachts im Schlaf ins Bett gepinkelt hatte, ohne es zu merken. Und er hasste es so dermaßen die Kontrolle über sich zu verlieren. Das war ihm beim Kiffen noch nie passiert. Mit Speed hatte er auch nichts mehr im Sinn, seit er mal eine Captagon probiert hatte. Danach hatte er drei Tage lang Depressionen gehabt, und das wollte er sich nicht noch einmal antun.

Wenn er damals etwas gelernt hatte, dann dass es keine Pauschalerkenntnis über Drogen und deren Anwendung gab. Er kannte Leute, die ihr Leben lang kifften und trotzdem ihr Leben auf die Reihe bekamen, ja sogar Junkies, die mit ihrer Sucht leben konnten. Nicht jeder, der Alkohol trank, wurde automatisch zum Alkoholiker, und nicht jeder Kiffer landete auf der Nadel. Es mussten viele Faktoren zusammenkommen. Pauschalisierung war in diesem Zusammenhang jedenfalls wenig hilfreich.

 

3

Das war die Zeit, als er Katharina kennen gelernt hatte, die damals an der Nadel hing. Er hatte damals in einer Pommesbude gejobbt und außer Currywurst auch Haschisch unter der Theke verkauft. Katharina war eine seiner Kundinnen gewesen. Eigentlich hatte er mit Junkies nichts am Hut. Aber Katharina war anders als die anderen Junkies, das spürte er sofort, als er ihr das erste mal begegnete, was sich dann auch bestätigte. Katharina schaffte es aus eigener Kraft davon loszukommen, ganz ohne Therapie.

Natürlich konnte er es nicht nachvollziehen, das Haschisch verboten war, und er empfand es als äußerst ungerecht, was dazu führte, dass er kein Problem damit hatte, es in den Niederlanden, wo es nicht verboten war, einzukaufen und nach Deutschland zu schmuggeln. Und das tat er gemeinsam mit Katharina.

In dieser Zeit hatte sie ihre Heroinsucht schon aus eigener Kraft und mit Hilfe ihrer großartigen Mutter überwunden. Für Peter war sie seit der ersten Begegnung wie eine Schwester gewesen. Sie liebten sich auf einer Ebene, die er bis dahin mit einer Frau nicht geteilt hatte. Die sogenannte platonische Liebe, die er bis dahin nicht für möglich gehalten hatte, hatte er so kennen gelernt.

Es war die Zeit, als er seine zweite Ausbildung, die zum Sattler, gemacht hatte. Weil das Handwerk fast ausgestorben war, musste er bis nach München gehen, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Damals gab es überhaupt nur noch in drei Bundesländern eine Sattlerinnung, bei der man eine Prüfung ablegen konnte. Und eins davon war Bayern, wo auch die besten Sattler saßen. Das Arbeitsamt hatte ihm damals eine Umschulung bezahlt. Es war die Zeit nach Sabine und nach dem Turm gewesen.

In München lernte er natürlich auch Leute kennen. Er war damals sehr kontaktfreudig, und da er sich auch hier zur sogenannten Subkultur hingezogen fühlte, lernte er auch Leute kennen, die Haschisch rauchten, irgendwie erkannte man sich, es war immer wieder erstaunlich.

Allerdings gab es in München damals nur allerschlechteste und völlig überteuerte Qualität, weshalb er natürlich die Aufmerksamkeit der anderen Kiffer auf sich zog. Er fuhr nämlich damals einmal im Monat in seine alte Heimat, um sich gemeinsam mit Katharina mit Haschisch einzudecken. Da er sich sein Piece in den Niederlanden besorgte, ein regelrechtes Schlaraffenland in dieser Hinsicht, war die Qualität natürlich entsprechend.

Anfangs brachte er ein paar Leuten nur kleine Mengen mit, aber im Verlauf von ein paar Monaten wurden dann aus ein paar Gramm ein paar hundert Gramm und schließlich ein paar Kilo. Um an der Grenze nicht aufzufallen fuhren sie immer mit Katharinas Auto, denn mit seinem Münchner Kennzeichen wäre er an der Grenze mit Sicherheit aufgefallen.

Irgendwann erwischten sie dann leider den falschen Grenzübergang zu einem Zeitpunkt, als der deutsche Zoll dort gerade eine seiner Stichproben durchführte, und wurden prompt heraus gewunken. Sie wurden beide verhaftet, aber Katharina wurde nach kurzer Zeit wieder entlassen, weil er alle Schuld auf sich nahm, was ja auch stimmte, denn Katharina war nur mit ihm gefahren um sich selbst zu versorgen. Also nahm er ihre paar Gramm auch noch auf seine Kappe. Außerdem hätte er den Gedanken nicht ertragen, sie im Knast zu sehen.

Nach diesem Vorfall hatte sie ein Studium in Sinologie begonnen, war sogar nach Peking gegangen, wo sie den Vater ihrer drei Kinder kennen gelernt hatte, einen Afrikaner aus dem Kongo. Mittlerweile war sie Dolmetscherin und Lehrerin für Deutsch und Französisch. Außerdem war sie Großmeisterin im Kung Fu und lebte mit ihren Kindern und ohne ihren Mann in Südfrankreich.