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Der ehemalige KSK-Soldat Jan Storm übernimmt auf der Suche nach einem Neuanfang die Landarztpraxis in Brodersby, einer idyllischen Gemeinde zwischen Schlei und Ostsee. Denn nach einem traumatischen Afghanistaneinsatz will er nur noch vergessen – und der kleine Ort scheint ihm meilenweit entfernt von Schusswunden, Explosionen und Toten. Als er erfährt, dass sein kerngesunder Vorgänger unter mysteriösen Umständen verstarb, und weitere Dorfbewohner plötzlich zusammenbrechen, beschließt er, der Sache auf den Grund zu gehen. Doch damit bringt er nicht nur sich, sondern auch Arzthelferin Lena in tödliche Gefahr – denn seine Gegner haben ihn längst im Visier …
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Seitenzahl: 465
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Stefanie Ross
Das Schweigen von Brodersby
© 2017 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str.31, 44139 Dortmund
Internet: http://www.grafit.de
E-Mail: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack, Hamburg
Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/SvedOliver (Schilf), Creative-Material (Haus)
eBook-Produktion: CPI books GmbH, Leck
eISBN 978-3-89425-725-5
Die Autorin
Stefanie Ross wurde in Lübeck geboren. Sie verbrachte einen Teil der Schulzeit in Amerika und unternahm später ausgedehnte Reisen unter anderem durch die USA, Kanada und Mexiko. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre folgten leitende Positionen bei Banken in Frankfurt und Hamburg. Sie ist verheiratet, Mutter eines Sohnes, fährt gerne Motorrad und schreibt seit 2012 Thriller.
Kapitel 1
Laut Wetterbericht sollte es ein schöner Tag werden, nichts deutete darauf hin, dass eine Tragödie bevorstand. Nichts, außer dem unguten Gefühl, das Theo Dunker seit dem Aufstehen verfolgte.
Als Arzt war er es gewohnt, sich bei der Behandlung seiner Patienten nicht nur von den Fakten, sondern auch seiner Intuition leiten zu lassen. Sein Verstand sagte ihm, dass kein Grund zur Sorge bestand. Trotzdem hatte er das Gefühl, eine Katastrophe steuerte geradewegs auf ihn zu und kam mit jeder Sekunde näher.
Die idyllische Landschaft um ihn herum verbot eigentlich solche negativen Gedanken. Es war schon später Vormittag, aber noch hingen Reste der morgendlichen Nebelschwaden über der Wasseroberfläche. Vögel kreisten krächzend über der Schlei. Am Olpenitzer Noor wirkte der Meeresarm wie die Ostsee selbst – weit und friedlich. Für Theo kam dieser Ort seiner Vorstellung vom Paradies sehr nahe. Hinter ihm dichter Wald, vor ihm das Ufer mit hohem Schilf und einem kleinen Sandstrand. Die freie Fläche am Ufer war gerade groß genug für ihn, seinen Klapphocker und seine Tasche. Die Angel war nur ein Alibi. Heute hatte er sie nicht einmal zusammengesteckt und ausgeworfen. Er blickte auf das Wasser und hoffte auf den Frieden und die Ruhe, die er sonst hier fand. Vergeblich.
Ausgerechnet einen Mittwoch, den Tag, an dem seine Praxis geschlossen blieb, verschwendete er mit Grübeleien. Theo sah auf die Uhr. In etwas über einer Stunde wurde er im Dorfkrug zur Chorprobe erwartet. Danach standen ein gemeinsames Essen und der eine oder andere Korn auf dem Programm – oder vielleicht eher ein Ouzo.
Theo schmunzelte unwillkürlich bei dem Gedanken an das Treffen mit seinen Mitsängern. Als junge Kerle hatten sie sich zusammengefunden, er konnte kaum glauben, dass ihre Gruppe nun schon seit über vierzig Jahren bestand. Als der Besitzer des Dorfkrugs vor einem Jahr völlig unerwartet seinen Rückzug aus dem Geschäft ankündigte und gleichzeitig ein griechisches Ehepaar als seine Nachfolger präsentierte, hatten sie Böses befürchtet. Aber der Wirt war clever genug gewesen, nicht alles zu ändern. Aus der Alten Schleifähre war Beim Zeus geworden. Die Speisekarte war an die neuen Inhaber angepasst, die Gaststätte mit modernen Möbeln ausgestattet worden, aber der Stammtisch hatte immer noch seinen Platz in der Ecke. Und im Nebenraum, in dem mittlerweile mehr Beerdigungen als Hochzeiten gefeiert wurden, fand weiterhin regelmäßig ihre Chorprobe statt.
Alles war im Fluss, änderte sich und das war auch gut so, denn Theo hasste eingefahrene Wege. Auch er musste sein jetziges Leben überdenken. Sein eigener sechzigster Geburtstag lag schon drei Jahre zurück und so ungern er es zugab, er musste sich endlich um den Abschied aus dem Berufsleben kümmern. Aber welcher Arzt wäre schon bereit, nach Brodersby zu ziehen und seine Landarztpraxis fortzuführen? Reich wurde man damit nach den ganzen unsäglichen Gesundheitsreformen nicht und Idealismus allein ernährte keine Familie. Er selbst hatte wenigstens noch die fetten Jahre als Arzt miterlebt und ausreichend Geld gespart, um sich nicht einschränken zu müssen. Seine Frau plante schon die Reisen, die sie bald unternehmen würden, und ein Teil von ihm freute sich auf diese Zeit. Aber da war auch die Angst, wie ihm ein Leben ohne seine Arbeit gefiel, denn eins hatte sich in all den Jahren nicht geändert: Er war mit Leib und Seele Arzt und wollte den Menschen helfen.
Seufzend packte er seine Sachen zusammen. Er konnte ebenso gut früher beim Zeus auftauchen. Einer seiner Kumpels war eigentlich immer schon dort und alles war besser, als hier herumzusitzen und sich ohne konkreten Anlass Sorgen zu machen.
Der Weg zu seinem Auto führte durch das kleine Waldstück. Die hohen Stämme der Weiden wirkten heute fast bedrohlich. Theo schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. Eine solche Schwarzseherei kannte er nicht und sie war nur schwer zu ertragen. Dann sah er die Grünfläche vor sich, auf der er seinen Mercedes geparkt hatte. Der Geländewagen war der einzige Luxus, den er sich gönnte. Seine Frau hatte nur milde gelächelt, als er ihr von seiner Absicht erzählt hatte, sich ausgerechnet dieses Auto zu kaufen. Er brauchte weder Allradantrieb noch ein Fahrzeug für über sechzigtausend Euro, aber er hatte es einfach haben wollen und liebte es.
Den dunklen Fleck direkt vor sich hätte er fast übersehen. »Verdammter Mist!«, entfuhr es ihm. Langsam setzte er seine Tasche ab.
Ein Kadaver. Dabei wirkte der Vogel, als ob er schlafen würde. Theo hatte nicht viel Ahnung von Vögeln, aber dieser war leicht zu erkennen. Der braune Körper, der deutlich hellere Hals und Kopf. Die Schönheit des Seeadlers war ungebrochen.
Er hockte sich neben das tote Tier. Ein merkwürdiger Gestank stieg ihm in die Nase. Den gleichen stechenden Geruch hatte er schon auf dem Parkplatz bemerkt, als er seine Sachen aus dem Kofferraum geholt hatte. Woran mochte der Vogel gestorben sein? Es gab keine sichtbaren Verletzungen. Damit schloss Theo die verirrte Kugel eines Jägers ebenso aus wie eine Schlinge. Blieb eigentlich nur Gift. Er strich über die Schwungfedern, die den Körper des majestätischen Tieres niemals wieder durch den Himmel tragen würden. Eine tiefe Trauer ergriff Besitz von Theo, die ihn selbst überraschte. Er blinzelte und kämpfte um seine Fassung.
Auf der Suche nach einer Ablenkung blickte er nach oben. Vielleicht war irgendwo dort in den Gipfeln der Bäume ein Hort. Davon hatte er bisher zwar nicht einmal gerüchteweise etwas gehört, aber das war kein Wunder, denn die Brutstätten der seltenen Vögel wurden aus gutem Grund geheim gehalten. Sosehr sich auch die Naturfreunde über die Rückkehr des Seeadlers freuten, die Schleifischer waren davon weniger begeistert.
Dieses Tier würde den Fischbestand jedenfalls nicht länger gefährden. Theo hustete trocken. Der Geruch, der von dem Kadaver ausging, war unangenehm und schien sich wie ein Film über seine Bronchien zu legen.
Unschlüssig stand er auf und sah sich um.
Dann hatte er sich entschieden. Hannes, nicht nur sein Freund, sondern auch der örtliche Jäger, gehörte zu seinem Chor, und er würde wissen, was zu tun war. Hannes würde vielleicht auch erkennen, woran das Tier gestorben war. Aus irgendeinem Grund war die Antwort auf diese Frage für Theo wichtig. Wenn der majestätische Vogel durch Menschenhand umgebracht worden war, dann wollte er den Verantwortlichen bestraft wissen.
Theo wuchtete seine Tasche wieder auf den Rücken und zögerte kurz. Der Gedanke, das tote Tier anzufassen, gefiel ihm nicht. Egal. Es musste sein. Energisch griff er nach den Fängen und stutzte. Das Gewebe fühlte sich noch warm an. Keineswegs kalt und unangenehm, wie er es erwartet hatte. Dann verzog er selbstkritisch den Mund. Auf dem Hinweg vor etwa zwei Stunden hätte er den Vogel kaum übersehen können, demnach musste das Tier erst vor Kurzem verendet sein.
Der Kadaver war schwerer als gedacht, fünf bis sechs Kilo waren es wohl. Unschlüssig blickte Theo zu seinem Mercedes. Er liebte die Nobelkarosse, aber sie war dennoch ein Gebrauchsgegenstand. Also breitete er die alte Decke im Kofferraum aus und hievte den Vogel hinauf. Das musste als Schutz für den Innenraum reichen.
Er rümpfte die Nase. Immer noch dieser Gestank. Theo vermutete, dass er nicht von dem toten Vogel kam, denn schließlich hatte er ihn schon bei seiner Ankunft wahrgenommen. Der Geruch war widerlich, aber doch auch irgendwie vertraut. Theo kam nur nicht darauf, woran er ihn erinnerte.
Wieder musste er husten. Rasch schlug er den Kofferraumdeckel zu.
Auf dem Parkplatz vor dem Zeus stand schon der Škoda von Hannes. Sein Freund winkte ihm zu und ging in Richtung der Gaststätte. Theo hupte und signalisierte ihm zu warten.
Sichtlich ungeduldig trat Hannes an die Fahrerseite heran. »Moin, Theo. Was ist denn? Ich müsste mal ums Eck.«
Theo stieg aus und seufzte. »Sieh dir bitte erst kurz an, was ich hinten drinhabe.« Er hatte den Kofferraum schon per Fernbedienung entriegelt.
Hannes genügte ein Blick. »So’n Schiet.«
Eine bessere und knappere Zusammenfassung wäre Theo auch nicht eingefallen.
»Wo hast du ihn gefunden? Sag nun bitte nicht am Olpenitzer Noor in deinem kleinen Anglerparadies.«
»Genau dort.«
»Ach, Mist! Das war ein Pärchen, von dem wir uns Nachwuchs erhofft haben.« Hannes fuhr über die Federn des Tieres und hob den Kadaver an. »Komisch. Keine sichtbaren Verletzungen, auch keine offensichtliche Vergiftung. Dann sehen die Vögel anders aus. Dieser Bursche wirkt, als ob er nur pennen würde, das Gefieder ist nur etwas feucht. Was für ein Jammer … Aber ich nehme ihn mit, denn bei einem Seeadler will jeder wissen, wie er gestorben ist. Das gibt Untersuchungen, die jeden Tatort-Kommissar neidisch machen.«
Hannes hatte den toten Adler in seinem Škoda verstaut, ehe Theo ihm seine Hilfe anbieten konnte. Anschließend betrachtete sein Freund ihn prüfend. »Sag mal, alles in Ordnung mit dir? Wenn ich dich so sehe, gefällst du mir gar nicht.«
Theo fuhr sich über die verschwitzte Stirn. »Alles gut. Nur ein Tag, der zum Abgewöhnen ist.« Er ignorierte das leise Stechen im Brustbereich, das alle möglichen Ursachen haben konnte, aber kein Grund zur Sorge war.
Überzeugt war Hannes wohl nicht, aber er ließ das Thema auf sich beruhen. »Lass uns reingehen. Ich glaube, wir können beide einen ordentlichen Korn gebrauchen.«
Als sie den Tresen erreicht hatten, war Theo außer Atem. Er lehnte sich gegen das Holz und horchte in sich hinein. Leugnen war zwecklos: Er wurde eben einfach nicht jünger. Außerdem hatte ihn der Anblick des toten Adlers stärker getroffen, als er gedacht hätte. Leben und Tod lagen so verdammt nah beieinander, das wusste er als Arzt nur zu gut. Doch manchmal wurde dieses Wissen zur Last. Denn schließlich hatte er selbst die Macht, den Tod herbeizuführen. Theo fragte sich, ob es immer richtig gewesen war, was er getan hatte. Es gab Tage, da wünschte er sich die Unbeschwertheit eines Kindes zurück.
»Ich wünscht’, es wär’ noch mal Viertel vor sieben«, entfuhr es ihm.
Irritiert blickte ihn sein Freund an.
Theo winkte ab. »Ein Lied, das mir seit einiger Zeit nicht mehr aus dem Kopf geht. Reinhard Mey. Als Kind war irgendwie alles leichter.«
Hannes nickte. »Das kannste wohl laut sagen. Aber ein ordentlicher Korn und die Welt sieht wieder anders aus.«
Dimitri, der Wirt, schob ihnen lächelnd zwei Gläser zu. »Die gehen aufs Haus.«
Der Alkohol half. Sie redeten, waren nachdenklich, lachten, dann trafen auch schon die anderen Chormitglieder ein. Der Tag schien sich zum Besseren zu wenden.
Wie immer starteten sie mit Gaudeamus igitur – ›Lasst uns fröhlich sein‹. Hannes hatte irgendwo ausgegraben, dass das Lied ursprünglich ›Über die Kürze des Lebens‹ – De brevitate vitae genannt wurde. Das passte zu diesem Tag. Theo würde es in Gedanken dem toten Adler widmen. Bei jeder Silbe sah er den Vogel in weiten Kreisen durch die Luft segeln und das Leben genießen, ohne zu wissen, dass es schon in der nächsten Sekunde vorbei sein konnte. Venis mort velociter – ›Der Tod kommt schnell‹. Diese Zeile brachte Theo nicht über die Lippen. Er selbst schien durch den Raum zu schweben. Mit überraschender Klarheit sah er plötzlich Details, die ihm vorher entgangen waren. Der Fleck auf Hannes’ Hemd. Die abgerissene Tapete in der Ecke des Raumes. Die Worte der nächsten Strophe drangen an sein Ohr, verstummten schlagartig. Er sah sich selbst am Boden liegen, hustend, zusammengekrümmt, ohne zu verstehen, was geschah. Seine Freunde beugten sich über ihn, versperrten ihm die Sicht. Ein grauenhafter Druck lastete auf seiner Brust – und dann war es plötzlich vorbei. Dunkelheit umfing ihn, abgelöst von Helligkeit, Seite an Seite schraubte er sich mit dem Adler in die Höhe, unter ihm ein grenzenloser Ozean. Für einen Moment begriff er, dass er nicht mehr Teil dieser Erde war, er wusste sogar, was mit ihm und dem Vogel geschehen war, wollte seine Freunde warnen und konnte es nicht. Er ahnte, dass er nun erfahren würde, ob es eine andere Gewalt jenseits der bekannten Welt gibt, vor der er sich nun verantworten musste. Ein letztes Mal verspürte Theo eine tiefe Sorge um seine Frau, wusste aber auf eigentümliche Weise, dass letztlich alles gut werden würde – und nun sowieso außerhalb seines Einflussbereiches lag.
Kapitel 2
Blut. Überall. Es färbte den Tarnanzug tiefrot, fast schwarz. Es versickerte im Boden. Blut war Leben. Aber nur innerhalb des Körpers. Jan konnte nichts dagegen tun, dass das Leben aus seinem besten Freund herausfloss. Im Prinzip hatte ihrer beider Leben dort im Staub geendet.
Jan Storm riss am Gashebel seiner Kawasaki. Die Bilder aus der Vergangenheit drohten ihn zu überwältigen. Doch während er mit mehr als zweihundert Sachen über die Autobahn flog, war das nicht drin. Die Erinnerungen verfolgten ihn, hatten ihn monatelang gelähmt, aber jetzt hatte er den Kampf gegen sie aufgenommen. Seine Waffe hieß Ninja ZX10R, ein schwarzgraues Motorrad mit zweihundertzehn PS bei nur gut zweihundert Kilo Kampfgewicht. Er brauchte einen freien Kopf und seine Konzentration, um dieses Monster auf der Straße zu halten. Da war kein Platz für Trauer, Wut, Verzweiflung und grenzenlosen Schmerz.
Die digitalen Ziffern des Tachos zählten hoch, stoppten schließlich bei zweihundertdreißig. Und noch war die Kraft der Ninja nicht ausgereizt. Zweihundertfünfundneunzig Stundenkilometer waren möglich, allerdings hatte er die noch nie erreicht. Die Landschaft flog an ihm vorbei wie in einem Videospiel. Er erkannte nur verschwommene Schemen. Es war früher Morgen, noch dunkel, und damit Wahnsinn, so schnell im Licht der Scheinwerfer über die Autobahn zu jagen. Aber er wusste, was er tat. Einigermaßen.
Viel zu nah vor ihm scherte ein Wagen aus. Die Rücklichter kamen rasend schnell näher. Jan widerstand dem instinktiven Impuls, am Bremshebel zu reißen. Das Motorrad war Hightech auf zwei Rädern, aber die Gesetze der Physik konnte es nicht aushebeln. Gefühlvoll bremste er ab. Es reichte.
Er bummelte dem Kombi mit dem Schild Konstantin an Bord hinterher, bis die Frau es endlich geschafft hatte, den Lkw zu überholen. Warum war sie wohl an einem Montagmorgen um fünf Uhr auf der Autobahn unterwegs? Ihr Sohn schlief auf der Rückbank im Kindersitz, so viel konnte Jan erkennen.
Eine Schilderbrücke mit dem Hinweis auf die A 7, Richtung Flensburg. Warum eigentlich nicht? Er kalkulierte die Fahrtzeit. Mit normalem Tempo waren es ungefähr drei Stunden bis zu jenem Ort, an dem er neu beginnen wollte. Bei seiner Geschwindigkeit wäre er deutlich früher dort und konnte sich in Ruhe umsehen.
Er gab Gas.
Langsam ließ Jan seine Maschine vor dem Ortsschild ausrollen. Brodersby. Merkwürdiger Name, den es noch dazu zweimal in dieser Gegend gab: einmal als größere Gemeinde in der Nähe von Schleswig und dann eben dieses Dorf zwischen Schlei und Ostsee. Bisher waren rechts und links der Straße gelb blühende Rapsfelder, Mais oder Kuhweiden gewesen, aber exakt nach dem Schild begann die Bebauung. Häuser, die ihre besten Zeiten schon hinter sich hatten. Gepflegte Vorgärten. Menschenleer. Jan sah auf die digitale Uhr am Armaturenbrett. Kurz nach sieben. Müssten nicht Schulkinder unterwegs sein? Pendler? Wo war er hier nur hingeraten? Es war Wahnsinn gewesen, ohne Ortsbesichtigung die Verträge für die Praxisübernahme zu unterschreiben. Jetzt bekam er dafür die Quittung. Aber so schnell ließ er sich nicht entmutigen. Alles war besser als die Passivität der letzten Monate. Er wollte einen Neuanfang und den würde er hier beginnen.
Ein Hupen direkt hinter ihm, das eher an eine Schiffssirene erinnerte, ließ ihn zusammenfahren. Ehe er sich umdrehen konnte, stand ein riesiges Ungetüm von Traktor neben ihm.
Der Fahrer beugte sich zu ihm herunter: »Haste dich verfahren, mien Jung?«
Die Anrede hätte ihn fast zum Lachen gebracht. Aber nur fast. Er öffnete das Visier seines Helms und schüttelte den Kopf. »Nee, alles klar. Aber danke.«
»Dafür nich.« Der Trecker fuhr an und stieß dabei einen Qualm aus, der an einen kaputten Schornstein erinnerte.
Hilfsbereit waren die Bewohner anscheinend. Jan nahm sein Handy aus der Brusttasche, rief das Navigationsprogramm auf und prägte sich sein Ziel ein. Verfehlen konnte er es kaum. Denn wenn er der Karte auf dem Display trauen konnte, bestand der Ort lediglich aus vier Straßen, die nahezu parallel zueinander verliefen, und zwei Querstraßen. Obwohl er nun den Weg kannte, starrte er weiter auf die Karte. Der Aufbau glich den Dörfern in Afghanistan: eine lange Hauptstraße, die anderen enger, schmaler und damit die perfekte Umgebung für einen Hinterhalt und …
Jans Gedanken machten eine Art Vollbremsung. Er war in Deutschland, die dänische Grenze war in der Nähe – nicht gerade der typische Ort für Heckenschützen oder Sprengfallen. Rasch fuhr er wieder an, ehe sich einmal mehr Vergangenheit und Gegenwart vermischten. Vor einem Kiosk in einem uralten Reetdachhaus stand bereits eine Werbetafel und warb für belegte Brötchen und Kaffee zum Mitnehmen. Die Botschaft war kaum in seinem Gehirn angekommen, als Jan sein Motorrad bereits in die Lücke zwischen einem verdreckten Škoda und dem Sprinter eines Elektroinstallateurs rangierte.
Nach dem Absteigen spürte er die verkrampften Muskeln und reckte sich. Das stundenlange Sitzen auf der Ninja machte sich nun mit voller Wucht bemerkbar. Er fuhr sich durch die braunen Haare, die unter dem Helm jeden Ansatz einer Frisur verloren hatten und unangenehm an seiner Kopfhaut klebten.
Das Öffnen der Tür wurde von einem Klingeln begleitet. Hinter dem Verkaufstresen stand eine weißhaarige Frau, in der Ecke an einem Bistrotisch waren zwei Männer in den Sechzigern, jeder mit einem Pott Kaffee vor sich. Einer von ihnen im Blaumann, vermutlich der Fahrer des Sprinters, der andere trug einen Bundeswehrparka.
»Moin«, begrüßte ihn die Frau, während die Männer sich auf einen flüchtigen Blick und ein knappes Nicken beschränkten.
Schmunzelnd erwiderte Jan den ungewohnten Gruß, der nördlich von Hamburg und Kiel die Standardfloskel war. Die belegten Brötchen sahen vielversprechend aus und der Kaffee roch stark und frisch.
Jan sah sich noch ratlos um, wie und wo er mit Helm, Teller und Kaffeebecher sein Frühstück essen sollte, da rückten die Männer schon etwas zusammen. Das war wohl ihre Art einer Einladung.
Er legte den Helm kurzerhand auf einen Stuhl, der in der Ecke stand. »Danke.«
Ein zweistimmiges Brummen antwortete ihm. Schweigend standen sie zu dritt an dem Tisch, jeder mit seinem Frühstück beschäftigt. Erst ein heftiger Hustenanfall des Mannes im Parka beendete die Ruhe.
Automatisch wechselte Jan in den Arztmodus. Das klang bedrohlich und keineswegs nach einer harmlosen Erkältung. Der Mann lief rot an, rang nach Atem, seine Lippen verfärbten sich bereits bläulich. Jan warf seinen Helm auf den Boden und drückte den hustenden Mann auf den Stuhl.
Als der Mann sich zusammenkrümmen wollte, hinderte Jan ihn daran. »Nicht! Halten Sie den Oberkörper aufrecht, das erleichtert das Atmen. Und nun ganz gleichmäßig. Nicht hektisch werden. Einatmen. Ausatmen.« Er wiederholte die letzten Worte bestimmt, aber ruhig. Das wirkte. Sein neuer Patient hörte auf, krampfhaft nach Luft zu ringen, und verfiel in den Atemrhythmus, den Jan ihm vorgab. Die erste Gefahr war gebannt.
»Holen Sie mir ein Glas Wasser, keine Kohlensäure«, befahl er, ohne seinen Blick von dem Mann abzuwenden, dessen Atmen immer noch wie ein Röcheln klang.
Der Elektriker eilte zum Tresen und kehrte nach wenigen Sekunden mit einem Glas in der Hand zurück.
»Kleine Schlucke, nicht nervös werden. Es ist alles in Ordnung. Wie lange geht das denn schon so?«, erkundigte sich Jan bewusst beiläufig.
Der Mann trank zunächst und Jan war nicht sicher, ob er eine Antwort bekäme. »Seit einigen Wochen. Es ist kurz schlimm, meistens nicht so heftig wie eben, und dann wieder ganz weg.«
Neben ihm atmete der Elektriker tief ein. »Mensch, Hannes! Ich dachte schon, das endet wie bei …« Er brach mitten im Satz ab, deutliche Trauer in der Miene, und sah zu Boden.
Jan beschloss, sich auf das medizinische Thema zu konzentrieren, mehr konnte er sowieso nicht tun. »Damit müssen Sie zum Arzt. Das sieht nach einem ernsthaften Problem mit den Bronchien aus, aber erkältet wirken Sie nicht. Ist es morgens, nach einem Kaffee oder nach einem alkoholischen Getränk schlimmer? Oder wenn Sie lange nichts getrunken haben?«
»Jetzt reden Sie schon wie ein Arzt.« Ein tiefer Seufzer. »Meistens geht es mir gut, nur ab und zu bleibt plötzlich die Luft weg. Aber zum Doktor mal eben so ist nicht drin, der ist nämlich …«
Der Elektriker schlug heftig mit der Faust auf den Tisch »Ganz genau, der Theo ist an etwas gestorben, das sich sehr ähnlich anhörte. Willst du ihm folgen? Du gehst zum Arzt. Schluss. Aus. Vorbei. Entweder freiwillig oder ich spreche mit Lisa. Die wird dich schon hinscheuchen. Mir hast du eben einen fürchterlichen Schrecken eingejagt. Willst du riskieren, dass deine Frau einen Herzinfarkt bekommt, wenn du bei ihr einen solchen Anfall bekommst? Oder glaubst du, es kommt jedes Mal zufällig ein Biker vorbeigeschneit, der weiß, was zu tun ist?«
Jan musste sich bei der Tirade ein Schmunzeln verkneifen. Dann erst zog er die richtige Verbindung. Der Arzt, dessen Praxis er übernehmen würde, hieß Theobald Dunker. Vermutlich war das ›Theo‹. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Dem Mann zu helfen, war selbstverständlich gewesen, sich nun jedoch als neuer Arzt des Ortes zu outen, fiel ihm unerwartet schwer.
»Hören Sie auf Ihren Freund und gehen Sie zum Arzt und … falls Sie vorhin von Doktor Dunker gesprochen haben: Sein Nachfolger plant, die Praxis in zwei Wochen wiederzueröffnen, aber so lange sollten Sie nicht warten.«
Die beiden Männer sahen ihn neugierig an. Schließlich nickte der Elektriker. »Damit wissen Sie dann mehr als wir und das geht eigentlich nur, wenn Sie der Neue sind.« Er musterte ihn von den Motorradstiefeln bis zu den zerzausten Haaren. »Ernsthaft?«
Dieses Mal schmunzelte Jan offen. »Ernsthaft«, bestätigte er.
Der Mann mit dem Husten schüttelte den Kopf. »Menno, wenn das nicht mal eine Überraschung ist.« Er kniff die Augen etwas zusammen, sah dann durch das Fenster auf Jans Motorrad. »Die zwei Wochen werde ich schon noch aushalten, Unkraut vergeht nicht.« Er streckte die Hand aus. »Hannes Waldner. Na, dann mal herzlich willkommen in Brodersby, Herr Doktor.«
»Jan Storm.« Sie wechselten einen festen Händedruck.
Der Elektriker wollte seinem Freund in nichts nachstehen. »Karl Leistner. Wenn Sie Probleme mit Ihren Leitungen haben, dann rufen Sie mich an.«
Das klang zwar zweideutig, war aber offensichtlich nicht so gemeint. »Mach ich.« Es war Zeit für eine weitere Ermahnung. Jan sah Waldner fest an. »Ihr Vertrauen ehrt mich, aber Sie sollten nicht so lange mit dem Arztbesuch warten. Einen derartigen Husten muss man sich genau ansehen.« Er musterte den Mann prüfend, konnte aber keine Auffälligkeiten feststellen. Im Gegenteil, kein erkennbares Übergewicht, wettergebräuntes Gesicht, der Mann schien auf seine Gesundheit zu achten. Umso besorgniserregender war der Hustenanfall. »Und zwar möglichst schnell«, bekräftigte er.
Waldner schüttelte den Kopf. »Ich besuche Sie am Tag nach Ihrer Eröffnung. Falls Sie an einen Tumor denken, kann ich Sie beruhigen. Das habe ich schon hinter mir. Vor vier Wochen war ich bei der Nachsorge und da gab es keinen Grund zur Beunruhigung.«
Jan konnte ihn nicht zwingen, zum Arzt zu gehen. Lungenkrebs hatte er tatsächlich in Erwägung gezogen, aber da das ausgeschlossen zu sein schien, zuckte er mit der Schulter. »Na gut, aber trinken Sie viel, und damit meine ich nicht Kaffee, Tee oder Bier, sondern Wasser. Das hilft mehr, als man sich vorstellen kann. Wenn es geht, dürfen es gerne um die drei Liter pro Tag sein.«
Jan erwartete Widerspruch, als Waldner tief Luft holte, stattdessen klang er einsichtig: »Das will ich gerne tun. Hat mir meine Lisa nämlich auch schon zu geraten. Aber eine Frage hätte ich da noch. Weiß denn die Elvira, dass Sie die Praxis weiterführen? Der nächste Arzt wäre für uns in Kappeln, darum finde ich es gut, dass Sie kommen. Wundere mich aber, weil sie uns bisher nichts gesagt hat.«
Elvira musste die Witwe des früheren Landarztes sein. Da sie der Praxisübernahme zugestimmt hatte, wusste sie, dass und wann Jan kommen würde. Allerdings hatte sie bisher keinen Kontakt zu ihm aufgenommen und auch nicht auf seine Nachrichten reagiert, die er auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Sämtliche Formalitäten und Praxisfragen waren von der kassenärztlichen Vereinigung geregelt worden, der viel daran lag, dass sich in dieser Region wieder ein Allgemeinarzt niederließ. Obwohl das Angebot finanziell durchaus attraktiv gewesen war, hatte es außer Jan keinen Bewerber gegeben.
Er entschied sich für eine unverbindliche Antwort: »Eigentlich sollte sie über alles informiert sein. Aber Sie wissen ja, wie es manchmal so ist, wenn viele Stellen eingeschaltet sind und die Bürokratie ihre Blüten treibt.«
Nicken, Schulterzucken.
Die Erklärung kam offenbar an, gleichzeitig fragte Jan sich jedoch, warum die Witwe seines Vorgängers die bevorstehende Wiedereröffnung der Praxis verschwiegen hatte. Aus den Unterlagen war hervorgegangen, dass sich sowohl die Praxis als auch seine neue Wohnung in einer Hälfte des Doppelhauses befanden, das der Arzt mit seiner Frau bisher komplett bewohnt hatte. Die Witwe beschränkte sich zukünftig auf den anderen Teil. Instinktiv spürte er, dass ihn da kein warmer Empfang erwartete. Verdammt.
Wieder breitete sich Schweigen aus. Jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, während sie ihren Kaffee tranken und Jan endlich dazukam, sein Brötchen zu verspeisen. Seine Wahl war exzellent gewesen, sowohl die Mettwurst als auch das Rührei schmeckten wie hausgemacht und nicht wie der typische Industriemist.
Schließlich verabschiedeten sich die Männer. Waldner bedankte sich ein letztes Mal und versprach, gleich nach der Praxiseröffnung, vorbeizukommen.
Als Jan sein Geschirr auf dem Tresen abstellte, musterte ihn die Frau dahinter neugierig.
»Dann werden wir uns ja hoffentlich öfters sehen, Herr Doktor. Aber bitte hier zum Frühstück und nicht bei Ihnen in der Praxis.«
Jan lächelte. Es wunderte ihn nicht, dass sie jedes Wort mitbekommen hatte. Er war in einem kleinen Dorf aufgewachsen und ahnte, dass dieser Kiosk so etwas wie die Nachrichtenbörse war. »Ich komme gern wieder.«
»Das freut mich. Fahren Sie jetzt zur Elvira?« Sie sah an ihm vorbei durch das Fenster auf sein Motorrad. »Also für einen Arzt hätte ich Sie nun nicht gehalten. Eher für einen Hamburger Unternehmer in der Midlife-Crisis.«
Er hatte sich nicht geirrt: Die Art, ihn einzuschätzen und unterschwellig auszufragen, war typisch für jemanden, der den Dorfklatsch gewissermaßen verwaltete. Er hielt ihr die Hand hin. »Jan Storm, Arzt, kein Unternehmer, nicht in der Midlife-Crisis.« Stattdessen mitten in einer anderen Lebenskrise, aber das würde er hier niemals erwähnen.
Sie schüttelte ihm die Hand. »Erna Wolf. Angenehm.« Ein Lächeln vertiefte die Falten um den Mund herum. »Ich glaube, das mit Ihnen wird interessant.«
So konnte man das natürlich auch sehen. Jan erwiderte das Lächeln und verließ den Kiosk. Neben seinem Motorrad blieb er stehen. Kurz vor acht Uhr und es herrschte eine bemerkenswerte Stille. Kein Verkehrslärm, kein Gestank nach Abgasen.
Im nächsten Moment war es schlagartig mit der Ruhe vorbei. Ein lautes, mehrstimmiges Krächzen ertönte und er zuckte zusammen. Eine Gruppe Krähen ließ sich in einer Baumgruppe auf der anderen Straßenseite nieder. Früher galten die Vögel als Unglücksboten. Jan hatte sich nie für abergläubisch gehalten, dennoch überfiel ihn ein ungutes Gefühl.
Kapitel 3
Bevor Jan sein zukünftiges Zuhause ansteuerte, fuhr er ziellos durch die wenigen Straßen des Dorfes. Die Häuser hatten noch weitläufige Gärten statt der winzigen Rasenflächen, die heute in den Neubaugebieten typisch waren. Eine Tankstelle kurz vor dem Ortsende. Ein griechisches Restaurant. Ein Schild in einem Vorgarten fiel ihm auf: Hannes Waldner, frisches Wild direkt vom Jäger. Dazu noch eine kaum lesbare Handynummer. An einem eher unscheinbaren Haus war das roteS.der Sparkasse direkt neben der Haustür befestigt, unmittelbar darunter das Zeichen für einen Geldautomaten, vor der Tür ein üppig bepflanzter Blumenkübel und einige Gartenzwerge auf den wenigen Stufen zum Eingang. Vermutlich wurden die Bankgeschäfte im Wohnzimmer abgewickelt. Diese Vorstellung brachte ihn zum Grinsen.
Damit hatte er sich das gesamte Dorf angesehen und es gab keinen Grund mehr, Zeit zu schinden. Die Zähne fest zusammengebissen, bog er wieder auf die Hauptstraße ein, die den Ort in zwei Hälften teilte. Nach wenigen Metern erreichte er die Nebenstraße, die ihn zu seiner zukünftigen Praxis führen würde. Er musste sich zwingen, sein Motorrad in die Kurve zu legen, und verstand sich selbst nicht. Brodersby gefiel ihm, die wenigen Bewohner, die er getroffen hatte, waren nett gewesen und er hatte sich freiwillig zu diesem Neuanfang entschieden. Es gab also keinen Grund für dieses zögerliche Verhalten. Er würde lediglich einen kurzen Blick auf sein neues Zuhause werfen und das war es dann für heute. Der Rest konnte warten.
Ohne Vorwarnung hatte er plötzlich wieder die Bilder vor Augen, denen er zu entkommen versuchte. Das Blut. Den Staub. Den Blick seines Freundes, in dem schon die Gewissheit dessen lag, was ihn erwartete, während Jan nicht bereit gewesen war, aufzugeben. Der aussichtslose Kampf um Michaels Leben. Das, was danach gekommen war, blendete er wie immer komplett aus.
Jan hielt am Straßenrand und löste seine verkrampfte Hand vom Gasgriff. Kurz durchatmen, dann würde er wenden, das Dorf verlassen, zurück auf die Bundesstraße und über die Autobahn mit Vollgas zu seiner jetzigen Wohnung rasen. Wieder für ein paar kostbare Stunden das Denken ausschalten und sich nur auf die Fahrt konzentrieren. Damit hätte er jedoch nur eine kurze Erlösung von den ewig gleichen Bildern erreicht. Er blinzelte, zwang sich zurück in die Gegenwart und bemerkte erst jetzt die Frau, die mit einer Gartenschere bewaffnet im Vorgarten seiner neuen Bleibe herumwerkelte und ihn beobachtete. So viel zum Thema, sich unauffällig das Haus anzusehen. Theoretisch konnte er einfach Gas geben und davonfahren, aber sie würde das Motorrad später wiedererkennen. Damit würde sein Verhalten Fragen aufwerfen, die er nicht beantworten konnte. Er würde hier als Arzt arbeiten und musste Vertrauen zu den Bewohnern aufbauen. Eine überstürzte Flucht war ein denkbar schlechter Beginn für seinen Neuanfang.
Ihm fiel Hannes Waldner und dessen Hustenanfall ein. Jan würde zu gerne einen Blick in Waldners Patientenakte werfen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau ihm das erlaubte, tendierte jedoch vermutlich gegen null, wenn er ihre Miene richtig interpretierte. Aber Hindernisse hatten ihn schon immer eher angespornt als abgeschreckt.
Ob das wirklich Elvira Dunker war? Nun verfluchte er die unpersönliche Abwicklung über die kassenärztliche Vereinigung. Die schlanke Frau wirkte mit dem pinkfarbenen T-Shirt unter einem offenen Jeanshemd wie Anfang fünfzig. Aus den Unterlagen wusste er jedoch, dass sie wenige Tage vor dem Tod ihres Mannes ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Sie trug eine enge, ziemlich verdreckte Jeans und hatte die weißblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Der abweisende, fast wütende Blick störte den positiven Gesamteindruck jedoch gewaltig.
Jans Entschlossenheit geriet ins Wanken, dann musste er über sich selbst grinsen. Wenn er sich jetzt schon von der Frau in die Flucht jagen ließ, konnte er genauso gut von dem Vertrag zurücktreten. Energisch klappte er den Seitenständer seines Motorrads aus und stieg ab. Helm und Handschuhe ließ er auf dem Sitz liegen.
Kaum hatte er den ersten Schritt in ihre Richtung gemacht, erklang hinter ihm lautes Krächzen. Instinktiv wirbelte er herum. Wieder diese verdammten Krähen, als ob sie ihn verfolgt hätten. Eine Handvoll Vögel ließ sich in einer Eiche auf der anderen Straßenseite nieder.
»Früher galten sie als Todesboten«, ertönte eine weibliche Stimme hinter ihm.
Langsam drehte Jan sich wieder um und verfluchte sich dabei für seine unbeherrschte Reaktion. Er war in Deutschland, nicht in einem Kriegsgebiet und es gab keinen Grund, einen Angriff aus dem Hinterhalt zu fürchten.
Missbilligend, aber auch mit einem Hauch von Neugier wurde er gründlich gemustert. Unwillkürlich fühlte er sich an seine ungeliebte Klassenlehrerin während der Schulzeit erinnert. Hausaufgaben erledigt? Alle Vokabeln gelernt? Hefte ordentlich?
»Sind Sie zufällig Frau Dunker?«, eröffnete er das Gespräch.
Ein knappes Nicken.
»Entschuldigen Sie den Überfall. Es war eine spontane Idee, hier vorbeizufahren, aber ich hätte Sie niemals um diese frühe Zeit gestört. Mein Name ist Jan Storm. Ich habe …«
»Ich kenne Ihren Namen und habe schon erfahren, dass Sie im Ort sind. Gehören Sie zu den neumodischen Ärzten, die es nicht mehr nötig haben, sich einen Doktortitel zu verdienen?«
Er verkniff sich gerade noch rechtzeitig ein Augenrollen. Viele junge Kollegen waren schlicht und einfach gezwungen zu arbeiten, um eine Familie zu versorgen, und hatten weder Zeit noch Nerven für eine Promotion. Er hatte während seines Studiums an der Uni dank der Bundeswehr vergleichsweise komfortable Umstände gehabt und seinen Doktortitel während des praktischen Jahres problemlos nebenbei erworben. Aber eins war nun klar, mit seiner Einschätzung von der Kioskbesitzerin hatte er richtiggelegen. Vermutlich hatte sie gleich nach seiner Abfahrt bei Elvira Dunker angerufen und ihr den neuesten Dorfklatsch brühwarm erzählt.
»Außerhalb der Praxis führe ich den Titel nicht«, erklärte er haarscharf an der Grenze der Höflichkeit.
Eine Augenbraue wurde hochgezogen und bildete einen perfekten Halbkreis. »Wenn Sie meinen. Sie sind also spontan gut vier Stunden über die Autobahn gefahren?« Vielsagend blickte sie an ihm vorbei auf sein Motorrad. »Leiden Sie an Schlafstörungen? Und besitzen Sie kein vernünftiges Fahrzeug?«
Seine Geduld war erschöpft, es war Zeit, ein paar Grenzen zu ziehen. »Mir gefällt diese Art, sich fortzubewegen. Da wir uns nun schon zufällig getroffen haben, hätte ich eine Bitte. Ich würde gerne einen kurzen Blick auf eine Patientenakte werfen.«
Die Arztwitwe atmete scharf ein, sie schien widersprechen zu wollen, aber dann zeigte sich so etwas wie Resignation in ihrer Miene. »Wollen Sie sich das Blatt von Hannes ansehen?«
»Anscheinend wissen Sie schon Bescheid. Ja, mir macht sein Hustenanfall etwas Sorge.«
»Dann kommen Sie mal mit.«
Während er ihr folgte, überlegte er, ob und wie er sein Beileid über den Tod ihres Mannes ausdrücken konnte. Ihm fiel nichts Passendes ein.
Die Praxis war aufgeräumt, wirkte betriebsbereit, als ob der Inhaber lediglich eine Mittagspause eingelegt hätte. Statt den Computer hochzufahren, öffnete die Witwe einen Aktenschrank und holte nach kurzem Suchen einen Pappordner heraus. »Mein Mann hat sämtliche Daten im PC und in Papierform vorgehalten.«
»Danke.« Er überflog die Eintragungen, die in erstaunlich lesbarer Handschrift akkurat festgehalten waren. Außer einem überstandenen Hautkrebs, der schon relativ weit fortgeschritten gewesen war, gab es keinerlei ernsthafte Erkrankungen. Wie Waldner gesagt hatte, waren die Nachsorgeuntersuchungen unauffällig gewesen. Nichts in der Patientenakte wies auf Lungenprobleme hin.
Die Witwe stand für Jans Geschmack etwas zu dicht neben ihm und überflog ebenfalls die Eintragungen. »Gab es noch mehr Patienten mit unerklärlichen Hustenanfällen?«, fragte er und legte die Akte zur Seite.
Die Miene seiner Begleiterin wurde zu einer undurchsichtigen Maske. »Ich weiß nur, dass mein Mann einen ähnlichen Anfall erlitten hat und daran verstorben ist.«
Das klang beunruhigend. Ein Virus? Unwahrscheinlich, ihm war keiner bekannt, der sich ausschließlich mit Husten bemerkbar machte und zum Tod führen konnte.
Es war vermutlich nur ein Zufall, dass der Arzt vor seinem Tod einen ähnlichen Anfall erlitten hatte. Jan fielen die Worte des Elektrikers wieder ein, der ebenfalls einen Vergleich zwischen Waldners Anfall und dem Tod des Arztes gezogen hatte. Vielleicht war es diese Bemerkung gewesen, die ihn nachdenklich gemacht hatte. Doch dafür gab es bei genauerer Betrachtung keinen Grund. Zwischen Theo Dunkers Tod und dem Hustenanfall von Waldner lagen mehrere Wochen. Aus medizinischer Sicht war ein Zusammenhang damit so gut wie ausgeschlossen. Doch restlos überzeugt war Jan trotzdem nicht.
Als er den fragenden Blick der Witwe bemerkte, zuckte er lediglich mit der Schulter. »Herr Waldner war nicht zu überreden, sofort zu einem Arzt zu gehen. Den Daten in seiner Akte nach gibt es keinen Grund zur unmittelbaren Sorge«, sagte er schließlich, fand aber selbst, dass er nicht besonders überzeugend klang.
Elvira Dunker kniff die Lider etwas zusammen. »Mein Mann war angeblich auch kerngesund.«
Damit war alles und nichts gesagt. Doch im Moment konnte Jan nicht mehr tun.
Hannes Waldner blieb vor der Tür der griechischen Gaststätte stehen und atmete tief durch. Prüfend horchte er in sich hinein. Alles normal, kein Anzeichen eines weiteren Hustenanfalls. Die Luft im Inneren des Zeus war manchmal etwas stickig, aber nicht so verqualmt wie in früheren Zeiten, als die Raucher noch nicht in einen Extraraum oder auf die Terrasse verbannt worden waren. Trotzdem fiel es Waldner schwer, den Gastraum zu betreten. Die Erinnerung an seinen Freund war plötzlich zu übermächtig. Halb erwartete er, dass Theo ihn drinnen begrüßen würde. Obwohl er wusste, dass das niemals wieder der Fall sein würde, sehnte er sich nach seinem Freund, nach ihren Gesprächen. Er musste sich dringend mit jemandem unterhalten, der ebenfalls über gewisse Dinge im Dorf Bescheid wusste. Sonst würde er noch verrückt werden.
Entschlossen stieß er die Tür auf. Sein erster Blick galt dem Stammtisch. Karl Leistner saß dort und starrte in sein Bier. Der Nachbartisch war nicht besetzt. Perfekt, damit war eine ungestörte Unterhaltung gesichert. Waldner winkte dem Wirt zu und hob zwei Finger, um sein übliches Bier und einen Korn zu bestellen.
Schwerer als sonst ließ er sich auf den Stuhl neben Karl fallen, verzichtete auf eine Begrüßung und wartete schweigend, dass der Grieche seine Getränke brachte. Es dauerte nur wenige Momente, dann standen die Gläser vor ihm. Waldner hob den Schnaps zu einem stummen Gruß und stürzte ihn in einem Zug herunter.
Karl hatte bisher noch keinen Ton gesagt. Nun seufzte er tief. »Das war dann heute also der junge Doktor, der Nachfolger vom alten.« Er hob den Kopf und sah Waldner an. »Dir hat er ja nun schon mal geholfen.«
Obwohl das eine scheinbar harmlose und absolut zutreffende Feststellung war, hörte Waldner die unterschwellige Frage heraus, die sein Freund nicht aussprach. »Ich weiß es nicht, Karl. Ich weiß es einfach nicht. Solange Theo lebte, erschien alles richtig. Du weißt ja, wie erschrocken ich war, als wir das erste Mal darüber gesprochen haben. Aber dann war ich so sicher, dass er das Richtige tut. Wenn du mich allerdings heute fragst, dann …« Ihm fielen keine passenden Worte ein, stattdessen nippte er an seinem Bier.
Karl seufzte wieder und leerte sein Glas in einem Zug. »Es ist und war richtig. Alles andere geht gar nicht, weil ich damit nicht leben könnte, dass wir es nicht verhindert haben.«
Die einfache Logik hätte Waldner fast zum Schmunzeln gebracht. »Du machst dir doch auch Sorgen, oder?«
Karl nickte knapp. »Aber nicht deswegen. Ich frage mich nur, ob’s Dinge in Theos Praxis gibt, auf die der Junge stoßen könnte.« Er warf seinem Freund einen prüfenden Blick zu. »Sag mal, was ist denn mit dir los? Da ist doch noch was.«
Endlich hatte Waldner genügend Mut, den Gedanken auszusprechen, der ihm seit Tagen im Kopf herumspukte. »Meinst du, dieser Husten könnte so was wie eine Strafe sein? Vielleicht lässt der Allmächtige uns so für unsere Sünden büßen.«
Karl sah ihn an, als ob ihm Hörner gewachsen wären. »Wat fürn Schiet erzählste denn da?«, brach es schließlich aus ihm heraus. Er packte Waldner fest am Arm. »Für Gespräche über Gott bin ich der falsche Ansprechpartner, da musst du zum Pfaffen im Nachbardorf gehen. Aber ich kann dir sagen, was richtig und falsch ist! Wir haben nichts Falsches gemacht, sondern alles richtig. Der Theo wusste schon, was er tat. Wir hätten doch was dagegen unternommen, wenn wir nicht gewollt hätten, dass er das tut. Nee, Hannes, ich verstehe ja, dass dir der Schrecken im Nacken sitzt wegen dieser ganzen Husterei, aber nun trink mal dein Bier und noch ’nen Köm und dann siehst du auch wieder klarer.«
Langsam nickte Waldner, nicht überzeugt, aber etwas getröstet. »Nur noch eins. Was machen wir denn mit dem jungen Doktor, wenn er erfährt, was sein Vorgänger so gemacht hat?«
Der Blick seines Freundes wurde ernst. »Das wird nicht geschehen und wenn doch, dann muss er lernen, was richtig und was falsch ist. Und hier bei uns in Brodersby bestimmen eben wir, was schwarz und was weiß ist. Der Junge machte doch einen vernünftigen Eindruck. Wenn er wirklich was erfährt und nicht kapiert, dass wir nur das Beste wollten, dann wird es halt Zeit für die harte Tour.«
Waldner zog es vor, das Thema zu wechseln. Er wollte lieber nicht wissen, was sein Freund unter ›harte Tour‹ verstand. Nachdem er sein halbes Glas Bier geleert hatte, fühlte er sich besser, leichter. Seine Zweifel waren noch da, hatten aber an Gewicht verloren. Und was den jungen Doktor anging, so würden sie abwarten müssen. So lange klammerte er sich an Karls Worte. Sie hatten zugelassen, dass in Brodersby für Recht und Ordnung gesorgt wurde, weil es sonst keiner getan hatte. Sie waren die Guten.
Kapitel 4
Der letzte Umzugskarton war verstaut, die Tür des Transporters wurde verschlossen. Es klang, als ob eine Zellentür verbarrikadiert wurde. Der Fahrer hob lässig eine Hand, seine Version eines Abschiedsgrußes, ging zur Fahrertür und stieg ein. Krachend legte er den ersten Gang ein und rollte von dem Garagenhof. Hoffentlich hielt bei der Fahrweise das Getriebe die gut vierhundert Kilometer bis nach Brodersby.
Jan sah ihm reglos nach, eine Hand auf die Sitzbank seiner Ninja gelegt. Es war, wie ein langweiliges Buch zuzuschlagen. Er ließ Bekanntes, aber Ungeliebtes hinter sich, hatte jedoch noch keine Vorstellungen, was ihn erwarten würde, nur vage Ideen. Sechs Tage waren seit seinem spontanen Trip zu seinem neuen Wohnort vergangen. Sechs Tage, in denen das Gefühl, einen Fehler zu machen, stetig gewachsen war. Tage, in denen er unendlich oft seinen kurzen Aufenthalt im Ort gedanklich durchgegangen war. Immer auf der Suche nach dem Grund, warum er den Eindruck hatte, direkt auf ein drohendes Unheil zuzusteuern. Jedes Mal erfolglos.
Er wollte wieder mit Patienten arbeiten. Im Bereich der Allgemeinmedizin. Er hatte keine Angst vor den Entscheidungen, die in seinem Beruf dazugehörten, obwohl es wenig wahrscheinlich war, dass er jemals wieder zu lebensrettenden Maßnahmen greifen musste, die besser in der Chirurgie eines Krankenhauses angesiedelt wären.
Wenn es nicht an ihm lag, mussten seine Bedenken an dem Dorf und seinen Bewohnern liegen oder doch aus dem merkwürdigen Husten resultieren. Aber für Letzteren gab es auch Dutzende logische Erklärungen, weswegen die Anfälle kein Grund für dieses ungute Gefühl sein konnten.
Nachts hatte Jan etliche Male von den Krähen geträumt. Und von älteren Herren, die plötzlich und unerwartet verstarben, während er danebenstand und zusah.
Ein roter BMW Z3 hielt am Straßenrand und touchierte dabei mit der Felge den Kantstein. Das kreischende Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Eine Frau, die er gut kannte, sprang aus dem Wagen und eilte auf ihn zu. In der Hand hielt sie ein Brötchen, das in eine durchsichtige Folie eingewickelt war.
Elisabeth Schönfeld war nicht nur seine bisherige Vermieterin gewesen, sondern eine Freundin seiner Eltern und hatte sich selbst immer als seine ›Tante ehrenhalber‹ bezeichnet. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie an einem Sonntag um sieben Uhr aufstand, nur um sich von ihm zu verabschieden. Da sie der gesamte Rest seiner Familie war, freute er sich, schüttelte jedoch scheinbar missbilligend den Kopf. »Das grenzt an Autoquälerei. Du solltest dir einen Geländewagen zulegen, der ist robuster.«
»Ach was, das muss er abkönnen, ist ja schließlich ein Gebrauchsgegenstand. Ich dachte, wir würden noch zusammen frühstücken. Aber du siehst aus, als ob du gleich loswillst.«
Er nickte und ahnte, was nun kommen würde. Tatsächlich umarmte sie ihn im nächsten Moment fest und strich ihm mit dem Brötchen über den Rücken. Dass er sich für die herzliche Geste bücken und sie sich ordentlich strecken musste, hatte keinen von ihnen je gestört. »Ich werde dich vermissen, mein Kleiner.«
Die Anrede gehörte seit seiner Kindheit dazu, auch wenn er mittlerweile fast einen Kopf größer war als sie. Jan drückte sie noch einmal an sich und zwinkerte ihr zu. »Du bist jederzeit eingeladen, vorbeizukommen, Liz.«
»Das werde ich auch tun. Schließlich bist du dieses Mal nicht am Ende der Welt. So ein ruhiger Ort an der Schlei ist genau das Richtige für dich.«
»Und woher weißt du das?«
»Na, aus dem Internet natürlich. Ich habe mir Bilder angesehen, Dorfbeschreibungen durchgelesen und natürlich die Immobilienpreise analysiert. Da werde ich schon noch ein ideales Objekt für dich finden. Aber erst einmal lernst du eine nette Frau kennen.«
Manche Dinge änderten sich nie. »Du bist die Erste, die das erfahren würde. Aber vergiss nicht, dass ich dorthin ziehe, um als Arzt zu arbeiten.«
»Es gibt überregionale Singlebörsen und du bist durchaus eine gute Partie, Jan.« Sie strich sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. »Und ich bin heilfroh, dass du dich nicht länger in Gefahr begibst.«
Bei ihren Worten lief es Jan schlagartig kalt den Rücken herunter. Bilder aus Afghanistan erschienen vor seinem inneren Auge, die er sofort energisch verdrängte. Er war jetzt Allgemeinmediziner, ein Landarzt, um genau zu sein. Ihn erwarteten nur eine idyllische Landschaft und ein paar kranke Dorfbewohner, die er bei ernsthaften Problemen an Spezialisten überweisen würde.
Er zwang sich zu einem Lächeln und nahm das Päckchen, das Liz ihm entgegenhielt.
»Brot und Salz fürs neue Eigenheim. Größer ging ja nicht, weil es sonst deinen Rucksack gesprengt hätte. Und natürlich …« Suchend blickte sie sich um und zog dann eine Grimasse, die eigentlich nicht zu einer Frau Mitte fünfzig passte, sie aber nur jünger und schelmisch aussehen ließ. »Ich habe es im Auto liegen lassen. Ich glaube, ich werde alt.«
»Du doch nicht«, widersprach Jan, doch sie hatte ihm bereits den Rücken zuwandt und war zurück zu ihrem Wagen gelaufen.
Mit einem weiteren Päckchen kehrte sie zurück. »Da, nimm. Das wollte ich dir schon so lange schenken. Herzlichen Glückwunsch zur eigenen Praxis, mein Kleiner.«
Neugierig öffnete Jan das bunte Papier und lachte, war aber gleichzeitig gerührt. Ein nagelneues Stethoskop. Seit seinem praktischen Jahr im Krankenhaus hatte er keins mehr regelmäßig benutzt, nun würde es eines seiner wichtigsten Instrumente werden. »Du bist verrückt, aber ich danke dir.«
Wieder umarmten sie sich. Dann legte sie den Kopf etwas schief. »Ich habe die Hoffnung auch noch nicht aufgegeben, dass dein alter Sturkopf von Vater sich nun besinnt und sich bei dir meldet.«
Das würde wohl erst geschehen, wenn Ostern und Weihnachten auf einen Tag fielen, aber Jan brachte es nicht fertig, den Hoffnungsschimmer in ihren Augen zu vertreiben, und lächelte deshalb nur.
»Die Zeit reicht noch locker für ein Frühstück. Ich lade dich ein, aber dafür fährst du.«
Lächelnd klopfte sie auf die Sitzbank des Motorrads. »Gerne! Darauf bekommen mich keine zehn Pferde.«
Er zwinkerte ihr zu. »Doch, wenn du mich das erste Mal dort unten besuchst.«
»Oben, mein Junge, denn es zieht dich schließlich in den Norden.« Sie betrachtete abschätzend die Ninja. »Wir werden sehen.«
Knapp zwei Stunden später befand Jan sich auf der Autobahn. Das Frühstück hatte dann doch länger gedauert als geplant. Es war ihm unerwartet schwergefallen, sich von Liz zu trennen. Letztlich war sie der einzige noch verbliebene Fixpunkt in seinem Leben. Zu seinem Vater hatte er seit Jahren keinen Kontakt mehr, seine Mutter war tot, seine Freunde waren im Auslandseinsatz und er hatte seit Monaten sämtliche Mails oder Anrufe von ihnen ignoriert, sodass er nicht sicher war, ob die Bezeichnung ›Freunde‹ überhaupt noch richtig war. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie allein er tatsächlich war. Mit seinem Abschied von der Bundeswehr hatte er jede Menge Brücken hinter sich abgebrochen. Viele Leute in seinem Umfeld hatten ihn nicht verstanden und die, die es getan hatten, waren nun wieder unterwegs. Vielleicht wurde das nun anders. Brodersby war in jeder Hinsicht ein Neuanfang. Wäre da nicht das unterschwellige ungute Gefühl, das er nicht richtig zu fassen bekam, wäre alles perfekt.
Jan konzentrierte sich wieder aufs Fahren. Die Jagd über die Autobahn mit fast hundertachtzig Stundenkilometer war nicht der ideale Zeitpunkt für tiefgründige Grübeleien. Wenn er Glück hatte, würde er den Sprinter, der seine Sachen in seine künftige Heimat brachte, noch einholen, ansonsten hatte der Fahrer eben Pech gehabt und musste kurz auf ihn warten. Der Umzugsservice war schließlich teuer genug.
Irgendwann würde er den verdammten Köter umbringen. Den Pudel im Meer zu ersäufen, stand ganz oben auf seiner Wunschliste. Dann wäre endlich Schluss mit dem ständigen Gekläffe. Seine Frau versprach ihm regelmäßig, für die Erziehung des Tieres zu sorgen, aber geschehen war nichts. Klaus Zeiske zerrte an der Leine, um seinen störrischen Begleiter zum Weitergehen zu bewegen. Die dunklen Wolken kündigten den nächsten Regenschauer an. Bis dahin musste das Viech sein verfluchtes Geschäft erledigt haben, aber bisher machte es keine Anstalten und schnüffelte nur herum.
Wenn es nach Zeiske gegangen wäre, hätte er sein Haus heute nicht verlassen. Aber es hatte keine Alternative gegeben. Im Garten buddelte der Hund alles um, weshalb er dort nicht rausdurfte, und die Teppiche waren zu teuer gewesen, um sie von dem Köter versauen zu lassen. Außerdem ertrug er keine weitere Tirade seiner Frau, die er – von ihrer affigen Zuneigung für Polly, den Pudel, mal abgesehen – immer noch liebte. Oder er hing an ihr aus Gewohnheit, ganz sicher war er sich nicht. Aber er wollte sie nicht verlieren, wenigstens das wusste er.
Erna Wolf, die Kioskbesitzerin, kam ihm entgegen und lächelte ihn an. »Bei diesem Wetter noch unterwegs? Da braut sich ordentlich was zusammen. Aber was tut man nicht alles für seine vierbeinigen Freunde?«
Er zwang sich zu einer unverbindlichen Antwort und ging weiter, während er wieder seiner Wunschvorstellung nachhing, den Köter zu ertränken. Aber Erna hatte Zeiske auf eine Idee gebracht. Bei dem drohenden Regen wäre es Wahnsinn, zu ihrem üblichen Hundeklo, einer Wiese hinter der Dorfgrenze, zu gehen. Der Spielplatz musste ausnahmsweise reichen. Dank des Regens würde das niemand bemerken und außerdem mochte der dämliche Pudel die riesige Sandfläche, auf der die Geräte standen. Er würde dadurch über eine halbe Stunde einsparen. Diese Zeit konnte er wesentlich besser nutzen, zum Beispiel um die Kurse seiner Aktienbestände zu überprüfen. Entwickelte sich der DAX weiterhin so, wie er es voraussah, waren seine Tage als Arbeitnehmer gezählt.
Wenige Meter vor ihnen sah er schon den Holzzaun des Spielplatzes. Er zerrte den störrischen Hund hinter sich her und löste die Leine. Der Pudel hob witternd die Schnauze und rannte kläffend los.
Alberner Köter. Wenn er doch für immer verschwinden würde! Aber so viel Glück hatte er nicht. Der Hund kehrte immer brav zu ihm zurück, schien ihn sogar zu mögen. Mochte einer diese Viecher verstehen.
Es dauerte einige Zeit, bis Zeiske realisierte, dass Pollys Kläffen dieses Mal nicht aufhörte, sondern in ein dumpfes Knurren überging.
Erste Tropfen fielen vom Himmel. Der Wolkenbruch würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Er pfiff. Polly stand weiter wie angewurzelt am anderen Ende des Platzes vor der Rutsche. Widerwillig stapfte er auf den Köter zu. Der Regen wurde stärker, trotz seiner wetterfesten Jacke fröstelte Zeiske.
»Was ist denn, du dumme Töle?«
Polly sah weiter starr auf einen Fleck, der für Zeiske völlig normal aussah. Einfach nur nasser Sand. Erst als er den Pudel erreicht hatte, bemerkte er den Gestank. Erschrocken schnappte Zeiske nach Luft und bereute es im nächsten Moment, als er den widerlichen Geruch auf der Zunge spürte.
Er bückte sich und zerrte Polly am Halsband einige Meter zurück. Nun erkannte er, dass ein Teil des Sandes dunkler war als der Rest. Es sah aus, als ob dort eine größere Menge Flüssigkeit verschüttet worden war. Da er den Geruch sofort erkannt hatte, wusste Zeiske nicht nur, was ihn dort erwartete, sondern auch, wie gefährlich das Zeug war. An Pollys Instinkten gab es nichts auszusetzen. Hätte sie ein paar Meter weiter im Sand geschnüffelt, wäre sie nun elendig verreckt.
Wieso nur hatten diese Idioten ausgerechnet diesen Ort gewählt? Einen Spielplatz! Selbst für ihn gab es eine moralische Grenze und die war hier überschritten worden. Andererseits … Zeiske sah sich um. Menschenleer. Keine Mutter würde sich mit ihrem Kind bei diesem Wetter an diesen Ort verirren. Der Regen würde den Mist schon ausreichend verdünnen. Mehr als darauf zu hoffen, dass er mit seiner Einschätzung richtiglag, konnte er sowieso nicht tun. Feuerwehr oder Umweltschutzamt alarmieren? Das würde Fragen aufwerfen, deren Antworten ihn auf direktem Weg ins Gefängnis befördern würden. Das kam nicht infrage. In wenigen Monaten wollte er genügend Geld haben, um sich den Traum von einem Haus in Spanien am Meer zu erfüllen. Mit Frau, aber ohne Pudel. An Letzterem musste Zeiske noch arbeiten. Dabei war er dem Viech fast dankbar. Montag würde er Maßnahmen ergreifen, dass sich eine solche Schlamperei nicht wiederholte. Tote Kinder würden Schlagzeilen und Untersuchungen auslösen, die sie sich nicht leisten konnten. Ob der Fahrer diese Sauerei hier zum ersten Mal veranstaltet hatte? Hoffentlich …
Kapitel 5
Jan bremste vor der Doppelhaushälfte, in der sich seine Wohnung und die Praxis befanden. Kurz vor Rendsburg hatte heftiger Regen eingesetzt, der die Fahrt zu einer gefährlichen Rutschpartie gemacht hatte.
Er wischte mit der Hand übers Visier, aber der Anblick änderte sich nicht: ein Stapel Umzugskartons vor der Tür, schon reichlich durchnässt, daneben Holzelemente, die zusammengesetzt ein Bett und einen Schrank ergeben würden. Von dem Sprinter, geschweige denn dem Fahrer war nichts zu sehen, genauso wenig wie von den restlichen Kartons, einem Regal, der Matratze und einigen anderen Dingen.
Großartig! Vor sich hin fluchend, stieg Jan ab. Er stellte sich besser nicht vor, wie der Fahrer über die Autobahn geheizt sein musste, um so lange vor ihm anzukommen, auszuladen und wieder zu verschwinden.
Da die gesamte Abwicklung der Wohnungsübernahme von der kassenärztlichen Vereinigung übernommen worden war, hatte er lediglich eine Mail mit der Zusicherung erhalten, dass für die Schlüsselübergabe vor Ort gesorgt war. Als er genauer hinsah, erkannte er, dass im Schloss der Haustür tatsächlich ein Schlüssel steckte.
Das wurde ja immer besser. Rasch ging er auf den Eingang zu und drückte die Klinke nieder. Die Tür gab einen Spalt nach, wurde dann jedoch von irgendetwas blockiert. Er spähte durch die Öffnung und verzog den Mund. Im Windfang stand ein Durcheinander der Sachen, die er vermisst hatte. Die Matratze, das Regal, einige Kartons und noch mehr.
Es würde eine höllische Schufterei werden, die ganzen Dinge allein ins Obergeschoss zu schleppen. Wehmütig erinnerte Jan sich an einige Umzugsaktionen mit seinen Kumpels während der Bundeswehrzeit. Die Arbeit war in Rekordzeit erledigt worden, damit man sich den wichtigen Dingen wie Grill und Bier zuwenden konnte. Es wurde viel gelacht, herumgefrotzelt und alles in allem waren es trotz der Arbeit vergnügliche Stunden gewesen. Kein Vergleich zu dem, was ihn hier erwartete. Er musste als Erstes den Platz hinter der Tür leer räumen, um die Sachen hineinbringen zu können, die noch draußen standen. Denn ewig würden die den Aufenthalt im Dauerregen nicht überstehen. Und das Ganze … ohne Hilfe.
Er sah sich die Treppe genauer an und fluchte erneut. Eigentlich war sie kein Problem, solange man sehen konnte, wohin man trat. Mit einem Karton in den Händen würde das Unterfangen jedoch zu einer Herausforderung werden. Dennoch schaffte Jan es unerwartet schnell, den Windfang freizuräumen. Nun kam ihm seine hervorragende Kondition zugute. Er war körperliche Anstrengungen gewohnt und hatte in den letzten Monaten wenigstens auf seine Fitness geachtet. Einigermaßen jedenfalls.
Trotzdem war der Anblick des hohen Stapels vor der Tür deprimierend. Die Kartons waren eher harmlos, die Möbelteile hingegen schwer und unhandlich. Außerdem befürchtete er, dass das Holz durch die Nässe schon Schaden genommen hatte. Aber abwarten brachte ihn genauso wenig weiter, wie sich über die Umstände zu ärgern.
Jan visierte das erste Teil des Bettes an, als er einen Wagen bemerkte, der hinter seinem Motorrad hielt. Den Škoda kannte er.
Waldner stieg aus, betrachtete die Kisten und Möbelteile und schüttelte den Kopf. »Tach, schönes Schietwetter für einen Umzug.«
»Moin, tja, hatte ich mir auch anders vorgestellt.«
»Dann sollten wir mal zusehen, den Kram ins Trockene zu bringen.«
»Wir?«, wiederholte Jan verblüfft.
»Natürlich. Theo war mein bester Freund, der würde mir was erzählen, wenn ich hier nicht schnell mitanpacke. Zu zweit ist das nur ein Fliegenschiss. Außerdem wollte ich kurz was mit Ihnen besprechen.«
Waldners sture Miene sprach für sich und da Jan tatsächlich Hilfe gebrauchen konnte, nickte er zustimmend. »Meinetwegen gerne, aber erst möchte ich wissen, was Ihr Husten macht.«
Ein breites Lächeln verriet Jan die Antwort. »Nix mehr gewesen. Ich bin fit. Aber eins noch. Ich bin Hannes.«
»Jan.« Ein fester Händedruck besiegelte die freundschaftliche Anrede.
Eine Stunde später waren nicht nur sämtliche Sachen im Inneren des Hauses verstaut, sondern auch der Bettrahmen und der Kleiderschrank aufgebaut. Jan blickte aus dem Fenster und lachte. »Typisch, nun hat’s aufgehört zu regnen. Ich würde dir ja was zu trinken anbieten, aber …« Er machte eine hilflose Geste in Richtung der Umzugskartons und des noch stromlosen Kühlschranks.
»Das macht nix, außerdem finde ich, das ist ja wohl das Mindeste, was Elvira für uns tun kann.«