Das Schweigen der Dünen - Kaja Petersen - E-Book
NEUHEIT

Das Schweigen der Dünen E-Book

Kaja Petersen

0,0

Beschreibung

Emotional, fesselnd, atmosphärisch: ein Nordseekrimi mit Tiefgang. Nach einem schweren Schicksalsschlag ist Kriminaloberkommissarin Serafine Küster stark traumatisiert. Um sich langsam wieder an die Arbeit heranzutasten, reist sie nach Spiekeroog und hilft als Sommerverstärkung bei der dortigen Dienststelle aus. Doch statt der erhofften Ruhe erwartet sie ein rätselhafter Mordfall: Ein Skelett wurde in den Dünen entdeckt, niemand scheint zu wissen, wer das Opfer ist, niemand scheint es zu vermissen. Serafine gräbt tiefer und kommt der Wahrheit Stück für Stück näher – und mit ihr dem Täter.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 379

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Kaja Petersen ist glücklich verheiratet und Mutter von drei mittlerweile erwachsenen Kindern. Schon früh begeisterte sie sich für die Nordsee und ganz speziell für Spiekeroog. Mindestens einmal pro Jahr zieht es sie dorthin. Schneetreiben auf dem Oberdeck der Fähre, Herbststürme, Wassertemperaturen von zweiundzwanzig Grad: Mittlerweile hat sie schon fast alles auf der Insel erlebt und entdeckt doch jedes Mal etwas Neues – vor allem Tatorte.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Rezept.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: photocase.de/Nordreisender

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-131-7

Küsten Krimi

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Scripta, München ([email protected]).

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für meinen Mann Lars, mit dem ich so viel Zeit auf Spiekeroog verbringen darf – ich liebe dich!

Prolog

»Wo sind denn jetzt die Brandgänse?«, fragte sie und drehte sich zu ihm um.

»Noch ein Stück weiter in die Dünen, in dem kleinen Tal da vorn. Da brüten sie zwischen den Krähenbeeren«, antwortete er und deutete voraus. Dort erhob sich eine Braundüne, dicht mit Moos, Flechten, Silbergras, Tüpfelfarn und Krähenbeeren bewachsen, die in der Abendsonne golden leuchteten. Dahinter erkannte sie bereits die nächste Düne. Hügelartig bildeten sie das Grundgerüst der Insel.

»Das ist aber ein ganz schöner Weg vom Dorf hierher. Dahin verläuft sich doch sonst keiner«, sagte sie und lachte.

Er lachte ebenfalls und hielt sich mit beiden Händen an den Gurten seines Rucksacks fest. »Da hast du recht. Eigentlich ist es auch nicht wirklich erlaubt, was wir hier machen. Du weißt schon, Dünenschutz, Vogelschutz und so.«

»Ich verrate dich schon nicht.« Sie stieg die Düne hinauf und blieb oben stehen, schirmte ihre Augen gegen die tief stehende Sonne mit einer Hand ab und sah sich um. Weit entfernt sah sie das Dorf Spiekeroog, eindeutig erkennbar an dem pyramidenförmigen Dach der katholischen Kirche. Etwas weiter Richtung Meer stand der Utkieker, die dreieinhalb Meter hohe Bronzefigur eines nackten Mannes, der nach Westen schaute, beide Hände an der Stirn, als wollte er wie sie seine Augen vor der Sonne schützen. Sein Blick ruhte auf der Insel und auf dem Meer; der symbolische Wächter über allem. Sie drehte sich etwas weiter Richtung Norden, bis sie hinter den Dünenspitzen einzelne Schaumflöckchen auf den Wellen entdeckte. Die Nordsee. Sie liebte diese Weite, diese Aussicht auf das endlose Blau, das sich am Horizont mit dem Blau des Himmels vereinigte. Die Sonne stand schon ziemlich tief im Westen, tauchte den Himmel dort in ein gleißendes Gelb. Sie atmete ein, nahm die Hand herunter und schloss die Augen. Spürte den Wind in ihren Haaren, die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Roch diesen würzigen Duft nach Kräutern und Kiefernnadeln. Hörte die Möwen über ihrem Kopf schnarren, auf dem Weg zum Meer. Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, die Zeit anzuhalten, jetzt hätte sie den Knopf gedrückt.

»Willst du warten, bis die Sonne untergegangen ist, oder willst du das Nest heute noch sehen?« Seine Stimme holte sie wieder in die Gegenwart zurück. Er stand ein ganzes Stück tiefer als sie in einem Tal, das zwei Dünen hier bildeten. Gut geschützt durch dichtes Buschwerk an den Seiten. Bis hierher hatten sich erste Kiefern vorgearbeitet, die äußerst eigenwillig wuchsen. Klein und gedrungen, mit Flechten bewachsen, wirkten sie bei Nebel wie Gnome, die einen mit ihren knorrigen Astfingern in die Irre wiesen.

Sie schlitterte die Düne hinab, versuchte, sich noch abzufangen, um den schmalen Humusaufbau der Düne nicht völlig zu zerstören, aber keine Chance – sie landete auf dem Hosenboden im Tal. Stand auf und klopfte sich den Sand, Kiefernnadeln und vertrocknete Grasreste vom Hintern. Lachte.

»Das war ja mal wieder typisch. Hoffentlich habe ich jetzt nicht die Gänse verscheucht.« Sie zog ihr Shirt zurecht.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, alles gut. Komm mal zu mir.« Er winkte sie zu sich und zeigte auf ein paar Krähenbeerensträucher, etwa hundert Meter entfernt. »Siehst du dahinten die Bewegungen? Zwischen den Sträuchern? Da ist das Nest.«

Sie griff nach ihrer Kamera, die sie sich über die Schulter gehängt hatte. Über ein Jahr hatte sie dafür gespart. Und für das Teleobjektiv, das fast genauso viel gekostet hatte wie die Kamera selbst. Aber beide waren jeden Cent wert. Sie legte sich flach auf den Bauch, stützte sich auf den Ellenbogen ab und hielt ihre Kamera in den Händen. Wählte eine möglichst kurze Belichtungszeit, um die Bewegungen einfrieren zu können, und drehte den Regler der Blende auf acht. Das musste reichen. So oder so war sie gezwungen, die ISO, die Lichtempfindlichkeit des Sensors, ziemlich hoch einzustellen. Sie konnte nur hoffen, dass das Bild dadurch nicht zu körnig ausfallen würde. Aber normalerweise war das bei einer guten Kamera kein Problem. Sie knipste ein Probebild und überprüfte das Ergebnis auf dem kleinen Bildschirm. Verzog den Mund zu einem Lächeln. Genauso hatte sie sich das gedacht. Die Brandgans saß in der Mitte. Eigentlich war es ja gar keine Gans, sondern eine Ente. Sie fokussierte auf den Schnabel des Vogels; kein Höcker, eindeutig das Weibchen. Was logisch war, da nur die Weibchen brüteten. Dazu bildeten sie einen Brutfleck am Bauch, erkennbar an den dort fehlenden Federn, sodass die Wärme der Haut direkt an die Eier weitergegeben werden konnte. Ob sie Glück hatte und die Jungen schlüpfen sah? Es war die richtige Zeit dafür, sie hatte bereits Eltern mit ihren Küken gesehen vor einem Tag. Das wäre wirklich das Highlight ihres Aufenthalts auf Spiekeroog: beim Schlüpfen der Brandgansküken dabei zu sein. Weiter hinten im Gebüsch bemerkte sie noch eine Brandgans: das Männchen, das über seine Familie wachte. Sie fokussierte wieder auf das weibliche Tier, konzentrierte sich auf jede einzelne Bewegung unterhalb des Gefieders. War das ein Ei? Tatsächlich. Beim Zoomen erkannte sie, dass bereits Risse in der Schale waren. Ihr Herz schlug schneller. Sicher, es war unwahrscheinlich, dass die Küken ausgerechnet jetzt schlüpfen sollten, aber warum nicht?

Sie fokussierte auf das Ei, das nun deutlich zu sehen war. Der Riss wurde größer, und sie glaubte ein Piepsen zu hören. Zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, um die Kamera nicht zu verreißen. Knipste ein Bild nach dem anderen. Tatsächlich! Die Schale riss noch weiter auf, und ein Schnabel erschien im Sucher, vergrößerte das Loch, und ein ziemlich verklebter schwarz-weißer Kopf kam zum Vorschein. Ein Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Das Küken befreite sich aus der Schale und tapste unsicher auf seinen Füßen herum, kippte um, stand wieder auf. Die Mutter hatte sich mittlerweile erhoben. Acht Eier lagen noch im Nest. Bei zwei weiteren waren ebenfalls Risse in der Schale zu erkennen. Die Brandgans quakte leise, und das Küken watschelte auf sie zu, antwortete in hohen Tönen. Ihr Herz pochte schneller, und sie fühlte eine Leichtigkeit in sich, als wäre jegliche Last von ihren Schultern gefallen. Nichts anderes war mehr wichtig, als die Küken zu beobachten. Sie durfte dabei sein, wenn neues Leben diese Welt betrat. Das zweite Küken schlüpfte, gleich darauf das dritte. Das erste Küken war schon getrocknet und sah aus wie ein plüschiges weiß-schwarzes Wollknäuel, aus dem ein dunkler Schnabel ragte, dazu zwei schwarze Knopfaugen. Am liebsten hätte sie darübergestreichelt, aber das war völlig unmöglich. Allein schon der Gedanke. Diese Tiere überlebten deswegen, weil sie sich versteckten, allem aus dem Weg gingen. Langsam legten sich die Schatten wie ein immer dichter werdender Vorhang über das Dünental. Es war nicht mehr möglich, Bilder zu machen ohne Blitz oder eine andere Beleuchtung. Seufzend erhob sie sich, klickte den Deckel auf ihr Objektiv und schaltete die Kamera aus. Klopfte sich das Shirt und die Hose sauber. Immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie hörte die kleine Familie quaken, wenn auch nur leise. Wenn sie richtig gezählt hatte, würden es neun Küken sein, die jetzt nach dem Schlüpfen sofort von ihren Eltern ins Wattenmeer gebracht wurden. Sie würden nicht mehr an diesen Ort zurückkehren, sondern die Zeit bis zum winterlichen Vogelzug am Watt verbringen. Nach einem letzten Blick Richtung Nest drehte sie sich weg und schaute zur Düne.

Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie am Boden gelegen war und fotografiert hatte, aber er hatte die Zeit offensichtlich genutzt und ein Picknick vorbereitet. Deswegen hatte er wohl den Rucksack mitgeschleppt. Eine Decke lag am Rand der Düne, genau da, von wo aus man den Sonnenuntergang am besten beobachten konnte. Darauf eine noch verschlossene Flasche Wein und zwei Becher. Eine Kerze flackerte in einem winddichten Halter.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst«, sagte sie und hängte ihre Kamera wieder über die Schulter.

»Ich dachte, du freust dich. Was ist daran falsch?« Er hob fragend die Hände.

»Was daran falsch ist? Einfach alles!« Ihre Stimme wurde lauter. »Hast du mir dieses Nest nur deswegen gezeigt, um mich rumzukriegen?«

Er wich einen Schritt zurück, deutete auf die Decke. »Ich wollte uns doch nur einen schönen Abend machen. Wir könnten zusammen den Sonnenuntergang genießen, dazu vielleicht ein Glas Wein … und wer weiß, vielleicht gefällt es dir ja. Ich wollte dich auf gar keinen Fall zu etwas drängen.«

Sie schnaubte. »Klar. Für wen hältst du mich eigentlich? Glaubst du wirklich, ich bin so dumm und durchschaue deine Masche nicht? Reicht es nicht, dass ich dir einmal einen Korb gegeben habe? Was hast du daran nicht verstanden?« Ihr wurde heiß, obwohl es merklich kühler geworden war.

»Findest du nicht, dass du ziemlich undankbar bist? Ich zeige dir, wo die Brandgänse brüten, führe dich nach Arbeitsschluss auch noch dorthin, und du hast nichts Besseres zu tun, als mir vorzuwerfen, dass ich dich rumkriegen will?«

»Undankbar!« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nicht zu fassen. Wenn du mir einfach nur das Nest gezeigt und mich wieder zurück ins Dorf gebracht hättest, dann wäre ich dir tatsächlich dankbar gewesen. Das hätte mir gezeigt, dass du mich ernst nimmst. Dass wir vielleicht Freunde sein können. Aber so? Nein, ganz ehrlich, selbst nach allem, was zwischen uns schon vorgefallen ist, hast du immer noch nicht kapiert, dass ich kein Interesse an dir habe.« Sie hielt kurz inne. »Tut mir leid, wenn das jetzt hart klingt, aber du verstehst es anscheinend nicht anders.«

»Aber dieser andere Kerl, der war dir gut genug? Mit dem konntest du einfach so in die Kiste springen?« Seine Augen blitzten im Licht, das die tief stehende Sonne spendete.

»Das geht dich nichts an! Woher weißt du das überhaupt? Spionierst du mir etwa nach?« Ihre Hände begannen zu zittern. Schnell ballte sie sie zu Fäusten.

Er lachte, doch es klang eher wie ein tiefes Grollen. »Ich weiß, was du letzte Woche getan hast. Und vorletzte Woche. Und ich weiß, dass es Menschen gibt, die ein großes Interesse daran haben könnten, das ebenfalls zu erfahren.« Seine Stimme wurde immer leiser.

Sie schluckte. Jetzt bloß nicht unterkriegen lassen. »Nichts weißt du! Gar nichts. Und wenn du glaubst, dass ich mich von dir erpressen lasse, dann bist du schiefgewickelt. Eher gehe ich zur Polizei!« Die letzten Worte spie sie ihm geradezu entgegen.

Er öffnete den Mund, als es im Unterholz raschelte. Inzwischen war es so dämmrig geworden, dass es zwischen all den Ästen kaum möglich war herauszufinden, wer oder was dieses Geräusch verursachte. Neben der orangefarbenen Sonne schob sich ein blasser Vollmond langsam auf den Himmel.

»Ist da jemand?«, rief sie. Ihr Herz pochte wie wild, und ihr Atem beschleunigte sich. Wieder raschelte es, doch sie konnte immer noch nichts Bestimmtes sehen, sosehr sie sich auch bemühte.

»Vielleicht eine Katze oder ein Reh auf der Suche nach einem lauschigen Plätzchen«, sagte er und kam auf sie zu. Seine Stimme klang tief und rau, so als hätte er zu lange in einer überfüllten Bar geredet. »So wie wir.« Gleich würde er bei ihr sein.

»Bleib mir bloß vom Leib!« Mit beiden Händen wehrte sie ihn ab. Jedes einzelne Haar ihres Körpers war aufgestellt, und ihr Atem ging unregelmäßig.

»Jetzt hab dich nicht so …«

»Ist mir ganz egal, was du willst. Bleib weg von mir, lass mich in Ruhe!« Sie wich vor ihm zurück, wendete sich von ihm ab und kletterte auf Händen und Füßen die Düne hinauf. Ihr Puls raste. Als sie oben angekommen war, drehte sie sich keuchend um. Er war ihr nicht gefolgt. Zitternd strich sie sich eine Strähne hinter das Ohr. Er stand immer noch im Dünental und starrte zu ihr hoch, sagte kein Wort. Sie glaubte, seine Augen funkeln zu sehen. Lächelte er etwa? Gegen die fast waagrechten Sonnenstrahlen war seine Mimik kaum zu erkennen. Ihr Herz machte einen Satz. Der bildete sich doch nicht ein, sie würde zurückkommen? Den Teufel würde sie tun! Ohne sich noch einmal umzusehen, stürmte sie die Düne auf der anderen Seite hinunter, stolperte über ein Stück Holz und fiel dann rücklings hin. Drehte sich auf den Bauch und rutschte den Hang hinab.

»Au, verdammt!«, fluchte sie mit unterdrückter Stimme. Sie wollte nicht, dass er sie hörte und ihr am Ende noch zu Hilfe eilte. Falls er ihr folgte. Sie spuckte auf den Boden und rieb sich über das Gesicht, um den Sand, der ihr beim Hinunterrutschen in Mund und Nase und Augen gekommen war, abzuwischen. Mühsam drehte sie sich zur Seite, doch da war ihre Kamera im Weg. Die Kamera! Hoffentlich war sie nicht beschädigt worden. Sie tastete sie mit den Händen ab, aber das Gehäuse und das Objektiv schienen heil zu sein. Ein Seufzer entfuhr ihrer Kehle. Langsam rappelte sie sich auf die Knie. Ihre Augen suchten nach einem Hinweis, dass er in der Nähe war, aber alles, was sie sah, war eine Flasche, die so schnell auf sie niedersauste, dass ihr keine Zeit mehr zum Denken blieb. Dann versank alles in Dunkelheit.

1

Der Wind wehte Fine auf dem Oberdeck der Spiekeroog II um die Nase und wirbelte ihr ein paar Haarsträhnen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten, ins Gesicht. Sie versuchte, sie hinter das Ohr zu streichen, aber vergeblich – am Ende gewann der Wind. Sie schaute sich um. Es gab kaum einen Sitzplatz hier oben. Und sie selbst war viel zu spät am Anleger in Neuharlingersiel eingetrudelt. Da war die Schlange vor der Fähre schon mehrere Meter lang gewesen. Im Juli wollten viele Leute auf die ostfriesische Insel, sei es für einen Tagesausflug oder um Urlaub in einer der Ferienwohnungen oder in einem Hotel zu machen. Es roch nach Sonnencreme und Salzwasser, immer wieder vermischt mit einem Schwall Schiffsdiesel. Die unterschiedlichen Gespräche an Bord wirkten wie das Summen in einem Bienenstock. Einige hatten die Sonnenbrille aufgesetzt, den Kopf in den Nacken gelegt und beteten stumm mit vor der Brust verschränkten Armen die Sonne an. Kinder lachten, zerrten an den Ärmeln ihrer Mütter und Väter, weil sie ein Segelboot oder einen Krabbenkutter entdeckt hatten. Eltern stiegen die Treppen hinab zum Bordkiosk und kehrten mit Papptellern zurück, auf denen eine Bockwurst mit dreieckigen Toastscheiben lag. Die es jetzt gegen die Möwen zu verteidigen galt. Dazu der Coffee to go im Pappbecher. Oder eine Flasche Bier.

Fine schloss die Augen, beide Hände an der Reling. Die Sonne schien ihr ins Gesicht und wärmte ihre Wangen, die sie vorsichtshalber mit dem höchsten Lichtschutzfaktor eingecremt hatte, den sie finden konnte. Ihre Haut wurde schnell rot, wenn sie nicht aufpasste. Außerdem bildeten sich dann überall wieder Sommersprossen. »Wie getupft«, hatte Tom immer gesagt und war imaginäre Linien zwischen ihnen nachgefahren. Hatte behauptet, das seien Sternbilder. Die die Zukunft voraussagen könnten. Und dass sie ihnen ein langes und unbeschwertes Leben wünschten. Damals hatte Fine immer gelacht und ihn geküsst. Wünschen konnte man sich viel. Doch nicht alle Wünsche gingen in Erfüllung.

Hitze flutete Fines Gesicht, und Tränen bildeten sich in ihren Augen. Sie schniefte. Das war bestimmt nur der Wind. Sie öffnete die Augen und blinzelte. Eine Träne rann über ihre Wange, und sie wischte sie rasch mit einer Hand weg. Sie beobachtete die regelmäßigen Wellen, die das Schiff aufwarf. Wie sie an die steinerne Befestigung der Fahrrinne Neuharlingersiels rollten und dabei immer wieder einige kleine Vögel aufscheuchten, die am Ufersaum Futter suchten. Fine wusste nicht, was für Vögel das waren. Aber es war faszinierend, wie diese Wesen sich nicht aus der Ruhe bringen ließen. Sie flogen auf, flatterten ein paar Meter weiter und setzten sich wieder, nur um ein paar Sekunden später erneut hochzuflattern. Dass ihnen das nicht zu dumm wurde? Die Fahrrinne endete, sie erreichten das offene Meer, und das Schiff nahm Fahrt auf. Als ein Krabbenkutter an ihnen vorbeifuhr, wehte der Wind den Geruch frisch gebrühter Krabben herüber. Wie lange hatte sie das nicht mehr gerochen? Das letzte Mal, als sie bei einer Klassenfahrt auf Norderney gewesen war. Aber das lag jetzt auch schon über fünfzehn Jahre zurück. Begleitet wurde das Schiff von einem Schwarm Möwen, die mit schrillen Rufen ihre Position verteidigten. Wie elegant sie in der Luft schwebten, ganz ohne Flügelschlag. Legten sich in einer Kurve in den Wind, um dann im nächsten Moment wieder vorzuschießen. Fine hätte ihnen stundenlang zusehen können.

»Papa, wann sind wir denn endlich da?«, fragte neben ihr ein etwa sechsjähriges Mädchen einen hochgewachsenen Mann in einer Softshelljacke.

»Es dauert nicht mehr lange, Svenja. Schau, dahinten ist schon die Insel.« Er drehte seine Tochter einmal um ihre Achse und zeigte auf Spiekeroog, das in der Ferne immer deutlicher zu erkennen war. Fine drehte sich ebenfalls um. Doch ihr Blick galt nicht der Insel, sondern dem Mädchen. Ein dunkelbrauner Zopf, der durch die hintere Öffnung eines pinkfarbenen Basecaps fiel. Sommersprossen auf der Nase. So jung. So lebensfroh. Sie schluckte schwer und drehte sich schnell wieder um. Eilte zur Treppe und stieg hinunter. Unten war genauso viel los wie oben, aber hier standen wenigstens hauptsächlich Eltern mit Kinderwagen, deren Sprösslinge deutlich jünger waren. Jünger als das Mädchen. Jünger als … Kurz blieb ihr die Luft weg. Wieder rollte eine Träne über ihre Wange, und sie presste die Lippen fest aufeinander. Lenk dich ab, herrschte sie sich an, lenk dich gefälligst ab. Eine Frau starrte sie unverwandt an, und Fine spürte ihre Augen wie Dolche in ihrer Brust. Als ob diese Frau wüsste, was geschehen war. Aber sie wusste gar nichts. Fine hob energisch den Kopf, drängte sich an der Frau vorbei in eine Ecke, die zwar schattig, dafür aber kaum bevölkert war, und zog ihr Smartphone aus der Tasche. Öffnete ihr E-Mail-Programm. Scrollte durch die Mails, bis sie die richtige fand.

Liebe Frau Küster,

Ihre Fähre geht um 9:25 Uhr von Neuharlingersiel ab, ich erwarte Sie dann am Hafen in Spiekeroog. Sie werden mich sicher gleich erkennen, ich bin die in Uniform.

Ich freue mich schon, Sie kennenzulernen.

Bis bald

Susanne Most

Fine hatte lange überlegt, ob sie wieder in ihren Beruf einsteigen sollte. War sich nicht sicher gewesen, ob sie weiterhin als Kriminaloberkommissarin arbeiten wollte. Und könnte. Ein Gespräch mit ihrer Therapeutin kam ihr in den Sinn.

»Wie geht es Ihnen heute?« Dr. Amelie Grün saß Fine gegenüber in einem bequemen Lehnstuhl, die Beine übereinandergeschlagen, auf ihren Knien ein Klemmbrett mit einigen losen Seiten, teilweise beschrieben. Sie hielt einen Kugelschreiber in der Hand und beobachtete Fine.

Fine erinnerte sich, dass es geregnet hatte. Windböen klatschten die Zweige eines Strauchs gegen das Fenster, dicke Tropfen rannen daran herab. Zwischendurch blitzte es, gefolgt von mehreren Donnerschlägen, die Fine zusammenzucken ließen. Wie lange war das jetzt her? Ein halbes Jahr? Sie sah sich selbst wie in einem Film, wie sie die Augen auf ihre Therapeutin richtete.

»Ich bin jetzt fast ein Jahr aus dem Dienst raus, Frau Grün. Ich war in einer psychiatrischen Klinik, ich war in der Reha, jetzt bin ich seit mehreren Monaten hier, zweimal die Woche. Wie lange soll das noch so weitergehen?«

Amelie Grün nickte, schrieb etwas mit ihrem Kugelschreiber auf die oberste Seite. »Was denken Sie?«

Fine zuckte mit den Schultern. Was dachte sie? Hatte sie nicht bereits genug gedacht die letzten Wochen, Monate? Was gab es denn noch zu denken, was nicht bereits gedacht worden war? »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es reicht. Wir reden und reden und reden. Jede Stunde. Immer wieder über dasselbe. Ich will nicht mehr reden. Ich kann nicht mehr.« Ihre Stimme war lauter geworden. »Ich fühle mich so nutzlos. Ich möchte etwas tun. Wieder arbeiten. Meinem Leben einen Sinn geben. Verstehen Sie das?«

Grün legte den Kopf schief. »Ich verstehe das sogar sehr gut. Die Frage ist, sind Sie bereit dafür?«

War sie das? Fines Magen rumorte laut hörbar. Sie legte eine Hand darauf, um ihn zu beruhigen. Holte tief Luft. »Das Leben muss weitergehen. Ich denke nicht, dass ich einen Weg finden werde, wenn ich weiterhin hier sitze und mich im Kreis drehe. Ich muss weiterziehen. Nach vorn blicken. Ich will nicht mehr weinen, nicht mehr schreien. Das ist vorbei.« Sie streckte sich. »Wenn ich noch länger hierbleibe, ohne Ziel, dann drehe ich wirklich durch. Es wird Zeit.«

Wieder nickte Grün. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Es ist Ihre Entscheidung, Frau Küster. Und ich denke, Sie sollten Ihrem Bauchgefühl folgen. Nicht umsonst zeigt er Ihnen deutlich, dass er gehört werden möchte.« Sie deutete auf Fines Bauch, der sich wieder meldete.

»Sie denken also nicht, dass das eine falsche Entscheidung ist? Wieder in den Job zu gehen?« Fine zog die Nase hoch und beugte sich vor.

Wieder lächelte Grün und schüttelte den Kopf. »Das denke ich ganz und gar nicht. Sie sind so weit. Ich habe nur darauf gewartet, dass Sie es selbst erkennen. Sie entscheiden, was der nächste Schritt sein wird.«

Fine atmete tief ein. »Und denken Sie, ich schaffe das?«

Grün hob die Brauen. »Fragen Sie mich um meine Meinung oder um Erlaubnis?«

Fine verzog den Mund zu einem schwachen Grinsen. »Ich habe verstanden. Danke schön. Ich werde das schaffen. Ich bin so weit.«

Die ersten Schritte waren noch wacklig gewesen. Aber nach dem Wiederauffrischungskurs war Fines psychische und physische Einsatzfähigkeit bestätigt worden. Den Tag, an dem sie die Bescheinigung erhielt, hatte sie noch gut im Gedächtnis. Die ersten Krokusse hatten auf der Wiese geblüht, eine Biene war von Blüte zu Blüte geflogen. Und sie hatte sich zur Feier des Tages eine neue Frisur gegönnt. Weg mit den kaputten Spitzen, den ausgewachsenen Strähnchen. Ab jetzt ging es nur noch in eine Richtung: voran. Trotzdem hatte sie sich entschieden, es langsam angehen zu lassen. So hatte sie sich zunächst als Sommerverstärkung der Polizeidienststelle auf Spiekeroog beworben. Weit weg von zu Hause. Weg von allem, an was sie sich nicht mehr erinnern wollte.

Fine schluckte hart. Wie lange hatte sie jetzt dagestanden und ihr Display angestarrt? Seufzend packte sie das Handy zurück in ihre Jackentasche. Schaute wieder auf das Meer. Tief dunkelblau lag es vor ihr, auf den Wellen tanzten Schaumkronen, in die hin und wieder ein schwarzer Vogel stieß. War das ein Kormoran? Die Westküste Spiekeroogs mit dem Zeltplatz rückte heran. Fine hatte sich vor ihrer Reise alles zu Spiekeroog durchgelesen, was auf der Webseite der Insel zu finden war. Auch um sich einen Überblick über den Ort zu verschaffen, der für die nächsten zwei Monate ihr Zuhause sein würde. »Die Seele baumeln lassen und Energie tanken« – das hatte gleich oben auf der Eingangsseite gestanden. Fine schnaubte. Sie war ja nicht hier, um Urlaub zu machen, wie all die Touristen um sie herum. Hier warteten achtzehn Quadratkilometer darauf, dass sie dafür sorgte, dass nach Ablauf der zwei Monate alles noch so war wie bei ihrer Ankunft. Friedlich. Ein atemberaubender Mikrokosmos von faszinierender Schönheit. Oder war es andersherum gewesen? Sie seufzte leise und sah wieder auf das Meer hinaus. Auf einem aus dem Wasser ragenden Baumstamm, der als Markierung diente, saß noch so ein schwarzer Vogel und hatte die Flügel weit ausgebreitet. Fine hörte neben sich Handykameras klicken. Das Tier wurde sofort als erste Urlaubserinnerung auf den Speicherchip gebrannt. Das Schiffshorn dröhnte, und sie erreichten den Hafen. Fine stellte sich direkt nach vorn an den Ausgang. Sie wollte vom Schiff herunter sein, bevor die ganzen Familien die Gangway stürmten. Den Blick nach vorn gerichtet. Immer nach vorn. Das Leben ging weiter. Musste weitergehen.

Am Hafen sah sie, wie versprochen, Susanne Most stehen, unverkennbar in ihrer Polizeiuniform. Außerdem hielt sie ein Schild in der Hand, auf dem mit Filzstift stand »Frau Küster«.

»Hallo, Frau Most, ich bin Serafine Küster, Ihre neue Sommerverstärkung«, stellte sie sich vor.

Die Inselpolizistin lächelte. »Wunderbar, das freut mich sehr. Hatten Sie eine gute Reise? Und wollen wir nicht einfach Du sagen? Ich bin Susanne, werde aber meist Susa genannt.« Ihre Stimme, dunkel und samtig, erinnerte Fine an eine der Kneipen im fränkischen Erlangen, in der öfter Livemusik gespielt wurde. Im Halbdunkel, nur von einem Scheinwerfer angestrahlt, hauchte eine schwarz gekleidete Frau, begleitet von einem Saxofon und einem Cello, in ihr Mikrofon. Noch jetzt bildete sich schon allein bei dem Gedanken eine Gänsehaut auf ihren Armen. Fine schüttelte sich und wischte die Sängerin in ihrem Kopf wie auf einem Tablet beiseite. Konzentrierte sich auf die Frau vor ihr. Die ganz und gar nicht wie eine Jazzsängerin aussah, die ihre Nächte auf den Bühnen verbrachte. Im Gegenteil. Susanne Most schien oft draußen unterwegs zu sein und sich viel zu bewegen. Rund um ihre Augen breitete sich ein Faltenkranz aus, sodass ihre Augen wie kleine Sterne aussahen. Ein sonnengegerbtes Gesicht, das schon viele Jahre hatte kommen und gehen sehen, umrahmt von kurz geschnittenen grauen Haaren. Unwillkürlich musste Fine lächeln. Susanne Most wirkte wie aus einer dieser Dokumentationen, in denen Einheimische an der Küste über ihr Leben befragt wurden und erzählten, sie hätten den besten Job der Welt, nämlich dort, wo andere Urlaub machten. Was könnte es Besseres geben?

»Gern. Ich bin Fine. Serafine hat mich meine Mutter nur genannt, wenn ich mal wieder verbotenerweise an der Keksdose war.«

Susa lachte, was die Sterne um ihre Augen verstärkte. »Das kann ich mir vorstellen. Werden wir nicht alle immer nur dann bei unserem vollen Namen genannt, wenn wir etwas angestellt haben?« Sie klopfte Fine auf die Schulter. »Komm mit, wir holen dein Gepäck und bringen es erst mal in dein Zimmer. Du wohnst bei uns im Haus. Dort ist übrigens auch die Dienststelle, nicht dass du dich wunderst. Unten Dienststelle, oben Wohnung. Das zeige ich dir gleich alles noch in Ruhe bei einer guten Tasse Kaffee. Oder Tee. Was dir lieber ist. Aber wir haben hier eine wunderbare Kaffeerösterei auf der Insel, im Backdeck. Da holen wir immer unseren Kaffee.« Susa redete fast ohne Punkt und Komma, schob Fine dabei erst in Richtung der Gepäck-Container, um ihren Koffer abzuholen, und dann zu einem E-Bike mit Anhänger, auf dem groß »Polizei« stand.

»Das ist der Vorteil, wenn man hier Dorfpolizistin ist, man darf überall mit dem Fahrrad hin, wo die anderen nicht hindürfen.« Sie schmunzelte und wollte Fines Koffer in den Anhänger stellen. Doch Fine wehrte ab und wuchtete das schwere Ding selbst in den Anhänger, der merklich in die Knie ging.

»Ist das nicht zu schwer?«, fragte sie.

»Ach was. Das ist ein E-Bike, das packt das locker. Außerdem schieben wir doch. Und keine Sorge, das Fahrrad hat auch eine elektrische Schiebeunterstützung. Wenn wir zu Hause sind, gebe ich dir mein altes Fahrrad, zwar kein E-Bike, aber noch top in Schuss.« Susa setzte ihr Rad in Bewegung, und die beiden spazierten mit Dutzenden von Touristen über den Hafenplatz zu einer breiten Straße Richtung Dorf. Einige zogen nicht nur ihre Koffer hinter sich her, sondern auch Bollerwagen voller Kinder. Ein Kioskwagen am Rand der Straße verkaufte Getränke, Fischbrötchen und Snacks, und Susa winkte den beiden Inhaberinnen zu.

»Moin, Kerstin! Moin, Stine! Darf ich euch vorstellen? Das ist Fine, unsere neue Sommerverstärkung.«

Ein zweifaches »Moin« ertönte aus dem Wagen. Offensichtlich kannte hier jeder jeden. Fine verzog den Mund zu einem leichten Grinsen, um nichts sagen zu müssen. In Erlangen war das nicht üblich. Allerdings war das eine Stadt mit über hunderttausend Einwohnern, da war es völlig unmöglich, jeden zu kennen. Und eigentlich war Fine das auch ganz recht. Sie nickte den beiden im Wagen knapp zu.

»Das ist übrigens typisch für unsere Gegend hier, wir begrüßen uns alle mit Moin, und zwar zu jeder Tageszeit. Auf gar keinen Fall Moin Moin, das geht gar nicht. Das sagen nur Fremde, die keine Ahnung haben«, sagte Susa, während sie dem nicht enden wollenden Strom von Touristen folgten. Fine war sich sicher, dass sie noch nie im Leben so langsam vorangekommen war. Offenbar waren ihre Gedanken an ihrem Gesicht ablesbar, denn Susa lachte laut auf.

»Ja, so is dat hier auf der Insel. Entschleunigung heißt das Zauberwort, hier ticken die Uhren etwas anders. Daran gewöhnst du dich noch. Hier läuft dir nichts weg. Und hier passiert eigentlich auch nie was. Selbst verlorenes Geld wird meistens abgegeben. Vielleicht ist es die Stimmung auf der Insel, ich weiß es nicht. Aber hier lernt man, die Ruhe zu genießen. Anfangs habe ich das nicht geglaubt, aber mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass Spiekeroog eine besondere Aura hat. Stress hat hier keine Chance.«

Fine nickte und kniff die Lippen zusammen. Ruhe, einfach nur Ruhe. Wie lange hatte sie sich das gewünscht? Sie konnte sich nicht erinnern. Ihr seelisches Zentrum hatte schon längst aufgegeben, dem Ameisenhaufen an Gedanken in ihrer Mitte Einhalt zu gebieten. Früher hatte sie sich oft Kopfhörer in die Ohren gesteckt, um den Lärm im Inneren von außen zu übertönen. Bis ihr die Therapeutin gesagt hatte, dass sie lernen müsse, mit dem Lärm zu leben. Ihn auszuhalten und zuzulassen. Bis er sich nicht mehr jedes Mal in den Vordergrund drängte, sondern in den Hintergrund trat. Fine fragte sich, wann dieser Zeitpunkt jemals eintreten würde. Wann sie Frieden finden würde. Oder eben Ruhe.

Mal sehen, ob Spiekeroog Wort hielt. Sie ließ den Blick über die Wiesen streifen, auf denen einige Pferde grasten. Die Sonnenstrahlen verfingen sich in den hellen Haaren der Mähne eines Tieres, das den Kopf auf den Hals eines anderen Pferdes legte. Ein Postkartenmotiv. Fine verzog kaum merklich das Gesicht. Dann erreichten sie die ersten Häuser.

»Und hier ist unsere Insel-Apotheke.« Susa deutete nach rechts. »Hier arbeitet übrigens Desmond, mein Mann.« Durch die Tür winkte sie einem Mann mit halblangen grauen Haaren und einem dichten Vollbart zu, der über seinen oberen Brillenrand hinweg die Aufschrift einer Arzneimittelpackung entzifferte. Als er sie bemerkte, rückte er die Brille wieder gerade und grinste breit.

»Du wirst ihn heute Abend noch genauer kennenlernen.« Susa schob ihr Fahrrad, einem Straßenschild nach zu schließen, den Süderloog entlang und bedeutete Fine, ihr zu folgen. »Die Dienststelle liegt im Tranpad, da könnten wir eigentlich einmal quer durch das Dorf, aber jetzt ist es da so voll, dass es hier rum schneller geht. Weniger Verkehr.« Sie lachte. Hinter ihnen klingelte es, und eine junge Frau schoss auf dem Fahrrad an ihnen vorbei.

»Sorry, Susa, hab’s eilig!«, schrie sie und radelte weiter.

Susa schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Insa, Insa, immer auf Achse, diese jungen Dinger.«

Fine sah sie mit aufgerissenen Augen an und fasste sich an die Brust. Ihr Herz pochte ziemlich. War das hier so üblich, dass man fast vom Fahrrad überfahren wurde?

»Hier auf Spiekeroog haben die Einheimischen alle Fahrräder, Autos gibt es in dem Sinne ja nicht. Außer die Elektrokarren der Insellogistik, vom Paketdienst, von der Müllabfuhr, von den Fahrzeugen von der Feuerwehr und vom Rettungsdienst samt Notarzt. Ansonsten bewegt sich hier jeder mit dem Rad oder geht zu Fuß. Im Ortskern selbst ist das Radfahren verboten. Wenn da so viele Touristen unterwegs sind, wird das einfach zu gefährlich. Schließlich sind die Straßen nicht breit genug dafür ausgebaut. Müssen sie ja auch nicht sein. Und klar, wenn es die Insulaner eilig haben, dann düsen sie die Nebenstraßen lang.«

Fine nickte. »Das heißt, Augen auf im Fahrradverkehr.«

»Genau. Und am besten nicht in der Mitte der Straße laufen. Aber im Allgemeinen passiert wenig. Ernstere Fahrradunfälle gab es lange nicht mehr. Vielleicht mit mehr Glück als Verstand, aber das ist ja egal. Das Ergebnis zählt.« Susa lachte.

Der Weg machte eine Linkskurve. Ein schmaler Fußweg bog rechts nach dem Irish Pub ab, danach führte der Süderloog ebenfalls rechts weiter. Doch Susa schob ihr Rad ein kleines Stück geradeaus an einem Bekleidungsgeschäft vorbei und bog dann rechts in den Norderloog, wie ein weiteres Schild besagte.

»Hier ist unsere Inselbäckerei.« Sie drehte sich und deutete links auf ein weißes Gebäude mit eingezäunter Terrasse, auf der sich die Gäste einen Kaffee oder einen Tee gönnten. »Und ein Stück weiter hinten in der Straße Richtung Zentrum ist links noch der Inselwinkel, ein sehr gut sortierter Bioladen. Dort gibt es auch Spiekeroog-Schokolade.«

Fine nickte ein weiteres Mal, ohne es zu kommentieren. Sie würde sich das alles sowieso nicht merken können. Zumindest noch nicht. Zwar hatte sie sich zu Hause den Inselplan als PDF-Datei heruntergeladen und angesehen, aber auswendig gelernt hatte sie ihn nicht. Stattdessen starrte sie auf die großen Tortenstücke auf den Tellern bei der Inselbäckerei. Susa deutete ihren Blick richtig.

»Ja, hier werden wahre Meisterwerke gezaubert. Die Sanddorntorte solltest du unbedingt mal probieren, solange du da bist. Ein Traum!« Sie spitzte die Lippen zu einem Kuss.

»Sanddorn? Das sind doch diese sauren Beeren, die zwar gesund sein sollen wegen des Vitamin-C-Gehalts, aber die kann man doch unmöglich essen?« Fine schüttelte sich.

Susa lachte. »Ich sehe schon, hier muss ich gegen Vorurteile ankämpfen. Oder sind es eher schlechte Kindheitserfahrungen?«

Fine schnaubte. »Meine Mutter hat mir das Zeug früher immer als Muttersaft pur eingeflößt, wenn sich eine Erkältung angebahnt hat. Seitdem kann ich es nicht mehr riechen.«

Susa lachte wieder. »Wart’s ab. Ich bin mir sicher, du wirst deine Meinung noch ändern. Und am Ende wirst du als Sanddornliebhaberin die Insel verlassen.«

Fine sagte nichts dazu. Sie war sich ziemlich sicher, dass sich diese Prophezeiung nicht bewahrheiten würde. Mittlerweile waren sie links über den Slurpad rechts in den Tranpad abgebogen. Die Sonne hatte sich zum Zenit gekämpft, und es war merklich wärmer geworden. Familien in Sommerkleidung und mit voll beladenen Bollerwagen kamen ihnen entgegen, die Kinder rannten barfuß voraus. Ein Duft von Sonnencreme lag in der Luft. Der Strand rief, auch ohne laut zu schreien. Ein Junge von etwa drei Jahren mit blauem Sonnenhut wuselte mit seinem Laufrad haarscharf an Fines Beinen vorbei. Seine Mutter, die einen Kinderwagen schob, entschuldigte sich bei Fine und rügte ihren Kleinen.

»Alles gut, ist doch nichts passiert.« Fine winkte ab und zwang sich zu einem Lächeln, das sofort gefror, sobald die Frau an ihr vorüber war.

»Alles in Ordnung?«, fragte Susa und musterte Fine, während sie in die Einfahrt eines Hauses gingen, in dem sich offenbar die Polizeidienststelle befand. Deutlich erkennbar an einem blauen Schild, auf dem mit weißen Lettern »Polizei« stand.

Fine sah erst zu Boden, dann von Susa weg zum Nachbarhaus, das wie die meisten Häuser auf Spiekeroog rot geklinkert war. »Ja, klar, alles bestens.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, kniff sie einmal kurz zusammen und wandte sich wieder Susa zu. »Kannst du mir bitte mein Zimmer zeigen? Ich würde mich gern kurz frisch machen und meine Uniform anziehen, bevor du mir die Dienststelle zeigst.« Sie schluckte. Ob Susa ihr das abnehmen würde?

Susa nickte, sagte nichts, aber ihr Blick hing immer noch an Fine. Als ob sie versuchte, irgendetwas an ihr abzuscannen. Wieder schluckte Fine. Sie hasste es, so angestarrt zu werden. Aber wenn sie das jetzt anspräche, würde sie noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie holte tief Luft und lächelte so unverbindlich, wie es ihr möglich war. Doch der Kloß in ihrem Hals wollte nicht weichen.

Susa lächelte ebenfalls, aber es erreichte nicht ihre Augen. Dann wandte sie den Blick zu ihrem Fahrrad, stellte es in der Einfahrt ab und wuchtete den Koffer aus dem Anhänger. Schnell nahm Fine ihn ihr ab. Immer noch wortlos schloss Susa die Haustür auf. Neben der Tür hing ein Schild mit den Öffnungszeiten der Dienststelle und einer Telefonnummer, an die man sich wenden konnte, wenn zu den Öffnungszeiten niemand erreichbar war. Fine folgte Susa durch die Tür, und Susa schloss sie hinter ihnen. Fine sah sich um. Durch eine offene Tür am anderen Ende des Flurs erkannte sie einen Büroraum mit Schreibtischen, Computern und Bildschirmen. Susa räusperte sich.

»Hör mal, Fine, es tut mir leid, wenn ich dir gerade zu nahe getreten bin. Offensichtlich ging es dir nicht gut, als die Frau sich wegen ihres Sohns bei dir entschuldigt hat.«

Fine öffnete den Mund, aber Susa hielt sie auf. »Nein, alles gut. Ich verstehe schon, du willst nicht darüber reden. Ich will nur nicht, dass das jetzt gleich zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit hier zwischen uns steht, verstehst du? Daher sage ich dir jetzt, dass ich das wahrgenommen habe, aber dass du mir nichts erzählen musst, wenn du nicht willst. Das ist völlig legitim. Schließlich kennen wir uns auch gar nicht. Aber ich sage immer, ja, wir sind Polizistinnen, wir arbeiten für Recht und Ordnung, aber ohne Uniform sind wir auch nur Menschen mit Problemen.« Sie strich Fine über die Schulter.

Fine sog so sehr die Luft ein, dass Susa es garantiert bemerkte. Sie nickte, unfähig zu antworten. Warum konnte sie nicht einfach »Danke« sagen? Susa konnte nichts dafür, sie hatte Fine nichts getan. Trotzdem nahm Fine es ihr übel, dass sie wahrgenommen hatte, dass Fine ein Problem hatte. Und sie hatte es nicht nur wahrgenommen, sondern auch noch angesprochen. Das hatte in Erlangen niemand gewagt. Obwohl dort alle gewusst hatten, was passiert war. Aber keiner hatte darüber geredet. Und dafür war Fine dankbar gewesen. Das Schweigen war wie eine gute Freundin geworden, die sie überallhin begleitet hatte. Nur während der Therapiestunden hatte sie es abgelegt wie einen übergroßen Mantel, der viel zu schwer auf ihren Schultern lastete. Aber er bot ihr auch Schutz. Schutz vor genau solchen Blicken. Und Fragen. Doch Susa hatte ihr Schweigen einfach ignoriert. Fine atmete tief aus und wiederholte still, dass es immer noch nicht Susas Schuld war. Am liebsten hätte sie die Situation rückgängig gemacht, sich irgendwie anders verhalten, aber das war unmöglich. Doch Susa lächelte nur, dieses Mal auch mit den Augen, strich ihr über den Rücken und ging an ihr vorbei zu einer Treppe, die nach oben führte.

»Komm, ich zeige dir dein Zimmer. Und wenn du fertig bist, trinken wir einen Tee, und ich erkläre dir, wie das hier so läuft.«

Noch auf der Treppe klingelte Susas Diensthandy.

»Polizeidienststelle Spiekeroog, Most am Apparat.« Stille. »Ja, Sie sind hier richtig, was ist denn passiert?«

Fine kniff die Augen zusammen. Was war denn los? Susa war mitten auf der Treppe stehen geblieben und schien wie festgewachsen.

»Das ist jetzt nicht wahr!« Sie ließ sich auf eine Stufe sinken, das Telefon immer noch am Ohr. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

2

Susa ließ das Handy in ihren Schoß sinken, das Display leuchtete noch, aber der Anrufer hatte schon aufgelegt. Zumindest konnte Fine nicht mehr erkennen, wer angerufen hatte.

Als Susa auch Sekunden später immer noch an die Wand starrte und sie nicht wahrzunehmen schien, stellte Fine ihren Koffer auf einer Stufe ab und setzte sich neben sie.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie leise und beobachtete Susa genau.

Susa schrak auf und fasste sich ans Herz. »Ich kann es immer noch nicht glauben.«

»Was kannst du nicht glauben? Wer hat denn angerufen?«

Susa schüttelte sich. »Ich glaube, du musst das Umziehen und Einrichten noch etwas verschieben. Wir müssen zu einem Tatort.« Allmählich kehrte die Farbe wieder in ihr Gesicht zurück.

»Wie – zu einem Tatort?« Vielleicht hatte Fine sich ja auch nur verhört.

Susa erhob sich und reichte Fine eine Hand, um ihr aufzuhelfen. »Touristen haben ein Skelett in den Dünen gefunden, oder zumindest meinen sie, dass es eines ist. Ein Armknochen würde aus dem Sand ragen, und deshalb haben sie bei der 110 angerufen. Die Kollegen in Wittmund haben ihre Aussage aufgenommen und mich benachrichtigt.«

»Und was hat dich daran jetzt so mitgenommen?« Fine runzelte die Stirn. Das war doch nichts Besonderes. Zumindest nicht für sie. Ihr Herz pochte zwar schneller, aber in ihrem Kopf spulte sie bereits das fest verankerte Programm ab: Fundort aufsuchen und sichern, Zeugen befragen, die weiteren Vorgänge vor Ort entscheiden. So etwas verlernte man nicht, wenn man es so oft erlebt hatte wie sie. Seltsamerweise stieg in Fine dabei ein Gefühl der Leichtigkeit auf. War das Freude? Einen Moment lang erschien es ihr unpassend, aber warum eigentlich? Wie lange hatte sie darauf gewartet, dass wieder einmal etwas passierte in ihrem Leben? Etwas, was sie beherrschte? Worüber sie die Kontrolle hatte? Sie holte tief Luft und streckte sich.

Kurz schien Susa wie eingefroren, so als würde sie überlegen, wie sie es ausdrücken sollte. Doch dann kam Bewegung in sie. »Ein Skelett! Hier, auf Spiekeroog! Fine, hier passiert nie was. Nie! Hier gibt es keine einzige Akte über einen Mord. Das letzte Gewaltverbrechen auf den Inseln war 2017 auf Amrum, davor 2013 auf Juist.« Susa fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum.

»Na ja, wenn die ein Skelett gefunden haben, dann ist es ja wohl eine ältere Leiche. Könnte dann ja ungefähr in diesen Zeitraum passen. Ist also gar nicht aktuell.«

»Du meinst, hier geht ein Mörder um?« Susa schlug sich gegen die Stirn, bevor Fine auch nur zu einer Antwort ansetzen konnte. »So ein Unsinn! Der Mörder der Juister Studentin war ein Aushilfskellner, der sein Opfer im Sand erstickt hat, weil sie ihn abgewiesen hat. Allerdings wurde er nur wegen Totschlag verurteilt, weil wohl keine Mordmerkmale nachgewiesen werden konnten. Und auf Amrum wurde ein Flüchtling von zwei Deutschen erstochen, weil er angeblich die Schwester des einen vergewaltigt hatte. Sozusagen Selbstjustiz. Die beiden Fälle hatten nichts miteinander zu tun.«

»Woher weißt du das denn alles so genau? Ich meine, ist ja schön und gut, dass man sich daran erinnert, dass irgendwann mal irgendwo ein Mord passiert ist, aber mit Jahreszahl und so detailliert?« Fine zog die Nase kraus und legte den Kopf schief.

Susa druckste etwas herum. »Weißt du, das ist so ein bisschen mein Hobby. Also, eigentlich unser Hobby, Desmonds und meins. Wir lieben True Crime, hören fast jeden Podcast und schauen alles im Fernsehen darüber, was es so gibt. Du weißt schon, angefangen mit ›Aktenzeichen XY‹ und so. Gerade weil so was hier ja nie passiert und ich als Polizeihauptkommissarin darum auch nicht in die Verlegenheit komme, hier eine Mordermittlung zu erleben. Nicht so wie du als Kriminaloberkommissarin bei dir zu Hause. Ich bin Schutzpolizistin, ich habe mich hauptsächlich um Verkehrsdelikte gekümmert oder auch mal einen Gefahrenort gesichert, bevor ich hierhergekommen bin.« Ihre Wangen waren jetzt nicht mehr blass, sie glichen eher zwei leuchtenden Tomaten.

Fines Augen weiteten sich. »True Crime? Echt jetzt?« Sie schüttelte den Kopf. In ihrer Freizeit wollte sie sich nicht auch noch mit fremden Gewaltverbrechen befassen, die hatte sie im Beruf genug. Aber vielleicht war es tatsächlich etwas anderes, wenn man wie Susa normalerweise nichts damit zu tun hatte und hier auf der Insel des Friedens lebte. Oder des vorgeblichen Friedens. Schließlich war gerade ein Skelett in den Dünen gefunden worden. Wie auch immer es dahin gekommen war.

Susa verzog den Mund. »Aber es ist ja gar nicht raus, ob es sich bei dem Skelett um einen Mord oder einen Unfall handelt.«

»Was soll es denn sonst sein? Ich meine, es legt sich doch nicht jemand freiwillig in die Düne, um zu sterben. Und verbuddelt sich dann noch selbst, wenn er tot ist.« Fine schnaubte. Selbst auf der Insel des Friedens herrschten doch die Gesetze der Logik.

Ihre Kollegin nickte widerstrebend. »In Ordnung. Aber noch ist nicht klar, ob es überhaupt ein menschliches Skelett ist oder ob die Touris nur glauben, in den Knochen einen Arm zu erkennen. Und wir werden dem Mysterium nicht auf die Spur kommen, wenn wir nicht endlich losfahren.«

Eine halbe Stunde später stiegen die beiden bei einer Bank im Osten der Insel vom Fahrrad. Von hier aus führte ein kaum sichtbarer Pfad in die Grau- und Braundünen. Fine hatte darüber auf der Webseite gelesen, auch wenn sie nicht mehr wusste, wie genau man die beiden Dünenformen auseinanderhielt. Susa hatte von der Wittmunder Dienststelle die GPS-Daten der Touristen, die das Skelett gefunden hatten, auf ihr Handy übertragen bekommen, sodass sie jetzt nur dem Signal folgen mussten. Mit etwas Mühe kämpften sie sich durch das Unterholz. Fine hatte gar nicht gewusst, dass es auf Spiekeroog so viel Wald gab. Dennoch sahen die Bäume nicht so aus wie in den Wäldern bei ihr zu Hause in Franken, obwohl es ebenfalls Kiefern und Eichen waren. Gedrungen und teilweise mit Flechten überwuchert, waren sie mit dem Wind gewachsen und zeigten somit deutlich an, wo die Wetterseite lag.

»Was hatten diese Touris eigentlich mitten in der Naturschutzzone in den Dünen verloren? Da dürfen die doch gar nicht hin!« Susa kämpfte sich vor ihr unter den Ästen einer Eiche hindurch.

Fine antwortete nicht, sie musste aufpassen, dass sie nicht einen der Zweige ins Gesicht bekam. »Woran erkenne ich eigentlich, dass ich hier im Naturschutzgebiet bin?« Sie blieb kurz stehen und schaute sich um. Für sie sah es hier überall gleich hügelig aus. Hügeliger, als sie es erwartet hatte. Und vor allem dichter bewachsen.